Predigttext für den 17. Sonntag nach Trinitatis, 4. Oktober 2020

Und Jesus ging weg von dort und entwich in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach, Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt. Er aber antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Lass sie doch gehen, denn sie schreit uns nach. Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr; aber doch essen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde. (Matthäusevangelium 15,21-28)

Manchmal kann ich Jesus nicht so gut verstehen – und seine Biografen, die Evangelisten, die ihn doch in gutem Licht zeichnen sollten, auch nicht. Schroff, geradezu ruppig kann Jesus in manchen Situationen reagieren wie hier, wenn er die verzweifelte Mutter eines kranken Töchterchens abweist und sie mit einem Hund zu vergleichen scheint. Oder wenn er bei anderer Gelegenheit sogar seine eigene Mutter barsch zurückweist, er kenne sie nicht.

D.h. verstehen kann man diese Ruppigkeit eigentlich schon, weil man sie ja von sich selbst kennt, nur von Jesus hätte man es anders erwartet und anders gewünscht; ruhiger, geduldiger, souveräner, Guru-hafter; als einer, den nichts aus der Ruhe bringen kann. Aber nein, er scheint bisweilen regelrecht genervt zu sein, oder erschöpft, mit der Situation überfordert; vielleicht ausgebrannt, wenn er sich nach dramatischen Szenen – umstrittenen Heilungen, aufgeregten Streitgesprächen, religiösen Tumulten – wie übereinstimmend berichtet wird, immer mal zurückzieht, um alleine zu sein und sich selbst wiederzufinden. So ja auch hier, wenn er aus seiner gewohnten Umgebung Galiläa nach Norden, nach Nordwesten hin ausweicht, ziemlich weit; Tyrus und Sidon liegen schon im Libanon. Und sich einen Moment der Ruhe gönnt – den bekommt er nicht.

Wahrscheinlich verstehen wir Jesus nur, wenn wir uns seine Tätigkeit als Wanderprediger und Wunderheiler als anstrengend, als stressig, als Herausforderung vorstellen. Das war kein leichtes Leben: ohne feste Wohnung, ohne Einkommen, ohne Besitz, der einem Sicherheit geben könnte, und ohne die sichere Aussicht auf regelmäßige Mahlzeiten; angewiesen auf das Wohlwollen der Mitmenschen, die Bereitschaft seiner Unterstützer ihn zu versorgen, herausgefordert von vielen, die seinen Anspruch, Gottes Reich anzusagen und in Heilungen und anderen Wundern anzuzeigen, bestreiten; und dabei genau diesen Anspruch zu vertreten im Glauben, dass Gott ihm nahe ist – auch wenn die äußeren Umstände seines Lebens – und um wieviel mehr noch seines Sterbens! – ganz anderes nahelegten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“; „gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ und anscheinend, scheinbar selber eins, ein verlorenes Schaf, von Gott verlassen. So musste es doch für viele aussehen.

Andere – die selber Verlorenen – wird gerade das angezogen haben. Sie haben – ganz im Gegenteil – seine Menschenferne als Gottesnähe verstanden – und gerade deshalb seine Nähe gesucht; und meistens auch gefunden. Denn das entsprach ja seiner Sendung, wie er sie selbst verstand, die Verlorenen zu finden und sich von den Verlorenen finden zu lassen.

Aber halt nicht immer; nicht in der Auszeit, wenn man sich zurückgezogen hatte, weggegangen war, entwichen nach Norden, nach Nordwesten in die Gegend von Tyrus und Sidon, in den Libanon, um sich zu sammeln, zu erholen, zur Ruhe zu kommen, sich selbst wiederzufinden; wie Jesus das getan hatte.

Und wie das die meisten von uns und gerade Seelsorger und Ärzte immer noch brauchen und tun: sich zurückziehen, sich regenerieren, sich erholen – und dennoch regelmäßig, wie sie berichten, auch am Wochenende, auch in der Freizeit, sogar im Urlaub auf ihren Beruf angesprochen werden, und um Rat und Heilung gebeten werden. Das kann anstrengen und da kann man schon mal gereizt reagieren. Wer angestrengt wird, kann auch mal anstrengend werden.

Es muss ja nicht ganz so aussehen und ganz so enden, wie in der hinreißenden und schreiend komischen und sehr sehenswerten Filmkomödie „What about Bob? – Was ist mit Bob?“, in der Bill Murray (der uns schon so oft durch sein Spiel und seinen Humor geheilt hat!) als neurotischer Patient seinem Psychiater in dessen Ferienhaus im Urlaub auf die Pelle rückt und diesen in den Wahnsinn treibt, während er dabei selbst von seiner Zwangsstörung geheilt wird. Sie tauschen, was sie prägt: Krankheit und Gesundheit – vom einen zum anderen. Sie wechseln ihre Rollen.

Ein – wie gesagt – schreiend komischer Wechsel, der hier stattfindet, aber nicht ganz das, was Luther den „fröhlichen Wechsel“ genannt hat, oder vielleicht doch?

(“Hier hebt nun der fröhliche Wechsel und Austausch an: Da ja Christus Gott und Mensch ist, der niemals gesündigt hat und dessen Gerechtigkeit unüberwindlich, ewig und allmächtig ist, wenn der die Sünde der gläubigen Seele durch ihren Brautring, den Glauben, sich zu eigen macht und sich nicht anders verhält, als hätte er sie getan, dann müssen die Sünden in ihm verschlungen und ertränkt werden, denn seine unüberwindliche Gerechtigkeit ist allen Sünden zu stark. So wird die Seele von allen ihren Sünden allein durch ihre Mitgift, also um des Glaubens willen, los und frei und mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams Christus beschenkt. Ist das nun nicht eine fröhliche Hochzeit, wo der reiche, edle, gerechte Bräutigam Christus das arme, verachtete, unansehnliche Mädchen heiratet und sie von allem Übel befreit, mit allen Gütern ziert?“ Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen 1520, Kap.12. Luther bezieht sich mit seiner Redefigur vom „fröhlichen Wechsel“ auf Paulus und eine lange mittelalterliche Tradition: „Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden.“ 2. Korinther 5,21; „Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen.“ 2. Korinther 8,9)

Bob aus dem Film und die Kanaanäische Frau verbindet nicht nur ihre reichlich impertinente Art, den Ruhe und Erholung suchenden Heiler selbst am abgeschiedenen Ort mit ihrer Not zu belästigen, sondern auch und vielmehr der unerschütterliche Glauben, dass sie von diesem und nur von diesem Arzt geheilt werden können. (Die Analogie von Filmgeschichte und Jesusgeschichte lässt sich sogar noch weiter führen: Beider Heilung kostet die Heiler nicht weniger als ihr Leben in Wahnsinn und Kreuz – und nur die gattungsdifferente, also jeweils gattungsgerecht unterschiedliche Auferstehung – also das Wunder schlechthin – sorgt in der Komödie für ein happy end und bei Jesus für die Rückkehr zu Gott als Gottessohn.)

Wie in so vielen Wundergeschichten lenkt das sichtbare Wunder – also hier die Wunderheilung – vom eigentlichen Wunder und Grund der Heilung – also dem Glauben – eher ab: Frau, dein Glaube ist groß. Es ist dieser Glaube, der uns heilt, bzw. mittels dessen wir uns so an Christus und damit Gott binden, dass wir heil werden, „von allem Übel befreit“, wie Luther den Effekt des „fröhlichen Wechsels“ beschreibt (s.o): Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.

Wundergeschichten sind Glaubensgeschichten. Sie illustrieren das eigentlich rätselhafte und nicht aus sich selbst wahre Wort Jesu: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt“ (Markus 9,23) Stimmt das überhaupt? Noch werde ich allemal auch als Glaubender mir unweigerlich eine blutige Nase holen, wenn ich mit dem Kopf durch Wand will. Die Wirklichkeit ist stärker als unser Glaube – noch.

Aber: Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt, weil uns dieser Berge versetzende Glaube durch Jesus Christus so mit Gott verbindet, dass er uns heil und ganz macht. So zeigt es Jesus in seinen Wundermomenten, aber ja nur momenthaft, am Einzelfall, keineswegs generell und flächendeckend! Die meisten Kranken, denen Jesus begegnet sind krank geblieben (vgl. die besonders prekäre Situation am Teich von Bethesda mit seinen fünf Hallen voller Kranker, Blinder, Lahmer und Ausgezehrter, die im Moment des Wunders ins Wasser stürzen, aber nur der erste hat Chancen auf Heilung, und nur einer wird von Jesus geheilt, Johannes 5, 1-9).

Nur für einen Moment und um uns damit etwas zu zeigen, nimmt Jesus bei bestimmten Gelegenheiten die Zustände des Reiches Gottes vorweg, also wenn Gott alles in allem sein wird, und „die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins“ aufscheint (so der Schleiermacherfreund Henrik Steffens, zitiert nach Eberhard Jüngel, Ganz werden S. IX): „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt.“ (Matthäus 11,5) So ist es noch nicht – aber so wird es sein.

Als Heilung und Heil Suchende können wir auch den ruhebedürftigen und ruhesuchenden Heiler mit unserer Not belästigen; müssen zwar durchaus mit einer übelgelaunten Abfuhr rechnen, für die wir angesichts seiner Lebenssituation Verständnis haben sollten; dürfen aber darauf hoffen, nach allerlei Quengelei gehört und geheilt zu werden. Um dann schließlich einzusehen, dass Heilung hier als Glaubenssache gemeint ist, als Hinweis auf den am Ende alles gut machenden Gott („andrá tutto bene!“), als Angeld auf Gottes Reich, als Antizipation der „unmittelbaren Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins“ (s.o.), als Vorschein des alles erleuchtenden göttlichen Lichtes; wenn Gott alles in allem ist und auch uns in sein Erbarmen und in seine Gnade umschließt. Von dieser Hoffnung lebt die Bitte: Herr, erbarme dich meiner! Amen.

