Jesus Christus spricht: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt,wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten. (Johannesevangelium 7,37b-39a)
Ströme lebendigen Wassers fließen: Panta rhei! Alles fließt – gehört zu den ersten Erkenntnissen der Philosophie überhaupt; dem griechischen Philosoph Heraklit wird diese Einsicht zugeschrieben, irgendwann vor mehr als zweieinhalb tausend Jahren hat er das erkannt und dann gesagt – in seinen berühmten Flussfragmenten: dass „alles fließt und nichts bleibt; es gibt nur ewiges Werden und Wandeln“; „Wer in denselben Fluss steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu“; „Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.“; „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“
Panta rhei! Noch im Namen unseres Flusses Rhein, klingt diese uralte Weisheit nach, denn der ist nach demselben Wortstamm gebildet: rhei – Rhein, wenn man die Worte vor sich sieht, ist es noch deutlicher: der Rhein, der Fließende, der sich Wandelnde; wie wahr!
In meiner Kindheit – vor einem halben Jahrhundert: Kinder, wie die Zeit vergeht und verfließt! – war der Rhein auch schon schön, aber auch schön stinkig, stinkend nach Haushalt, nach Klo, nach Chemie; nicht nur die Schornsteine mussten rauchen sondern auch die Abwässer fließen; niemand wäre auf die Idee gekommen, in Biebrich, in Schierstein, oder auf der Rettbergsau, der Mariannenau, der Maaraue den Inselrhein auch als Badestätte zu genießen, heute hindert uns nur noch die Strömung oder der Schiffsverkehr daran, allzu sorglos im Rhein zu baden; krank machen würde er uns wohl nicht mehr, Fische und Vögel fühlen sich jedenfalls wieder wohl. Alles fließt, alles wandelt sich – nicht alles wandelt sich zum Schlechteren.
Ein paar hundert Kilometer flussaufwärts lässt sich wieder oder noch – alles fließt, alles wandelt sich, alles bleibt im Wandel – erleben, in Basel nämlich, wo die Menschen in den Fluss steigen, in ihm mitfließen, sich treiben lassen, sich selbst zum Treibgut machen, an der einen Stelle hinein und ein paar hundert Meter weiter hinaus, im Flussbadi – wie es in unseren nördlichen Ohren niedlich helvetisch klingt. Wenn man das als Besucher von weitem erlebt, die scheinbar hilflos im Wasser treibenden Menschlein als Punkte vom gegenüberliegenden Ufer sieht, denkt man erst an ein Unglück, möchte als ersten Impuls um Hilfe telefonieren, und erkennt nach einem Schreckmoment, dass die da zum Vergnügen sind, dass sie Spaß haben, und man lernt später, dass das, was sie da in Händen halten kein Rettungsgerät sondern der geniale Basler Wickelfisch ist, eine Trockentasche, die die Klamotten bis zum Ausstieg am anderen Ende der Stadt sicher verwahrt: Panta rhei; wenn schon alles fließt, muss aber noch lange nicht alles nass werden, denkt sich der patente Schweizer und verbindet das Vergnügen mit der Philosophie. Alles fließt und ich mit.
Panta rhei – was für ein starker Satz! Und das fließende Wasser – was für ein starkes Symbol! Mitreißend – und mitgerissen hat es uns ein wenig auch vom Predigttext, aber nur scheinbar fortgerissen. Denn da geht es nun einmal in einer Art hydrologischen Glaubenslehre um das Fließen von Strömen lebendigen Wassers, als Symbol des Wandels, des Lebens, der Kommunikation – das heißt ja „Geist“ – aus Christus; um das Fließen des Wassers – Jesus und sein Biograph Johannes werden Heraklit nicht gelesen haben – ich ja auch nicht, nur über ihn – aber beide benutzen dieselbe Vokabel, kommunizieren mit ihr mit uns, wie das Panta rhei, das noch den Rhein durchfließt.
