Er legte ihnen ein anderes Gleichnis vor und sprach: Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. Als nun die Halme wuchsen und Frucht brachten, da fand sich auch das Unkraut. Da traten die Knechte des Hausherrn hinzu und sprachen zu ihm: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut? Er sprach zu ihnen: Das hat ein Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du also, dass wir hingehen und es ausjäten? Er sprach: Nein, auf dass ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet. Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne; aber den Weizen sammelt in meine Scheune.
(Matthäusevangelium 13,24-30)
Unkraut verdirbt nicht: Was ja meistens einen Trost bei Krankheit und Plage zum Ausdruck bringt; – sagt der eine, dass das ja eine ziemliche Sache gewesen ist mit Krankheit und Plage eben, vielleicht eine große Operation oder so; sagt der andere, ach du weißt doch, man kann mehr überstehen, als man vorher denkt: Unkraut verdirbt nicht.
Das tut das Unkraut auch in unserer Geschichte nicht, aber hier ist es kaum tröstlich gemeint, wenn das Unkraut unbehelligt unter dem guten Korn mitwächst und damit die ganze Ernte zu verderben droht; aber vielleicht liegt immerhin darin ein Trost, dass bis zur Ernte erstmal kein Handeln erforderlich ist, es ihm dann aber an den Kragen geht: auch dieses Unkraut vergeht nicht von selbst, aber zu der richtigen Zeit wird es gejätet, gesammelt, verbrannt
Leider unterschlagen die deutschen Übersetzungen an dieser Stelle den Namen des im Text immer wieder ausdrücklich und namentlich genannten Unkrauts, griechisch Zizania, also Taumel-Lolch (Lolium temulentum), auch Rauschgras, Schwindelweizen, Tollgerste, Tollkorn, Schwindelkorn, Tobkraut, Giftstroh, Haferschwindel, Droonkart, Taubkraut, Schlafweizen, Teufelskraut oder Hennentöter.
Diese Namen beruhen auf den Vergiftungserscheinungen, die in der Vergangenheit – das Pflänzlein ist nämlich weitgehend ausgestorben bzw. verschollen, mithin auch die Vergiftungserscheinungen – die also nach dem Verzehr von mit Taumel-Lolch verunreinigtem Getreide auftraten. Dabei produziert die Pflanze nicht selbst das Gift sondern eigentlich ein mit ihr in Gemeinschaft lebender Pilz, wie das Mutterkorn im Roggen, das ja ebenfalls durch einen Pilz produziert wird, der das ähnlich rauschhafte, aber wohl ungleich gefährlichere Antoniusfeuer hervorruft – und dem wir mittelbar den Isenheimer Altar des Matthias Grünewald verdanken, der sein Werk im Auftrag und für das Kloster des Antoniterordens in Isenheim schuf, der sich im Mittelalter der Pflege der am Antoniusfeuer Erkrankten widmete.
In geringeren Mengen – die Dosis macht das Gift – kann man die Pflanze – den Taumel-Lolch, aber auch das Mutterkorn – absichtlich als Rauschmittel verwenden, wie das wohl schon bei den Elysischen Mysterien im alten Griechenland der Fall war; wovon aber auch die phantasievollen volkstümlichen Namen zeugen. Allein deren Vielfalt könnte dafür sprechen, dass das Pflänzlein neben seinem Schrecken auch eine gehörige Faszination ausgelöst und der eine oder andere absichtlich davon genascht hat. Auch wir werden heute Nacht in nicht unbeträchtlicher Zahl willentlich herbeigeführte Rauscherfahrungen machen, ohne dabei auf den Taumel-Lolch zurückzugreifen – obwohl: in der DDR etwa scheint es unter Jugendlichen den Brauch gegeben zu haben, in Ermangelung anderer Rauschmittel auf solche heimischen Schwindelkräuter zurückzugreifen um die Partystimmung zu heben – wie es etwa im wunderbaren Film „Sonnenalle“ von Leander Haußmann gezeigt wird. Davon – also nicht vom Film aber von solchen Stoffen – lassen wir mal besser die Finger.