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 16. Sonntag n. Trinitatis, 27. September 2020, Konfirmation

Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Schwestern und Brüder, liebe Konfirmationsgemeinde,

es wird euch freuen zu hören, dass es nicht nur einen Predigttext für den heutigen 16. Sonntag nach Trinitatis, sondern dass es auch ein Gedicht für den heutigen Tag im Jahr gibt, den 27. September. Das will ich Euch natürlich nicht vorenthalten:

Der schöne 27. September, von Thomas Brasch

Ich habe keine Zeitung gelesen. … (Gedicht wird vorgetragen)


Der Dichter Thomas Brasch singt das stille Lied vom Nicht-tun, das einen eigenen Wert neben und manchmal vor dem Tun hat; Glücklich die Menschen, die ein eigenes Wort dafür haben, das süße Nichtstun, das dolce far niente: süß ist´s, nichts zu tun; als Pause, als Stille, als Enthaltsamkeit und als Verzicht, auch bekannt als Abhängen, Relaxen, Chillen.

Das Nicht-tun kann einen Vorrang vor dem Tun haben – manchmal sind im Fußball die Tore, die spektakulär nicht geschossen werden, bleibender in der Erinnerung als die, die im Netz landen. In der Ruhe liegt die Kraft – man sollte sich halt im Strafraum nicht unbedingt wundliegen.

Nicht-tun ist wie die Ruhe vor dem Sturm – oder die Ruhe der Welt nach ihrer Erschaffung durch Gott, die wir in der Feiertagsruhe nacherleben sollen, Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. … Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage; wer tut das noch: „ruhen“ und die Ruhe heiligen – wenn er es nicht gerade muss und er in einem Lockdown eingeschlossen ist.

Vielleicht könnte das doch ein Sinn, etwas Bleibendes aus dieser merkwürdigen Zeit sein, die wir erlebt haben und noch erleben – dass wir zur Ruhe kommen; unfreiwillig, ja – aber nicht nur zu unserem Schaden. Wie es uns der große Philosoph und kleine Bär Winnie the Pooh vorlebt: Sometimes I sits and thinks; and sometimes I just sits; wobei man staunen kann, dass er die ohnehin nicht gerade schweißtreibende Aktivität des Sitzens und Denkens noch weiter auf das bloße Sitzen reduzieren kann.

Das kann helfen, wenn es uns Durststrecken in Schulstunden, in Gottesdiensten oder langweilige Sitzungen überstehen lässt: Sometimes I just sits. Ich mach das so – und einige von Euch auch, wie ich feststellen konnte. Das ist ok.

Für ein ganzes Leben reicht diese Strategie nicht, manchmal muss man seinen Hintern hochkriegen – auch in Zeiten wie diesen im Schatten der Seuche. Die schüchtert uns ein, lähmt uns bisweilen – durch die Angst, die wir spüren und durch manche Maßnahmen, die uns beschränken. Dann müssen wir uns gegenseitig aufmuntern: an die guten Zeiten erinnern, die wir erlebt haben – als Konfigruppe auf Konficamp im rauen Westerwald und auf Konfikurs im öden Berghessen und auch sonst – und von den noch besseren Zeiten träumen, die noch kommen: als Rot-, Blau- oder Oberkappe beim Achim, auf Gemeindefesten wie heute Nachmittag und was weiß ich wann. Ihr wisst, wo ihr uns findet.

Und da kommt unser Predigttext ins Spiel, der uns aufmuntern und ermutigen will und dessen punchline in der Coronazeit oft gesagt und bedacht wurde: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.

Was, so was Tolles steht in der Bibel, da könnte man doch genauer nachlesen; im Zusammenhang heißt es dort: („Paulus“ schreibt an Timotheus)

Ich erinnere mich an den ungefärbten Glauben in dir, der zuvor schon gewohnt hat in deiner Großmutter Lois und in deiner Mutter Eunike; ich bin aber gewiss auch in dir. Aus diesem Grund erinnere ich dich daran, dass du erweckest die Gabe, die in dir ist durch die Auflegung meiner Hände. Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit für das Evangelium in der Kraft Gottes. Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt, jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium, für das ich eingesetzt bin als Prediger und Apostel und Lehrer.

Heiliger Ruf, Handauflegen, Geistesgabe – damit sind doch schon ziemlich genau die äußeren Merkmale der Konfirmation benannt. Der Ritus der Konfirmation ist eigentlich eine Berufung: eine Berufung zum Leben mit Christus.

Und mit Großmutter Lois und Mutter Eunike sind Personen genannt, die bis heute Religion weitergeben, tradieren; wenn die es nicht tun, bricht die Tradition ab, da hilft auch nicht der beste Reli- oder Konfiunterricht – also zumindest der beste, den wir Euch geben konnten. Mein verehrter Heidelberger Lehrer – Gott hab ihn selig! – hat uns bei kniffligen theologischen Fragen immer an unsere Großmutter verwiesen: Was würde die dazu sagen?

Aber vor allen Dingen informiert uns unser Text über Sinn und Bedeutung der Konfirmation; Bestätigung der Taufe und des Glaubens ist noch nicht alles; hier wird deutlich, dass es um Bestärkung und Festigung unseres – Eures – Selbst als Person geht; um eine Übung in Resilienz, wie wir heute sagen; um uns – um Euch – fit zu machen gegen die Unbilden des Lebens, die Macht und die Mächte des Todes.

Insofern ist Konfirmation auch ein Mittel gegen Corona – kein pharmazeutisches natürlich, auf das wir alle warten, das uns – nebenbei gesagt – auch nicht unsterblich machen wird; sondern Konfirmation ist ein geistliches Mittel gegen Corona, um uns mit einem festen und starken Geist zu segnen, der uns Mut macht, dieser und der garantiert folgenden Krise zu begegnen, damit sie keine Macht haben über uns, weil Christus Jesus dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.

Da ist einer, der für uns eintritt: der uns stärkt, wenn wir müde sind, und der uns beruhigt, wenn wir vor lauter Aufregung keinen Plan haben; und der uns auf seine – auf göttliche – Weise liebt, so wie wir sind:

Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Amen.

Predigttext für den 15. Sonntag nach Trinitatis, 20. September 2020

Es war zu der Zeit, da Gott der HERR Erde und Himmel machte. 5Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen. Denn Gott der HERR hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; 6aber ein Strom stieg aus der Erde empor und tränkte das ganze Land. 7Da machte Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.8Und Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. 9Und Gott der HERR ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. (…)

15Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. 16Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, 17aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben.18Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. 19Und Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. 20Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen wurde keine Hilfe gefunden, die ihm entsprach.

21Da ließ Gott der HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. 22Und Gott der HERR baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. 23Da sprach der Mensch: Die ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist. 24Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch.25 Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht. (1. Mose 2,4b-25)

Verbotene Früchte von verbotenen Bäumen sind die verlockendsten. Wer´s nicht glaubt, soll gelegentlich beim Gemeindegarten vorbeikommen, jetzt im goldenen Herbst, wenn die Quitten durch die Blätter leuchten und langsam in der Septembersonne reifen. Unwiderstehlich für nicht wenige, die sie dann abrupfen. Zur Rede gestellt, warum sie sie denn nicht fertig reifen lassen und nicht mal fragen, ob sie sich welche nehmen können – sie sind nämlich wie jedes Jahr schon den Nachbarn und Bekannten versprochen – stellen sie sich meistens frech und dumm: „Die paar Früchte“ – „Die gehören doch keinem“ – „Die fallen doch sonst runter und verfaulen“ – „Jetzt haben sie sich mal nicht so, ich dachte sie sind von der Kirche“ Jeder Spruch ein Juwel in der Tradition von Adam und Eva, die sich in Unverschämtheiten und Ausflüchten üben, aber die Verantwortung für ihr Tun verweigern.

Aber warum eigentlich solche Regeln schon im Paradies; da ist doch kein Mangel, der verwaltet werden müsste; keine Konkurrenz, der die Früchte schon versprochen wären. Warum werden schon im Paradies Grenzen gezogen durch Regeln. Wird hier nicht die urzuständliche herrliche Freiheit der Kinder Gottes sinnwidrig beschränkt und begrenzt. Besteht nicht der eigentliche und erste Sündenfall darin, die uranfängliche Autonomie des Menschen heteronom zu untergraben.

Die Autoren unserer Geschichte dachten: nein. Vielleicht weil sie eine Ahnung davon hatten und weitergeben wollten, dass alles Leben, auch alles menschliche Leben von Anfang an begrenzt ist: räumlich, durch einen Körper, der nicht gleichzeitig hier und dort sein kann – und zeitlich, durch meine Lebenszeit, gerahmt von Geburt und Tod; und durch natürliche Bedingungen begrenzt wie Klima und Geographie und Nahrungsangebot; wie auch durch Regeln und Gesetze begrenzt: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Apfel, Birne oder Quitte!

