Predigttext für den Vierten Sonntag vor der Passionszeit, 6. Februar 2022

Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!

Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn. (Matthäus 14,22-33)

Heute müssen wir uns als Geisterjäger betätigen, als Ghostbusters in der Tradition der großen – und wie wir neuerdings wissen unsterblichen – Dr. Peter Venkman alias Bill Murray, Dr. Raymond „Ray“ Stantz alias Dan Ackroyd und Dr. Egon Spengler alias Harold Ramis, die die Geister jagten und die Gespenster dingfest machten; und die wenn sie aufs Meer gefahren wären, noch dort den Heiligen Klabautermann mit ihren nichtlizensierten Protonenbeschleunigern gefesselt und in ihrer Geisterfallen gesteckt hätten; aber darauf, dass es bei uns heute so lustig wird wie bei diesen drei, sollten wir nicht hoffen. Denn heute jagen wir die Geister unseres Unglaubens, die Gespenster unsere Ängste und die Phantasmen unserer heimlichsten, ungutesten Wünsche – in der Nachfolge des Petrus, der uns – als er einmal seinen Herrn Jesus für ein Gespenst hielt – einen gewaltigen Schritt vorausging und beinahe ertrank.

Nicht in die Geisterstunde – was ja passend wäre – entführt uns der heutige Predigttext sondern – noch viel passender – in die sogenannte Wolfstunde zwischen 3 und 6 Uhr, wie unsere Spukgeschichte uns in geradezu pedantischem, aber keineswegs überflüssigem Detail berichtet: in der vierten Nachtwache. In die Wolfstunde, wenn sich nach altertümlicher Vorstellung nur noch die Wölfe herumtreiben, bevor es zu Morgen dämmert, wenn die Glücklichen und die Gerechten ihren Schlaf schlafen, aber die weniger Glücklichen unter uns sich wach in ihren Kissen und in ihren Sorgen wälzen; das Gemüt geschwächt wie die psychologische Medizin weiß von einem Ungleichgewicht der Hormone: Melatonin, Serotonin und Cortisol, das eine zu viel, die anderen zu wenig; also beinahe so wie schon die Alten raunten, dass eine Krankheit einer unvorteilhaften Mischung unserer Körpersäfte geschuldet wäre. Wenn die Mischung nicht mehr stimmt, ist unsere Geisterabwehr geschwächt, unser Geist kann sich unserer Sorgen und Probleme nicht mehr erwehren, wir werden in unseren Nachtgesichten dorthin entführt, „wo die wilden Kerle wohnen“, wie schon das Kinderbuch erzählt; oder wovon das Morgenlied singt: „Heut als die dunklen Schatten/mich ganz umgeben hatten/hat Satan mein begehret/Gott aber hats gewehret“ (EG 446)

Nicht an einen sicheren Ort mit sicherem Halt und festem Boden unter den Füßen führt unsere Geschichte, sondern aufs Meer hinaus, aufs Galiläische Meer, wie der See Genezareth auch genannt wird; tagsüber meist idyllisch aber keineswegs immer und nachts unheimlich wie die große Tiefe, Tehom oder Tiamat, das Urmeer als Macht des Chaos, gegen das Gott in der allerersten unvordenklichen Zeit gekämpft hat und nach uralter mythischer Vorstellung Nacht für Nacht immer wieder neu kämpft. Dieser Kampf mit dem Urmeer hat ein fernes Echo in unserer Urangst vor dem Ertrinken. „Gott hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist; ich bin in tiefe Wasser geraten und die Flut will mich ersäufen.“ Betet der Psalmbeter (Psalm 69) Noch der moderne Folterknecht nutzt die Wasserangst des Menschen in der teuflischen Qual des Waterboardings.

Und nicht bei sicherem, ruhigem Wetter geschieht das alles, sondern bei Wind und Wetter, wenn es vom Libanon und von den Golan-Höhen herunterstürmt und den idyllischen See in das chaotische Urmeer verwandelt, aufwühlt – so sehr aufwühlt, wie wir in den aufgewühltesten, schlaflosesten Nächten sein können. Selbst unser Fischer Torben an der auch nicht immer braven Ostsee mag sich bei Wind nicht auf See wagen, dann gibt’s eben keinen Dorsch und keine Scholle am Morgen, das lässt sich verschmerzen; besser als in Seenot zu geraten, wie es den Jüngern Jesu nun nicht zum ersten Mal passiert.

