Predigttext für den Sonntag Lätare, 19. März 2023

Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser. Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer. (Buch des Propheten Jesaja 54,7-10)

Der Prophet in der Tradition des Jesaja, dessen Wort wir heute hören, lädt dazu ein, die Krise – also zuerst seine Krise des Exils, aber dann auch andere, vielleicht alle Krisen – von ihrem Ende her zu verstehen und so zu überwinden. Trotz des ganzen Schlamassels, das – höchst aktuell! – auch in Metaphern der Naturzerstörung gemalt wird: Berge weichen und Hügel fallen, soll es am Ende gut werden: meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer. Am Ende soll alles, alles gut geworden sein. Das kennen wir.

„Whatever it takes“ – „Wir schaffen das“ – „Andrá tutto bene“ – Diese leicht wiedererkennbaren Slogans aus schweren Zeiten, die man entweder als Durchhalteparolen oder als Hoffnungsworte meinen und hören kann, haben alle gemeinsam, dass sie die jeweilige Krise – Finanzen, Flüchtlinge, Corona – von ihrem – hoffentlich glücklichen – Ende her verstehen. Der gute Ausgang wird vorweggenommen. Allein die Vorstellung, dass alles gut enden wird, scheint uns Menschen Kraft in der Krise zu geben, das Schwere auszuhalten und zu überwinden.

Das klappt übrigens durchaus auch in manchen höchstpersönlichen Krisenmomenten, meinen wenigstens, wenn ich zum Beispiel im Behandlungsstuhl beim Zahnarzt sitze, jeglicher Selbstbestimmung beraubt und keineswegs so schmerzarm behandelt wie zuvor versprochen, träume ich mir das Ende der Prozedur herbei, stelle mir vor, wo ich spazieren werde, wenn mich keine Schläuche mehr halten; male ich mir Speisekarten aus, nach denen ich kochen werde, wenn ich wieder beißen kann. Die Krise von ihrem Ende her verstehen und überwinden. Ein bisschen hilfts auch da.

Und dabei kann einem durchaus klar sein – und in klaren Momenten während einer Krise immer klar gewesen sein – dass auch eine überwundene Krise, noch die Überwindung der Krise, enorme Kosten verursacht – was schon ein kurzer Blick auf die Zahnarztrechnung verrät, und die Rechnungen der großen Gesellschafts- und Menschheitskrisen ohnehin. Es ist unermesslich, was allein die großen Krisen dieses noch jungen Jahrhunderts an Leben, Lebensmöglichkeiten und Wohlstand gekosten haben, was die Erleichterung über ihr Ende doch mehr als ein wenig trübt und im Grunde nicht viel Freude aufkommen lässt. Ungeschehen macht die Krisen nämlich ihr Ende nicht. Während der Krise mag sie vom Ende her zu betrachten sein; aber am Ende stehen wir eben doch vor einem Scherbenhaufen – bildlich oder etwa nach Kriegen ganz real; da wird einer – nicht weit von hier – jeden grausamen Kriegstag größer und größer aufgetürmt.

Deshalb stelle ich mir die Hörer unseres Propheten am Ende von Krieg, Eroberung und Exil, die Überlebenden und Zurückgekehrten aus Babylon keineswegs überglücklich oder fröhlich oder ausgelassen vor; erleichtert wohl; mit neuer Hoffnung in aller Erschöpfung; aber eben auch gezeichnet von dieser Krise; Trümmerfrauen und -männer, denen sich Krieg und Krise in die Gesichter gegraben haben; unfähig zur hellen Freude und zu Teilen sicherlich unfähig noch zur Trauer für einige Zeit.

Und ob der Hinweis auf Noah und die Sintflut so tröstlich war damals, so tröstlich ist für uns heutige, sei dahingestellt. Gewaltige Fluten, unermessliche Schäden, zahllose Opfer an Tieren und Menschen, die hat es nach dieser biblischen Geschichte ja nun gegeben – und wird es nach menschlichem Ermessen und den meisten seriösen Prognosen wieder geben. Davongekommen sind wenige und davonkommen werden nur einige – aber ob die sich freuen konnten, freuen sollen trotz der Vernichtung der Massen? Da wird einem doch eher die Freude über das eigene Leben im Halse stecken bleiben aus Trauer über das Ende der anderen. Noch der bloße Augenblick des Zorns ist mir hier zu lang, zu schwer, zu gewichtig, zu gewaltig, dass er von ewiger Gnade wirklich wettgemacht werden würde.