Menschliches Leben ist vielfältig begrenzt, bedingt und abhängig; zuletzt und von Anfang an abhängig von unserem Schöpfergott, dem wir das anerkennen wenn wir glauben – also in und hinter den Erscheinungen der Welt nach dem Sinn fragen. Glauben sei das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ hat der Theologe Schleiermacher gesagt und damit gemeint, dass wir im Glauben die Voraussetzungen unseres Lebens anerkennen, die wir uns selbst nicht schaffen können. Über diesen Glauben kommuniziert die Bibel – auch mit uns, wenn wir sie lesen.

Die Schöpfungserzählung der Bibel ist unausschöpflich. Darin entspricht sie ihrem Gegenstand, der Schöpfung, die ist auch unausschöpflich (ganz zu schweigen vom Schöpfer selbst, der ist noch viel unerschöpflicher – schlechthin unausschöpflich) – mehr und größer als Menschen denken und forschen können. Dennoch – oder gerade deswegen – ist die Schöpfung seit jeher Gegenstand unseres Forschens und Fragens. Jede Menscheitsgeneration stellt ihre Fragen nach der Natur der Dinge auf ihre Weise und erhält die ihrer Zeit gemäßen Antworten. Die werden sich – wie die Fragen, wie die Methoden der Forschung – ändern und damit widersprechen – wenn nicht, würden wir uns ja nicht entwickeln sondern in unserem Wissen stagnieren. Es wäre schon seltsam, wenn diese Schöpfungserzählung – es gibt ja noch eine weitere, wahrscheinlich jüngere, die noch einmal ganz andere Vorstellung unterbreitet – es wäre schon seltsam, wenn diese Schöpfungserzählung von vor zweieinhalbtausend Jahren unserem heutigen Naturwissenschaftsstand entspräche; dann wären die Alten unfassbar klug oder wir unfassbar zurückgeblieben oder beides zugleich. Die Widersprüche – auch die scheinbaren Widersprüche! – der biblischen Erzählungen von der Schöpfung zu unseren modernen Erkenntnissen verstehen sich eigentlich von selbst. Das aber heißt nicht, dass nicht auch die alten Fragen und Antworten für uns interessant und erhellend sein können, und manchmal sogar – sie müssen ja nur lange genug vergessen sein – überraschen und für neu gehalten werden.

Überraschen muss, dass seit jeher Menschen ihre Geschlechterverhältnisse verhandeln – von Anfang an auch in der Bibel, auf diesen ersten Seiten schon. Beide Schöpfungserzählungen vertreten ganz unterschiedliche Modelle des Zusammenlebens. Während die erste und jüngere wie selbstverständlich und mit der Erklärung, dass Gott den Menschen zu seinem Bilde schuf, ein Modell der Gleichheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau vertritt –„Gott schuf den Menschen als Mann und Frau“ – , erklärt die zweite und ältere, also unser heutiger Predigttext, mythologisch-phantasievoll Unterschied und Unterordnung der Frau unter den Mann als später und aus dem Mann heraus gebildetes Wesen – „Gott nahm (dem schlafenden Adam) eine Rippe und schloss die Stelle mit Fleisch. Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.“ Die Frau als sekundär und abgeleitet vom Mann, wie sie diese Geschichte im Gegensatz zur anderen sieht, klingt auch im hübschen Wortspiel „Mann-Männin“ an, mit dem Luther das eigentlich unübersetzbare hebräische Wortpaar „isch – ischah“/“Mann – Frau“ übersetzt: man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist.

Diese und weitere Unterschiede, Varianten und unzählige Widersprüche in der Bibel selbst laden zum weiterdenken und natürlich auch zum Aushalten von Widersprüchen ein. Wenn die Autoren der Bibel das schon aushalten, sich gegenseitig zu widersprechen – und zwar absichtsvoll und keineswegs aus Versehen – sollten wir es auch aushalten – und zwar so, dass wir den anderen trotzdem gelten lassen. Das wäre doch schon echter Fortschritt in den Fragen der Geschlechterverhältnisse unserer Zeit, in den Gender-Debatten, also Widerspruch zuzulassen, in beide Richtungen zuzulassen; ins Gespräch kommen, ohne den eigenen Standpunkt zu absolutieren, ihn dennoch zu vertreten – aber den anderen auch wahrnehmen.

Die Bibel überrascht mit der Vielfalt der Positionen, die sie aushält (die sie durchaus nicht immer aushält, es gibt auch Unduldsamkeit in der Bibel, der aber oft ebenfalls innerbiblisch widersprochen wird). Das ist der theologische Ertrag historischer Kritik an der Bibel: der Glauben ist vielfältig und verändert sich und bleibt sich in den Veränderungen treu. Umso mehr schmerzt es, dass die Bibel von einigen trotzdem als fundamentalistische Rechthaberfibel gelesen wird. Gerade die Schöpfungserzählungen werden zum Kampfplatz der eigenen Allwissenheitsfantasien; dabei taugen die dafür am wenigsten, wenn nämlich Pointe und punchline der Schöpfungsgeschichte ausgerechnet – wie wir heute lesen – die menschliche Nacktheit ist: Vor Gott sind wir nackt. Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht.

(So rechtfertige ich einen meiner Lieblingskalauer, nämlich über die „Nacht der Kirchen“, die ich als Aktion immer zu aktionistisch und dabei banal fand und daraus im Spaß „Nackt in der Kirche“ gemacht habe, um das Blöde an ihr zu entblößen. Wenn schon Quatsch dann richtig. Und wenn ernsthaft Nacht der Kirche, dann doch wohl die Osternacht oder der Heilige Abend! Das ändert aber nichts daran, dass wir im vergangenen Jahr eine sehr schöne Nacht der Kirche auch in der Thomaskirche gefeiert haben – und nach dem Corona-Spuk auch wieder feiern werden.)

Vor Gott sind wir nackt: Damit ergeht keine Aufforderung Speckröllchen und Falten in naturistischen Paradiesgärtlein auszuführen, sondern Nacktheit zeigt Verletzlichkeit und Zartheit des menschlichen Körpers und damit zeichenhaft Abhängigkeit und Freiheit des Menschen. „Die Nacktheit als Motiv der Begegnung von Gott und Mensch symbolisiert ein sich Öffnen, ohne etwas von sich zurückzuhalten. Sie stellt die unüberbietbare Unmittelbarkeit und eine vorbehaltlose Offenheit der Beziehung von Gott und Mensch heraus.“ (Johanna Rahner, Ein nackter Gott? 2008)

Nackt sind wir, wie Gott uns schuf (zumindest galt das, solange es keine Schönheitsoperationen und Tattoostudios gab – aber das ist ein anderes Thema, vielleicht aber auch nicht.) Als Nackte kehren wir zum Schöpfungsmoment zurück und werden unserer Geschöpflichkeit gewahr, genauer als geistlich Nackte: Selig sind die geistlich Nackten, wie Jesus bekanntlich nicht sagte.

Damit könnte gemeint sein, sich aller Hüllen und Masken zu entledigen (außer der einen Maske natürlich, mit der wir in dieser Zeit unseren Nächsten lieben, indem wir ihn vor uns schützen und damit uns selbst); damit könnte gemeint sein, sich aller Hüllen und Masken zu entledigen, mit denen wir uns verkleiden und verstellen; alle Hüllen zu beseitigen, in denen wir uns sehen wollen – und eben nicht mehr wirklich sehen; damit wir uns so sehen, wie wir sind und wie wir gemeint sind – von Gott, unserem Schöpfer.

Und damit könnte ebenfalls gemeint sein, dass wir als Nackte unterschiedslos – also bis auf den kleinen, aber überschätzten Unterschied – gleiche und gleichberechtigte Menschen sind. All men are created equal; alle Menschen sind gleich – als Gleiche – geschaffen: Nackt in eine freundliche Welt hinein geschaffen.

Amen.

Predigttext für den 14. Sonntag nach Trinitatis, 13. September 2020

1Und er – Jesus – ging nach Jericho hinein und zog hindurch. 2Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. 3Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. 4Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. 5Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. 6Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. 7Da sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. 8Zachäus aber trat herzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.9Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams. 10Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

(Lukasevangelium 19,1-10)

Es gibt verschiedene Gründe auf einen Baum zu steigen:

Geeignete Bäume, Kletterbäume sind natürliche Spielgeräte für Kinder. Auf Bäume Klettern macht Spaß, nicht zuletzt wegen des gewissen Nervenkitzels, ob man auch heil wieder runter kommt; wobei der Spaß bei spielenden Kindern naturgemäß größer ist als bei der elterlichen Aufsicht, die sich wenig trösten lässt von der Einsicht: runter kommen sie immer:

Es kommt ja darauf an, in welchem Zustand. Eine repräsentative Umfrage unter unseren Konfirmanden hat ergeben, dass sie das – also auf Bäume klettern – eigentlich alle als Kinder gerne gemacht haben – und erfreulicherweise ohne jeden bleibenden Schaden.

Auch bei der Obsternte ist gelegentlich ein Baum zu erklimmen durch den Besitzer wie auch durch sein Gegenteil. Der Gemeindequittenbaum an der Richard-Wagner-Straße weckt jeden Herbst geradezu unbezwingbare Begehrlichkeiten. Nicht wenige Passanten halten die Früchte für Birnen, rupfen sie ab, beißen hinein – und schmeißen sie weg. Andere wissen besser Bescheid, und kommen mit Sack und Pack zur illegalen Ernte. Zu meinem großen Erstaunen musste ich vor ein paar Jahren in der Dämmerung beobachten, wie ein betagter aber offensichtlich rüstiger Senior aus der Nachbarschaft unseren Quittenbaum erklomm und sich eine reife Frucht nach der anderen in die mitgeführte Einkaufstüte sammelte. Als das Behältnis schon gut gefüllt war, verließ den alten Herrn das Gleichgewicht und das Jagdglück und er fiel – zu seinem wie auch zu meinem Schrecken – vom Baum und auf den Rücken, zappelte dortselbst ein paar Minuten mit den nach oben gereckten Beinen wie ein verunglückter Käfer und konnte sich dann durch eine kühne Drehung zuerst in Bauchlage, dann in den Sitz und schließlich in den noch etwas unsicheren Stand bewegen, um sich zwar ohne Reue aber mit den geklauten Früchten nach Hause zu begeben.

