… da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen; er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand; der, als er geschmäht wurde, die Schmähung nicht erwiderte, nicht drohte, als er litt, es aber dem anheimstellte, der gerecht richtet; der unsre Sünden selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden.Denn ihr wart wie irrende Schafe; aber ihr seid nun umgekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen. (1. Petrusbrief 2,21-25)
Der Herr ist mein Hirte: Der heutige „Hirtensonntag“ steht unter dem Leitbild des guten Hirten, eines besonders freundlichen und für viele von uns durch den 23. Psalm („Der Herr ist mein Hirte“) besonders vertrauten Gottesbildes. Wenn wir an Gott denken und ihn uns in unseren Gedanken abbilden, weil wir ihn ja nicht sehen und direkt erleben können, sollen wir an einen Hirten denken, der uns begleitet und führt, der für uns sorgt und uns beschützt.
Das Bild führt uns in eine pastorale Szenerie; gerade wir Stadtkinder sehen darin leicht ein ländliches Idyll ungetrübt vom Betrieb der Zivilisation, ein Leben im Einklang mit der Natur, in der der Hirte nicht der die natürliche Harmonie störende Eindringling Mensch ist (wie wir uns etwa in der Klimadiskussion wahrnehmen), sondern zum Bild des fürsorglichen und beschützenden Gottes wird, wie wir ihn uns wünschen.
Ohne solche religiöse Einbildungen wäre Glauben kaum möglich (ginge das überhaupt: bildlos glauben?). Aber selbst das so freundliche und vertraute Bild des Hirten teilt die Probleme aller Verbildlichungen Gottes. Ohne sie können wir zwar einerseits nicht glauben aber vor ihnen warnt andererseits schon die Bibel im Bilderverbot der 10 Gebote: Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnismachen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist:Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! (2. Buch Mose 20,4f.) Dieses Verbot hat verschiedene Gründe, letztlich aber will es unmissverständlich deutlich machen, dass kein irdisches, menschliches Bild auf Gott als den „ganz anderen“ zugreifen kann. Es geht um die Unverfügbarkeit Gottes. „Daher dürfen die Worte und Bilder, in denen der Glaube von Gott spricht, immer nur flüchtige Entwürfe … sein, welche die Wirklichkeit Gottes umkreisen, sie jedoch nicht definieren, wohl aber transparent werden lassen. Der Umgang mit ihnen gleicht dem Sprung von einer Eisscholle auf die andere; zu langes Verweilen führt zum Tod – nicht zum Tod Gottes, wohl aber des Gottesbildes.“ (So der seinerzeit populäre Theologe Heinz Zahrnt in einem Text von 1992)
Das soll uns eine Warnung sein, auch gegenüber diesem Gottesbild wachsam zu sein und seinen Gegenstand nicht für Gott selbst zu halten. Denn so wenig die Natur ein Idyll ist – zur Natur gehören die dunklen Täler, weiß schon der 23. Psalm; zur Natur gehören auch Wölfe, die Schafe reißen, sogar wieder bei uns, und die der Herde wie dem Hirten das Leben schwer machen; und zur Natur gehören auch Viren, die Menschen krank machen und eine Weltgesellschaft damit lahm legen – so wenig also die Natur ein Idyll ist, in der sich Schafe Hirten wünschen (vermutlich wünschen sie sich viel eher Freiheit auf einer grünen Aue am frischen Wasser), so wenig will ich mich als Mensch als Teil einer Herde sehen, die ihrem Hirten – teils willig, teils ängstlich – folgt. Ich bin doch kein Schaf! Soll ich mir dann wirklich Gott als einen Hirten vorstellen und wünschen?
Hinzu kommt: Die Sehnsucht nach einem guten Hirten macht ihn noch nicht zu einem – nämlich zu einem guten Hirten. Ich kann zwar davon ausgehen – und soweit stimmt das Bild – dass es ein Hirte gut meint, denn das Wohlergehen seiner Schäflein ist in seinem eigenen Interesse, aber ich muss auch davon ausgehen, dass es mehr und weniger kompetente Hirten und „Bischöfe“ (nach dem griechischen Wortsinn „Aufseher“, d.h. verantwortliche Leiter, also Regierende) gibt, wie sich etwa im Bereich der großen Politik in Zeiten der Krise wie in einem Brennglas oder wie in einem Labor überdeutlich zeigt. Es ist überhaupt nicht egal, sondern es kommt darauf an, wer als Hirte und „Bischof“ regiert und führt. Wir erleben gerade weltweit den großen Unterschied zwischen politischer Idiotie und vernünftig sachlicher Regierung und alle möglichen Schattierungen dazwischen und die jeweiligen Auswirkungen auf Leib und Leben der „Herden“; die sind gravierend, können das Leben kosten oder können ein gutes, auskömmliches Leben auf Jahre kosten. Wenn der Wolf kommt, wenn das Virus kommt, zeigt sich, wie gut der Hirte ist, den ich mir erwählt habe. Im Ausnahmezustand, wenn es darauf ankommt, zeigt sich auch der schlechte Hirte (der flieht vor der Gefahr in dummes Geschwätz, haltlose Schuldzuweisungen und absurde Maßnahmen), gegen den die Herde nicht immun ist (wie auch gegen das Virus noch lange nicht.)
