Denn jeder Hohepriester, der von den Menschen genommen wird, der wird eingesetzt für die Menschen zum Dienst vor Gott, damit er Gaben und Opfer darbringe für die Sünden. Er kann mitfühlen mit denen, die unwissend sind und irren, weil er auch selber Schwachheit an sich trägt. Darum muss er, wie für das Volk, so auch für sich selbst opfern für die Sünden. Und niemand nimmt sich selbst diese Würde, sondern er wird von Gott berufen wie auch Aaron. So hat auch Christus sich nicht selbst die Ehre beigelegt, Hoherpriester zu werden, sondern der, der zu ihm gesagt hat (Ps 2,7): »Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.« Wie er auch an anderer Stelle spricht (Ps 110,4): »Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks.« Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und da er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber der ewigen Seligkeit geworden, von Gott genannt ein Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks. (Brief an die Hebräer 5,1-10)
So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.
Gehorsam gehört nicht zu meinen Lieblingsworten, vielleicht geht Ihnen das ja ähnlich. Und zwar nicht zuerst, weil ich nicht bereit wäre, Gehorsam zu leisten; sondern weil ich die Situationen nicht mag, in denen Gehorsam gefordert wird; und ich finde überhaupt nicht, dass solche Situationen unser Gottesverhältnis angemessen erklären könnten: der strenge Familienvater von vor ein paar Generationen, der nicht nur von seinen Kindern sondern auch von seiner Ehefrau Gehorsam fordert; der Arbeitgeber, der von seinen Angestellten Gehorsam, gar Unterwerfung will (solls sogar in reputierlichen Kirchengemeinden geben!); der Schulmeister von seinen Schülern; der General von seinen Soldaten; der Ordensgeneral von seinen Ordensbrüdern – sogar den berüchtigten Kadavergehorsam bei den Jesuiten – das führt auf theologische Abwege, auf die übrigens auch der Autor unseres Briefes sich verirrt, wenn er anderswo so schreckliche Sätze schreibt wie: „Schrecklich ists, in die Hand des lebendigen Gottes zu fallen.“ (Hebräer 10,31) Das ist Ausdruck einer Religion der Angst vor einem tyrannischen Gott.
Auf der Suche nach entsprechenden Begriffen und Vorstellungen, die durchaus die höhere Macht Gottes anerkennen, ohne diesen tyrannisch zu verzeichnen, bin ich auf das sogenannte, weit bekannte und ebenso weit geschätzte „Gelassenheitsgebet“ des deutsch-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr gestoßen:
Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Dieses Gebet, Anfang des vergangenen Jahrhunderts verfasst, hat eine erstaunliche Karriere gemacht, in zwei Richtungen sozusagen, zeitlich nach vorne als quasi-liturgischer Bestandteil der Sitzungen der Anonymen Alkoholiker, wie auch sonst weithin in Beratung und Therapie, in Kirche und Andacht ja sowieso; und merkwürdigerweise auch in die Zeit zurück, in dem es dem schwäbischen Pietisten und Theosophen Oetinger, mit ihm und seiner Lehre verbunden wurde, und zwar einzig und allein einer Verwechslung wegen, die uns hier nicht weiter interessieren muss.
Gelassenheit, Mut und Weisheit erbitten wir von Gott, wenn wir dieses Gebet mit Reinhold Niebuhr beten, dass dabei selbst etwas von dieser Gelassenheit und Weisheit anklingen lässt, nur um dann auch Mut zu geben für die mutige Tat.
Gelassenheit ist ursprünglich die Fähigkeit von sich selbst abzusehen, wir verwenden es ja immer noch so, dass wir in Gelassenheit von unseren unmittelbaren emotionalen Impulsen und praktischen Reaktion absehen; und so meint es hier im Gebet eben die Einsicht, Unverfügbares oder Unabwendbares hinzunehmen, weil jede Aktion und Reaktion unsererseits ohnehin nichts ausrichten könnten. Gelassenheit als Geschehen-Lassen. Gelassenheit als besondere Form der Passivität – was ja ganz gut in die Passionszeit passt. Gelassenheit als Anerkennung einer höheren Gewalt. Gelassenheit als Leiden in Würde; im Grenzfall als Untergang, aber in Würde. Also wenn das Orchester schon mit nassen Füßen auf der untergehenden Titanic immer weiterspielt. Das ist Gelassenheit. Oder, wenn Jesus im Garten Gethsemane angesichts seines nahen Endes nach Weinen und Klagen betet: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ (Lukas 22,42); worauf sich der Hebräerbrief an unserer Stelle hier bezieht: Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.
