Predigttext für den Sonntag Estomihi, letzter Sonntag vor der Passionszeit, 27. Februar 2022 

Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Und er redete das Wort frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Will mir jemand nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele? Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse? Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem abtrünnigen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln. (Markus 8, 34-38)

Unter dem Eindruck der grässlichen Nachrichten aus der Ukraine hören wir heute in der Bibel davon, dass es das Leben in der Nachfolge Jesu, dass es das gute und wahre Leben nicht umsonst gibt, sondern dass das neue Leben uns etwas kosten kann und kosten wird, nicht weniger nämlich als das alte falsche Leben.

Unter dem Eindruck eines, der die Welt gewinnen will und darüber längst seine Seele verloren hat – aber was interessiert mich eigentlich dessen nachtschwarze Seele, wenn darüber so viele andere Seelen Schaden nehmen? – unter dem Eindruck eines, der sich nicht nur die übelsten Gewaltherrscher zum Vorbild nimmt, sondern gleich den Satan selbst mit seinem Lügen und Morden höchstpersönlich zum Beispiel zu nehmen scheint – Geh weg von mir, Satan! Aber so schnell wird man ihn nicht los – unter diesem Eindruck lesen und hören wir vom angekündigten Leiden, vom Verworfen werden, von den Kosten des gerechten und wahren Lebens, vom abtrünnigen und sündigen Geschlecht, und können doch gar nicht anders, als beides aufeinander zu beziehen:

Ja, der Satan hat immer wieder, auch heute Wiedergänger in der wirklich gelebten Welt, und dieser, der uns gerade plagt, vermag nach all den Jahren seines Unwesens – politische Meuchelmorde, Abschüsse ziviler Flugzeuge, getarnte Invasionen, rechtswidrige Annektionen, Unterstützung anderer Diktatoren, Manipulationen von Wahlen im eigenen und in fremden Ländern und so vieles mehr an Grausamkeiten und Scheußlichkeiten – dieser Unmensch vermag immer noch, erstaunlicherweise immer noch uns allzu harmlos Arglose zu überraschen mit seiner Heimtücke und seiner Bosheit, seinem Lügen und seinem Morden; und ja, es kostet etwas, ihn loszuwerden oder ihn zumindest auf Abstand zu halten: Geh weg von mir, Satan!

Aber wenn er sich als bösartiger Bär im Schafspelz erstmal eingenistet und unentbehrlich gemacht hat, kostet es umso mehr, ihn wieder loszuwerden; und es wird ein Vielfaches davon kosten – und es kostet die Menschen in der Ukraine jetzt schon ein Vielfaches – ihn nicht losgeworden zu haben und sich nicht aus seiner Abhängigkeit befreien zu können. Genau davon spricht unser Text: Von den Kosten des gerechten und wahren und letztlich des guten Lebens: Denn wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren.  

Natürlich weiß unser Bibeltext nichts von russischen Gewaltherrschern, aber er weiß von dem Wunsch, von der Gier von uns Menschen die Welt zu gewinnen, koste es was es wolle. Und der Text interessiert sich nicht für die armen Seelen in der Ukraine oder anderer überfallener Staaten, die solches gewalttätiges Weltgewinnen-Wollen kosten – andere Texte der Bibel natürlich sehr wohl – sondern unser Text interessiert sich für die Kosten für die eigene Seele selbst: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele? Er richtet sich also an uns, die wir im Durchschnitt weniger Schaden nach außen anrichten können als Diktatoren, aber deren Seele ganz genauso gefährdet ist wie die jener.

Dabei ist hier ja überhaupt nicht gemeint, dass jeder Wunsch, die Welt zu gewinnen, der Seele Schaden müsste. Wenn damit das Streben nach Erfolg gemeint ist, im Beruf, im Sport, in der Gesellschaft, auch im Wettbewerb der Staaten untereinander, dann darf man sich sicher sein, dass Gott seine Freude an uns hat, wenn wir mit den von ihm an uns gegebenen Gaben wirken. Unser Bibelwort richtet sich keineswegs mit einer generellen Warnung oder gar einem Verbot an die begnadeten Musiker, die Sportler, die Geschäftsleute, die Forscher oder die Politiker, keinen gerechten Gebrauch ihrer besonderen Gaben und Fähigkeiten zu machen – sondern es richtet sich an sie und uns alle, es bei unserem Erfolgsstreben nicht zu übertreiben, es also bei allen äußeren Erfolgen nicht gegen die Seele zu wenden, der Seele nicht zu schaden; unser Inneres nicht verhärten oder vereisen oder ausbrennen zu lassen. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele?

Jesus belässt es nicht bei diesem Wort, das – meine ich – auch den religiös Unmusikalischen verständlich sein müsste, sondern er fügt es ein in seinen Ruf in die Nachfolge. Dadurch verliert es nicht unbedingt an Allgemeinverständlichkeit, gewinnt aber an Konkretheit und an Konturen. Die Rücksicht auf das eigene Seelenheil besteht und geschieht in der Absage an die wahrscheinlich naturgegebene Rücksichtslosigkeit des natürlichen Menschen. Während dieser sich im immerwährenden Kampf ums Dasein befindet, in dem der Stärkste – und nur der Stärkste – überlebt, fordert Jesus uns auf, sein Lebensmodell zu übernehmen, das von der Rücksichtnahme für andere lebt und in der Hingabe für andere seine Erfüllung findet: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Nur die Hingabe an den anderen, also die Gabe, nichts für sich selbst zu sein zu vermögen, lässt mich – nach Jesus – das Leben und das Seelenheil finden.

Das erklärt dann auch den paradox formulierten Satz: Denn wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten.Nur wer bereit ist, die Gewaltlogik des natürlichen Menschen mit seinem Kampf ums Dasein zu verlassen, kann das wahre, gerechte und gute Leben erringen; er muss aber damit rechnen, das Leben zu verlieren. Sein Kreuz auf sich zu nehmen, heißt: das Leben am Kreuz verlieren zu können. Eine unerwartet harte Botschaft, die aber zu diesen unerwartet harten Zeiten passt.

Und man ist beinahe versucht, sie auch im Krieg in der Ukraine abgebildet zu finden, wenn die ukrainische Führung in ihrer Hauptstadt aushält und dabei droht ihr eigenes Leben zu verlieren, um dem Land ein besseres Leben zu ermöglichen; ein besseres als das miserable Leben unter der Gewaltherrschaft ihrer übermächtigen Nachbarn. Aber eine Versuchung und Täuschung wäre eine solche Deutung allein schon deshalb, weil das angegriffene und überfallene Land ja keineswegs freiwillig sondern aus äußerem Zwang das Schwächere ist und seine Selbstbestimmung verlieren wird. Wenn sie könnten, würden sie sich wehren – was sie ja auch noch tun.  

So bleibt uns das überaus unbefriedigende Fazit, dass das Wort vom Kreuz und der Ruf in die Nachfolge eben doch nicht zur Deutung solcher kriegerischer Konflikte geeignet ist, selbst wenn es in diesen Zeiten erklingt. Nach dem überwiegenden Zeugnis der christlichen Tradition lässt sich die Botschaft Jesu darauf – also auf staatliche oder zwischenstaatliche Konflikte – einfach nicht anwenden. Sondern wenn seine Botschaft eine Wahrheit hat, erweist sie sich in uns selbst: dort, wo die Seele sitzt: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele? Amen.