Predigttext für Karfreitag, 2. April 2021

Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten – so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch und seine Gestalt nicht wie die der Menschenkinder –, so wird er viele Völker in Staunen versetzen, dass auch Könige ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn was ihnen nie erzählt wurde, das werden sie nun sehen, und was sie nie gehört haben, nun erfahren. Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Armes Herrn offenbart? Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf. Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wen aber kümmert sein Geschick? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat seines Volks geplagt war. Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist. Aber der Herr wollte ihn also zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und lange leben, und des Herrn Plan wird durch ihn gelingen. Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben dafür, dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten. (Buch des Propheten Jesaja 52,13-53,12)

Die sonst eher kämpferische Autorin Samira El Ouassil äußert sich in einen überaus einfühlsamen, beinahe zarten Artikel (spiegel online, 1.4.2021) über das Leiden und Mitleiden in Zeiten von Corona, sie schreibt:

„Ein gutes Jahr … [nach den ersten Nachrichten über Corona] stehe ich auf einem Friedhof bei einer Beisetzung. Tante E. [92] war vor Kurzem an Covid erkrankt, ihr Sohn hatte sie angesteckt. Er hatte das Virus von der Arbeit mit nach Hause gebracht, obwohl er alles getan hatte, um Tante E. so gut wie möglich zu schützen: … Das Kümmern um seine greise Mutter, das Pflegen ihrer Gesundheit, waren sein Lebensinhalt, auch schon vor der Pandemie. Selten hatte ich einen Sohn gesehen, der sich so liebevoll um die eigene Mutter gekümmert hatte.

Tante E. hat die Infektion gut überstanden, nahezu symptomfrei. Sie ist fit, rüstig und widerstandsfähig. Ihr dreißig Jahre jüngerer Sohn hat Corona nicht überlebt.“

El Ouassil fährt fort: „In Anbetracht der inzwischen über 70.000 Verstorbenen allein in Deutschland müssten mittlerweile schon viele Personen die Beisetzung eines Coronatoten erlebt haben. … Auch sie sind Opfer von Corona, dieser surrealen Sache, die erst seit 425 Tagen in Deutschland existiert. Eine Kleinstadt an Menschen ist inzwischen gestorben, eine ganze Großstadt wie München ist vom Verlust dieser Menschen betroffen.“

Die Autorin der Kolumne möchte mit ihren einfühlenden Worten, die Geschädigten der Pandemie sichtbar machen – auch indem sie sicherlich ganz bewusst das Wort „Opfer“ verwendet. Was ist damit gemeint?

Wenn Menschen durch Gewalt zu Schaden kommen, dann sprechen wir ja oft davon, dass sie Opfer geworden sind: die 2724 Verkehrstoten im vergangenen Jahr etwa werden als Verkehrsopfer bezeichnet; die ungefähr 120000 Menschen, die jährlich an den Folgen des Rauchens sterben, werden ebenfalls Opfer des Rauchens genannt und die bisher sogar über 76000 an Corona Gestorbenen gelten uns als Opfer der Pandemie.

Im Begriff „Opfer“ stecken aber zumindest zwei grundverschiedene Bedeutungen, die im Deutschen nicht getrennt werden, aber etwa im Lateinischen oder auch im Englischen durch zwei verschiedene Vokabeln bezeichnet und damit unterschieden werden: victima oder victim auf der einen und sacrificium oder sacrifice auf der anderen. Während victim einen Menschen oder ein anderes Lebewesen bezeichnet, der oder das zu Schaden, womöglich ums Leben gekommen ist; bedeutet das sacrifice ein sichtbares Kommunikationsgeschehen, einen demonstrativen Tausch für einen höheren Zweck, eine öffentliche Hingabe für etwas; victima ist passiv, Objekt und stumm, oft anonym – sacrificium ist aktiv, Subjekt und spricht, identifizierbar.

Die eingangs genannten Opfer des Straßenverkehrs, des Rauchens oder der Pandemie, sind zuerst allesamt stumm und wurden passiv zum Opfer, anonym allein schon in den großen Zahlen; die Frage nach einem tieferen oder höheren Sinn ihres Leidens und Sterbens verbietet sich, wenn sie sich überhaupt stellt. Anders das Opfer, über das wir heute an Karfreitag nachdenken sollen: Wir sollen Jesus am Kreuz nicht ausschließlich als victim verstehen, das als bloßes Objekt einer brutalen Justiz vom Tode in Leben befördert wird – das er ja ist! – sondern wir sollen ihn auch als sacrificium sehen, als handelndes Subjekt, dessen Tod Hingabe für die Menschen und Kommunikation mit Gott ist. Wir sollen also den Sinn seines Kreuzestodes begreifen.

