Als nun Mose vom Berge Sinai herabstieg, hatte er die zwei Tafeln des Gesetzes in seiner Hand und wusste nicht, dass die Haut seines Angesichts glänzte, weil er mit Gott geredet hatte. Als aber Aaron und alle Israeliten sahen, dass die Haut seines Angesichts glänzte, fürchteten sie sich, ihm zu nahen. Da rief sie Mose, und sie wandten sich wieder zu ihm, Aaron und alle Obersten der Gemeinde, und er redete mit ihnen. Danach nahten sich ihm auch alle Israeliten. Und er gebot ihnen alles, was der Herr mit ihm geredet hatte auf dem Berg Sinai. Und als er dies alles mit ihnen geredet hatte, legte er eine Decke auf sein Angesicht. Und wenn er hineinging vor den Herrn, mit ihm zu reden, tat er die Decke ab, bis er wieder herausging. Und wenn er herauskam und zu den Israeliten redete, was ihm geboten war, sahen die Israeliten, wie die Haut seines Angesichts glänzte. Dann tat er die Decke auf sein Angesicht, bis er wieder hineinging, mit ihm zu reden. (2. Mose 34,29-35)
Mose trägt Maske. Er schützt damit nicht zuerst sich selbst sondern seine vulnerablen Mitmenschen. Wir kennen das; nur dass bei Mose der Groschen schneller gefallen ist als bei uns.
Mose trägt Maske, bedeckt sein Antlitz, legt sich eine Decke aufs Gesicht, einen Schleier über den Kopf (übrigens keinen Aluhut; angestrahlt, aber nicht verstrahlt) – und zwar nicht um sich selbst vor einer zu hohen göttlichen Strahlenbelastung zu schützen; sondern um die anderen nicht seinem strahlenden Gesicht auszusetzen; denn das war es, weswegen sie sich fürchteten, ihm zu nahen. Nur von weitem und für einen kurzen Moment sehen sie sein strahlendes Angesicht sahen die Israeliten, wie die Haut seines Angesichts glänzte. Aber sie sehen es.
Mose trägt Maske, weil er strahlt und glänzt. Seine Gottesbegegnung – schon im brennenden Dornbusch hatte er die Stimme Gottes gehört – und nun die Begegnung hier am Sinai hat ihn verändert, auch sichtbar verändert. Er erscheint nun in einem neuen Licht, mit neuer Ausstrahlung, die alles und alle in den Schatten stellt, stellen würde. Es ehrt ihn doppelt, dass er als Träger göttlicher Ehre und Herrlichkeit – das hebräische Wort für Ehre meint zuerst die Herrlichkeit, den Lichtglanz Gottes; dass er damit die anderen nicht blenden will, kein Blender sein will. Er soll und will nicht als Chef verehrt und gefürchtet werden, sondern er will und soll als Diener seines Gottes und als Diener seines Volkes dessen Weg ausleuchten.
Mose trägt Maske, weil er glänzt, aber er will nicht auf anderer Leute Kosten glänzen, um die geht es ihm ja – um die anderen Leute – denen soll durch ihn ein Licht aufgehen; sie sollen durch ihn gestärkt, geleitet, geführt und befreit werden; denn so viel liegt hinter ihnen – die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, der Zug durchs Meer – und so viel liegt noch vor ihnen – das verheißene Land, in dem Milch und Honig fließen – und vor allem – eine gute Ordnung für das neue Leben, Gesetze und Regeln der Freiheit.
Mose trägt keine Maske auf dem berühmten Marmorbildnis des Michelangelo, dafür trägt er Hörner, die sich durch einen Übersetzungsfehler in die mittelalterlich lateinische Version der Bibel geschlichen und auf den Moseskopf gepflanzt haben. Eigentlich und ursprünglich steht da was von Strahlen und nicht von Hörnern – gehörnt statt strahlend, darauf muss man erstmal kommen. Natürlich wird der Besucher – so wie wir als Gemeindegruppe vor fünf unendlich langen Jahren in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom – von jedem Reiseführer auf diesen berühmten Kunstfehler des Renaissancegenies hingewiesen, der übrigens leicht vermeidbar gewesen wäre, wenn Michelangelo sein Werk ein paar Jährchen später hätte schaffen können und durch die dann fertiggestellte Lutherbibel besser informiert gewesen wäre: strahlend statt gehörnt, ist doch klar!
Noch leichter vermeidbar gewesen wäre eigentlich der andere, deutlich schwerwiegendere Fehler, nämlich die fehlende Maske seiner Moseskulptur; aber vielleicht auch nicht. Bei Michelangelo trägt Mose keine Maske; dieses Zeichen der persönlichen Zurücknahme, der Selbstbeschränkung und Rücksicht auf die Schwachen passt nicht zum marmornen Herrscherportrait eines religiösen Genies der Renaissance, wie Michelangelo seinen Mose sich vorstellt und verbildlicht; also des Künstlers, der sogar den auferstandenen Christus als muskulösen Helden der Antike dargestellt hat – mit trainiertem Sixpack und elegantem Kontrapost (in der Kirche Santa Maria sopra Minerva nur einen Spaziergang in Rom von unserem Mose entfernt).
