Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. (Brief des Paulus an die Galater 5,1-6)
Welche Freiheit meinen wir, wenn wir von Freiheit sprechen?
Die Freiheit der Autofahrer? – freie Fahrt für freie Bürger! – Oder die Freiheit der Radfahrer? – Immer diese Radfahrer! Fand schon Heinz Erhard. Und neuerdings immer diese Fahrer von Lastenrädern, den SUVs unter den Zweirädern, unter die kann man nicht nur als älterer Mensch leicht geraten. – Oder die Freiheit der Fußgänger? – Gerade in größeren Gruppen beherrschen sie spielend die Technik der nur unmerklichen sich bewegenden Straßensperre.
Die Freiheit der Hundebesitzer oder die Freiheit der Vorgartenhüter? – Ich wurde schon gelegentlich darüber aufgeklärt, dass die Entrichtung der Kirchensteuer doch wohl zur Benutzung des Kirchgartens als Hundeklo befreie. Welche Freiheit? Die Freiheit der Aktionäre oder die Befreiung der Armen? Die Freiheit dieser oder der nächsten Generationen? Freiheit wovon oder Freiheit wozu? Die Freiheit der Regeln oder der Regellosigkeit? Die Freiheit in Bindungen oder die Unfreiheit der Bindungslosigkeit.
Glauben wir noch an die liberale Lüge vom freien Spiel der Kräfte oder an den müden Mythos der Befreiung der Unfreien durch die Umverteilung der Güter – oder dann doch lieber gleich an den Weihnachtsmann? Die Gedanken sind frei.
Bin ich frei, wenn ich alles darf, oder dann, wenn ich manches muss – und ist das vielleicht sogar dasselbe, also dass der, der alles darf, auch alles muss, weil er es kann? Ist die Freiheit als Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit nicht der Eingang in die Unfreiheit der eigenen grenzenlosen Verantwortung unter den engen Bedingungen meiner endlichen Existenz? Ist die Freiheit eine Lust oder eine Last? So viele Fragen – aber allein sie zu stellen und nach den eigenen Antworten leben, heißt frei sein – trotz und in allen Ambivalenzen des befreiten Lebens.
Und welche Freiheit meint überhaupt Paulus, wenn er hier von Freiheit spricht; und welches Joch der Knechtschaft? Er sagt es ja: Paulus meint, dass die Befolgung des jüdischen Ritualgesetzes und also die Beschneidung nicht nur keine Voraussetzung für die Teilhabe an der Gnade Gottes sei, sondern geradezu ihre Verhinderung, weil allein in Christus allein der Glaube Gnade verleiht. Paulus hält die Beschneidung für religiöse Freiheitsberaubung, weil sie den Weg zu Christus auf einen Umweg, nein sogar auf einen Abweg führt.
Nun hat sich zwar diese Fragestellung im engeren Sinne seit längerem für Christen überholt – die allerwenigsten Christen kommen auf die Idee, sie müssten ihre Söhne oder sich selbst beschneiden lassen, um zu Gott zu gehören; und eigentlich ist es eher umgekehrt ein Beispiel von Freiheit, nämlich von Religionsfreiheit, wenn Staat und Gesellschaft trotz gelegentlicher antisemitischer Kampagnen den jüdischen Gemeinden die Beschneidung nicht verwehren – aber die hier von Paulus im Prinzip formulierte Freiheit des Glaubens besteht fort, aktuell wie eh und je; auch angefochten und bedrängt wie eh und je.
Die Freiheit des Glaubens besagt, dass sich keine Autorität, keine Behörde – und noch die wohlwollendste nicht -, auch keine Kirche zwischen mich und meinen Glauben stellen darf. Hilfestellung, Ermöglichung, Unterricht, Vermittlung, Formulierungshilfen – das alles ja: aber kein Zwang in Dingen des Glaubens, denn im Glauben sind wir christus-unmittelbar.
