Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum erkennt uns die Welt nicht; denn sie hat ihn nicht erkannt. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. (Johannes 3,1f.)
Selbst der Evangelist – und der müsste es doch eigentlich wissen – scheint sich unsicher zu sein, wie das gehen soll und wie es sich zeigt: Kind Gottes zu sein; wenn er schreibt: wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Was bedeutet das also Kind Gottes zu sein?
Also es bedeutet schon mal nicht, einfach so als mündiges, erwachsenes, volljähriges Kind Gottes die eigene Mündigkeit abzulegen und in eine falsche, altersunangemessene Kindlichkeit zu regredieren – und sei es nur zeitweise, weil gerade Weihnachten und also Fest des Kindes ist. Das wäre kindisch; eine Rolle rückwärts in die Kinderrolle mit der wir auf dem Bauch landen: Bauchlandungen, Bauchplatscher tun weh, das weiß jedes Kind. Und erlebt haben wir das auch schon, ich wette, die meisten von uns und nicht nur im Schwimmbad. Bauchplatscher tun weh, das weiß jedes Kind und als Erwachsene sollten wir es nicht vergessen.
Einer unser Lehrer, der neben der Theologie auch die Psychiatrie lehrte und selbst praktizierte, hat uns Studenten in der letzten Stunde vor Weihnachten regelmäßig davor gewarnt, nun zu Hause über die Feiertage in die Kinderrolle zu schlüpfen oder in sie gedrängt zu werden. Junge Erwachsene, die das ganze Jahr über ihren Alltag bewältigen und dabei sind, auch in geistigen Dingen, über ihre Herkunft herauszuwachsen, passen nicht einfach so wieder an den Gabentisch und unter den Weihnachtsbaum.
Auch sonst und viel allgemeiner wird ja gelegentlich auf die raumgreifende Infantilisierung in unserer Gesellschaft geschaut, etwa das Fernsehprogramm, die Musikindustrie, die Mode, unsere Schönheitsideale. Wir halten Jugend an sich für schön, tönen unsere Haare, glätten unsere Haut und verschandeln dabei die bezaubernde Schönheit eines Gesichts, das von seinem Leben erzählt. Die Werbeindustrie terrorisiert mit der von ihr erfundenen konsumrelevanten Altersgruppe der jungen Erwachsenen als Kindchenschema unsere Schönheitsideale: „So ihr nicht werdet wie die Kindlein“ – aber so hate Jesus es nicht gemeint.
Gottes Kinder zu sein bedeutet umgekehrt aber auch nicht, dass wir als trotzige Kinder Gottes uns auflehnen gegen alle Ordnung um jeden Preis; aufbegehren und empören, um des Aufruhrs willen: Empört euch! War der Titel eines Buches, der vor ein paar Jahren ordentlich Furore gemacht hat; offen und deshalb anschlussfähig nach allen Richtungen, die sympathischeren wie Fridays for future und die unsympathischen wie Gelbwesten oder Querdenker gleichermaßen. Der prometheushafte Widerstand gegen die Kinderrolle, bestätigt und befestigt sie nur noch mehr. Auch der Rebell ist nicht selten nur das rebellische Kind. Als Rebell gegen meinen Ursprung bin ich umso fester an ihn gefesselt.
Dagegen ist es eine Wohltat, wenn der pubertäre Familienzoff – von gesellschaftlichen Konflikten mal zu schweigen – irgendwann wieder abklingt; wenn irgendwann sogar wieder friedliche Weihnachtsfeiern zwischen Eltern und Kindern möglich sind, neue Gelassenheit einkehrt; also Erfahrungen gemacht wurden, die die Eltern wieder erträglich und die Kinder wieder verträglich gemacht haben. Nicht selten – aber vielleicht doch ziemlich selten – weicht das dann auch wieder den Adoleszenz-Atheismus auf; ohne an den Anfang unseres Kinderglaubens zurückzukehren, können wir doch wieder etwas mit Gott anfangen.
