Predigttext für den 17. Sonntag nach Trinitatis, 9. Oktober 2022

Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will. Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott. Und nun spricht der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem Herrn wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –, er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde. (Buch des Propheten Jesaja 49,1-6)

Inseln am Ende der Erde:

Gestern Abend ist unsere liebe Freundin, Sophie Meine – stellvertretende Vorsitzende unseres Kirchenvorstandes – mit ihrer Familie zu einer Insel, zu fernen Völkern am anderen Ende der Erde aufgebrochen, nach Neuseeland; sie sitzen wohl noch immer oder schon wieder Flugzeug, nach einem Stopover in Singapur, konnten dort ihre Füße vertreten, es ist nett dort, mehr als das, wunderschön und schön warm, dort hat meine Frau als Kind ein paar Jahre den schweizerischen Kindergarten besucht. Bis nach Neuseeland – oder Ao-tea-roa – ist es von da noch ein Stück. So klein ist die Welt; so groß ist die Welt!

Auf Inseln am Ende der Erde werden auch wir heute geführt; zumindest in Gedanken.

Mit unserem Predigttext aus dem Buch des Propheten Jesaja begegnen wir heute einem wegweisenden Dokument unserer Religion, also natürlich zuerst der Religion des alten Israel und insofern und deshalb auch unserer christlichen Religion; einem Dokument, das die universalistische Wende markiert, die Ausweitung des Blicks vom Heiligen Land und von Gottes Volk auf die ganze Welt und alle Völker – bis an die Enden der Erde. Gottes Wort und Gottes Recht gelten allen Menschen; „Kirche für andere“ – im weitesten Sinne des Wortes. Der Prophet, der Knecht Gottes, ein neuer Mose, soll seine Stimme an wirklich alle Menschen richten – und macht so erst die Botschaft Jesu an alle Völker und die Mission des Paulus bis an die Enden der Erde möglich; wobei es unerheblich ist, dass für Paulus sein Ende der Erde in Nordspanien lag, denn auch unser Prophet meint mit den fernen Inseln wohl die für ihn fernen Inseln der Ägäis – und nicht die fernen Archipele der Südsee: Ao-tea-roa!

Jesaja und die Propheten, die sein Buch unter seinem Namen fortgeschrieben haben, müssen wir uns nicht unterwegs beim Segeltörn denken und ob sie ein Sabbatical eingelegt haben wie unsere zweite KV-Vorsitzende, wissen wir auch nicht; sie sprechen jedenfalls zu uns Daheimgebliebenen und nehmen uns so mit in die Ferne. Sie erweitern unseren Horizont, befreien uns aus den Verengungen unserer kirchlichen Milieus, wollen uns davon überzeugen, dass das, was wir im Namen Gottes sagen – und vielleicht wieder einmal nur zu wenigen sagen können, – eigentlich allen Menschen und auf der ganzen Welt gesagt und zugesagt ist: Gottes Heil, Rettung – die Jesaja und Jesus in ihren Namen tragen – Frieden und Segen.

Mit dem heutigen Text werden wir Zeugen, mehr noch Adressaten, einer Grenzüberschreitung, die wie jede Grenzüberschreitung ihr eigenes Problem in sich trägt und im schlimmsten Fall ein Missbrauch von Gottes guter Botschaft in alle Welt sein kann. Das soll aber nicht sein und das ist also unsere Verantwortung, Grenzen zu überschreiten, ohne sie zu verletzen; wir sind aufgefordert, ohne Rückfall in koloniale Muster oder imperiale Interpretationen unseren Glauben global zu denken, weil er nämlich global gedacht und gemeint ist, wie wir ja heute nicht zum ersten und nicht zum einzigen Mal hören: „Also hat Gott die Welt geliebt, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.“.

Gerade in Perioden weltweiter Krisen – wie wir sie erleben – kann es nicht darum gehen, durch kulturelle – oder für uns Christen: religiöse Selbstabschließung – also durch Lockdown! – vermeintlich retten zu wollen, was zu retten ist; im Gegenteil: Religion braucht Luft zum Atmen, Freiräume des Glaubens, Erfahrungen, die wir noch nicht gemacht haben.