Gehorsam und Gelassenheit verbindet die Anerkenntnis einer höheren Macht, vor der der eigene Wille zurückzustehen und deren höherer Wille zu geschehen hat. Aber während der Gehorsame in seinem Gehorsam durch Zwang gebunden bleibt, weiß der Gelassene, dass die Stunde seines Muts, die Dinge zu verändern, schlagen wird.
Dass der Autor des Hebräerbriefes hier dennoch den Begriff Gehorsam verwendet, passt in sein Gottesbild und versteht sich auch deshalb, weil der Begriff Gelassenheit erst 1000 Jahre später vom großen Theologen und Mystiker Meister Eckart gefunden wurde. Meister Eckart meint damit, dass der Gläubige von allem ablassen, alles verlassen, einfach alles lassen möge, und sogar die Suche nach Gott lassen soll, um Gott zu finden. Gelassenheit um Gottes Willen als Verzicht auf eigenes Denken, Fühlen, Wollen: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“
Diese doch sehr radikale Lehre einer am Ende vollständigen Leere, letztlich der Auslöschung des Menschen als Subjekt, der Selbstlosigkeit im Wortsinne hat Eckart Verurteilungen durch seine, also damals auch unsere, katholische Kirche eingebracht, lässt sich aber in milderer und abgewandelter Form immer noch hören und verstehen. Nur wer nicht, nicht mehr um sich selbst kreist, kann Gott als seine Mitte finden. Deshalb ist ja auch die Liebe Metapher und Inbegriff Gottes, die selbstlose Liebe, die nichts für sich selbst zu sein vermag; sich selbst loslassen für einen anderen: Liebe als Gelassenheit – im Sinne Eckarts und sicherlich nicht nach unserem heutigen Sprachgebrauch von Gelassenheit: Ein gelassener, womöglich lässiger, cooler, gar kalter Liebhaber ist ja eher nicht das, was wir uns wünschen; höchstens bei allzu ausschweifendem Überschwang an Feurigkeit lässt sich ein „tranqillo hombre!“ denken; aber lassen wir das, wir schweifen ab.
In der für uns Heutige ebenfalls etwas fremden – und ja auch im übrigen Neuen Testament nicht weiter gebräuchlichen – Symbolsprache des Hebräerbriefes zeigt und erfüllt Christus im Opfer als Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks solche gelassene, selbstlose Liebe. Im Kontrast und in Überbietung der „gewöhnlichen“ Hohepriester seiner Zeit, die jährlich und immer wieder am großen Versöhnungstag das stellvertretende Opfer vollziehen – die Sünden auf den Bock laden und in die Wüste schicken – um hier auf Erden die Menschen zu entsündigen, ist Christus der himmlische Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks, der in seinem Opfer der Liebe uns ein für alle Mal mit Gott versöhnt.
In seinem irdischen Wirken sollen wir ihn uns zum Vorbild nehmen im Beten und Flehen, aber nicht, wie der Hebräerbrief meint, in ängstlichem Gehorsam sondern in der Gelassenheit, die Gottes Barmherzigkeit gewiss ist, was er doch eigentlich sagen sollte: Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Zumindest ansatzweise und, was die gute Absicht angeht, kommen wir dem nach, indem wir seinen Gebetsruf aus dem Garten Gethsemane „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ im Vaterunser nachvollziehen: „Vater Unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, Dein Wille geschehe!“
In dieser Bitte zeigt sich der ganze Sinn des Gebets. Im Gebet nehme ich mich zurück und gebe Gott Raum. Ich verzichte auf Selbstbehauptung, verlasse die Kampfzone ums Dasein, lasse mich los, um Gott in mich hineinzulassen. Beten ist die Praxis schöpferischer Passivität (nach einer Formulierung Eberhard Jüngels), scheinbares Nichtstun aber voller kreativen Potentials, um dann wieder tätig werden zu können.
Meister Eckart und Reinhold Niebuhr, um nur die hier schon Genannten zu nennen, waren engagierte Ethiker in der Nachfolge dessen – des Königs der Gerechtigkeit, was Melchisedek wörtlich übersetzt heißt – von dem wir nicht nur das rechte Beten sondern eben auch das rechte Tun lernen sollen: nach der Bergpredigt, nach seiner Hilfe für die Schwachen und Kranken, nach seinem Einsatz für die Armen: „Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer“ (in der Fassung bei Lukas, 6,20).
Die Kraftquelle, aber, für das Tun der Gerechtigkeit, ist das Gebet:
Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Amen.