Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.
Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe gemacht; und die Welt erkannte es nicht. Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden: denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus menschlichem Geblüt noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. (Johannes 1,1-5.9-14)
Eine andere Weihnachtsgeschichte, diese Weihnachtsgeschichte des Johannes; keine Geschichte eigentlich, sondern eher Gedicht, oder noch eher Traktat. Weihnachten ohne Krippe und Stall, ohne Hirten und Engel, ohne Ochs und Esel, ohne Klingelingeling und ohne Lametta; nicht sinnlich und märchenhaft, nicht bunt sondern schwarz-weiß, theoretisch, abstrakt, verkopft, nicht Mythos sondern Logos, das gefällt mir!
Abstrakt wie das Bild von Richard Serra, Dead Weight III (Coptic) von 1991, im Museum Wiesbaden, in das man sich versenken kann, wie die Menschen früher, die Mönche zumal, in die Texte der Bibel sich versenkt haben. Schwarze Ölkreide auf weißem Papier, mehr nicht, aber darin die ganze Welt.
Viel schwarze Farbe, dick aufgetragen, sichtbar schwer auf edlem Papier, nicht industrieweiß, sondern edles, altes Weiß. Zweigeteilt, zwei Flächen, zweimal ein großes Rechteck übereinander, quadratisch das obere, das untere genauso hoch, aber etwas schmaler; dahinter, darunter, daneben weißer Rand, oben sehr schmal, unten etwas breiter rechts und links. Das untere Rechteck scheint das obere zu tragen, schwere Last.
Für „dead weight“ lesen wir im Wörterbuch: ganze Last, volles Gewicht, schwere Bürde, Leergewicht, Eigengewicht, totes Gewicht, Nutzlast; Dead Weight – schwere Last, passt für mich am besten.
Den in Klammern gesetzten Namenszusatz des Bildes (Coptic) kann ich nicht recht deuten, vielleicht ist eine ferne Ähnlichkeit der Gestalt mit dem koptischen Kreuz gemeint, dem Anch, Lebenssymbol, Hieroglyphe für das Weiterleben im Jenseits. Der Künstler verwendet oft solche historischen, persönlichen oder mythologischen Bezüge für seine Werke, ohne dass der jeweilige Bezug für den Betrachter offensichtlich wäre. Er scheint hier auf Sprache und Kultur der Kopten zu verweisen, das uralte ägyptische Christentum, das sich bis heute gegen die Übermacht des Islams im Land behauptet, im besten Fall geduldet, oft verfolgt, nicht selten voller Gewalt. Mich beginnt dieser konkrete Titel des abstrakten Bildes zu stören. Vielleicht weil es auf eine bestimmte Weise zu gut mit dem von mir gewählten Bezug auf Weihnachten passt.
Das Schwarz überwiegt bei weitem, dominiert, bestimmt das Bild, bestimmt nicht selten unser Weltbild, dieses „Wir leben in finsteren Zeiten.“ Dem kann sich kaum einer entziehen. Zuviel spricht dafür; Zeitungen und Nachrichten jedenfalls, Tag für Tag. Finsternis überall.
Aber dagegen stehen die weißen Ränder, das sich vom Rand her aufmachende Licht: „Mache dich auf, werde Licht, denn dein Licht kommt“ Ich komme nicht los, von meiner ursprünglichen Idee, dass dieses Bild – wahrscheinlich ohne jede Absicht – einen Weihnachtsgedanken formuliert, nämlich den vom Licht in der Finsternis. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.
Johannes verfolgt und entwickelt ihn sein ganzes Evangelium und seine Briefe entlang: „Jesus Christus spricht: Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben“. Weihnachtlicher Glauben ist für Johannes: das Leben und die Welt nicht von der Finsternis, sondern vom Licht her zu sehen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.
Nicht die Finsternis wird das Licht verschlingen, sondern das Licht breitet sich in der Finsternis aus. Das versteht sich keineswegs von selbst und es versteht sich auch nicht von selbst aus dem Blick auf unser Bild. Denkbar – und so oft denken wir es doch auch – dass sich nicht das Licht, sondern die Finsternis ausbreitet und die Finsternis irgendwann das Licht ganz und gar verschluckt wird. Ägyptische Finsternis – vielleicht ist da doch was dran an der Koptischen Deutung.
Wir – aber – folgen Johannes, wenn wir nicht die Finsternis, sondern das Licht für die Dominante halten. Wir folgen Johannes, wenn wir das Licht erkennen in der Finsternis. Wir folgen Johannes, wenn wir der Mehrheitsdeutung die Gefolgschaft verweigern, wenn wir anders als alle Welt (die Welt erkannte es nicht, die Seinen nahmen ihn nicht auf) das Licht aufnehmen. Die Welt von ihrem zarten Lichtrand zu verstehen, das ist Weihnachten – im eigentlichen Sinne.
Ein letzter Gedanke: Auf eine bestimmte Weise setzt Johannes die Lichtmetapher mit dem berühmten Wort „Wort“, griechisch „Logos“ in Beziehung, womöglich gleich. Das ist uns geläufig, wenn wir davon sprechen, dass uns ein Licht aufgeht, und damit meinen, dass wir etwas verstanden, begriffen haben. Das kann die Finsternis nicht: die Finsternis hat’s nicht ergriffen. Erleuchtung, Aufklärung heißt dagegen: etwas verstehen, etwas einen Sinn geben. Logos ist deutendes Wort, Bedeutung und Sinn.
Darum haben wir uns doch die ganze Zeit schon bemüht, wenn wir versuchen, dem abstrakten Bild einen konkreten Inhalt, eine Geschichte, einen Sinn zu geben: Das Bild zu deuten, es zu verstehen, es zu lesen. Für etwas Worte finden, um etwas Worte zu machen, heißt, ihm Sinn zu geben. Johannes behauptet nun, dass diese Gabe, die Welt zu verstehen, überhaupt irgendetwas zu verstehen, aus Gott kommt: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.
Dieses Wort – also in seinem umfassenden Sinn, die Fähigkeit, Worte zu machen und damit den Dingen Bedeutung und Sinn zu geben – behält Gott nicht für sich, sondern sendet es in die Welt, als konkretes Leben, als Licht, das uns im Chaos der Finsternis eine Ordnung aus Licht stiftet. Das Licht begrenzt die Finsternis. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen. Weihnachten!