Predigttext für den Sonntag Okuli, 12. März 2023

Als er – Jesus – aber noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss? Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn. Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis. (Lukasevangelium 22, 47-53)

Die Macht der Finsternis

Die „Macht der Finsternis“ heißt ein Schauspiel, das erste Schauspiel des russischen Dichters Leo Tolstoi, sie wissen schon: „Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“. Tolstoi hat sein „Macht der Finsternis“ im Jahr 1886 geschrieben und beschreibt darin eine Situation völliger moralischer Verwahrlosung in einem abgelegenen russischen Dorf, Menschen die für die vage Aussicht auf etwas Besitz und flüchtigen Lustgewinn wahllos andere Menschen umbringen, die „Knochen von Babys“ knacken lassen, wie der Dichter uns nicht verschont hören zu lassen; vollständige soziopathische Umnachtung: „Macht der Finsternis“.

Es berührt unheimlich, dass der Dichter Tolstoi eine Situation aus einem Land beschreibt, die in ähnlicher Weise in nicht wenigen Hintergrundberichten zum grauenvollen Krieg in der Ukraine vorkommt und als Erklärung für diesen Exzess von Unrecht und Gewalt gegeben wird: moralische Verwahrlosung, Verachtung von Frauen, ungehemmter Hedonismus, Verherrlichung der Gewalt und ihr Einsatz gegen die eigenen Leute und noch gegen Kinder, unüberhörbar im Brechen der Knochen: „Macht der Finsternis“.

Manchmal wird aus diesen Beschreibungen eine Deformation, ein Defekt eines nationalen Charakters abgeleitet, was ich falsch finde, weil wir einerseits solche Situationen der Verwahrlosung auch an anderen Orten, zu anderen Zeiten und in anderen Völkern kennen – auch im eigenen! – Und es ist deshalb auch falsch, weil wir andererseits nicht annehmen müssen, dass die Macht der Finsternis vor Ländergrenzen halt machte, oder sich räumlich-zeitlich eingrenzen ließe. Die Macht der Finsternis ist potentiell unbegrenzt; ein Rückfall in die Nacht der Unmenschlichkeit droht überall und jederzeit.

Wir haben es der Bibel und ihren Autoren sehr zu danken, dass sie trotz anderslautender Gerüchte eben kein übertrieben helles, schönfärberisches, kitschig-triviales Bild der Wirklichkeit zeichnen, sondern neben dem Licht auch die Dunkelheit; ja die ganze „Macht der Finsternis“ ausbreiten; zwar kritisieren und bekämpfen, aber eben nicht verschweigen oder zudecken. Nur wenn die „Macht der Finsternis“ in helles Licht gestellt wird, „zur Schau gestellt wird“(s.u.), wird sie erkannt. Sie selbst, „die dunkle Seite der Macht“, wählt aus naheliegenden Gründen die Nacht, wie seit jeher – alptraumhaft – die Chaosmächte in der Nacht aus den Tiefen hervorkriechen und die Schöpfungsordnung bedrohen. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.

Es folgt also aus diesem uralten mythologischen Gesetz, wie im übrigen auch alltäglicher Verbrecherlogik, dass der entscheidende Angriff im Dunkeln erfolgt, im Schutz der Nacht. Aber selbst der Räuber kann sich seiner Sache nicht sicher sein, muss sich wappnen, lieber zu viel als zu wenig, Übertreibungen inklusive: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen.

Die uns gezeichnete Szene der Gefangennahme Jesu, mit der sich die Macht der Finsternis zeigt, ist eine Nacht-und-Nebel-Aktion, voller Dramatik und sogar unfreiwilliger Komik: Ein bewaffneter Trupp nähert sich im Dunkeln, wer soll das sein, wer hat sie geschickt? Voran einer aus dem innersten Kreis der Vertrauten, der Zwölf wie ausdrücklich vermerkt wird, der weiß, wo Jesus und die Seinen die Nacht verbringen; dieser Judas schickt sich an zu seinem berüchtigten Judaskuss, ohne den kein Mafiafilm auskommt, wobei Lukas offen zu lassen scheint, ob die Berührung stattfindet; jedenfalls wird er deutlich abgewiesen, dieser Kuss und als Verrat enttarnt: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?

Dann wird es unübersichtlich, ein Tumult entsteht, Worte in der Nacht, ein Handgemenge, einer aus dem Trupp verliert sein Ohr per Schwertstreich; und bekommt es postwendend wieder geheilt, immer gut, wenn ein Arzt und Heiland anwesend ist; weiter wehren sie sich nicht; Widerstand ist zwecklos: Lasst ab! Nicht weiter! Dann benennt Jesus das Verbrechen und stellt seine ganze Absurdität bloß: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.

Verrat, Heimtücke, Gewalt – das sind die Waffen der Macht der Finsternis, gegen die selbst der Menschen- und Gottessohn machtlos zu sein scheint, wir ja sowieso; nicht mehr lange, da wird sich der Himmel über Golgatha verdunkeln, alles in Nacht und Finsternis stürzen, „eine Finsternis über das ganze Land“ kommen (Lukas 23,44): „Oh große Not, Gott selbst ist Tod“, werden wir singen (so der ursprüngliche Text des Karfreitagslieds, EG 80) und weinen.

Dass es dabei nicht sein bewenden hat, gehört zu den erstaunlichsten, den unwahrscheinlichsten Wendungen der Literatur und der Weltgeschichte. Die Christen, also wir, glauben gegen jede Wahrscheinlichkeit an den Sieg des Lichtes über die Finsternis; an den Sieg des Lebens über den Tod. Das darf man dann gerne Realitätsverweigerung nennen, wenn damit gemeint ist, dass der jetzigen Wirklichkeit verweigert wird, sie für dauerhaft oder ewig zu halten; etwa wenn mitten in einem Krieg über eine gerechte Friedensordnung nachgedacht wird, für danach; oder wenn im schon erwähnten Stück des Dichters Tolstoi der Hauptverbrecher nach einer Orgie der Gewalt im letzten Akt zum Glauben kommt, seine Vergehen öffentlich beichtet und dafür büßt.

Der Apostel Paulus greift die markante Wendung „Macht der Finsternis“ in einem seiner Briefe auf, um die durch Gott in Christus herbeigeführte Wendung vom Bösen zum Guten zu benennen: „Mit Freuden sagt Dank dem Vater, der euch tüchtig gemacht hat zu dem Erbteil der Heiligen im Licht. Er hat uns errettet aus der Macht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes …“; „Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und über sie triumphiert in Christus.“ (Kolosserbrief 1,11-13; 2,15). So soll es sein. Amen.