Erwachsene Kindschaft bedeutet nun aber drittens ebenfalls nicht, dass wir unsere Kinder oder unsere Eltern – geschweige denn Gott als Vater – für Freunde oder gar Kumpels halten. Bei aller Freundschaftlichkeit und gewachsenen Gemeinsamkeiten als gemeinsam Erwachsene tun wir uns und ihnen und insbesondere unserem Verhältnis ein Unrecht an, wenn wir es für gegenseitig gleich halten. Das ist es nicht und wird es nie sein. Meine Eltern sind mein Ursprung; uns verbindet eine kausale und vektorielle Beziehung, die nicht umzukehren ist; auch nicht und schon gar nicht, wenn sich mit den Jahren die Versorgungsbedürftigkeit dreht, wir als Kinder für unser Eltern sorgen, ihnen vorlesen, ihre Steuererklärung schreiben, sie womöglich füttern und ihre Windeln wechseln. Trotz solcher elterlichen Aufgaben und obwohl es uns dann so vorkommen kann, werden wir nie und nimmer die Eltern unserer Eltern. Sie sind und bleiben – bleiben es noch als Verstorbene und in ferner, verblassender Erinnerung – unser Ursprung, das „Woher unseres Umgetriebenseins“, von denen unsere Existenz abhängig ist und abhängig bleibt.
Wer hier nun in den elterlichen Definitionen Gottesprädikate mithört, liegt richtig. Das ist sicherlich zunächst mit „Gott als Vater“ und „Kinder Gottes“ gemeint: Wir beziehen uns mit der Redeweise von Gott als unserem Vater und uns als seinen Kindern auf einen Ursprung außerhalb unserer selbst; wir benennen die Richtung aus der wir kommen und damit die Richtung, in die wir gehen; und wir fühlen durch die Abhängigkeit von unseren Eltern die geschöpfliche, also schlechthinnige Abhängigkeit von Gott.
Das erschöpft aber noch lange nicht das religiöse Sprachbild von Gott dem Vater. Wir sind bei aller kategorialer Verschiedenheit und prinzipieller Abhängigkeit eben auch in einem sehr weitreichenden Sinne unseren Eltern gleich: in Herkunft, im Aussehen und in Gewohnheiten; in unserer lange Jahre gemeinsamen Lebensgeschichte und in unseren Genen als neue Mischung alter Karten; andere Gene als unsere Eltern haben wir nicht und können wir nicht haben; nur halt anders gemischt.
Unser Predigttext überträgt auch diesen Aspekt der Gleichheit zwischen Eltern und Kindern in den religiösen Bereich: wir werden ihm – Gott dem Vater – gleich sein. Das ist einerseits eine theologische Kühnheit, die natürlich vom Teufel höchstpersönlich von Anfang an in die Ur- und Erbsünde verdreht wird, indem er den Sündern verspricht: „Ihr werdet sein wie Gott!“, uns Menschlein aber in Wahrheit auf seine Seite ziehen will.
Das Sätzchen wir werden ihm – Gott dem Vater – gleich sein verweist aber andererseits auf die biblische Begründung der Menschenwürde, der Gottebenbildlichkeit von uns Menschen; noch vor allen Verdrehungen des Teufels wird ganz am Anfang der Bibel ein für alle Mal und für alle Menschen bestimmt und festgelegt: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn“.
Was damit aber – mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen – gemeint ist, kann angesichts der unübersehbaren Regalmeter theologischer Weisheit zum Thema erstaunlich einfach gesagt werden: Es ist natürlich unser gottgegebenes, wahrhaft göttliches Talent zur Liebe, also grundsätzlich die Fähigkeit über die Grenzen unseres natürlichen Egoismus hinauszureichen. Und damit haben wir auch die Antwort auf die eingangs gestellte Frage gefunden: Was bedeutet das also Kind Gottes zu sein?
Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Gott ist uns Vater, wir sind Gottes Kinder, insofern und weil er uns liebt. Alle anderen noch so akribischen und klüglichen Betrachtungen über die väterlichen und die kindlichen Verhältnisse werden zum bloßen Hintergrundrauschen – bloß tönernes Erz und klingende Schelle – hinter dem klaren Hauptton: „die Liebe ist die größte unter ihnen“ – nämlich die größte unter den gottgegeben Gaben, die uns Menschen auszeichnen.
Vater, Mutter sind wir dann, wenn wir lieben; wenn ein anderes wichtiger ist als wir selbst; wenn wir nichts für uns selbst zu sein zu vermögen. Als Kind wird uns ein Platz im Leben unserer Eltern eingeräumt; den müssten sie nicht mit uns teilen. Als Gottes Kinder räumt uns Gott einen Platz zum leben ein, Spielraum unserer Freiheit, Gelegenheit seine Liebe als unsere Liebe weiterzugeben. Darum also geht’s an Weihnachten. Amen.