Bei der nächsten Begegnung sprach er davon, unglücklich gefallen zu sein, wohl wahr!

Andere Gelegenheit zum Erklimmen eines Baumes kann die Flucht vor einem wilden Tier sein – wobei man sicher sein sollte, dass dieses nicht besser klettern kann als man selbst: Wildgewordene Kühe sind ok – Bären und Großkatzen eher nicht – bei Hunden bin ich mir eben nicht sicher.

Außerdem wäre das Überwinden von Hindernissen wie Mauern oder Bächen zu nennen, das durch günstig gewachsene Bäume erleichtert oder erst ermöglicht wird. Aber auch hier lauert Gefahr: wie leicht landet man im Bach oder auf der Nase.

Heute und mit dieser Zachäusgeschichte können wir unserem kleinen Katalog der Klettergründe einen weiteren Grund für das Besteigen von Bäumen hinzufügen: der etwas kurz geratene Zachäus will sich Überblick und Zugang zu einem interessanten Ereignis verschaffen, einem Event wie man heute sagen würde, eine celebrity kommt ins sonst eher verschlafene Städtchen, Neugier und Hunger auf die Sensation treiben ihn, religiöse Bedürfnisse ausdrücklich nicht: Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre.

Jesus, dem sein Ruf voraus geeilt ist, besucht Jericho, das Gedränge ist groß – undenkbar in unseren sozial distanzierten Zeiten gerade – und der zu spät gekommene und nicht gerade hünenhafte, sondern im Gegenteil kurz geratene Zachäus droht von dem Ereignis nur die Hinterköpfe und die Rücken der vor ihm Stehenden zu sehen.

Aber das Ereignis verspricht so interessant zu werden, dass Zachäus keine Mühe scheut, einen günstig stehenden Baum zu erklimmen – dabei auch das Risiko eines Sturzes in Kauf nehmend – um Jesu zu sehen und zu hören. Ganz ohne Komik – ich stelle ihn mir als kleinen, leicht übergewichtigen, sonst durchaus und jederzeit auf Autorität bedachten Finanzbeamten, nein Oberfinanzbeamten! vor, wie er umständlich und ungeübt den Baum erklimmt, dessen Äste unter der Last knacken und knirschen – ganz ohne Komik, ist das nicht. Eigentlich krabbeln gesetzte, wohlhabende Herren in Führungspositionen nicht auf Bäume.

So viel Interesse wecken nicht viele Prediger und auch Jesus, dem ja eigentlich durchweg die Leute zulaufen, nimmt den besonderen Eifer des Zachäus besonders wahr. Vielleicht fühlt er sich sogar ein bisschen geschmeichelt, dass da jemand diese Mühe auf sich nimmt, nur um ihm zu begegnen.

Jesus spricht den auf dem Baum Sitzenden an, macht ihn zum Gegenstand der Szene und der Geschichte und lädt sich bei ihm ein: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. Zachäus bleibt nicht Besucher und Beobachter – sondern wird zur Hauptfigur neben Jesus, zu seinem Gastgeber, mehr noch: zu seinem Stichwortgeber; er scheint sich von einer Sekunde auf die andere zum Musterfrommen, zum frommen Streber zu wandeln: Zachäus aber trat herzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück .

Jesus nutzt die Situation und zeigt an Zachäus, worum es ihm überhaupt geht: Alle dürfen zu Gott, niemand wird ausgeschlossen, auch die Sünder nicht, gerade die nicht. Jesus wendet sich in Gottes Namen den Diskriminierten zu – und eben auch denen, die sich selbst diskriminieren – die wie der Zöllner Zachäus durch Betrügen und Geld Zusammenraffen sich selbst diskriminieren: Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Aufmerksame Leser des Lukasevangeliums – und die sind wir ja – werden allerdings bemerken, dass sich unsere Zachäusgeschichte direkt auf die Gleichnisgeschichte vom Pharisäer und dem Zöllner aus dem Kapitel davor bezieht, über die wir vor ein paar Sonntagen nachgedacht haben und die es den Lesern viel weniger einfach macht sich zu identifizieren als zuerst vermutet. Auch unsere Geschichte ist viel weniger eindeutig als unsere Schulweisheit es will.

Zachäus, der reiche Oberzöllner, den wir uns als Betrüger an seinem Volk und als Kollaborateur der römischen Besatzer denken müssen, wendet sich – gut hörbar für die Umstehenden! – mit beinahe denselben Worten an Jesus; mit denselben Worten, die der streberhafte Pharisäer der anderen Geschichte zu Gott betet: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. Da geriert sich also jemand als Robin Hood von Jericho, der den betrügerischen Gewinn, sagen wir: seinen Zollraub, an die Armen verteilt.

Wahrscheinlich ist das nicht und das müssen wir ihm nicht glauben.

Das müssen wir ihm deshalb nicht glauben, weil er es ja – wie gesagt – gerade mit denselben streberhaften, prahlerischen und vermutlich heuchlerischen Worten sagt, mit denen der Pharisäer seine Qualitäten vor Gott und den Menschen anpreist, und die dort – nur ein Kapitel zuvor – ausdrücklich für diese Worte kritisiert werden.

Und das müssen wir auch deshalb nicht glauben, weil es nicht zum Fazit der Geschichte passen würde: Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. „Verloren“ zu nennen aus der Sicht Jesu, wäre ja der gerade nicht, der in solch vorbildlicher Weise Gerechtigkeit übt und sogar den Armen hilft – und dabei obendrein noch den römischen Herren ein Schnippchen schlägt; Zollbetrug als Akt des heimlichen Widerstands womöglich, statt Kollaboration Resistance – eher unwahrscheinlich!

Und das müssen wir schließlich schon gleich gar nicht glauben, weil es die Pointe der ganzen Geschichte moralisiert und damit kaputt macht: Der Gute wird gelobt, wie langweilig! Nein der Böse wird trotz allem angenommen. Die Gnade Gottes, die sich im Kommen des Menschensohns zeigt, ist doch viel größer und viel überraschender dann, wenn sie sich am ganz und gar unwürdigen Objekt zeigt; nicht am Musterknaben sondern am Bösewicht.

Aber vielleicht irre mich auch. Vielleicht mache ich uns die Geschichte komplizierter als sie ist. Oder schlimmer: vielleicht spricht auch nur der falsche Pharisäer aus mir und meiner Deutung, die dem Zöllner nichts zutraut, die ihn mit meinen Vorurteilen auf seine Sünde behaftet und über Gottes Gnade, die sich dem offensichtlichen Sündern zuwendet, murrt: Da sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.

Das ist die neidvolle Haltung derer, die alles richtig zu machen meinen, ihre eigene Sünde verkennen – nämlich die des Hochmuts, der Selbstgerechtigkeit und der Heuchelei – und die darüber murren, wenn sie sich von Gott übergangen fühlen. Dann wären die – also wir – die wahren Verlorenen, die verlorenen Verlorenen, die genau das – also ihr eigenes Verlorensein – in solchen Geschichten erkennen sollen, um dann – irgendwann – nicht auf sich zu vertrauen, sondern auf Gott zu hoffen, um am Ende auch mitgemeint zu sein: Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Oder vielleicht gibt es einfach nicht nur mindestens 4 Gründe auf einen Baum zu klettern sondern auch mehr als eine Art unsere Geschichte zu erklären. Vielleicht will uns ja Jesus – und wollen es seine Biographen wie Lukas – so in seine Geschichten hinziehen, involvieren, verwickeln und umhüllen, damit sie zu unseren werden, damit wir in ihnen leben und denken und sind; nicht um uns in ihnen zu verlieren sondern um in Ihnen von Gott gefunden zu werden. Amen.

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 13. Sonntag nach Trinitatis, 6. September 2020

In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen. Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Proselyten aus Antiochia. Diese stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf. Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam. (Apostelgeschichte 6, 1-7)

Das hört sich doch ganz vernünftig an: Ein Mangel wird festgestellt, Helfer werden beauftragt, die tägliche Versorgung von Bedürftigen, insbesondere von Witwen wird sichergestellt, ein Mangel wird behoben. Später wird man sie Diakone nennen. Und obendrein noch werden viele Priester dem Glauben gehorsam. Glaubensgehorsame Geistliche: was will man mehr? So weit, so gut. Darüber lässt sich reden. Darüber könnte man heute reden.