Martin Luther, an den wir uns heute erinnern, war ein treuer Schüler des Apostels und hat dessen Lehre von der christusunmittelbaren Glaubensfreiheit auf die Probleme seiner Zeit angewendet, die für Luther im Wesentlichen in der Gestalt der spätmittelalterlichen-katholischen Kirche begründet lagen. Für ihn und für erstaunlich viele andere (die Reformation war ein unvorstellbar erfolgreiches Massenereignis und ohne die ebenso unvorstellbare Gewalt der Gegenreformation hätte Luthers Reform zumindest nördlich der Alpen die Kirche als Ganze reformiert und nicht nur die beiden Kirchentümer hervorgebracht, die wir heute als die evangelische und die katholische Kirche kennen und sich viel ähnlicher sind, als wir bisweilen meinen) waren insbesondere das unbiblische priesterliche Amtsverständnis, die Lehre vom Abendmahl als priesterliches Opfer und der Mangel an biblischer Bildung der Kern des Anstoßes und der Grund seiner Kritik, weil sie je für sich und zusammen gegenseitig verstärkend Christus verdunkelten und nicht erhellten.
Dagegen setzte Luther seine Kernbotschaften
- Von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben – kein Regeln oder Rituale bringen mich näher zu Gott, allein der Glaube
- vom „allgemeinen Priestertum“ – alle Glaubenden und Getauften sind christusunmittelbar und bedürfen eines Priesters nicht,
- vom Abendmahl für alle in beiderlei Gestalt,
- und seine Bibelübersetzung in der Volkssprache, deren 500. Geburtstag wir dieses Jahr feiern.
In der von Paulus geforderten Standfestigkeit – So steht nun fest! – hat Luther der Forderung, diese Lehren zu widerrufen und damit unter das Joch (symbolisiert in der priesterlichen Stola, die mittlerweile und merkwürdigerweise auch viele Evangelische tragen) zurückzukehren, widerstanden – lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Denn: Zur Freiheit hat uns Christus befreit!
Ein Denkmal, das uns zum gedenken und zum nachdenken auffordert: Gedenke! Denk mal! Denk mal bloß! (wie Karlsson vom Dach als freier Geist zu sagen pflegte), ja, denk mal bloß! – also ein Denkmal der Reformation wird diesen Moment zu verbildlichen suchen – so wie es das Lutherdenkmal in Worms versucht.
In der heroischen Bildsprache des wilhelminischen Kaiserreiches droht allerdings dem Geehrten in den Augen von uns nachgeborenen – also besserwissenden und besserwisserischen – Betrachtern leicht eine Verfälschung, oder sogar Fälschung, zumal der von mir gewählten Ausschnitt große Teile des Gruppendenkmals ausblendet und den Betrachter in Untersicht auch noch dem „Helden“ Luther unterwirft (was aber vor allem meinem fotografischen Unvermögen geschuldet ist). Bei den gelegentlichen Besuchen im vergangenen Jahr und zuletzt bei der Gemeindepilgerwanderung Anfang des Monats habe ich aber auch andere Seiten am Denkmal wahrgenommen. Dabei ist mir das Machwerk, dass man doch eigentlich schon immer schön scheußlich gefunden hat, ans Herz gewachsen, wieso?
- Recht betrachtet und richtig fotografiert ist es eben kein Lutherdenkmal, sondern ein Reformationsdenkmal; das viele Figuren und Ereignisse abbildet und viele Sichtweisen erlaubt. Der Betrachter eignet sich durch sein Betrachten und Begehen des Denkmals in ziemlicher Freiheit höchstpersönliche Erfahrungen mit dem Denkmal an. Und je näher man dem dreieinhalbmetergroßen Luther kommt, desto weniger ist von ihm zu erkennen. Er befreit sich aus unserem Zugriff.
- Auf unserem Bildausschnitt sind links und rechts große Skulpturen der Vorreformatoren Girolamo Savonarola und Jan Hus, dessen grausamer Märtyrertod auf dem Scheiterhaufen in Konstanz zeitlebens auch Luther vor Augen führte, dass die römische Kirche nicht mit ihm reden sondern ihn verbrennen wollte: Recht und Freiheit seines Lebens standen immer unter der Drohung des päpstlichen Mordauftrags.
- Außer diesen und anderen Skulpturen zeigt das Denkmal in zahlreichen Inschriften und Reliefs weitere Aspekte der Reformation, wie in einer multiperspektivischen begehbaren bronzenen Graphic Novel der Reformation, virtuell realer Rundgang durch eine Epoche: Für uns auf dem Bild sichtbar den berühmten Satz Luthers in Worms vor Kaiser und Reich: Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen. Darunter Bilder zweier seiner politischen Unterstützer mit sprechenden Namen, auch wenn diese dem Betrachter nicht geläufig sein mögen: Johann der Beständige und Johann Friedrich der Großmütige – was für ein Wunder, dass es in solchen bewegten Zeiten Fürsten gab, denen solche Namen angeheftet werden konnten – und dann ein vielfiguriges Relief der Wormser Reichstagsszene, die weit über Kirche und Religion hinaus für die Freiheit des Einzelnen gegenüber den Mächtigen steht.
