2. Advent, 4.12.2022

Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel. Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter. Mein Freund antwortet und spricht zu mir:

Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande. Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her! (Hohelied 2,8-14)

Frühlingsgefühle im Winter, ein Maienlied im Dezember, blühende Blüten an den Blumen und reifende Früchte am Feigenbaum trotz Winterschlaf der Natur! Was ist da los?

Wenn ich jetzt aus meinem Fenster blicke, dann ist da zwar auch ein Feigenbaum, erstaunlich kräftig für unsere nördlichen Breiten, geschützt durch die Mauern des Hauses. Dieser prächtige Feigenbaum schläft aber gerade seinen Winterschlaf, nur noch wenige braune Blätter liegen am Boden, seine Äste und Zweige zeigen kahl in den grauen Winterhimmel und man kann sich kaum vorstellen, wie es wieder sein wird, im Frühling, wenn Blätter und Früchte austreiben – das tun die nämlich gleichzeitig bei einer Feige; und wenn sie im Sommer dann ein schützendes Dach bilden. Jetzt ist das nicht so.

Ich stelle mir vor, dass die Menschen früher noch viel unmittelbarer den Gang der Natur erlebten, ihr noch viel unmittelbarer ausgeliefert waren, es noch viel direkter gespürt haben, wenn es kalt und wenn es warm war; es hell war in langen Tagen oder dunkel der langen Nächte wegen. Klar kriegen wir das auch heutzutage noch mit; spätestens wenn es glatt wird auf den Straßen; wenn wir morgens im Dunkeln das Haus verlassen und es abends erst wieder im Dunkeln betreten; wenn uns der nasse Wind kalt um die Nase pfeift. Aber wenn nicht gerade Krieg und Krise herrschen, können wir uns ganz gut dagegen wappnen, die Winterreifen auflegen, die Heizung aufdrehen, die garstige Zeit abwarten und Tee trinken.

Dieses Jahr wird uns das voraussichtlich nicht ganz so gut gelingen, den Winter draußen vor der Tür zu halten. Stell dir vor, es wird kalt und du gehst nicht raus; dann kommt die Kälte zu dir. So eine Krise wirft uns zurück; wir fühlen uns ausgeliefert; gleich zweifach ausgeliefert: den Unbilden der Natur und dem Gang der Geschichte. Was soll nur werden?

Der merkwürde, schöne, aber offensichtlich unpassende Predigttext aus der Liebesgedichtsammlung des Alten Testaments – Stichwort Frühlingsgefühle! – in unseren Winter hinein stellt eine paradoxe Intervention dar; er passt eigentlich gar nicht, er liegt quer zu unserem Erleben und zu unseren Gefühlen:

der Winter ist vergangen – aber das ist er doch gar nicht, er fängt gerade erst an

der Regen ist vorbei und dahin – weit gefehlt, Regen und mehr noch Schnee werden uns noch eine Weile begleiten.

Die Blumen sind hervorgekommen im Lande – ganz im Gegenteil, alle Pflanzen verkriechen sich und sie tun gut daran.

Der Lenz ist herbeigekommen – wo denkst du hin?

Und auch die Turteltaube lässt sich nicht hören, der Feigenbaum lässt keine Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften schon lange nicht mehr und noch lange nicht wieder.

Alles das, wovon in unserem Predigttext die Rede ist, ist nicht – nicht mehr – noch nicht: Aber es wird wieder sein! Unterm Gegenteil verborgen regeneriert die Natur, ruht sich aus, sammelt Kraft für die Zeit, wenn sie sich wieder in aller Macht und Pracht zeigen wird. Dessen sollen wir auch beim Betrachten der winterlich ruhenden Natur gewiss sein. Das ist die eine Absicht dieser paradoxen Intervention – Naturbetrachtung als reine innere Vorstellung unter ihrem sichtbaren Gegenteil – vom Frühling reden unter einer Decke von Eis, Frost und Schnee.

Die andere Absicht unserer heutigen Botschaft geht viel weiter: Sie will, dass wir die Naturbetrachtung auf Grundsätzliches anwenden und verlängern. Sie will, dass wir unsere Welt und unser Leben grundsätzlich für veränderlich halten, veränderlich zum Besseren hin. Wo Unrecht ist, soll Gerechtigkeit werden. Wo uns die Krise lähmt, soll Wohlstand entstehen. Wo Hass wütet, soll Liebe sein. Wo Krieg herrscht, soll Frieden geschlossen werden. Und wo uns Kälte erzittern lässt, sollen wir gewärmt werden. Wir sollen den Frühling für möglich halten – mitten im Winter.

Mit dem zarten Liebesgeflüster aus dem Hohelied Salomos bekommen wir heute ein Zeichen des Friedens, das wir weitergeben sollen. Auf die berechtigte Frage, wie denn Frieden gestiftet werden kann, antwortet die Bibel mit den Bildern des Friedens. Und das Bild dessen, der unter seinem Feigenbaum sitzt; das Bild dessen der in seinem Weingarten aufatmet und Erholung sucht, solche Bilder gehören zu den überzeugendsten, wie sie die Propheten im Namen und Auftrag Gottes verkündeten, etwa so:

„Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.“ (Micha 4,3f.)

Die Bilder des Friedens sollen uns des Kriegs müde und der Kriegsführung unkundig machen, wie es heißt: „Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ (Jesaja 2,4)

Und diese Imaginationen des Friedens sollen wir nicht für uns behalten, sie sollen weitergegeben werden und auch für unsere Nachbarn gelten: „Zu derselben Zeit, spricht der Herr Zebaoth, wird einer den andern einladen unter den Weinstock und unter den Feigenbaum.“ (Sacharja 4,10)

So sprechend und ansprechend also der kurze Vers bukolisch-pastoraler Liebenslyrik aus dem Hohenlied schon ist – Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften – , ein duftender, freundlicher, wärmender Gruß aus dem Frühling, der kommt – hüpfend wie eine Gazelle und springend wie ein Hirsch – in unseren Winter hinein, soviel mehr ist doch damit gemeint: nämlich die im Bild zu uns gesprochene Ansage des Friedensreiches, des Schalom Gottes, der unsere unordentliche Verhältnisse in eine Ordnung bringen wird; die göttliche Friedensordnung, die unsere Irrungen und Wirrungen in Kälte und Dunkelheit verwanden wird in Wärme und Licht. Noch ist alles hineingetaucht in das Tohuwabohu des vorgeschöpflichen Chaos´, in Leere und Finsternis. Aber Gott spricht abermals in einem Akt neuer Schöpfung: Es werde Licht – und es wird Licht sein!

Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!

Oder mit unserem Wochenspruch: „Steht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ (Lukas 21,28)

Amen.