Sonntag Invokavit, erster Sonntag der Passionszeit, 6. März 2022

Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfangt. Denn er spricht (Jes 49,8): »Ich habe dich zur willkommenen Zeit erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit dieser Dienst nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben. (2. Korinther 6, 1-10)

Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Selten scheint ein Predigttext so daneben zu liegen wie heute; viel falscher geht es nicht, denn wann wenn nicht jetzt erleben wir Tage des Unheils und wann wäre das Zeitgeschehen unwillkommener gewesen als gerade jetzt. Beinahe sehnen wir uns in die Zeit zurück als nur Corona unsere Sorge war, von Migrationsproblemen oder Finanzkrisen zu schweigen und selbst der Klimawandel scheint hinter dem schrecklichen Krieg in unserer Nähe viel von seinem Schrecken zu verlieren. Unheil überall und von überall her. Es läuft gerade nicht so gut. Und dann hören wir das:

Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Im weiteren Verlauf unseres Textabschnitts wird deutlich, dass auch für Paulus das Heilswort nicht als Beschreibung der von ihm erlebten Wirklichkeit gemeint ist; sondern – wie bei uns gerade – unter seinem äußerlich sichtbaren Gegenteil auf ihn trifft: in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen. Dennoch und trotzdem und gegen allen Augenschein ist jetzt die willkommene Zeit, ist der Tag des Heils! Wie unter dem Kreuz ist das Heil unter den Umständen und Zeitläufen verborgen – aber nicht weniger wahr. Alles ist schrecklich, aber alles wird gut – weil Gott alles gut gemacht hat und wieder gut machen wird.

Was unterscheidet eine solche Botschaft von einer bloßen Durchhalteparole, in Zeiten der Seuche, der Krise und nun des Krieges auszuhalten in großer Geduld? Was sollte uns dazu bringen, auf solche Worte zu hören, ihnen Glauben zu schenken? Was könnte uns davon überzeugen, dass trotz allem, was uns Sorgen macht und was uns bedrängt, auch heute ein Tag des Heils ist?

Nun, Durchhalteparolen sind gewöhnlich an andere gerichtet, die zu leiden haben, während man sich selbst schont; ganz anders der Apostel Paulus – und um den geht es zunächst in unserem Predigttext und eigentlich in seinem ganzen 2. Brief an die Korinther – der an sich zeigt, was es ihn kostet so zu glauben, wie er glaubt, und so zu leben, wie er lebt; wenn er von Bedrängnissen, Nöten, Ängsten, Schlägen, Gefängnissen, Aufruhr, Mühen spricht, dann von seinen eigenen, dann davon, dass er sie selbst erlebt hat und noch erlebt; was alles nicht wünschenswert, aber eben unvermeidbar ist, um Gottes Wort von der willkommenen Zeit, vom Tag des Heils auszurichten und selbst danach zu leben im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken.

Man muss sich hüten vor allzu vorschnellen Anknüpfungen oder kurzschlüssigen Bezügen, aber ich jedenfalls kann nicht anders als an den Präsidenten und den Bürgermeister in dieser fernen, nahen Stadt Kiew zu denken – gerade mal knapp zweitausend Kilometer von Wiesbaden entfernt und nach Google-Maps in 20 Stunden und angeblich ohne Stau – das dürfte ein Irrtum sein – auf Autobahnen über Ostdeutschland und Polen erreichbar. Seine, ihre Botschaften aus Bedrängnis und höchster Not sind ebenso wenig Durchhalteparolen sondern durch ihr Beispiel und das erhebliche Risiko für ihren eigenen Leib und ihr eigenes Leben beglaubigt.

Keine Mitfahrgelegenheit wolle er, auf das Angebot hin, ihn auszufliegen, keine Mitfahrgelegenheit wolle er, sondern Mittel zur Selbstverteidigung, Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, also Schwerter – rechts – zum Zurückschlagen und Schilder – links – zur Abwehr die Paulus nur metaphorisch und geistlich gemeint hat, die nun aber ein Gewaltherrscher die Angegriffenen im Wortsinn zu verstehen nötigt. Bei aller Undurchsichtigkeit im Nebel des Kriegsgeschehens, in dem bekanntlich die Wahrheit das erste Opfer ist, klingt in den Worten des hoffnungslos Unterlegenen das Wort der Wahrheit durch, dass ein solcher Überfall nicht gerecht sein kann und dass Selbstverteidigung ein Recht ist.

Im Weiteren skizziert Paulus die Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten, denen wir Menschen zeitlebens im eigenen und im Urteil der anderen ausgesetzt sind, besonders aber in Zeiten der Krise und des Krieges: Was ist die Wahrheit über mich? Was ist überhaupt Wahrheit? Und welches ist das Wort der Wahrheit? „Die einen sagen so, die anderen sagen so“, sagt der freundliche Kassierer im Tegut – selbst mutmaßlich kriegs- und fluchterfahren – und weiß nicht, was er aus den Nachrichten machen soll, außer sie mit Vorsicht zu genießen. Jedenfalls warnt er den Kunden, der eigentlich nur das Abendbrot einkaufen wollte, vor der Verwechslung der Wirklichkeit mit der Nachricht von ihr. So kann es im Land des Gewaltherrschers, der den jüdischen Präsidenten seines Nachbarlandes einen Nazi nennt, bis zu 15 Jahre Haft kosten, den Krieg Krieg zu nennen: Je nach Standpunkt und Blickrichtung kann sich Wahrheit in Lüge verwandeln und umgekehrt, wobei ich der altmodischen Vorstellung anhänge, dass nur eine gemeinsame Wahrheit diesen Namen verdient.

Paulus jedenfalls kennt diese unterschiedlichen, miteinander streitenden Sichtweisen auf dieselbe Sache, sieht sich ihnen selbst ausgesetzt, sieht sich und die seinen in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben.

Hin- und hergerissen aber nicht zerrissen; brennend aber nicht verbrennend; zerbrechlich aber nicht zerbrochen; ein tönernes Gefäß, das nichtsdestotrotz einen Schatz in sich trägt, von dem Paulus im selben Brief an anderer Stelle sagt: „Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, auf dass die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns. Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht.“ (2. Korinther 4,7f.)

Dieses Vexierbild unserer Existenz kann uns schwindelig machen; unser Leben mag schwanken in den Ambivalenzen und wanken in den Ambiguitäten der wirklichen Welt, unsere Sicherheiten mag durch böse Mächte und finstere Gestalten, den Wiedergängern des Teufels, den wir doch längst abgeschafft hatten, erschüttert werden, aber wir fallen nicht, weil Gottes Wort an uns nicht fällt, sondern uns aufrichtet.

Sein Zuspruch, dass jetzt wie stets die willkommene Zeit, der Tag des Heils ist, weil eben jede Zeit gleich unmittelbar zu Gott ist, erfüllt uns mit dem Heiligen Geist, der Kraft Gottes und befähigt uns zu Wahrheit und Gerechtigkeit in ungefärbter Liebe. So wenig der Apostel seinen Glauben und sein Leben vom Urteil der anderen abhängig gemacht hat, und so wenig er verzagt, obwohl ihm bange ist, so sehr sollen auch wir gerade in Bedrängnis und Not auf Gott und sein Wort hören. Nicht vor den bösen Mächten sollen wir uns beherrschen lassen, sondern von den guten Mächten geborgen wissen. Amen.

Noch will das alte unsre Herzen quälen, noch drückt uns böser Tage schwere Last. Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen das Heil, für das du uns geschaffen hast.
Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so lass uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner Kinder hohen Lobgesang.
Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

(Dietrich Bonhoeffer 1944)