Was als Aufmunterung während der Krise funktionieren mag – aber ja auch nicht bei jedem und auch nicht in jeder Krise funktioniert; für viele ist das gegenwärtig erlebte Leid zu groß, dass der Gedanke an sein Ende es wirklich lindern könnte – was als Aufmunterung während der Krise noch funktionieren mag, klingt nach deren Ende leicht schal und hohl. Da ist einfach zu viel kaputt gegangen – auch das Prophetenwort in seiner Botschaft an uns?

Der Prophet im Namen des Jesaja spricht sein Wort von kurzem Zorn und ewigem Erbarmen im Zusammenhang einer ausführlicheren Bildrede über das Verhältnis des Volkes Israel zu seinem Gott, das er in alter prophetischer Tradition als Liebesbeziehung, ja als Ehe zeichnet: Gott der Liebhaber, der Ehemann – sein Volk als Geliebte, als Partner, als Gottes Frau. Wie jeder Vergleich hinkt natürlich auch dieser gewaltig, am meisten durch das Gefälle zwischen den Partnern, das keine wirkliche Beziehung aushalten würde; wer würde sich freiwillig einer Göttin, oder auch nur seiner eigenen Vorgesetzten vermählen? Das Bild enthält aber doch auch mehr als ein Körnchen Wahrheit.

Jede Liebesbeziehung, jede Ehe verläuft in Phasen, in Kurven, mit Höhen und Tiefen, „ups and downs“; sicherlich auch mit Momenten des Zorns, die aber, solange die Beziehung andauert, gemildert werden durch die Bereitschaft zur Vergebung und eingebettet sind in eine vertrauensvolle Liebe, die sich in den unvermeidlichen Momenten des Zorns so leicht nicht zerbrechen lässt. Und auch wenn ich persönlich den Beziehungstherapeuten, die Liebenden und Eheleuten herzhaftes Streiten empfehlen, nicht über den Weg traue, glaube ich schon, weiß es ja, dass eine Beziehung einiges aushält. Zerbrechlich ist und bleibt sie gleichwohl, was wir ebenfalls aus eigener Erfahrung, oder zumindest aus eigener Anschauung wissen können. Berge weichen und Hügel mögen hinfallen, und unsere Liebe kann das eben auch.

Deshalb bleibt unser Prophetenwort ein Wort auf Hoffnung hin – in einer aktuellen Krise sowieso, aber auch nach ausgestandenem Konflikt; anwendbar auf Glaube und Liebe und noch auf die Irrungen und Wirrungen der wirklichen Welt; und warum eigentlich nicht ebenfalls auf die merkwürdige Sonderwelt unserer Kirche und unserer Gemeinden.

Die Krise vom Ende her denken, könnte hier heißen, könnte für unsere vier Gemeinden heißen, Vorstellungen und Bilder zu entwickeln, die den Nachbarschaftsprozess zu einem guten Ende kommen sehen; Vertrauen zu bilden dürfte helfen; sich bereit halten, gegenseitig zu vergeben, dürfte sinnvoll sein; Momente des Zorns sollte man erwarten, damit man ihnen nicht allzu überrascht und hilflos ausgeliefert ist.

Und bis dann? Manches wird zerbrechen und zerfallen, lange bevor die Hügel hinfallen, auf denen unsere Gemeinden stehen. Jubel über ein neues Jerusalem auf den sieben grünen Hügeln des Wiesbadener Nordostens werden wir nicht hören; eher die Klagen an den Wassern eines neuen Babylon, also an den Wassern des Dambachs, des Tennelbachs, des Goldsteinbachs, des Rambachs und des Aukammbachs, den fünf Bächen unseres verlorenen Paradieses, die können schon einiges an Tränen aufnehmen und werden bekanntlich doch in zornigen Momenten zu reißenden Fluten.

Aber vielleicht gelingen uns auch Neugründungen im heimatlichen Exil, Kapellen in der Diaspora, Wege durch die Verwüstungen unseres Unglaubens, hoffnungsvoll grüne Pflänzchen des Glaubens mitten in den Trümmern der alten Kirche: Pilgerwege über Grenzen hinweg, gottesdienstliche Gemeinschaft, Diskurse über Gott und die Welt, Krieg und Frieden.

Am Ende wird keineswegs alles gut sein, aber vielleicht manches besser als wir uns das jetzt denken können. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer. Amen.