Predigttext für den 2. Sonntag nach Epiphanias, 16.1.22

Auch ich, meine Brüder und Schwestern, als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten oder hoher Weisheit, euch das Geheimnis Gottes zu predigen. Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, ihn, den Gekreuzigten.

Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern; und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten der Weisheit, sondern im Erweis des Geistes und der Kraft, auf dass euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft. Von Weisheit reden wir aber unter den Vollkommenen; doch nicht von einer Weisheit dieser Welt, auch nicht der Herrscher dieser Welt, die vergehen. Sondern wir reden von der Weisheit Gottes, die im Geheimnis verborgen ist, die Gott vorherbestimmt hat vor aller Zeit zu unserer Herrlichkeit, die keiner von den Herrschern dieser Welt erkannt hat; denn wenn sie die erkannt hätten, hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt. Sondern wir reden, wie geschrieben steht (Jes 64,3): »Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.«Uns aber hat es Gott offenbart durch den Geist; denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen Gottes. (1. Korinther 2,1-10)

Kannst du ein Geheimnis bewahren? fragt der eine den anderen; und auf die eifrige Beteuerung: aber ja, erzähl! entgegnet jener: ich auch – und behält es für sich.

Eine schöne und auch wahre Geschichte, denn zum Geheimnis gehört natürlich, dass es geheim ist – allerdings nicht unbedingt, dass es geheim bleibt, zumindest nicht jedem. Ebenso gehört zum Geheimnis doch auch sein Verrat: Wenn es schlechthin nur verborgen wäre, wüssten wir ja gar nichts davon, noch nicht einmal, dass es eins gäbe. Mag schon sein, dass manche ein Geheimnis nur ganz allein und für sich durchs Leben tragen, ohne es je jemandem zu offenbaren; dennoch würde auch das erst durch die Sorge seines möglichen Verrats zum Geheimnis. Geheimnisse trennen – und verbinden! – Verborgenes und Offenbares – und verbinden die, die es kennen, indem sie sie von denen trennen, die es nicht kennen.

Könnt ihr ein Geheimnis bewahren? fragt uns heute der Apostel Paulus und offenbart es uns sogleich; und er will gerade nicht, dass wir es für uns behalten; und er will es deshalb nicht, weil Ursprung und Urheber des Geheimnisses das auch nicht will. Gott will, dass sein Geheimnis offenbart wird – ach was: dass es verraten wird, ausgeplaudert, erzählt wird, dass es mit den Spatzen von den Dächern gepfiffen und mit allen Vögeln des Himmels gezwitschert, meinetwegen auch getwittert wird; er will, dass sein Geheimnis gesungen, gebetet, gerufen und sogar gepredigt wird. Jeder, der es hören will, soll es hören können – und alle anderen auch.

Könnt ihr ein Geheimnis bewahren? – Ich kann es nicht, sagt Paulus und trägt sein Geheimnis bis an die Enden der Erde, also bis an die Grenzen der damals bekannten Welt, will es – nach alter Überlieferung, bis nach Spanien bringen, an dessen äußerte Ecke im Nordwesten der Halbinsel; solche Ecken heißen noch heute vielerorts und eben auch dort Finis Terrae, Ende der Welt, Fisterra. Und so ist dieses Geheimnis auf halbem Weg auf den Apostelreisen auch in Korinth längst laut geworden und wird hier in seinem ersten Brief an die Korinther vernehmlich angesprochen als Ziel der Reise und Zweck der Übung: euch das Geheimnis Gottes zu predigen.

Es geht dem Apostel darum, zu verkünden, was die Welt im Innersten zusammenhält – und er weist darauf hin, dass das, was die Welt im Innersten zusammenhält, nicht das ist, was die Schulweisheit seiner und aller Zeiten weiß, weil da eben mehr zwischen Himmel und Erde ist, als diese sich träumen lässt. Nicht weniger als die Weltformel beansprucht Paulus als Geheimnis zu offenbaren; nicht nur ein Standardmodell der Physik sondern die große Theorie der Metaphysik; das Zauberwort, dass die Welt neu erschafft; die Formel, die den Puzzleteilen unseres chaotischen Weltwissens ihren Ort zuweist.