In diesen dreifach schaurigen Rahmen – aus grausiger Zeit, unheimlichen Ort, und wildem, windigen Wetter – malt unsere Geschichte das Bild, in dem man selbst Jesus für ein Gespenst halten könnte und Petrus ihn für ein Gespenst gehalten hat. Er und die Seinen meinen, ein über das Wasser wandelndes Phantasma, ein plastisches Nebelbild, einen voll-beweglicher Klasse-5-Dunst, eine torsohafte Erscheinung zu sehen: Es ist ein Gespenst!, und sie schrien vor Furcht.

Zünftig, furchtloses Geisterjagen geht anders, wie wir durch die einschlägigen, eingangs genannten Aufklärungsfilme wissen. Unsere Geschichte gönnt uns den Spuk aber nicht und löst ihn zum phantastischen Wunder hin auf: Ihr Zufolge ist es tatsächlich Jesus, der, wie nach antiker und nach biblischer Tradition nur Götter das können, über das Wasser geht und seine Freunde zu beruhigen versucht: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!

Und dann setzt unsere Geschichte in der Fassung des Matthäus – die anderen Evangelisten dürften das für eine unzulässige Übertreibung gehalten haben und schweigen davon – noch einen drauf, spinnt sie weiter und lässt erzählerisch gewagt aber psychologisch nicht unplausibel den Petrus in einer Mischung aus Zweifel, Übermut und Streberei um freies Geleit durch Wind und über Wellen bitten: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.

Jesus reagiert mit einem reichlich lakonischen und wenig begeisterten: Komm her! Also: Na komm schon, wenn es sein muss; du wirst schon sehen, was du davon hast. Und muss einen Augenblick später den schon wieder schreienden, und nun pitschnassen Petrus – wie ein aus Neugier und Ungeschicklichkeit in jeden erreichbaren Brunnen fallendes Kleinkind, ich kannte mal so eins – mit starker Hand und ausgestrecktem Arm aus dem Wasser fischen: Jesus, ein Menschenfischer auch hier; während Petrus auf die unsanfte Art daran erinnert wird, dass es Menschen nicht zukommt, wie die Götter über das Wasser zu wandeln zu begehren. Du wirst nicht sein wie Gott!

Ob sich, wie es der Erzählverlauf zunächst nahezulegen scheint, die Vorhaltung Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? nur – oder überhaupt – auf das Irrewerden des Petrus an seiner vermeintlichen neuen Fähigkeit des Über-Wasser-Laufens bezieht, muss also sehr bezweifelt werden. Es scheint doch vielmehr ein globaler Vorwurf an Petrus und die Jünger zu sein, die immer wieder in Zaudern, Zweifeln und Zagen verfallen und bis zum bitteren Ende der Jesusgeschichte unsichere Kantonisten bleiben. Nur ganz gelegentlich gelingt ihnen wie hier zum ersten Mal das Christusbekenntnis: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn.

Mit beidem – dem Bedenken und dem Bekenntnis – richtet sich die Geschichte an uns; Denn sie weiß von den beständigen Rückfällen in die Nacht der Ängste, auf das Meer der Zweifel und in das Unwetter unserer übertriebenen Wünsche, die uns nicht weniger als die Jünger plagen. Aber sie kennt eben auch das Licht dieses Bekenntnisses, das uns empfohlen sei, wenn uns die Schrecken unserer Verzweiflung und die Schatten unserer Sünde den Seelenfrieden rauben. Wie die Schlaftherapeuten, die uns dazu raten, nicht allzu lange im Dunkeln mit den Dämonen zu ringen, sondern lieber im Licht der Nachttischlampe ein schönes Buch zu lesen, es muss ja nicht gerade eine Gespenstergeschichte sein.

Das hat sich der Evangelist Lukas wohl auch so gedacht, denn er wird die phantastische Seewandelgeschichte wie seine evangelistischen Kollegen gekannt haben und hat sich dennoch gegen ihre Aufnahme in seine Jesusbiographie entschieden. Vielleicht hat er geahnt, wieviel ungläubigen Spott sie auf sich ziehen wird – keine Sammlung von Jesuskarikaturen ohne seinen berühmten Gang übers Meer! – und dass sie, wenn sie im gläubigen Ernst nicht als Gespenstergeschichte erkannt wird, mehr Ärgernis als Glaubenszeugnis ist. Denn Gespenst will uns Jesus ja gerade nicht sein! Jesus ist kein Phantasma – darin hat unsere Geschichte recht; und gleicht auch keinem – darin hat sie sehr unrecht.

Sondern Jesus ist wahrhaftig Sohn Gottes, des Schöpfers des Himmels und der Erde, „der den Himmel ausgespannt hat und auf den Wogen des Meeres einherschritt“ (Hiob 9,8)