In den Auslegungen unserer Stelle heißt es, dass Lukas (der Autor der Apostelgeschichte und des nach ihm benannten Evangeliums) hier mit der Erwähnung der griechischstämmigen Gemeindeleiter (erkennbar an den griechischen und eben nicht hebräischen Namen) den unterschiedlichen Strömungen im frühen Christentum Rechnung trägt und auch die Konflikte unter ihnen zeigt; dass hier die „Griechen“ durch die apostolische Handauflegung aufgewertet und gleichzeitig durch ihre Bestellung zum bloßen „Tischdienst“ abgewertet werden, um dann im römischen System irgendwann als bloße „Diakone“ (da steckt das hier verwendete griechische Wort für Dienst drin) zu gelten – deutlich unterhalb der „Priester“; und dass sich hier schon der Konflikt zwischen dem Jerusalemer Petrus und dem mit der Heidenmission beauftragten Paulus abzeichnet (später zugespitzt im sogenannten „Antiochenischen Zwischenfall“: „Als aber Kephas [Petrus] nach Antiochia kam, widerstand ich ihm ins Angesicht, denn es war Grund zur Klage gegen ihn.“ [Galater 2,11] Paulus wirft Petrus nicht weniger als einen Verstoß gegen die „Wahrheit des Evangeliums“ vor. Von den Aposteln lernen, heißt streiten lernen.) So weit, so interessant. Auch darüber kann man predigen.

Mich interessiert heute etwas anderes: In weit größerem Maße als eine paradigmatische pragmatische Problemlösung oder eine historische Einordnung verdient ein anderes Thema des Textes unsere Aufmerksamkeit, nämlich der geradezu absurde Fall von Diskriminierung, der hier vorliegt und der so offensichtlich und dabei als so selbstverständlich geschildert wird, ohne ihn überhaupt anzusprechen, dass man ihn leicht „übersieht“ – wie die griechischen Witwen „übersehen“ werde. – Alltagsdiskriminierung könnte man dazu sagen in Anlehnung eines großartigen Buches der Journalistin Alice Hasters, das den alltäglichen Rassismus in unserer Gesellschaft beschreibt – und anklagt (Alice Hasters, Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten, München 2019).

Hasters schildert alltägliche Situationen, in denen Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe und damit aufgrund ihrer unterstellten möglichen anderen Herkunft und Kultur – ihrer „Rasse“ -diskriminiert werden. Allein schon die Frage an einen dunkelhäutigen oder asiatisch aussehenden Menschen nach seiner Herkunft – „Woher kommen Sie denn?“ – kann ausschließen, kann abwerten – insbesondere wenn sie eigentlich nichts zur Sache tut, wenn sie keinem erkennbaren Interesse an der anderen Person folgt, sondern einer bei einer ersten Begegnung unziemlichen Neugier entspringt, oder dem Gefühl, dass hier jemand ist, der da nicht hingehört. Hasters schildert Gelegenheiten, die wir – vermutlich alle von uns kennen – allerdings in der anderen Perspektive und Zielrichtung und also kaum als selbst Betroffene kennen und erlebt haben. Aber ich wette, die meisten kennen solche Szenen.

Ich erinnere mich an eine im Stadtbus hier in Wiesbaden von vor vielen Jahren, die sich mir eingeprägt hat, als Jugendlicher noch, als eine freundliche ältere Dame ein dunkelhäutiges Schulmädchen im Bus nach ihrer Herkunft fragte und das bestimmt nicht böse oder ablehnend sondern auf ihre Art freundlich meinte. Interesse an anderen ist ja eigentlich noch nichts Schlimmes: „Na, Wo kommst Du denn her?“ Das Mädchen verstand nicht gleich, worauf die Frage zielte, und nannte ihren Geburtsort irgendwo im Rhein-Main-Gebiet, worauf die Dame – nun schon etwas irritiert und dabei noch irritierender – nachfragte: „wo denn ursprünglich her“, und „woher die Eltern?“ Das war jetzt eindeutig unpassend – Was ging sie das an? Warum will sie das wissen? – auch für uns Mitfahrende unpassend, die das mitbekommen hatten, aber noch viel mehr für das Mädchen selbst, das trotz aller Irritation auch darauf antwortete und sagte, dass die Eltern auch aus diesem Ort kämen – und das glücklicherweise an der nächsten Haltestelle den Bus verlassen konnte. Auch dem Jugendlichen von vor 50 Jahren war klar, dass diese Szene improvisierter Ahnenforschung am „exotischen Objekt“ unangemessen war. Das gehört sich nicht. Aber geholfen, beigestanden haben wir anderen dem Mädchen auch nicht. Gar nicht so einfach – obwohl es doch eigentlich ganz einfach ist.

Diskriminierung – also wertende, abwertende Unterscheidung (die ursprüngliche Wortbedeutung „Diskriminierung=Unterscheidung“ hat erst im Alltagsgebrauch diese wertende und abwertende Bedeutung angenommen) aufgrund von äußerlichen Merkmalen ist ein Unrecht, das beide beschädigt: den der es begeht und den, der es erleidet. Deshalb können wir es auch nicht dem Lukas durchgehen lassen, der nichts dabei zu finden scheint, wenn griechischstämmige Witwen, wie er schreibt, „übersehen werden“ – also besonders verwundbare, ältere Menschen, Frauen, die der Hilfe bedürfen – diskriminiert und unterschiedlich behandelt, unterschiedlich bevorrechtet und benachteiligt werden – nur weil sie griechischer oder hebräischer Herkunft sind. Das ist ein Unrecht, das nicht einfach pragmatisch geregelt werden kann – sollen die Griechen doch für die Griechen sorgen! – oder historisch erklärt werden kann.

Zumal die christliche Gemeinde schon mal weiter war: Paulus – also etwa zwanzig Jahre vor Lukas – sagt ausdrücklich im schon erwähnten Brief an die Galater, dass unsere Unterschiede nicht relevant sind in der christlichen Gemeinschaft: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Galater 3,28) Wir wissen es besser, dass es sie gibt, immer noch – aber eigentlich kann und darf es Diskriminierung und Abwertung aufgrund von Herkunft, Geschlecht oder sozialem Stand in der Gemeinschaft von Christen nicht geben.

Jesus selbst ist noch viel weiter gegangen. Er predigt nicht nur das Evangelium von der Nicht-Diskriminierung, sondern geht selbst hin zu den Ausgestoßenen, den Abgewerteten, zu denen am Rand der Gesellschaft, „den Mühseligen und Beladenen“, zu den Diskriminierten. Und viele seiner Geschichten handeln davon, dass diskriminierende Barrieren überschritten werden – wenn es etwa ausgerechnet der in der Gesellschaft verachtete Samaritaner ist, der im Gegensatz ausgerechnet zu den angesehenen Geistlichen des eigenen Volkes zum Beispiel für Nächstenliebe wird: Ausgerechnet der hilft und erfüllt Gottes Gebot.

Genau das ist es aber: Gottes Gebot – und keineswegs eine Modeerscheinung oder politisch-korrekte Heuchelei, wenn wir uns gegenseitig erinnern, uns nicht gegenseitig abzuwerten aufgrund äußerer oder auch innerer Merkmale; uns nicht einfach so oder auch absichtsvoll zu „übersehen“, nur weil wir uns gegenseitig anders sind. Als „Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins“ (in der Wendung Eberhard Jüngels) ist nicht nur Gott zu denken sondern auch die von ihm gewollte Gemeinschaft unter Menschen: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Galater 3,28).

Das wir das noch nicht gut genug hinkriegen ist offensichtlich und schmerzhaft. Aber wir sollten es wenigstens wollen!

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 12. Sonntag nach Trinitatis, 30. August 2020

Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid Gottes Ackerfeld und Gottes Bau. Nach Gottes Gnade, die mir gegeben ist, habe ich den Grund gelegt als ein weiser Baumeister; ein anderer baut darauf. Ein jeder aber sehe zu, wie er darauf baut. Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus. Wenn aber jemand auf den Grund baut Gold, Silber, Edelsteine, Holz, Heu, Stroh, so wird das Werk eines jeden offenbar werden. Der Tag des Gerichts wird es ans Licht bringen; denn mit Feuer wird er sich offenbaren. Und von welcher Art eines jeden Werk ist, wird das Feuer erweisen. Wird jemandes Werk bleiben, das er darauf gebaut hat, so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durchs Feuer hindurch. Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn jemand den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören, denn der Tempel Gottes ist heilig – der seid ihr. (Brief des Paulus an die Korinther 3, 9-17)

Wer nach Fundamenten fragt ist noch kein Fundamentalist. Und wer von der reinigenden, prüfenden Kraft des Feuers spricht, ist noch kein Brandstifter.

Aber es sind doch missverständliche und bisweilen sogar gefährliche Redeweisen – insbesondere im Blick auf das, was wir am Wochenende erleben mussten: Fundamentalisten und Brandstifter proben den Aufstand. Über den Aufstand der Idioten könnte man lachen – und vielleicht lachen wir ja in ein paar Monaten darüber – aber das Lachen bleibt einem im Moment noch im Halse stecken. Zu gefährlich ist das, was sie tun – unmittelbar für sich selbst und für uns alle, die wir alle immer noch und für eine ganze Weile auf Schutzmaßnahmen angewiesen sind und sein werden. Und gefährlich ist es obendrein weil Rechtsradikale und Rechtsextreme sich von den Idiotenaufständen angezogen fühlen wie die Fliegen von der Scheiße. Unruhe stiften, Unruhe verbreiten, Unruhe nutzen – das ist genau ihre Strategie, damit man am Ende sagen kann: die lauwarmen Liberalen kriegen das nicht hin mit Recht und Ordnung, wir brauchen was Stärkeres.