Das war früher nicht leichter als heute, zu groß der Schmerz und zu groß auch die offensichtliche Sinnlosigkeit von Gewalt und Tod. Welcher Sinn könnte darin bestehen, dass die antike Supermacht Rom einen Wanderprediger als politischen Aufrührer am äußersten Rand seines Imperiums exekutiert, eine Person, die den allerwenigsten Menschen im eigenen völlig unbedeutenden Land bekannt gewesen sein dürfte, geschweige denn irgendjemandem im fernen großen Rom. Niemand hat von Jesus in Rom zur Zeit seines Todes gewusst; und so viele im eigenen Land werden es auch nicht gewesen sein. Was für ein völlig sinnloser Tod.

Um damit irgendwie fertig zu werden, jenseits von Furcht und Zittern und der alles weitere lähmenden Stille, haben die Freunde und Jünger Jesu die Heilige Schrift befragt, das Alte Testament, und dabei sind sie auf Texte wie unseren Predigttext gestoßen. Dabei ist es nicht der Tod, auch in unserem Lied vom Gottesknecht ist es nicht der Tod selbst, der Sinn hat, sondern der Tod für andere kann deshalb Sinn machen, weil das Leben für andere Sinn hat. Der Prophet zeichnet den Gottesknecht als verachteten Außenseiter, als kranken, leidenden Schmerzensmann, als geplagten und gestraften Übeltäter – der als solcher seinen Mitmenschen, der Gesellschaft insgesamt den Spiegel vorhält. Er ist eben nicht der Sonderfall, für den er gehalten wird, sondern er trägt an sich sichtbar das Leid und die Schuld, die die Menschen alle an sich tragen – und löst das Entsetzen aus, dass eigentlich den Entsetzten selbst gilt. Dennoch wird er von Gott angenommen, trotz allem.

Das Opfer zu dem der Gottesknecht sich hingibt besteht im Sichtbarmachen, im schonungslosen Offenlegen menschlicher Nöte und Abgründe an sich selbst. In der Auseinandersetzung mit den Überlieferungen der Bibel rangen – und gewannen! – die ersten Christen dem sinnlosen Tod am Kreuz so einen Sinn ab. Der dort leidet und stirbt, ist nicht allein: In ihm sehen wir unser eigenes Leiden und Sterben. Die Evangelien gehen aber noch weiter, indem sie nicht nur im Tod des einen die vielen sehen und sichtbar machen, – sondern in großer theologischer Kühnheit und Konsequenz nicht nur den Menschen Jesus sondern auch den Gottessohn, ja Gott selbst am Kreuz erkennen: Wenn Gott in diesem Menschen Jesus gelebt hat – dann ist er auch mit ihm gestorben.

Diese Erkenntnis dürfte das Entsetzen der ersten Christen zunächst noch um einiges gesteigert haben: „Oh große Not, Gott´s Sohn ist tot“ – wie wir gesungen haben, oder wie es in der Originalfassung heißt – „Oh große Not, Gott selbst ist tot“ – um dann aber nach und nach zu erkennen, dass in dieser kaum zu überbietenden Steigerung der Solidarität nicht weniger als unser ganzes Heil liegt: Gott selbst nimmt Leid und Schuld von uns Menschen, indem er es auf sich nimmt, er begibt sich ans Kreuz, macht sich für uns zum sacrificium – damit wir endlich erkennen, wie er es mit uns meint.

Mit solcher göttlichen Solidarität wird das Opfer am Kreuz maximal sichtbar. Es geht also an Karfreitag neben allem anderen auch um das Sichtbarmachen der Leidenden und Sterbenden, deren Leben wir damit würdigen. Und es geht um Mitleid und Trost für die Betroffenen.

Die eingangs zitierte Autorin Samira El Ouassil schließt ihre Kolumne mit dem Passionsmotiv der trauernden Mutter:

„Tante E. drücke ich zum Abschied und halte ihre Hand. Nicht zu fest, ich will die fragile Dame nicht kaputt machen, aber doch fest genug, weil ich ihre Traurigkeit wegumarmen, ihre Angst wegstreicheln will. Aber wie fest umarmt man eigentlich eine trauernde Mutter, deren Kind an Covid gestorben ist? Ich weiß es nicht.“

Amen.