Und damit kommen wir zu dem vielleicht schwierigsten und problematischsten Aspekt unseres heutigen Predigttextes aus dem Petrusbrief. Der Autor (der uns unbekannt und nach Auskunft der Wissenschaft nicht der Petrus aus den Evangelien ist) setzt seine Worte von der Nachfolge und das Bild vom guten Hirten in einen eigentlich unmöglichen Zusammenhang. Er erweist sich damit selbst kaum als guter Hirte und Bischof seiner Herde angesichts der überaus schwierigen, einen Grenz- und Ausnahmefall markierenden Frage, welche Auswirkungen die evangelische Freiheit auf die Situation der Sklaven haben soll. (Das große Rom, das herrliche Griechenland, das alte Israel waren bekanntlich allesamt Sklavenhaltergesellschaften, also Gesellschaften, in denen Menschen nicht nur in ungleichen Verhältnissen lebten wie immer noch bei uns, sondern in denen ihre Ungleichheit als Rechtlosigkeit gegenüber den Freien festgeschrieben war.) Unser Autor fordert die christlichen Sklaven (wenn es mal ein Oxymoron gibt, dann das „christliche Sklaven“, denn: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Paulus im Brief an die Galater 5,5) auf, in der Sklaverei zu bleiben – und das auch noch wegen ihres Glaubens: Ihr Sklaven, ordnet euch in aller Furcht den Herren unter, nicht allein den gütigen und freundlichen, sondern auch den wunderlichen. Denn das ist Gnade, wenn jemand um des Gewissens willen vor Gott Übel erträgt und Unrecht leidet. Denn was ist das für ein Ruhm, wenn ihr für Missetaten Schläge erduldet? Aber wenn ihr leidet und duldet, weil ihr das Gute tut, ist dies Gnade bei Gott. Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch … (unmittelbar unseren heutigen Predigttext einleitend und begründend). „Sklaven sollen Sklaven bleiben“ (nicht weil das in diesem Moment weltgeschichtlich und politisch nicht anders geht, was man als nüchtern, lebensklugen Ratschlag angesichts der Machtverhältnisse im römischen Reich verstehen könnte, sondern – so sagt und meint es doch tatsächlich unser Autor) um Christus in Treue nachzufolgen und um braves Schaf eines guten Hirten zu sein. Das ist ein böser Ratschlag.
Unser diffuses Unbehagen hat sich konkretisiert. Was zu beweisen war, hat sich gezeigt: Unser freundliches und vertrautes Gottesbild (das schon als antikes Wandbild in den römischen Katakomben begegnet mit einem jugendlichen Christus, der über seinen Schultern ein Schäfchen trägt) lässt sich ganz offensichtlich missbrauchen zur theologischen Still- und Durchhalteparole. Die Bilderskeptiker haben recht. Aber: Wie lässt sich das Bild in einer Art „zweiten Naivität“ wiedergewinnen?
Mir hilft es – vielleicht ja auch anderen – mich durch die Worte und Bilder der Bibel so wie heute durchzuarbeiten, sie in allen ihren Aspekten und Schichten durchzukauen und regelrecht wiederzukäuen, um sie dann auch verdauen zu können (vom Schaf zum Rindvieh, das ist auch eine Karriere!). Dann weiß ich, dass sich menschliche Worte über Gott wie alle menschlichen Worte missverstehen lassen und missbrauchen lassen, dass aber auch das nur ein Aspekt unter anderen ist und dass sie trotz ihrer Anfälligkeit und Verletzlichkeit oder gerade darin ihre Wahrheit und ihre Zärtlichkeit haben: Der Herr ist mein Hirte. Dabei will ich bleiben.
Gerade in den Worten des 23. Psalms höre ich nämlich die unzähligen Male mit, die ich ihn gesprochen und gebetet oder für andere gebetet habe; und die Male, wenn die Konfirmanden ihn sich angeeignet und gegenseitig erklärt haben; und auch wenn ein vergangenes Leben mit seinen Worten erklärt und nacherzählt wird vor Gott und den Menschen (so wie das Leben der Mutter durch den guten Pastor Geißler von der Lutherkirche nacherzählt und erinnert wurde):
Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir …
In diesen Worten vom guten Hirten ist Gott bei mir.
Klaus Neumann, Pfarrer