Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.
Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der HERR unsere Gerechtigkeit«.
Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: »So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«,
sondern: »So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen. (Buch des Propheten Jeremiah 23, 5-8)
Es kommt die Zeit, spricht Gott durch seinen Propheten, wenn es um das Gottesreich gehen soll, jenes Reich, in dem ein guter König – und das ist in der Tradition der Bibel ein Nachfahre des König David – Recht und Gerechtigkeit und Frieden – also den Frieden Gottes für die ganze Welt, den Schalom – für alle schaffen wird: Es kommt die Zeit.
„Es kommt die Zeit“, dichtet und singt der Volkssänger Campino von der Düsseldorfer Deutschpunk-Kombo Die Toten Hosen – die Älteren unter den Jüngeren werden sich erinnern – und bekennt dann halbironisch und ganz ernst seinen Glauben an ein zukünftiges Friedensreich, in dem Liebe und Gerechtigkeit herrschen, so – beinahe so – wie es in der Bibel steht:
„Es kommt die Zeit …
Ich glaube, dass die Welt sich noch mal ändern wird
Und dann Gut über Böse siegt …
Alle werden wieder voreinander gleich
Jeder kriegt, was er verdient
Ich glaube, dass die Menschheit Mal in Frieden lebt
Und es dann wahre Freundschaft gibt
Und der Planet der Liebe wird die Erde sein
Und die Sonne wird sich um uns drehen
…
Es wird ein großer Sieg für die Gerechtigkeit
Für Anstand und Moral
Es wird die Wiederauferstehung vom heiligen Geist
Und die vom Weihnachtsmann
Es kommt die Zeit …“
Wie gesagt, beinahe so wie es in der Bibel steht, sogar der weihnachtliche Bezug fehlt nicht; nur dass der Sänger mit seinen Wünschen und Träumen von einer besseren Gesellschaft und einer besseren Welt sich selber nicht ganz zu glauben scheint.
Glauben wir uns? Glauben wir unseren Propheten? Glauben wir unseren Träumen von einer besseren Gesellschaft und einer besseren Welt?
Zumindest wird man weder dem Propheten noch dem Sänger eine blauäugige Realitätsflucht nachsagen können; denn beide formulieren ja ihre Wünsche und Hoffnungen für eine bessere Welt angesichts einer miserablen Gegenwart, die ihrerseits vom guten Ende aus gesehen nur noch als „ein alter böser Traum“ erscheinen wird.
Davon können wir gerade nur träumen, nämlich unsere Gegenwart endlich für einen bösen alten Traum halten zu dürfen; noch sind wir ja gefangen in der Dauerschleife dieses Corona-Alptraums, der zwar in vielen – zuerst den Ärzten und Wissenschaftlern und Pflegern – viel Gutes hervorbringt; aber in viel zu vielen anderen von uns Schlechtes und Schlechtestes. Zwei Jahre Stress haben uns verändert und eben nicht durchweg zum Besseren: in anderen Zeiten harmlose Spinnereien – was juckt es mich normalerweise, wenn andere sich nicht impfen lassen? Selbst dran schuld, wenn sie erkranken! – eigentlich für andere harmlose Spinnereien verwischen unter Seuchenbedingungen die Konturen von Wahrheit und Wirklichkeit; harmlose Spinner verwandeln sich in Randalierer und Umstürzler; die Unterschiede in der Gesellschaft verschärfen sich in schneidende Gegensätze und eine gemeinsame Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit verschwindet im Novembernebel der Pandemie.
Wehe den Hirten, die die Herde meiner Weide umkommen lassen und zerstreuen!, spricht der Herr (Jeremia 23,1) durch seinen Propheten Jeremia unmittelbar vor unserem Predigttext – und er scheint es direkt in unsere verwirrte und zerstreute Gesellschaft zu sprechen, in der so viele Menschen umkommen, den Seuchentod sterben müssen, in der vergangenen Woche – so haben wir es gehört – ist die Zahl der Coronatoten allein in unserem Land bei über 100.000 angekommen, was für eine Tragödie! Und die anderen, die sie nicht direkt trifft, müssen sich dennoch wieder einmal in das Exil des eingeschränkten Lebens begeben, mit Kontaktverminderung und dem ganzen Rest und Mist.
Und auch wenn wir die bisherige Regierung und die neue, die ja mindestens zur Hälfte die alte ist, bestimmt nicht für die bösen Hirten halten müssen, die ihre Herde umkommen lassen und zerstreuen, so tun wir ihnen – also den alten und den neuen alten Regierenden – gewiss auch kein Unrecht, wenn wir sie ebenfalls nicht für die biblisch erhofften, prophetisch angekündigten neuen guten Könige halten, die ein für alle Mal Recht und Gerechtigkeit aufrichten, dass alles gut werde, für immer und ewig.
Wir treten ihnen nicht zu nahe, wenn wir sie nicht für die gerechten Friedensherrscher halten und ihr Programm nicht für das Evangelium. Und doch müssen sie sich an dem Maßstab von Recht und Gerechtigkeit messen lassen – natürlich unter den Bedingungen und Begrenzungen fehlerhafter Menschen, die sie sind. Auch ihnen wird nach den vier Jahren ihrer Amtszeit viel zu vergeben sein – nämlich was sie uns zu einer besseren Gerechtigkeit schuldig geblieben sind.
Und hier scheint mir nicht nur der religiöse sondern auch der politische Sinn dieser prophetischen Texte eines Jeremia zu liegen, der selbst seine Worte nie nur religiös sondern immer auch politisch gemeint hat. Der gute König aus dem Hause David, der Frieden und Gerechtigkeit aufrichtet, war das Herrscherideal, vor dem sich der real existierende Herrscher messen musste. Was ja nicht einer gewissen Ironie entbehrt, da der biblisch erzählte, geschweige denn ein realer König David keineswegs seinem eigenen Idealbild entsprach. Der gute König ist also sozusagen doppelt fiktional: es gibt ihn nicht gegenwärtig als Realpolitiker und das verklärte Bild von ihm in der Rückschau ist eben genau das – eine Verklärung einer guten alten Zeit, die es nie gab. Wann hätte es die je gegeben?
Und dennoch entfaltet sein Bild Wirkung in der Wirklichkeit: die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, das Verlangen nach Frieden und die Idee eines guten Ortes zum Leben – was die biblische Sprache im Wort Schalom zusammenfasst – sind in der Welt und wirken – jetzt schon; noch der Altpunker Campino (in einem Interview 2007) muss zugestehen: „Das Lied war eigentlich ironisch gemeint, aber die Leute haben es oft nicht so interpretiert. Also habe ich mir gesagt: Bitteschön, wenn denen das Mut macht, ist es auch okay.“
Das dürfte seine Umschreibung dafür sein, dass der Glaube an eine zukünftige, andere Wirklichkeit unsere gewohnte Wirklichkeit jetzt schon verändern kann, oder wie Jesus gelegentlich gesagt hat: Glaube versetzt Berge (Matthäus 17,20). Allein der Glauben an eine zukünftige Gerechtigkeit macht jetzt schon Mut für mehr und für eine bessere Gerechtigkeit. Es kommt die Zeit!