14. Sonntag nach Trinitatis, 10. September 2023

Und es begab sich, als er nach Jerusalem wanderte, dass er durch das Gebiet zwischen Samarien und Galiläa zog. Und als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer; die standen von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesus, lieber Meister, erbarme dich unser! Und da er sie sah, sprach er zu ihnen: Geht hin und zeigt euch den Priestern! Und es geschah, als sie hingingen, da wurden sie rein.Einer aber unter ihnen, als er sah, dass er gesund geworden war, kehrte er um und pries Gott mit lauter Stimme und fiel nieder auf sein Angesicht zu Jesu Füßen und dankte ihm. Und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete und sprach: Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun? Hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? Und er sprach zu ihm: Steh auf, geh hin; dein Glaube hat dir geholfen. (Lukas 17, 11-19)

„Ich danke Gott, … dass ich bin“ hat mir einmal – es ist einige Zeit her – mein Jugend- und Lieblingspfarrer hier in Wiesbaden auf dem Markt am Samstagmorgen bei einer zufälligen Begegnung auf die Frage geantwortet, wie es ihm gehe. „Guten Morgen, wie geht es ihnen, Herr Geißler!“ – Ich wusste, dass er krank gewesen, aber nicht wie weit seine Genesung gediehen war. Und darauf antwortete er mir freudestrahlend – vor Freude strahlen, dass konnte und das kann er gut – wie gut es ihm gehe und wie dankbar er dafür sei und wie sehr er sich darüber freue, mit einem Dichtervers: „Ich danke Gott, und freue mich/ Wie’s Kind zur Weihnachtsgabe, / Daß ich bin, bin!“.

Das Gedicht kannte ich nicht, hatte auch seinen Dichter Matthias Claudius bisher meistens mit einem gewissen Hochmut umgangen – so kindlich, so fromm; aber mit den Worten meines Pfarrers, seinem Ton und seinem Gesichtsausdruck hat es mich überzeugt; und überzeugt mich noch heute durch seine nur scheinbar naive Lebens-Dankbarkeit als Freude über das Dasein; darüber, dass etwas ist und nicht etwa nichts ist; und dass ich bin und sein darf, und dadurch zum Zeugen des von Gott geschaffenen Daseins werden kann. Die Freude über mein Leben bezeugt Gottes Schöpfung.

Matthias Claudius: Täglich zu singen

Ich danke Gott, und freue mich
         Wie’s Kind zur Weihnachtsgabe,
Daß ich bin, bin! Und daß ich dich,
         Schön menschlich Antlitz! habe;

Daß ich die Sonne, Berg und Meer,
         Und Laub und Gras kann sehen,
Und abends unterm Sternenheer
         Und lieben Monde gehen;

Und daß mir denn zumute ist,
         Als wenn wir Kinder kamen,
Und sahen, was der heil’ge Christ
         Bescheret hatte, amen!

Ich danke Gott mit Saitenspiel,
         Daß ich kein König worden;
Ich wär geschmeichelt worden viel,
         Und wär vielleicht verdorben.

Es folgen noch ein paar Verse, aber die punchline des Gedichts steht eigentlich schon in der ersten Zeile: „Ich danke Gott, dass ich bin“. Hier äußert sich das Selbstverständliche, aber so, dass es mir erst bewusst wird, erst so geäußert, und so erst gefühlt und erlebt werden kann.

Wie das Staunen der Anfang der Philosophie: Warum ist eigentlich etwas und nicht nichts? – so ist der Dank der Anfang des Glaubens. Dank ist unsere Antwort auf die Gnade Gottes, der „das Sein aus dem Nichtsein ruft“ (Römer 4,17), „der dich vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.“ (Psalm 103,4) Dank, verwunderter Dank ist der einzig angemessene Ausdruck für die Erkenntnis der Gnade. „Ich danke dir, dass du mich wunderbar gemacht hast. Wunderbar sind deine Werke. Das erkennt meine Seele.“ (Psalm 139,14) Das Selbstverständliche nicht für einen Anspruch zu halten, das kommt im freien Dank für freie Gnade zum Ausdruck.

Bleibt eigentlich nur noch die Warnung vor falschem Dank, die der Evangelist Lukas eine paar Zeilen weiter im nächsten Kapitel am Beispiel des „Pharisäers“ (der freilich nur eine Karikatur der rabbinischen Gottesgelehrten darstellt) ausspricht: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie die anderen …“(Lukasevangelium 18,11) Einen Dank, der sich nur selbst vergrößert, andere ausschließt, ungerecht oder rein taktisch verteilt wird, kann man sich schenken. Auch danken dürfen und danken müssen – „Hast du auch Danke gesagt?!“ – machen sich verdächtig. Dank für etwas, dass der Dankende gar nicht kennt oder weiß – die Kernkompetenz schlechter Vorgesetzter und Dienstherren – stößt auf; und wenn Dank gleich wieder von einer Bitte begleitet oder von einer Forderung gefolgt wird, verbittert er und verbietet sich. Dankbarkeit erfordert Denkarbeit; und wenn darunter die Spontaneität leiden sollte, muss halt schneller gedacht werden, damit der Dank nicht zu spät kommt. Dank lebt von Gelegenheiten.

Vielleicht hatten die neun anderen geheilten Aussätzigen ja noch vor, ihrem Wohltäter zu danken; vielleicht mussten sie in ihrem Überschwang des Geheiltseins erstmal das neu geschenkte Dasein genießen – sich freuen, dass sie sind! – also: über Wiesen springen und an Blumen schnuppern, sich nach den Einschränkungen ihrer Krankheit erstmal frei fühlen; und vielleicht hatten sie den Dank noch fest vor, nach der ersten Feier des Daseins.

So dürfen wir damit rechnen, dass der, der gesagt hat, dass die rechte Hand nicht wissen soll, was die linke tut, etwas großzügiger als sein Chronist mit der fehlenden Dankbarkeit umgegangen wäre. Vielleicht war ihm ja dir Freude der Geheilten – welche Freude kann größer als die über eine Heilung, eine Genesung! – Dank genug. Und vielleicht haben sie ja bei der nächsten Gelegenheit den gesparten Dank obendrauf gelegt.

Immerhin gab es einen unter den 10 Geheilten, der sich gefreut und gedankt hat, und den wir uns doch wohl als Vorbild genauer anschauen sollen. Keine besondere Kompetenz zeichnet ihn vor den anderen aus und doch unterscheidet ihn, den Fremden, den „aus anderem Volk Stammenden“ („allogenes“), etwas von den anderen, nämlich sein „Anders-sein“, das mehr ist als die Zugehörigkeit zu einer als fremd und feindlich gesehenen Gruppe. Sein Fremdsein befähigt ihn offensichtlich, seine Genesung nicht für die Erfüllung, die Einlösung eines Anspruchs zu halten. Vielmehr vermag er die Selbstverständlichkeit seines Daseins als Kostbarkeit zu empfangen: Sich selbst und seinen Ansprüchen so fremd zu werden, dass das eigene Sein als Gnade empfunden und eigentlich empfangen werden kann.