Natürlich bezieht sich unser Paulustext nicht zuerst auf unsere gesellschaftliche Problemlage, sondern auf die christliche Gemeinde und auf religiöse Fragen. Die sind aber nicht unähnlich. Auch hier ist es nicht ungefährlich von Fundamenten und vom Feuer zu reden; man will ja nicht als Fundamentalist – also als einer mit den einzig richtigen Antworten auf alle Probleme – gehört werden, und auch nicht als Brandstifter, der mit Gewalt, der zumindest mit gewalttätiger Sprache stört und zerstört , was Generationen aufgebaut haben. Diese fundamentalistischen Zündler und Feuerköpfe gibt es auch in den Kirchen, sogar bei uns und nicht nur in Amerika, aber durchweg eher in freikirchlichen oder sogar sektenartigen Gemeinschaften – da sollen sie bleiben!

Aber: Trotzdem ist das eine berechtigte Frage, die nach den Grundlagen unserer Kirche; und es ist ein berechtigtes Anliegen, Einrichtungen der Kirche zu prüfen – das ist ja mit dem Bild des Feuers gemeint. Was hat Bestand? Was entspricht der ursprünglichen Idee und Stiftung unseres Glaubens? Was kann weg? Das sind im eigentlichen Sinne kirchenleitende Fragen und die Arbeit daran die wesentliche Aufgabe einer Kirchenleitung, zu der wir – als evangelische Christen – allesamt gehören.

Paulus selbst hat sich an diesen Fragen zeitlebens abgearbeitet: Eine seiner wichtigsten Antworten zur ursprünglichen Idee unseres Glaubens steht in einem anderen Brief von ihm, dem Römerbrief: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch Glauben.“ (Römer 3,28) Mit dieser Konzentration auf den Glauben erübrigt sich keineswegs die Frage nach unserem Handeln. Vielmehr nimmt er sie immer auf und auch die Pointe unseres heutigen Textes zielt darauf: Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn jemand den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören, denn der Tempel Gottes ist heilig – der seid ihr.

Jede und jede allein und alle gemeinsam sind wir Tempel Gottes, in denen der Geist Gottes wohnt. Was für ein großartiger Gedanke mit ganz weitreichenden Konsequenzen. Wie wir gemeinsam miteinander umgehen hat direkte Auswirkungen auf Gott – er wohnt ja in uns. Wie wir uns halten, pflegen und verhalten hat direkte Auswirkungen auf Gott – er wohnt ja in uns. Nicht wir sind die Autoren und Gesetzgeber unserer selbst – sondern Gott. Die Vorstellung von uns als Tempel Gottes verbietet Selbstzerstörung und Selbstverstümmelung.

Diese Glaubensvorstellung ist auch auf mein Gegenüber anzuwenden; sie beinhaltet nicht unbedingt eine Toleranz, die den anderen aufgibt, auch Selbstaufgabe sein erklärter Wunsch und Wille sein mag. Gerade weil diese Glaubensvorstellung im Gegner, also auch im politischen Gegner, Gottes Tempel wahrnimmt und anerkennt, lässt sie ihm nicht alles durchgehen. Der Spinner hat nicht jedes Recht auf Spinnerei, wenn er damit sich selbst und andere gefährdet. Aber jeder Spinner hat das Recht, als Gottes Tempel wahrgenommen und darauf angesprochen zu werden. Auch ihm wie uns gilt das Wort aus der Bibel:

„Ich danke dir – Gott – dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“ (Psalm 139,14)

Predigttext für den 23. August 2020, 11. Sonntag nach Trinitatis

Er sagte aber zu einigen, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. (Evangelium nach Lukas 18,9-14)

Streber nerven! Ob nun im Tempel oder in der Schule oder sonst wo, sogar im wirklichen Leben, in der Politik, im Kampf gegen das Virus: Streber nerven! Es ist nicht schön, sich hervorzutun gegenüber anderen; seinen Gott, seinen Lehrer, seinen Arbeitgeber, seine Wähler beeindrucken zu wollen mit den eigenen Höchstleistungen, dem eigenen Wohlverhalten, der persönlichen Exzellenz und dabei andere herabzusetzen. Exzellenzinitiativen in eigener Sache gehören sich nicht, insbesondere wenn sie Mitbewerber herabsetzen und sich selbst vergrößern.

Schüler entwickeln einen feinen Instinkt gegenüber Strebern, die zwar oft – allerdings längst nicht immer! – gute Noten aber dafür einen schlechten Stand in der Klasse haben. Die soziale Kontrolle funktioniert häufig ganz gut gegenüber denen, die sich selbst erhöhen, die anderen aber erniedrigen.

Manchmal schießt die Kontrolle natürlich auch über das Ziel hinaus, wenn bloßes Interesse am Schulstoff und gute Noten allein schon den Verdacht des Strebertums erregt aber die Wirklichkeit verfehlt. Dann ist der Vorwurf, ein Streber zu sein, ungerecht und kann verletzen. Das war vielleicht sogar die volle Absicht dieses Vorwurfs, den anderen, der gerade besser zurechtkommt, zu verletzten und ihm einen mitzugeben. Das ist dann wahrscheinlich, wenn der angebliche Streber seine Mitschüler gar nicht herabgesetzt, sondern ihnen vielleicht sogar geholfen hat. Den schlimmsten Stress in der Schule hatte ich mit einem Mitschüler, der mir nicht verzeihen wollte, dass ich ihn jahrelang die Hausaufgaben im Bus abschreiben ließ. Streber nerven – aber der unberechtigte Vorwurf ein Streber zu sein, ist auch nicht nett.

Auch unsere berühmte Jesusgeschichte heute verteilt nur oberflächlich eindeutig ihre Sympathien. In Wirklichkeit zieht sie uns hinein in ihre Problemstellung, lässt uns selbst prüfen, wer wir wohl wären in dieser Geschichte: der arrogante Pharisäer oder der fromme Zöllner. Beide sind hier mit ziemlich grobem Pinsel gezeichnet, eher Karikaturen ihrer selbst: weder waren die historischen Pharisäer alle und notwendigerweise selbstgerecht und arrogant, noch waren die historischen Zöllner im Normalfall solche Ausbünde an Frömmigkeit und Demut wie unser Prachtexemplar hier. In Wirklichkeit waren Pharisäer überaus gebildete Laientheologen, die sich um ein gottgefälliges Leben bemühten und dem Okkupationsregime der Römer distanziert gegenüber standen. Dagegen waren die Zöllner Kollaborateure der römischen Besatzer und Betrüger, geldgierig und jederzeit bereit für ihren Vorteil die eigenen Landsleute in die Pfanne zu hauen. Sympathisch geht anders.

Allerdings haben 2000 Jahre christliche Auslegungsgeschichte unseren Blick auf die historischen Typen verändert. Wenn wir etwas mit dem Pharisäer anfangen können, dann ist er uns der exemplarische Heuchler – der noch den Namen für ostfriesische Teespezialitäten hergeben muss, die den Schnaps unter der Sahne verbergen – lecker, aber falsch: Er verstellt sich, er tut so als ob, er hat etwas zu verbergen, er will uns betrügen.

Und der Zöllner ist uns zwar nicht wirklich sympathisch geworden über die Jahrhunderte doch wir sind geneigt, ihn im Licht finanzbeamteter Rechtschaffenheit zu sehen – allein, unser Herz gewinnt er nicht, er will ja unser Geld; freiwillig kriegt er das nicht.

Was allerdings gar nicht geht, ist die gewohnheitsmäßige Identifizierung des Pharisäers mit dem Juden überhaupt und des demütigen Frommen mit dem Christen an sich; denn kein Jude ist ein Heuchler weil er ein Jude ist und kein Christ ist automatisch fromm oder frömmer als andere, weil er ein Christ ist. Trotzdem war gerade diese Zuordnung über die Jahrhunderte wirksam und destruktiv wirksam – und hat bis heute die bösartige und falsche Karikatur des verschwörerischen, „weltverschwörerischen“ Juden hervorgebracht.

Unsere Geschichte spielt mit diesen Klischees, kontert unsere Erwartungen und lädt uns Leser und Hörer unwillkürlich dazu ein, sich zu identifizieren; aber mit wem eigentlich? Nach gesellschaftlichem Stand und sozialer Rolle doch am ehesten mit dem Pharisäer; aber wer sieht sich selbst gern als Streber und Heuchler? Und mit dem Zöllner wohl gar nicht, denn wer von uns dürfte sich allen Ernstes für einen kaum getarnten Ganoven halten, der dann – vielleicht aus sentimentaler, oder noch eher mit seinerseits heuchlerischer Neigung – seine Demut zur Schau stellt? Also dann doch eher wieder der Pharisäer, aber dann halt als einer, der zu Einsicht und Umkehr bereit ist. – Zumindest unsere Geschichte gibt dieser Identifikation den Vorzug, denn in ihrer Einleitung sind die Adressaten – einige, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die andern – eindeutig benannt. Die sollen sich ändern, wir sollen uns ändern. Aber wie?

Also schon einmal bestimmt nicht so, dass wir nun selbst Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, werden sollen oder auch wie dieser Zöllner werden sollen; und bestimmt auch nicht so, dass wir nicht mehr zweimal in der Woche fasten (wenn wir es denn je taten) und nicht mehr den Zehnten geben von allem, was wir einnehmen (was wir ja tun, wenn wir Steuern und Spenden berücksichtigen). Nicht dieses Verhalten wird von Jesus in dieser Geschichte kritisiert, sondern dass wir uns aufgrund solchen Verhaltens besser als andere dünken. Der Streber soll ja auch nicht faul und desinteressiert und schlecht in der Schule werden; er soll nur nicht mit seinen Noten hausieren gehen – noch dazu wenn er für diese Noten als Schlaufiffi, der er ist, weniger arbeiten musste, als der langsame Lerner, der sich jede drei hart erarbeitet. Das hat mir einmal das Herz gebrochen, als ich am Zeugnistag im Gespräch zweier Grundschüler mitbekam, wie der eine stolz und aufgeregt von seiner zwei sprach – es war die einzige unter vielen dreien – und der andere darauf abgeklärt und verständnislos erwiderte, dass er keine einzige hätte sondern eben durchweg besser sei.

