Gott hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. Er verachtet das Flehen der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie ihre Klage erhebt. Laufen ihr nicht die Tränen die Wangen hinunter, und richtet sich ihr Schreien nicht gegen den, der die Tränen fließen lässt? Wer Gott dient, den nimmt er mit Wohlgefallen an, und sein Gebet reicht bis in die Wolken. Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost, und er lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt und den Gerechten ihr Recht zuspricht und Gericht hält.
(Buch Jesus Sirach 35,16-22a)
„Wenn et Bedde sich lohne däät, wat meinste wohl,
Wat ich dann bedde däät.“
Sang Wolfgang Niedecken und spielte seine Kölsch-Combo BAP im Jahr 1982 und brachte damit auf den Punkt, worin für viele das Problem des Betens besteht: Lohnt sich Beten überhaupt? Hat Beten Sinn?
Wenn sich das Beten lohnte, was meinst Du wohl, was ich dann beten würde.
Eigentlich verbirgt und enthüllt sich hinter diesem Liedvers nicht nur bloß ein Problem sondern sogar ein doppeltes, oder gleich mehrere: Zunächst stellt er – wie wir oft genug ja auch – in Frage, ob da überhaupt jemand ist, der uns zuhört, und wenn da einer wäre, der uns zuhört, ob er uns überhaupt helfen könnte oder wollte. Was, wenn uns keiner hört? Was, wenn uns einer hört, der nicht helfen kann? Was, wenn uns einer hört, der nicht helfen will? Solange das Gebet nicht durch die Wolken – auch durch die Wolken unserer Zweifel – gedrungen ist, sagt Sirach, bleibt der Beter ohne Trost. Das weiß der Predigttext aus dem Buch Jesus Sirach, vom Rand der Bibel; aber er meint noch viel mehr zu wissen.
Jesus Sirach meint zu wissen – er glaubt!- , dass Gott unsere Gebete erhört, dass er helfen kann und helfen will; und zwar vor allem denen, die es besonders nötig haben: den Armen und Unterdrückten, den Waisen und Witwen, den Weinenden und Klagenden, den Demütigen und denen, denen Unrecht getan wird; kurz – und wieder in den Worten des Kölschen Poeten und Sängers, der beten würde, wenn es sich lohnen täte: Für all dat, wo der Wurm drin, für all dat, wat mich immer schon quält, Für all dat, wat sich wohl niemohls ändert.
In Sirachs und Niedeckens Worten – aber das könnte man an jedem Gebet zeigen, nicht zuletzt am Vaterunser, dem christlichen Goldstandart des Gebets – äußert sich eine konkrete Utopie einer besseren, einer von Gott verbesserten Welt: tägliches Brot, Vergebung der Sünden, Erlösung vom Bösen – das Reich Gottes eben: Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden!
Und genau darin zeigt sich die Wahrheit des Betens – auch gegenüber solch fromm unfrommen Betern wie unserem Kölschrocker: Die Erfüllung unserer Gebetsanliegen liegt in Gottes Hand – nicht in unseren Händen. Wir beten für das, was wir eben nicht selbst ändern und herbeiführen können. Wir beten für das, was wir uns als Veränderung und Verbesserung unserer Welt wünschen, das wir aber einem größeren und stärkeren und besseren überlassen müssen, als wir das sind; wir beten für das, für das wir nur beten können, weil wir es selbst nicht zu tun und zu machen hinkriegen: Wenn ich mehr als bloß beten könnte, was meinst Du wohl, was ich dann machen würde.
Das Gebet zeigt uns als Bittende vor Gott; Luther sagt: Wir sind Bettler! (seine als letzte überlieferten Worte!). Als Betende erkennen wir – und wir erkennen sie an – die Grenzen als Menschen, die Grenzen unserer Möglichkeiten: Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken. Und das wäre ja schon ein nicht geringer Lohn unseres Betens; wenn es um Lohn ginge und das Beten sich lohnen müsste, was es tut aber natürlich nicht muss. Beten lohnt sich, weil es uns demütig vor Gott macht, ohne dass uns Gott demütigen wollte; sondern – ganz im Gegenteil – indem Gott uns erhört, annimmt, mit Wohlgefallen annimmt und gerecht macht – wie es Sirach ganz zurecht sagt.
Noch in den ungebeteten Gebetsanliegen des Wolfgang Niedecken lässt sich die Sehnsucht nach einer höheren Gerechtigkeit, nach einer intensiveren Barmherzigkeit, nach einer besseren Solidarität vernehmen, nach Frieden und Liebe, nach Aufmerksamkeit für die Mühseligen und Beladenen, die dem Sänger als menschlich unerreichbar erscheinen, welche die Beter aber von Gott erwarten und ihrer Meinung nach von Gott erwarten können: Ich däät bedde für Sand em Jetriebe, un jed Klofrau kräät Riesenapplaus. Övverhaup jeder Unmengen Liebe un dä Sysiphus nit nur en Paus. Däät die Rubel bremse, die rolle, Kroonjuwele verbanne nohm Schrott, leet all Jrenze un Schranke verschwinde, jede Speer, jed Jewehr, jed‘ Schafott.
