Ewigkeitssonntag, 24. November 2024

EIN LIED FÜR DIE PILGERREISE.
Wir waren wie in einem Traum,
als der Herr das Schicksal Zions zum Guten wendete:
Da füllte Lachen unseren Mund,
und Jubel löste uns die Zunge.
Da sagte man unter den Völkern:
»Der Herr hat Großes an ihnen getan!«
Ja, der Herr hat Großes an uns getan!
Wir waren in einem Freudentaumel.

Herr, wende unser Schicksal zum Guten,
so wie du die Bäche in der Wüste füllst
nach langer Trockenzeit.
Wer unter Tränen mit der Saat beginnt,
wird unter Jubel die Ernte einbringen.
Noch geht er, geht weinend aufs Feld,
wenn er den Beutel zur Aussaat trägt.
Dann kommt er, kommt jubelnd zurück,
wenn er seine Garben nach Hause trägt.
(Psalm 126, nach der Basis Bibel)

In der Erinnerung an einen geliebten Menschen geht es – auch – um die ganz besonderen Ereignisse, die Höhepunkte und Glücksmomente eines Lebens, dieses Lebens. Bestimmt auch um den Alltag, das Alltägliche, das normale Leben, das sich so oder so eingerichtet hat, das seinen Gang geht, die Mühen und Freuden der Ebene; aber eben auch und noch mehr die Gipfel oder Tiefpunkte, wenn das Leben seine bisherige Gangart verlässt; in Bewegung gerät, sich beschleunigt, oder eben umgekehrt: an einen Halt kommt, eine Zäsur markiert, eine Epoche definiert. Ich meine diese markanten Daten in einer Lebensgeschichte, wie Geburt und Tod meiner Lieben, Examen und Hochzeit; Diagnose und Genesung; Unfall, tiefes Unglück und großes Glück; die eine Reise, die meinen Horizont erweitert; das eine Buch, das mich sammelt; die Begegnung, die mich bereichert.

Es gehört zu den großen Privilegien meines Berufs, mit den Angehörigen von Verstorbenen, deren Leben nachzuerzählen, nachzuzeichnen, sei es in groben Zügen, sei es in reichem Detail; immer jedoch um dieses eine Leben wahrzunehmen in seiner Eigenart und Kostbarkeit, seinem Wert und seiner Würde, die beide gleichermaßen unendlich sind und wenn es auch uns noch so unscheinbar erscheinen sollte.

Zu den definierenden Momenten eines Lebens, meines Lebens können auch Ereignisse der Geschichte und der Gesellschaft werden, Ereignisse, die nicht privat oder familiär sind, sondern von vielen, einer ganzen Generation in Glück und Unglück geteilt werden, kollektive Momente: Kriegsbeginn und Friedensschluss, Halte- und Wendepunkte der Geschichte; auch Sportereignisse oder solche in der populären Kultur. In solchen Momenten scheinen ungeahnte Möglichkeiten auf und wir sagen, könnten doch jedenfalls sagen: Wir waren wie in einem Traum.

„Ich habe kaum etwas gelesen, wochenlang gab es für mich keine Filme mehr, kein Theater. Unter publizistischen Gesichtspunkten war es die glücklichste Phase meines Lebens. Zum ersten und einzigen Mal hatte ich das Gefühl, dass die Wirklichkeit interessanter ist als alle Literatur und Kultur.“ Eine „enorme“, eine „verwunschene“ Zeit: „Der Zauber der Aktualität war so stark, dass nichts daneben bestehen konnte. Alle Fernsehkameras der Welt wurden benötigt, um Menschen zu filmen, die sich umarmten.“ „Die Wirklichkeit war viel poetischer als das Fiktive“

Auch wenn der Schriftsteller und Philosoph Peter Sloterdijk, der so in einem Interview seine Erinnerung an die Ereignisse des Mauerfalls von vor 35 Jahren beschreibt, von einer kurz darauf eintretenden Enttäuschung spricht, dass er schon an Weihnachten bemerkt habe: „Es ist vorbei“ und er nach beiden Seiten enttäuscht gewesen sei „von mir selbst und von der Geschichte“ – bleibt doch dieses Ereignis nicht nur in seinem sondern im gemeinsamen Gedächtnis als unerhörter, einzigartiger Überschuss an Möglichkeiten bestehen; als großer Glücksfall der jüngeren Geschichte, von dem wir sagen können, wie sind dabei gewesen.