Man wird Paulus demnach keine übertriebene Bescheidenheit vorwerfen müssen, wenn er der herrschenden Weisheit den Fehdehandschuh hinwirft – und das ja trotz seiner Beteuerung ohne große Worte oder hoher Weisheit zu sprechen: als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten oder hoher Weisheit. Er nimmt es gerade mal so auf mit den Geistesgrößen – den Vollkommenen, den Herrschenden – seiner Zeit; von Schwachheit Furcht und großem Zittern keine Spur.

Das wäre ungefähr so, als würde man heute aus der Perspektive des Glaubens den Gelehrten unserer Zeit die Begrenztheit und Endlichkeit ihrer großartigsten und bahnbrechenden Erkenntnisse vorhalten; den Astrophysikern den Urknall, den Biologen die Evolution und etwa den Moralphilosophen Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen als letzten und höchsten Wert bestreiten – also nicht in ihrem jeweiligen Bereich bestreiten, da gelten sie natürlich, sondern als Erklärung der ersten und letzten Dinge. Aber genau das würde Paulus heute tun, weil er genau das damals getan hat – und so würde er vielleicht sprechen:

Der Urknall ist die beste und deshalb gültige Theorie für den Beginn der physischen Welt – aber sie darf nicht zu der Annahme verleiten, dass die Schöpfung ein bloßer Zufall wäre.

Die Evolution erklärt schlüssig die Entwicklung der Arten nach den Prinzipien von Mutation und Selektion – aber auch ihr gegenüber wäre es ein Fehler, das Leben insgesamt zum Spiel aus Zufall und Durchsetzungsmacht zu erklären.

Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen sind unhintergehbare menschliche Grundwerte – aber ihr Absolutsetzen verfehlt die menschliche Natur als Gemeinschaftswesen und als fehlbares Wesen.

Paulus setzt menschlicher Weisheit und Wissen geradezu unverschämt seinen Glauben entgegen: Gott als Geheimnis der Welt, der sich in Christus als dem Gekreuzigten offenbart hat; wobei der Gekreuzigte Christus Gottes bedingungslose Hinwendung zu den Menschen beschreibt und verbildlicht – und deshalb würde Paulus heute vielleicht so sprechen:

Das Bild des Gekreuzigten zeigt: Wir sind als von Gott geliebte Menschen nichts weniger als Zufall; so sehr kein Zufall, dass Gott die Mühe des eigenen Todes für uns in Kauf nimmt.

In der von Gott gewollten Welt herrscht nicht die Macht und das Recht des Stärkeren, sondern der schwache, todgeweihte und den Tod erleidende Christus ist das Maß aller Dinge. Homo mensura est – ist zuerst ein christlicher Glaubenssatz, bevor er von den Religionskritikern gekapert wurde; allein der Mensch Jesus Christus ist als Mensch Maß aller Dinge, Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, ihn, den Gekreuzigten.

Maßstab ist der Mensch aber als wirklicher und wahrer Mensch – nicht als Ideal- und Trugbild des ewig jungen, immer starken, allseitig gebildeten, strahlend schönen und nach der neuesten Ratgeberliteratur optimierten Menschen – sondern als einer, der das zwar alles auch sein kann und gerne auch sein soll; aber eben auch krank und schwach und leidend sein kann und sein wird – wie Christus der Gekreuzigte. (Und wenn ich das vergessen haben sollte, erinnern mich ein paar Tage Zahnschmerzen daran.)

Autonomie und Selbstbestimmung können daher dann zu Zerrbildern des Menschlichen werden, wenn sie die Anfälligkeit, die Fehlerhaftigkeit und die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen ausblenden. Deshalb ist es eine schlimme Verirrung des Rechts, wenn es neuerdings fordert, dass dem verzweifelten Lebensmüden in der Weise durch die Gemeinschaft beizustehen ist, ihm dabei zu helfen, sein Leben zu beenden.

Mit Paulus entdecken wir heute – und natürlich immer, wenn wir das wollen und auf ihn hören – dass Gottes Geheimnis, nämlich Christus der Gekreuzigte, der Weisheit und dem Wissen von uns Menschen entgegensteht. Das muss nicht jedem passen; aber wir haben es weiterzusagen, dieses Geheimnis: zu unserer Herrlichkeit.

Dieses Geheimnis jedenfalls können wir nur so bewahren, indem wir es weitersagen.