Und hier könnte sich dann – wenn es darum ginge, aber darum geht’s ja gar nicht – ein zweiter Lohn des Betens ergeben – nach dem ersten Lohn der Selbsterkenntnis vor Gott – nun der zweite, dass der Beter sich über die gerechten und guten Gebetsanliegen Gedanken macht, sie sortiert für sich, was wichtig und was dringlich ist – dabei manches entrümpeln und aussortieren kann – und vielleicht sogar unter den Gebetsanliegen manches entdeckt, was er zwar auch Gott vortragen kann, weil man alles Gott vortragen kann, aber vielleicht sogar selbst Hand anlegen kann und sollte – etwa im eigenen, persönlichen Umgang mit denen am Rand, auf der Suche nach Gerechtigkeit mit denen, die einem anvertraut sind. Da ließe sich schon dran arbeiten – auch noch vor Anbruch des Gottesreiches. Ora et labora, sagten die Mönche. Bete und arbeite! Es gibt immer was zu tun.
Heute aber soll es ums Gebet gehen und da kann es leider nicht nur um seinen Sinn und seinen Lohn gehen – um den es ja eigentlich sowieso nicht geht – , sondern da muss es auch um die falschen, die missglückten, die geradezu lästerlichen Gebete gehen, in denen wir uns an Gott und unseren Mitmenschen vergreifen. Noch am schlimmsten Gebet kann man was lernen.
Jesus Sirach führt das, also wie man nicht beten soll, – kaum willentlich – im unmittelbaren Fortgang unseres Predigttextes vor: Der Herr wird nicht säumen noch Langmut zeigen, bis er den Unbarmherzigen die Lenden zerschmettert. Auch an den Heiden wird er Vergeltung üben, bis er die Menge der Frevler vernichtet und die Zepter der Ungerechten zerbricht, bis er dem Menschen nach seinen Taten vergilt und die Werke der Menschen nach ihren Plänen, bis er seinem Volk Recht schafft und es erfreut mit seiner Barmherzigkeit. (Buch Jesus Sirach 35,22b-25)
Es mag Situationen geben – nein, es gibt Situationen, Grenzsituationen, in denen die Verzweiflung vor meinen Peinigern und die Angst vor meinen Feinden solches Reden – ja solches Beten – hervorruft. Wir lesen und hören das ja auch immer wieder in den Psalmen, in denen der Beter in ärgster Bedrängnis und größter Not, die Hand Gottes gegen seine Feinde erbittet. Aber wir hätten kaum ein Recht hier mitzubeten, außer wir erlebten selbst gerade solche Gewalt; als misshandeltes Kind, als Missbrauchsopfer, als Frau, der Gewalt angetan wird, als Schwächerer unter den Prügeln vieler, als Gefangener unter der Folter, – die hätten und haben jedes Recht sich an Gott zu wenden, auch mit der Bitte, die Peiniger zu beseitigen, ihnen zu schaden, um sie unschädlich zu machen.
Aber die Worte des Sirach scheinen eine solche Grenzsituation nicht vorauszusetzen. Sie sind dafür viel zu allgemein und formelhaft. Es scheint sich in ihnen viel mehr um den größten möglichen Gebetsfehler zu handeln, der einem unterlaufen kann, nämlich um das Gebet nur für die eigenen Interessen, die ich über die der anderen stelle; die ich so sehr über die der anderen stelle, dass mir deren Ergehen nicht nur egal ist, sondern dass ich sie zum Teufel wünsche um meines Vorteils willen; dass ich Rache als Gerechtigkeit missverstehe und auch noch von Gott fordere und indem ich mich in Hochmut über andere erhebe. Das kann nicht Sinn und Recht des Gebets sein, und selbst der wunderbare Schlusssatz unter unseren Abschnitt kann uns nur halb mit Jesus Sirach versöhnen: Sein Erbarmen erquickt in der Zeit der Not wie Regenwolken in der Zeit der Dürre. (Buch Jesus Sirach 35,26)
Diese Fehler des Gebetsegoismus und der Rachephantasie unterlaufen dem kölschen Sänger übrigens nicht, obwohl ihm fraglos klar ist, dass es auch Verantwortliche und Schuldige für die Missstände gibt, die er beklagt und sich wegwünscht – all dat, wo der Wurm drin, all dat, wat mich immer schon quält, all dat, wat sich wohl niemohls ändert. Von Rache und Vergeltung singt Niedecken dennoch nicht.
Aber er meint wohl – wie wir das auch oft meinen – dass der Sinn des Gebets in einem Lohn, also womöglich in der Erfüllung meines Gebetswunsches bestehen könnte und sogar müsste. Das aber ist nicht der Fall. Meine Stellung vor Gott und neben meinen Mitmenschen verbietet, die Erfüllung meines Wunsches für die Erhörung meines Gebetes zu halten. Nicht mein Wille sondern dein Wille geschehe! Damit ist das Gebet – neben allem anderen – eine Übung zum Widerstand gegen die Marktförmigkeit des Glaubens: Ich gebe das Gebet und erwarte dafür, das zu bekommen, was ich erbeten habe. (Und ich bin mir sicher, dass Wolfgang Niedecken gerade das verstehen würde!) Beten lohnt sich aber in diesem marktförmigen Sinne nicht, Glauben auch nicht. Genau darin besteht ihr Sinn. Genau darin liegt ihr Wert.
Dennoch ist das Gebet auch kein Selbstgespräch, sondern indem ich vor Gott meine Anliegen benenne, gebe ich mir die Chance, mit Gott ins Gespräch zu kommen. Ich vertraue im Glauben darauf, dass es zu ihm durch die Wolken dringt, und empfange Gottes Erbarmen, ohne es für den Lohn meines Gebets zu halten: Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken; und: Gottes Erbarmen erquickt in der Zeit der Not wie Regenwolken in der Zeit der Dürre. Amen.