Auf Flüssen und über Flüsse hinweg kommunizieren wir, zum Guten wie zum Bösen. Die Flüsse hinunter und hinauf ergaben, ergeben sich die Kulturkontakte; und über die Flüsse hinweg kreuz und quer haben unsere Vorfahren ihre Kulturkonflikte ausgekämpft: „Lieb Vaterland magst ruhig sein, fest steht die Wacht am Rhein“ – heute noch schön scheußlich in Stein gemeißelt, oben in Rüdesheim, im Niederwalddenkmal, darüber die Germania, die Siegeselse zum Gedenken an 1871, gerade einmal 150 Jahre her, mit stolzem Blick über den Rhein hinweg aus einer anderen Welt, weniger drohend und weniger martialisch als die Worte darunter, sie selbst vielmehr stolz und schön, eine starke Frau mit wehendem Haar, feministisches Statement, Frauenpower der Bismarckzeit, zumindest in der Bildsprache dieser Hauptfigur; ihrer französischen Schwester Marianne viel weniger unähnlich als gedacht. Mir gefällt sie, je öfter ich sie besuche und je länger ich sie kenne. Was hat sie uns zu sagen?
Unser Predigttext benutzt das Bild der Wasserströme um unsere Kommunikation zu zeigen; oft genug ist die gestört, gerade jetzt in diesen bösen Zeiten. Manches werden wieder neu lernen müssen nach der Pandemie; anderes haben wir neu eingeübt, auch zum Guten. Wenn wir nur vor dem Bildschirm sitzen ist das zwar Mist, aber besser als ganz allein zu sein; etwas Geist strömt da ja doch durch die bits und bytes unserer Daddelkisten.
Noch besser, viel besser aber ist es in direkten Kontakt zu treten, sich gegenseitig gegenwärtig zu werden, Geist zu spüren, Präsenz zu erleben. Das wird wieder passieren – und das ist schon wieder passiert. Das war ein besonderer Moment für mich, dass ihr den Vorstellungsgottesdienst präsent, gegenwärtig, real für und mit uns feiern konntet – nach so vielen Monaten vor dem Bildschirm Euch zu erleben, nicht nur als flimmerndes Bild oder schwarze Kachel. Euch gibt’s ja wirklich!
Und dass ihr euren Gottesdienst unter das Thema gestellt habt, das so viel für unseren Glauben bedeutet: Gerechtigkeit, die ja letztlich Regeln der Kommunikation betrifft! Gerechtigkeit: Wie gehen wir miteinander um, was verdient einer, was gehört sich, wie fließen unsere individuellen Lebensbächlein zusammen in den Strom der Gesellschaft.
Unser Predigttext heute bezieht sich direkt auf einen Text im Alten Testament, dem es wie so oft um nichts anderes geht als gerade das: Gerechtigkeit! Wie beziehen wir uns auf andere, wie kommunizieren wir, wie geht das: jedem das seine zukommen zu lassen (noch der beste Satz kann zum schlechtesten werden, den Schatten des Schreckens tragen); wie geht das, jedem und jeder gerecht zu werden. Gerechtigkeit ist Kommunikation – im weitesten Sinne – mit den anderen; wie bekommen wir es hin, dass jeder und jedem das ihm Gebührende zukommt, zufließt? Panta rhei, nun als Frage und als Aufgabe. Der Prophet Jesaja schreibt:
Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«. (Buch des Propheten Jesaja 58,9b-12)
Konfirmiert werden heißt – neben so vielem anderen, über das wir gesprochen haben – auch, dass ich mich als von Gott zur Gerechtigkeit beauftragt verstehe: die Ströme der Gerechtigkeit fließen zu lassen, dazu beitragen, Ungerechtigkeit in Gerechtigkeit zu verwandeln – und dadurch den Strom des Lebens durch mich fließen zu lassen. Was für eine Aufgabe, mit der wir heute – alle von uns, nicht nur die Konfirmanden – entlassen werden in den Strom des Lebens. Panta rhei. Amen.