Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun noch es sehen. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel. Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Wesen und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande. Und es kam und nahm das Buch aus der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß.
Und als es das Buch nahm, da fielen die vier Wesen und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm, und ein jeder hatte eine Harfe und goldene Schalen voll Räucherwerk, das sind die Gebete der Heiligen, und sie sangen ein neues Lied: Du bist würdig, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel; denn du bist geschlachtet und hast mit deinem Blut Menschen für Gott erkauft aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen und hast sie unserm Gott zu einem Königreich und zu Priestern gemacht, und sie werden herrschen auf Erden. Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Wesen und um die Ältesten her, und ihre Zahl war zehntausendmal zehntausend und vieltausendmal tausend; die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. Und jedes Geschöpf, das im Himmel ist und auf Erden und unter der Erde und auf dem Meer und alles, was darin ist, hörte ich sagen: Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit! Und die vier Wesen sprachen: Amen! Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.
(Offenbarung des Johannes 5)
Anders als Osterhase und Osterei hat das Osterlamm – wie wir auch heute lesen – einen direkten Bezug zur Bibel. Aber in diesen merkwürdigen Zeiten wird uns selbst das noch merkwürdig: Wir hätten das doch im Leben nicht geglaubt, dass wir neidisch sein könnten auf unser Osterlamm, also auf das, was wir uns gestern Abend zubereitet haben; dass wir neidisch werden könnten auf das Öl, mit dem wir kochen, auf die Kräuter, mit denen wir würzen, auf den Wein, den wir trinken, auf das Fleisch, das wir essen – warum neidisch? Alle können weiter reisen als wir, das Öl aus Kreta, die Kräuter aus der Provence, das Gemüse aus Andalusien, der Wein aus dem Medoc, der Pfeffer aus dem Land, wo der Pfeffer wächst, das Lamm aus Neuseeland – selbst die Pfalz als Heimstatt meiner Kartoffeln scheint unerreichbar. Großartig – wenn auch nicht gerade klimafreundlich – unser weitgereistes Essen, aber tragisch und traurig wir selbst, die wir hier bleiben und hier bleiben müssen.
Nicht nur beim Essenkochen überfällt einen das Fernweh: Wenn wir uns jetzt gleich nach dem Gottesdienst ins Auto setzen, gut durchkommen, keine Staus haben, zügig fahren, dann stünden wir heute noch – pünktlich eine gute Stunde vor Schließung von St. Bavo in Gent in dieser mir liebsten der flämischen Städte, weniger museumshaft als Brügge aber noch etwas stimmungsvoller als Antwerpen – dann stünden wir heute noch vor dem Genter Altar , der versucht genau das in Szene zu setzen, was wir gerade gelesen haben: Die Anbetung des Lamms, Hauptwerk nicht nur der Gebrüder Hubert und Jan van Eyck, sondern Hauptwerk der europäischen Malerei aus Flandern, neben und mit der Toskana Wiege der europäischen Kunst.
Schon im vergangenen Jahr haben wir die Jahrhundert-Ausstellung verpasst, die mehr Werke von van Eyck zusammengeführt hat als je eine zuvor – und aller Wahrscheinlichkeit je wieder; Once in a lifetime. Isoliert in unserem Zuhause und eingesperrt in unserer Region verpassen wir gerade das Leben da draußen, blicken auf unsere Bildschirme und in unsere Erinnerungen voller Bedauern und gelegentlichem Ärger, auch mal meckernd und jammernd, nicht ohne Selbstmitleid, das uns berechtigt scheint – auch wenn unsereins manches besser verschmerzen kann als etwa die Jugendlichen, die ihre Erfahrungen – auch den ganzen Blödsinn, zu dem sie genetisch beauftragt sind – erst noch machen müssen, jetzt aber nicht können; gar nicht zu reden von den Alten und Anfälligen, die mit viel Schlimmerem zu kämpfen haben als ihrem Fernweh oder den unerfüllten Regungen der Pubertät.
Unter anderen Zwängen und vor undenklichen Zeiten und deshalb eigentlich unvergleichbar mit uns – aber in der Lebenssituation eben doch uns ähnlich – hat Johannes – einsam, isoliert, sozial überaus distanziert – seine Visionen als Eremit und Exilant auf der Insel Patmos aufgeschrieben. Moment! Da könnte man jetzt auch sagen, was will der eigentlich: Exil auf einer Insel im blauen Meer der Ägäis, womöglich inklusive Badestrand, Sirtaki, Gyros und Ouzo um die Ecke: das kann man schlechter treffen! Aber nach langen Monaten am heimischen Herd im schönen Wiesbaden und Wanderungen im bezaubernden Rheingau – aber eben kaum irgendwo sonst! – haben wir vielleicht einen Hauch von Ahnung, wie es dem einsamen, isolierten und auf sein Inselchen fixierten Propheten gegangen sein mag. Einfach mal rauskommen, wäre schon gut!