Dem gleichniserzählenden Jesus und seinem Biografen Matthäus war dieses Kraut jedenfalls so wichtig, dass er es gleich sechs Mal mit seinem auffälligen Namen Zizania benennt; der ist das Signal, das seiner Geschichte Aufmerksamkeit verschafft, weil er dazu einlädt, ja auffordert, nach den Taumel-Lolchen zu fragen – und gleichzeitig sowohl eigene Nachforschungen als auch eigenhändige Beseitigung verbietet. Es gilt, das Unkraut auszuhalten, das im Schutz und Schatten des guten Korns wächst, in diesem Fall Zizania, das dem Weizenhalm nicht unähnlich ist und somit die im Text genannte Sorge durchaus verständlich sein lässt, man könnte den Weizen mit dem Unkraut ausrupfen. Deshalb den Taumel-Lolch einstweilen stehen lassen!
Was also nun hier als landwirtschaftlicher oder gärtnerischer Rat nicht unbedingt verallgemeinerbar erscheint – in meinem Gärtchen hat das Unkraut längst die Herrschaft übernommen – , das ist als Gleichnis sowieso nicht an den Gärtner gerichtet sondern an Hörer und Leser der christlichen Gemeinde.
Es geht natürlich auch nicht um den Landbau sondern um das Reich Gottes, in dessen Erwartung wir das Unkraut in den eigenen Reihen stehen lassen und keine eigenen Säuberungs- oder Reinigungsaktionen unternehmen sollen. Die christliche Kirche ist in ihrer äußeren Gestalt seit jeher eine höchst gemischte Körperschaft – ein corpus permixtum, wie schon die Reformatoren erklärten – mit Taumel-Lolchen, also Schwindlern (!) in den eigenen Reihen ist zu rechnen und – und das ist die Pointe unserer Gleichnisgeschichte – das muss uns auch nicht weiter beunruhigen, denn Gott selbst wird sich zur rechten Zeit ihrer annehmen.
Bis dahin sollen wir frei nach den Worten des Großen Vorsitzenden Mao „100 Blumen blühen lassen“, es im Gegensatz zu diesem aber auch ernst meinen, also sie nicht einfach bei nächster Gelegenheit wieder ausrupfen. „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern“ hat Mao 1956 bei einer Rede vor Funktionären gesagt, hat den Streit der Meinungen und Richtungen aber nur kurze Zeit ausgehalten und die Kritiker zu Hunderten in Arbeitslager gesteckt, wo sie schnell verblüht sind.
Die Konkurrenz der Schulen, den Streit der Meinungen zulassen, andere Kräutlein stehen lassen, das Unkraut aushalten; gar „das Wort Häresie wieder zu Ehren bringen“ (Schleiermacher) – so wird es Jesus kaum gemeint haben, aber vielleicht würde er sich an einem solchen kreativen Missverständnis, wenn es das ist, dennoch freuen.
Nichts ist langweiliger als eine erstarrte Orthodoxie; der ewig reiche Gott wird aber gar nicht gedacht, wenn er als langweilig gedacht wird; und was Jesus angeht: selbst seine ärgsten Kritiker haben ihm nie den Vorwurf gemacht, dass er sie gelangweilt hätte.
Warum sein großzügiges Wort über den Taumel-Lolch, mit dem zu rechnen und der von uns auszuhalten ist, nicht im Sinne konfessioneller Diversität oder religiöser Artenvielfalt deuten, die andere Glaubensweisen und andere Erlösungshoffnungen als die eigene aushält, sie erträgt und toleriert? Vielleicht ist der andere gar kein so schlimmer Taumel-Lolch, kein Rauschgras, Schwindelweizen, keine Tollgerste, Tollkorn, Schwindelkorn, kein Tobkraut, Giftstroh, Haferschwindel, kein Droonkart, Taubkraut, Schlafweizen, kein Teufelskraut oder Hennentöter; vielleicht ist er ja einfach nur ungenießbar, oder bloß schwer verdaulich; vielleicht muss ich nur lernen, wie ich mit ihm umgehen kann; vielleicht ist er nur anders und vielleicht überlasse ich bis auf weiteres einfach Gott das Urteil darüber. Und da hätten wir doch schon einen Prima-Vorsatz für mich für das neue Jahr: Leben lernen mit Taumel-Lolchen aller Art.
Das Kraut mit den vielen Namen ist übrigens längst dem Artensterben zum Opfer gefallen, als ausgestorben oder verschollen gilt es; verdrängt durch eine Form des Landbaus, die solche wie den Taumel-Lolch eben nicht aushält. Auch dazu haben wir Jesus heute gehört in seiner ökologischen Parabel, in der viel mehr steckt als unsere Schulweisheit meint. Unkraut verdirbt doch – und dann wird es uns sogar leidtun. Amen.