Es sollte sich aber ebenso verbieten, unsere eigene kulturelle Aneignung des christlichen Glaubens, anderen als Norm aufzuzwingen. Nicht weil bei uns – aber was ist eigentlich mit diesem „uns“ gemeint? – alles in bester Ordnung wäre – was es nicht ist! – soll es uns zu den anderen Menschen und an andere Orte ziehen und denen unsere Ordnungen auferlegen, sondern weil wir doch unübersehbar und unzweifelhaft im Glauben fortwährend scheitern: Deshalb sendet uns Gott auf die Inseln an die Enden der Erde. Nicht dort weit weg ist Exil, wo neue Chancen sich eröffnen, sondern hier ist unser Exil in der Gefangenschaft unserer Routinen und Frustrationen und verpassten Möglichkeiten, die heutige „babylonische Gefangenschaft der Kirche“. Deshalb meint Gott: Wenn wir es alleine nicht hinkriegen, dann vielleicht mit den anderen?

Und das ist doch die unwahrscheinlichste aller Pointen unseres Predigttextes: Der prophetische Knecht Gottes bekommt seinen neuen Auftrag, aber nun nicht weil er den bisherigen so gut gemacht hätte, sondern obwohl er ihn so schlecht gemacht hat (was wir als persönliches Wort Gottes an uns hören können): Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Der namenlose Prophet, der sich in der Nachfolge des Jesaja mit dessen Namen kleidet, trifft ziemlich genau die Stimmung und das Lebensgefühl von vielen Engagierten in unserer Kirche: Vergebliche Arbeit, verzehrte Kraft, das gut gemeinte Engagement: umsonst und unnütz.

Und da ist eben nicht nur der besinnungslose Taumel einer bald dreißigjährigen Reformtherapie unserer Landeskirche die eigentliche Ursache, die keine Probleme beseitigt sondern unaufhörlich neue schafft (mit Woody Allen gesprochen eine Therapie, die uns nach Jahren ihrer Anwendung nicht der Sabberlätzchen entwöhnt sondern sie uns immer wieder neu umbindet), sondern die eigentliche Ursache ist die erst in der Pandemie unmissverständlich offenbar gewordene Systemirrelevanz unserer Kirche in der postreligiösen Gesellschaft: umsonst und unnütz. Let´s face it!

Mein Großonkel hat mir als Kind einen wenig schmeichelhaften Namen angeheftet. Für ihn war ich der Unnütz (auch heute nennt mich noch mancher so). Für diesen Großonkel Karl, einen sein Leben lang als polnischer Exilant am Hochofen bei Krupp schuftenden Arbeiter war der kleine Schöngeist genau das: der Unnütz, von dem auch in Zukunft keine Nützlichkeit oder auch nur Leben aus eigener Kraft zu erwarten war, was sich weitgehend bewahrheitet hat, denn so kann ich heute als Pfarrer dieser Kirche sprechen: Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.

Der prophetische Knecht Gottes lädt uns ein, es nicht bei einem solchen Unnützlichkeitsurteil über uns selbst zu belassen, wenn er seine Rede sogleich fortsetzt: Doch mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott. Und ich bin vor dem Herrn wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke.

Unsere eigene, nicht zu verbergende, noch nicht einmal vor uns selbst zu verbergende persönliche Schwäche ist nach Meinung des Propheten völlig irrelevant für den Auftrag Gottes. Der hat uns schon im Mutterleib erwählt und noch vorgeburtlich ausgestattet mit allem, was wir brauchen für unseren Dienst: die starken Waffen seines Wortes. Und Gott schenkt uns dazu das, was wir uns von Dienstherren und Vorgesetzten, auch der Kirchenleitung vor Ort, so sehr wünschen und so oft vermissen: eine echte und ehrliche Wertschätzung unserer Bemühungen, die uns sagen lässt: Ich bin vom Herrn wert geachtet.

In weiteren Texten im Buch des Propheten Jesaja, den anderen sogenannten Gottesknechtsliedern, ist unser Prophet noch deutlicher geworden, wenn er die dialektische Verschränkung von menschlicher Schwäche und göttlicher Kraft zur Vorlage des Evangeliums des Gekreuzigten macht: „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig“, Gottes Kraft ist in uns Schwachen mächtig: Unnütze, die wir sind, stellt er uns in seinen Dienst.

Das ist unsere letzte und einzige Hoffnung, und sie reicht weit – bis zu den fernen Inseln, wie wir heute gehört haben, wo unsere Freundin und Kirchenvorsteherin unserer Gemeinde nun für eine ganze Weile leben wird, am anderen Ende der Erde.