Zumal Johannes weiß und in seinen Visionen das sogar sehen kann, dass die Welt um ihn herum tobt, dass die Welt unterzugehen scheint in gewaltigen Turbulenzen, sozialen Verwerfungen, Verfolgungen, Gewalt und Krieg, Apocalypse Now. Er sieht nicht weniger als den Untergang seiner ganzen Welt. Tatsächlich geht unser Wort Apokalypse, das erst für uns die Katastrophe, ursprünglich aber die Vision der Katastrophe bezeichnet, auf den Propheten Johannes und sein Buch zurück; es ist eine Schöpfung des einsamen Sehers von der griechischen Insel. Johannes erlebt das alles zwar selbst nicht mit auf seiner Insel, aber er durchlebt es in seinen Träumen und Gesichten, seinen Visionen und Auditionen, die ihn aufrütteln und verfolgen, so wie der römische Gewaltstaat seine christlichen Schwestern und Brüder verfolgt. Auch zu diesen inneren Bildern des Johannes, diesen prophetischen Visionen gibt es die – nur scheinbar weit hergeholte – Strukturanalogie unserer Televisionen am Bildschirm von Fernseher und Computer unserer Zeit, oder etwa von Tafel und Leinwand in der Zeit van Eycks. Wir erleben in diesen Bildern das Toben der Welt noch in unserem stillen Kämmerlein.
Das Werk des Johannes deutet seine chaotische Welt; es deutet sie als irdisch-weltliches Theaterstück in der Rahmenhandlung eines himmlischen Geschehens, in dem nicht Menschen sondern Engel agieren, manchmal sehr viele: zehntausendmal zehntausend und vieltausendmal tausend. Im Zentrum des Geschehens steht der gekreuzigte Auferstandene, der wie es im Glaubensbekenntnis steht, nun zur Rechten Gottes im Himmel auf seinem himmlischen Thron sitzt. Übrigens haben durchweg alle Bilder des Johannes immer auch eine astronomisch-astrologische Bedeutung – das wurde damals noch nicht unterschieden: Das Lamm unserer Vision heute ist eigentlich ein Schafsbock, also ein Widder und bezieht sich auf dieses Sternbild. Die Ordnung der Sterne garantiert den Lauf der Welt in allen deren Irrungen und Wirrungen. Es soll ja noch heute welche geben, die sich ebenfalls in solchen wirren Zeiten in den Himmel vergucken und dort Ordnung suchen, die sie auf der Erde nicht finden.
Hauptfigur auch unserer Szene ist also das Christus-Lamm, das hier metaphorisch einigermaßen kompliziert eingesetzt wird. Es ist einerseits das Opferlamm, das uns an Karfreitag und etwa auch unseren Predigttext vom Karfreitag im Buch des Propheten Jesaja erinnert, wo es heißt: „Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.“ (Jesaja 53,7) Passiv, schwach, leidend, Gewalt leidend – wie wir und mit uns.
Auffällig ist natürlich, wenn nun Johannes dieses Opferlamm nicht als geschlachtet sondern als wie geschlachtet bezeichnet. Dazu passen die Zeichen der Macht, mit denen es Johannes ausstattet, nämlich sieben Hörner und sieben Augen, was für meinen Geschmack das Bild ein bisschen sprengt. Dieser Schafsbock ist aktiv, stark, machtvoll – gottgleich also – und ist folglich derjenige, der würdig ist, zu nehmen das Buch und aufzutun seine Siegel. Das Buch der sieben Siegel aber ist nichts anderes als das Drehbuch der Weltgeschichte, das nun Christus als Weltenherrscher selbst in die Hand nimmt. Kein Tier aus dem Abgrund, kein Teufel, kein römischer Imperator regiert die Welt sondern Christus das Lamm.
Unser Maler van Eyck vollzieht diese Ambivalenz aus Macht und Ohnmacht im Christuslamm nach und neigt sie wie unser Text zugunsten der Macht: Das Lamm hat zwar die deutlich sichtbare Wunde am Hals, aus der das Blut strömt; aber diese Wunde hat das Lamm nicht dahingerafft, sondern das Lamm empfängt die im Text beschriebene Huldigung, es steht gravitätisch und majestätisch – wie je ein Lamm gestanden hat, möchte man sagen. Aber seltsam bleibt die gemalte Metapher allemal, auch durch die meisterliche Hand der van Eyck-Brüder.
Die Restauration des Altarbildes für die Jahrhundertausstellung hat unter zahlreichen Übermalungen und zur Überraschung aller die originalen Augen des Lamms ans Licht gebracht; nicht etwa sieben, das war dem Meister dann doch zu merkwürdig, aber statt Schafsaugen wie auf den Übermalungen hatte van Eyck ursprünglich dem Lamm Menschenaugen an den Kopf gemalt, bestimmt um deutlich zu machen, dass uns hier ein Mensch, nämlich Christus, anschaut, uns mit seinem Blick annimmt und segnet, und uns seiner weltbeherrschenden Gnade versichert.
In allem Chaos, das wir erleben, dürfen wir damit rechnen und dürfen das glauben, dass Christus regiert. Amen.