Ein solches Ereignis beschreibt der Psalm, auf den wir heute hören.

Wir waren wie in einem Traum,
als der Herr unser Schicksal zum Guten wendete:
Da füllte Lachen unseren Mund,
und Jubel löste uns die Zunge.
Da sagte man unter den Völkern:
»Der Herr hat Großes an ihnen getan!«
Ja, der Herr hat Großes an uns getan!
Wir waren in einem Freudentaumel.

Und an solche enorme, verwunschene Zeiten, an solche Traumzeiten sollen wir uns – so der Psalm – erinnern, wenn wir in Schmerz und Leidenszeiten unsere Hoffnung denken. Erkenntnistheoretisch muss es zweifelhaft sein, vom Ausnahmezustand auszugehen, das Einzigartige für wiederholbar zu halten, das Enorme zur Norm zu machen und den Traum zu erwarten. Aber genau dazu will uns der Sänger des Psalms animieren. Es geht ihm also nicht darum, alltägliche Wirklichkeit abzubilden oder Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, sondern auf Gottes Möglichkeiten zu verweisen. Die verhalten sich zu unserer Wirklichkeit wie der historische Ausnahmefall – wie die Rückkehr der Gefangenen nach Zion, wie der Fall der Mauer – zu unserem Alltag. Glauben und Hoffen in unserem Kummer heiß also: alles für möglich zu halten bei Gott.

Im Rückgriff auf den glücklichen Ausnahmefall formuliert der Sänger glückliche Ausgänge des Unglücks; sammelt sozusagen Evidenzen für Wendungen des Geschicks aus der Natur, aus dem Alltag seiner Hörer. Uns – mir jedenfalls – geht es schon manchmal so, dass mir das, was ich eigentlich weiß und zigmal erlebt habe, erst unwahrscheinlich war, ja unmöglich erschien, bevor es eintritt – und sei es die Wiederbelebung der Natur nach der Winterpause, oder Heilung nach schlimmem Schmerz. Solche guten Ausgänge, die wir immer schonmal erlebt haben und die wir sehr zurecht Gott zuschreiben, besingt der Sänger:

Herr, wende unser Schicksal zum Guten,
so wie du die Bäche in der Wüste füllst
nach langer Trockenzeit.
Wer unter Tränen mit der Saat beginnt,
wird unter Jubel die Ernte einbringen.
Noch geht er, geht weinend aufs Feld,
wenn er den Beutel zur Aussaat trägt.
Dann kommt er, kommt jubelnd zurück,
wenn er seine Garben nach Hause trägt.

Wie so oft legt die Bibel uns nahe, gegenwärtiges Leid von einem zukünftigen glücklichen Ausgang zu denken. Wir sollen, wie die Propheten das taten, unsere jetzige Lage im Licht unserer Erfahrungen glücklicher Ausgänge deuten: Regen nach der Dürre, Freude nach Tränen, haben wir schon erlebt – und sollen wir wieder erleben – wenn Gott will, warum sollte er nicht?

Manchmal trifft uns solcher Trost zu früh, er findet uns noch in der Lage der Untröstlichkeit, er klingt dann hohl und leer und wir hören ihn womöglich als bloße Vertröstung. Auch davon scheint unser Psalm zu wissen, wenn in seinen Bildern die Zeit vorausgesetzt wird, die Trost braucht. Saat und Ernte trennen Wochen, oft Monate; und selbst wenn unser Trost ein Jahr oder Jahre braucht – früher gab es das Trauerjahr, um uns die Zeit, die wir brauchen, einzuräumen – und selbst wenn unsere Trauer viel länger braucht: die Zeit des wirksamen Trostes soll nach Gottes Willen kommen.

Getröstet von der Aussicht auf Trost? Getröstet also von der bloßen Aussicht auf Trost, das könnte man für zu wenig halten. Was ist, spricht der Zauderer und Zweifler in mir, was ist, wenn uns noch am Ende, an jedem Ende, Trostlosigkeit gefangen hält und uns im Alptraum ungetrösteter Trauer fesselt? Wir wären wie in einem Alptraum, weil niemand unser Schicksal zum Guten wendete.

Dagegen steht außer unseren Erlösungserfahrungen, denen wir nur zu glauben haben, das Wort unseres Gottes wie in diesem Lied eines seiner Sänger. Aber das steht dagegen und darauf lasst uns hören: „Selig sind die Leidtragenden, denn sie sollen getröstet werden.“ Amen.