Das sollen und müssen die Leistungsstarken, die Anerkannten, die Angesehenen und Etablierten begreifen, dass sie zwar jedes Recht haben, auf ihre Leistung stolz zu sein; dass sie aber ohne ihre Gaben, für die sie nichts können, nicht das erreicht hätten, was sie erreicht haben. Unser Erfolg in der Schule, und überhaupt im Leben, ist nur zu dem Teil unsere Leistung, zu dem wir unsere Gaben gebraucht haben. Für die Gaben selbst können wir nichts. Gerade Reiche und Erfolgreiche verlieren das manchmal aus dem Blick, wenn sie stolz auf das Erreichte blicken, ohne zu sehen, dass sie einfach so viel mehr hatten, aus dem sie etwas machen konnten.

Um diesen genaueren Blick und das ehrlichere Selbstverständnis geht es in unserer Gleichnisgeschichte. Was rein natürlich betrachtet schon stimmt – also dass unsere genetische Ausstattung unsere Leistungsfähigkeit und damit unsere Möglichkeiten des Erfolgs bestimmt – trifft auch religiös zu. Der Zöllner bringt es auf den Punkt: Gott, sei mir Sünder gnädig! Gottes Gnade macht den Unterschied. Auf die sollen wir uns besinnen, die sollen wir erbitten.

Nicht so werden, aber so bitten und beten wie der Zöllner, darum geht es. Alles von Gott erwarten. Ihn für den Grund, und für Sinn und Ziel meines Lebens halten – dabei ist unerheblich, ob der Zöllner das wirklich macht, was man bezweifeln kann – aber er findet die richtigen Worte, sich in Beziehung zu Gott zu setzen. Gott, sei mir Sünder gnädig! Amen.

Predigttext für den 10. Sonntag nach Trinitatis, 16. August 2020

Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist. Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jesaja 40,13) Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste?« (Hiob 41,3) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

(Brief des Paulus an die Römer 11, 25-36)

Zwei Streithälse legen ihren Streitfall dem Meister vor. Nachdem der erste seine Sicht der Dinge geschildert hat, sagt der Meister: Du hast recht. Dann trägt der zweite seine ganz andere Sicht der Dinge vor, und bekommt dieselbe Auskunft: Du hast recht. Die Frau des Meisters bekommt das mit und stellt ihren Mann empört zur Rede, sie könnten ja nicht beide recht haben. Darauf der Meister: Da hast du auch recht. (Alter jüdischer Witz, wieder aufgeschnappt in der aktuellen Ausgabe der Kirchenzeitung, früher „Weg mit der Wahrheit!“, Pardon: „Weg und Wahrheit“) O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!

Liebe neue Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde,

jeder Gottesdienst hat einen Anlass – z. Beispiel Weihnachten oder Taufe oder Schulanfang oder einfach weil Sonntag ist – und manche Gottesdienste haben sogar mehr als bloß einen Anlass, dann ist es schwer allen gerecht zu werden, so wie heute, wenn wir 1. die neuen Konfirmanden begrüßen, 2. Israelsonntag begehen und 3. das Ganze in Zeiten einer uns alle einschüchternden und in Stress versetzenden Seuche feiern wollen. Jedes der Themen ist mehr als genug für einen Gottesdienst, alle drei zusammen sind eindeutig des Guten zu viel. Andererseits hängt doch sowieso alles mit allem zusammen und der Theologe Karl Barth hat zur Predigtaufgabe gesagt, dass immer alles gesagt werden und dafür vom Anfang anzufangen sei. Das kann sich dann auch auf die Länge der Predigt auswirken!

Ein Anfang des christlichen Glaubens liegt jedenfalls im jüdischen Glauben, so wie Jesus und seine Jünger und Apostel allesamt „geborene Juden“ waren. (Martin Luther, Dass Jesus ein geborener Jude sei 1523.) Es gehört zu den Tragödien der Christentumsgeschichte, dass Martin Luther seine reformatorischen Erkenntnisse und Errungenschaften nicht diesen entsprechend auf unsere jüdischen Geschwister angewandt hat, sondern zum geifernden Judenfeind (Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen 1543) wurde, dessen Tiraden unentschuldbar sind und noch heute Entsetzen auslösen. Dennoch ist es unhistorisch und ungerecht, ausgerechnet ihn zum exemplarischen Antisemiten seiner Zeit – oder gleich aller Zeiten – zu erklären; seiner Zeit, in der die meisten europäischen Herrscher ihre jüdischen Untertanen mit Gewalt vertrieben und die vorreformatorischen Theologen im Gegensatz zu Luther die jüdischen Wurzeln ihres Glaubens längst vergessen hatten. Für seine oben zitierte Schrift von 1523 wurde Luther von seinen katholischen Feinden als „Judenfreund“ bezeichnet, was als Beschimpfung gemeint war. Und der Humanist Erasmus von Rotterdam hat – ebenfalls im Unterschied zu Luther – einen rassistischen Antijudaismus gepflegt, der getauften Juden Feind blieb, weil sie als Juden geboren waren. Der rassistische Antisemitismus anderer Zeiten und unserer Zeiten – den der Teufel holen soll! – kann sich auf Luther jedenfalls nicht berufen, auch wenn das seine antijüdischen Tiraden nicht entschuldigt.

Wenn wir etwas über unsere Religion erfahren wollen, tun wir gut daran, etwas über den jüdischen Glauben als unsere Mutterreligion zu erfahren, und zwar nicht so, dass wir Christen uns für die neuen Juden und die Kirche für das wahre Israel hielten, die die alten Juden und das unwahre Israel – was es nicht ist – abgelöst hätten, sondern wie Paulus beide Religionen – die jüdische Mutter wie die christliche Tochter – zusammenzudenken: Du hast recht – du hast recht; wie der jüdische Meister, der Rabbi, das beiden Parteien sagt – und dann seiner klugen Frau zustimmen muss, dass sie auch recht hat – und damit das logische Problem keineswegs löst.

Wenn wir als Schüler und Konfirmanden über unsere Religion lernen, werden wir lernen, dass wir den größten Teil der Bibel, die Psalmen, die 10 Gebote, das Vaterunser, den Segen, sogar die kleinen, aber bedeutenden Wörtchen Halleluja – Lobet den Herrn! – und das Amen – So sei es! – der jüdischen Religion verdanken und mit ihr teilen. Zumindest Anerkennung und Respekt für dieses jüdische Erbe sind wir schuldig. Aber noch mehr. Vielmehr gehören Juden und Christen im Glauben zusammen – davon ist der Apostel Paulus überzeugt.

Paulus bemüht sich, den christlich-jüdischen Antagonismus zeitlich aufzulösen: die Christen haben nicht nur die jüdische Religion zu ihrem Ursprung sondern Juden und Christen haben ein gemeinsames Ziel in Gott: am Ende wird alles gut; am Ende werden Trennung und Streit überwunden sein; am Ende wird alles gut. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Das aber ist – nach Paulus – ein Geheimnis und zwar das Geheimnis der Welt. Paulus gehört zu denen, die ein Geheimnis nicht bewahren können oder wollen, und das ist gut so. Er weiß, dass ein Geheimnis ein Geheimnis bleibt, auch wenn es offenbart ist – ganz anders als ein Rätsel, das, einmal gelöst, nichts mehr verbirgt. Ein Geheimnis bleibt ein Geheimnis, es behält seine Kraft, seine Energie, sein Potential. Paulus teilt das Geheimnis mit uns und das besteht im Wesentlichen darin, dass sich Gott aller erbarmt. Die ganze Welt ist unter Gottes Erbarmen gestellt – auch wir, sogar wir. Und zwar weil wir alle – als fehlbare, sündhafte Menschen – auf dieses Erbarmen angewiesen sind. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Damit erledigt sich die an sich schon alberne Frage, welche Religion, welcher Glauben der Bessere sei. Wie sollte man das messen? Vielleicht nach Glückspunkten im Diesseits und Aufstiegsmöglichkeiten im Jenseits? Blödsinn. Nicht der Reichtum unserer Religion oder ihre besonders virtuose Ausübung sondern unser Mangel an Glauben erweckt Gottes Erbarmen, dass sich je und je zeigt, auch schon in diesem Leben; aber so richtig und in ganzer Pracht und Fülle zeigt sich sein Erbarmen erst am Ende. Am Ende ist alles gut und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.

Das wäre dann auch die Erkenntnis aus unserem Text für die Krise unserer Zeit. Ich glaube nicht, dass Corona als Strafe Gottes anzusehen ist, schon gar nicht als erzieherische Strafe, das wäre ja zynisch. Aber Corona ist auch nicht einfach glaubensneutral, oder umgekehrt ist auch unser Glauben nicht irrelevant für den Umgang mit der Plage. Vielmehr entspricht unser Erleben in diesen Wochen und Monaten ziemlich genau den von Paulus und den anderen Autoren der Bibel beschriebenen Vorrausetzungen unseres Glaubens: Als fehlbare Menschen in einer gefallenen Schöpfung sind wir auf das Erbarmen Gottes angewiesen. Und dieses Erbarmen ist nicht an Erfolg oder Misserfolg unseres Lebens ablesbar – Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! – sondern so lange Gegenstand des Glaubens bis Gott endlich alles in allem sei: Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.