Was die Theologen meckern lässt, begeistert die Kunsthistoriker nichtsdestoweniger von Anfang an. Giorgio Vasari lobt und preist seinen etwas älteren Zeitgenossen Michelangelo in höchsten Tönen: „Er (Michelangelo) vollendete den 5 Ellen (also 2,35 m) hohen Moses aus Marmor, einer Statue, der kein modernes Werk an Schönheit je gleichkommen wird, wie es gleichermaßen von den antiken gesagt werden kann. In sitzender Position, von unsagbar würdiger Haltung, legt er einen Arm auf die Tafeln, während er sich mit der anderen in den Bart greift, der wallend und lang in einer Weise in Marmor ausgeführt ist, dass die Haare – womit die Bildhauerei große Schwierigkeiten hat – unendlich fein, flaumig weich und mit einzelnen Strähnen auf eine Weise wiedergegeben sind, dass es unmöglich scheint, wie der Meißel hier zum Pinsel wurde.“ (G. Vasari, Das Leben des Michelangelo 1550/1568; zitiert nach Wikipedia: Artikel zum Mose des Michelangelo)
Aber auch Vasari fällt auf, dass etwas, nämlich die Maske fehlt und wünscht sie sich – beinahe – dazu: „In seiner Schönheit besitzt das Gesicht in der Tat die Ausstrahlung eines wahren Fürsten, heilig und gewaltig, weshalb man ihn, während man ihn betrachtet, fast um einen Schleier bitten möchte, der sein Gesicht verhüllt, so strahlend und hell leuchtend wirkt es.“ (ebd.)
Während also Herrscherideal und Geniekult dem Mose die Maske verweigern, soll sie uns hingegen zum Zeichen des guten Fürsten werden, der als erster Diener seines Gottes und seines Volkes Rücksicht nimmt auf die Stärke des einen und die Schwäche der anderen. Es geht in der Bibel anders als bei unserem Künstler nicht um die Verherrlichung herrscherlicher Würde sondern um die von Gott verliehene Menschenwürde aller.
Ohne dass das im Bibeltext ausdrücklich vermerkt würde, kann man doch aus der Andeutung: als er dies alles mit ihnen geredet hatte, legte er eine Decke auf sein Angesicht – und aus dem Zusammenhang schließen, dass des Mose Rücksicht und Zurückhaltung seinem Auftrag entsprach und ihm zugutekam. Er sollte ja schließlich einem aufmüpfigen, streitlustigen und irregeleiteten Volk die Regeln für ein Leben in Freiheit vermitteln. Und es wird dem Mose eingeleuchtet haben – wie es ja auch uns einleuchten sollte – dass da ein zwingender, innerer Zusammenhang besteht, zwischen der Rücksicht gegenüber den Schwachen und den Freiheitsgesetzen einer Gesellschaft.
Gebote, Regeln und Gesetze, wenn sie denn taugen, schränken entgegen anderslautender Propaganda die Freiheit nicht ein, sondern ermöglichen sie erst – aber eben allen und auch den Schwächeren. Die propagandistisch verherrlichte Willkürfreiheit: frei ist der, und nur der, der seinen Willen durchzusetzen vermag – solche Willkürfreiheit ist dagegen gar keine, indem sie ausschließlich den Starken von der Rücksicht gegenüber Schwächeren befreit und zu einer Herrschaft der Starken und nicht zu einer Herrschaft des Rechts verleitet.
Mose und sein Werk sind weit über die von ihm gegründete Religion hinaus ein Symbol für die Freiheitlichkeit einer rechtsförmigen Gesellschaftsordnung. Gegen das Murren und Maulen seines Volkes und gegen größte innere und äußere Widerstände setzt er durch, dass das Zusammenleben seines Volkes Regeln folgt, dass diese Regeln das Erbarmen einschließen und die Schwächeren schützen und dass nur mit verbindlichen für alle geltenden Regeln ein Leben in Freiheit zu ermöglichen ist.
Für dieses Symbol passt natürlich – bei aller Bewunderung und Verehrung für das überwältigende Kunstwerk Michelangelos – sein Mose nicht; um einem solchen aus der Hand des Michelangelo zu begegnen, müssten wir unseren Spaziergang in der ewigen Stadt noch um ein gutes Stück verlängern, etwa über den Tiber hinweg zum Petersdom, in dem dann gleich rechts neben dem Eingang in einer Seitenkapelle die nicht minder berühmte Pieta unseres Künstlers steht, bei der sich in unüberbietbarer Zartheit eine mädchenhafte Maria liebevoll über den verstorbenen und von Gott aufzuerweckenden Jesus beugt und uns so das Gesetz des Erbarmens unmittelbar anschaulich verbildlicht – ganz ohne Maske.
Höchste Zeit mal wieder hinzufahren und nachzuschauen.