- Um den auf unserem Bild sichtbaren Teil des Denkmals legt sich rechteckig eine äußere Mauer mit weiteren Akteuren und Ereignissen jener Zeit, genug Stoff für mehrere Besuche und neue Entdeckungen, beim letzten Mal hatte es mir die Personifikation der „Trauernden Magdeburg“ angetan, die als wunderschöne, aber todtraurige Frau, die unfassbare Gewalt darstellt, die ohne Zweifel auch in den Religionskriegen vor allem und unschuldigerweise als Nichtkombattanten damals wie heute Frauen und Kinder traf – und wenn die Opfer evangelisch waren typischerweise mit Glockengeläut im Vatikan bejubelt wurden. Freiheit ist immer die Freiheit der Schwächsten.
- Ebenfalls in der äußeren Mauer befinden sich die großen Skulpturen zweier großer und weithin berühmter humanistischer Gelehrter ihrer Zeit: Johannes Reuchlin und seines entfernten Verwandten Philipp Melanchthon; beide aus dem noch heute bildungsprivilegierten deutschsprachigen Südwesten, wo sie in Heidelberg, Tübingen, Freiburg, Basel und Straßburg gelebt und gewirkt haben. Beide verweisen darauf, dass die Reformation eine Befreiung durch Bildung und zur Bildung hin gewesen ist – und lassen gerade durch ihre Anwesenheit die Abwesenheit des berühmtesten aller damaligen Humanisten Erasmus von Rotterdam noch viel schmerzhafter wirken. Der fehlt unserem Denkmal weil er eben auch der Reformation gefehlt hat, seinem freien Willen, über den er sich mit Luther publikumswirksam gestritten hat, gefolgt ist und im Schoß der katholischen Kirche sitzen geblieben ist!
- Wer oder was fehlt noch? Sicherlich viele Opfer der Reformation, die tatsächlichen wie Bauern und Täufer; aber auch die Opfer übler Rhetorik, wie die Juden, denen Luther fürchterliche und unverzeihliche Tiraden entgegengeschickt und damit jüdischen Menschen über Jahrhunderte hinweg geschadet aber auch seinen eigenen Ruf nachhaltig beschädigt hat. Am auffälligsten – gerade für den wiederkehrenden Betrachter – ist aber die Abwesenheit dessen, um den es allein! in Luthers Freiheitsbotschaft geht: allein aus Christus her und allein zu Christus hin soll die Reform der Kirche nach Luther geschehen; da kann man ihr Gedächtnis eigentlich schlecht als Hagiographie alter Männer in Stein meißeln und zu Bronze schmieden.
- Und was spricht überraschenderweise für das Denkmal? Dass es einer der wenigen einladenden Orte in einer nicht gerade durch Schönheit verwöhnten Stadt ist, an dem der Pilgerwanderer auf den Spuren Luthers sich beim Dönerschmaus stärken kann und den die Kinder vor allem der Einwanderer längst als Spielplatz der Freiheit für sich entdeckt haben, ballspielend zwischen Friedrich dem Weisen und Johannes Calvin. Erst reizt einen der hausmeisterliche Reflex, dieses Kinderspiel nervig zu finden, etwa weil er die Andacht stört – bis zu dem Moment der Einsicht, dass nichts besser passen könnte: Ein Lutherdenkmal als Ort kindlicher Freiheit! Die Idee der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes besiegt noch allen wilhelminischen Pomp alter, was sage ich, längst verblichener weißer Männer.
Martin Luther hat irgendwann seinen nicht gerade vornehmen Nachnamen gräzisiert und damit aufgewertet: Er verwandelt das schäbige Luder seiner Vorfahren in Luther – und verbindet sich so mit dem griechischen Eleutherius: d.h: der Freie. Als erster Freigelassene des kirchlichen Mittelalters ruft er uns noch heute das Pauluswort zu: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!
Amen.