Dass schlimme Dinge passieren – immer wieder und überall passieren – spricht nicht gegen Gott sondern entspricht der großen biblischen Erzählung, dem Narrativ der Bibel. Aber es bleibt nicht bei den schlimmen Dingen – sagt die Bibel – sondern das Gute setzt sich durch, Gott setzt sich durch. Das muss man nicht glauben – wie man glauben gar nicht muss – aber man kann.

Die Weltgeschichte geht gut aus. Das kann auch gar nicht anders sein, wenn Gott der Herr der Geschichte und das Geheimnis der Welt ist. So hat sich Gott seinem Volk offenbart.

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

Predigttext für den 9. Sonntag nach Trinitatis, 9. August 2020

Und des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen. (Buch des Propheten Jeremia 1,4-10)

Zumutung und Ermutigung

„Du, laß dich nicht verhärten
In dieser harten Zeit.
Die allzu hart sind, brechen,
Die allzu spitz sind, stechen
Und brechen ab sogleich.

Du, laß dich nicht erschrecken
In dieser Schreckenszeit. …“

Ermutigung von Wolf Biermann. So hat Wolf Biermann gesungen, von der Ermutigung gesungen; davon gesungen, sich nicht von Furcht bestimmen zu lassen, in dem festen Vertrauen darauf, nicht alleine zu sein; und darin eben auch seinen Teil zu leisten auszureißen und einzureißen, zu zerstören und verderben und zu bauen und pflanzen; wie Biermann es mit dem ihm eigenen und nicht unbegründeten Selbstbewusstsein 25 Jahre nach dem Mauerfall im Deutschen Bundestag gesagt hat, wenn er sich selbst eine nicht geringe Rolle beim Kampf gegen den totalitären „Drachen“ DDR zumaß, den er „zersungen“ habe.

Biermann hat nicht aus christlichem Glauben gehandelt, aber sein Glauben an Gerechtigkeit hatte für ihn eine religiöse Kraft, die unwiderstehlich war, also unwiderstehlich für ihn, dass er sich ihr hätte entziehen können, aber auch unwiderstehlich für seine Gegner, die pseudokommunistische Diktatur, die ihm – dem Sänger – und ihr – seiner Kraft – letztlich nichts Wirksames entgegenhalten konnten: nicht zwölfjährige Quarantäne mit Berufsverbot, nicht das volle Stasi-Programm und auch nicht das zwangsweise Exil der Ausbürgerung.

Wo nehmen diese Leute ihre Kraft her, diese Sänger und Propheten, was ist das für eine große Kraft, sich gegen die – ungerecht – Herrschenden und gegen die – falsche – herrschende Meinung zu stellen? Wobei uns ja klar ist, dass nicht jedes Dagegenstellen berechtigt oder sinnvoll ist, das hätten die Covidioten und Verschwörungstheoretiker gern, dass man sie für Propheten hielte. Sind sie aber nicht, höchstens falsche Propheten, vor denen Jeremia gelegentlich auch warnt: Hört nicht auf die Worte der [falschen] Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch: denn sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen. Und nicht aus dem Mund des Herrn. Sie sagen denen, die des Herrn Wort verachten: Es wird euch wohlgehen – und allen, die nach ihrem verstockten Herzen wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen. (Jeremia 23,16f.)

Das bloße Dagegenhalten-gegen-was-auch-immer ist es also nicht, das den Propheten auszeichnet; und andererseits auch nicht der bloße Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit; vielmehr eben beides zusammen: Weltverständnis und Mut, dieses Verständnis unter die Leute zu bringen.

Deshalb steht in der Bibel am Anfang der prophetischen Beauftragung, wie auch allgemeiner zu Beginn der Gottesbegegnung, die allerdings immer eine Beauftragung enthält, die Ermutigung des „Fürchte dich nicht!“. Sie ist nämlich auch eine Zumutung für den, der sie erlebt: Überwältigung, Erschütterung, Herausforderung, Verängstigung, Schrecken. „Was, so steht es um uns, um mich!? Und das soll ich jetzt auch noch weitersagen?! Wer wird mich hören, mir glauben?“

Als Zumutung erlebt Jeremia das, als Zumutung wird das erlebt, als ein Zu-nahe-treten, jemand tritt uns zu nahe, Gott kommt uns in seiner Begegnung und Beauftragung näher als wir uns selbst nahe sein können (wie Augustinus seine Gottesbegegnung beschreibt: deus interior intimo meo). Die von Gott ausgehende Erkenntnis der Wahrheit und die von ihm gestiftete Sehnsucht nach Gerechtigkeit sind größer und stärker als das, was ich bisher für richtig gehalten habe, und überwältigen mich. Ich kann mich nicht entziehen.

So stelle ich mir vor, was Jeremia erlebt hat und hier schildert; und so kann es auch für uns, die wir im Regelfall nicht Jeremia oder Biermann heißen und keine Propheten des Alten Testaments oder politische Sänger gegen die Diktatur sind, einen Aspekt unseres Glaubens erklären. Wenn unser Glauben mehr ist als der scheinbar fromme Überzug dessen, was wir sowieso schon immer gemeint haben, wird er dieses Moment der Überwältigung des uns nahetretenden Gottes enthalten – als Erschütterung, als Herausforderung und als Zumutung. Gott ist größer als ich selbst (Augustinus, Bekenntnisse: deus interior intimo meo et superior summo meo).

Und mit dieser Zumutung geschieht unmittelbar die Ermutigung des „Fürchte dich nicht“. Der, der mich erschreckt und erschüttert, versichert und bestätigt mich mehr als jeder andere und alles andere es könnte. Der Zumutung folgt die Ermutigung. Beide gehören zusammen, sind miteinander verschränkt.

In der Coronazeit ist ein Bibelwort besonders gehört worden: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Timotheus 1,7) Natürlich ist das alles zum Fürchten und wie sollte man nicht in dieser Zeit Angst haben – um sein Leben und das seiner Lieben. Und dennoch versichert uns Gott bei uns zu bleiben, zu uns stehen, für uns da zu sein.

Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR.

Amen.

Predigttext für den 8. Sonntag nach Trinitatis, 2. August Juli 2020

Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden und sprach zu ihm: Geh zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder. (Johannesevangelium 9,1-7)

Jesus Christus spricht: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben. (Johannes 8,12)

Wer unsere seltsame Heilungsgeschichte im Zusammenhang des Johannesevangeliums liest und hört, weiß schon einiges über den Streit von Licht und Finsternis, über das Licht, dass Jesus in die Welt bringt, und davon, dass Jesus unser Leben in ein neues Licht setzt. Denn davon ist ja die ganze Zeit die Rede. In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hats nicht ergriffen. (Johannes 1,4f.)

Und dafür – also dafür, dass Jesus das Licht unseres Lebens ist – bietet unsere Wunderheilungsgeschichte ein Gleichnis: So wie der Blindgeborene wieder sehend wird durch Jesus, so öffnet auch uns Jesus die Augen für das Licht unseres Lebens, für die Wahrheit unseres Lebens – dass die Werke Gottes offenbar werden an ihm – und an uns.

Aber merkwürdig ist die Wundergeschichte eben schon; nicht umsonst ist sie der Anfang und Anlass längerer Diskussionen mit den Pharisäern, denen erfahrungsgemäß so schnell kein Licht aufgeht. Wird es uns besser ergehen? Wird uns ein Licht aufgehen?

Ein Heiler streicht Brei aus Speichel und Staub einem Blinden auf die Augen, der wäscht sich das Zeug wieder ab und: wird gesund, kann wieder sehen! Ein klassischer Fall alternativer Medizin, oder nicht?

Eher nicht, denn der Begriff „alternative Medizin“ setzt eine wissenschaftlich begründete, evidenzbasierte Medizin voraus. Die gab es aber zur Zeit Jesu noch nicht! Also können seine Heilungen auch keine Beispiele alternativer Medizin sein.

Dennoch trifft auch seine Heilung das berechtigte Misstrauen, mit dem wir vernünftigerweise der heutigen sogenannten Alternativmedizin begegnen – oder doch begegnen sollten: „Für viele alternativmedizinische Therapien [wie etwa der Homöopathie oder der anthroposophischen Medizin] konnte weder ein wissenschaftlich plausibler pharmakologischer Wirkmechanismus, noch eine pharmakologische Wirkung, die über einen Placeboeffekt hinausgeht, nachgewiesen werden. Einige Verfahren der Alternativmedizin lassen sich den Pseudowissenschaften zuordnen.“ (Wikipedia) Also Fake-Medizin.

In ruhigeren Zeiten könnte man die Sache auf sich beruhen lassen. Warum nicht bei harmlosen Malessen gelegentlich ein paar Zuckerkügelchen naschen, die zwar keine Wirkung haben, aber eben auch keine Nebenwirkungen, und – scheinbar! – keinen weiteren Schaden anrichten? Warum nicht? Vielleicht deshalb nicht:

„Als gravierende direkte Risiken wurden zum Beispiel Verletzungen, Immunreaktionen und Arzneimittel-Interaktionen dokumentiert. Indirekte Gesundheitsrisiken liegen im Versäumen notwendiger medizinischer Diagnostik und Therapie. Dies betrifft besonders lebensbedrohliche Erkrankungen, wie zum Beispiel Krebs. Infolge alternativmedizinischer Konzepte und Methoden sind sogar Todesfälle von Patienten dokumentiert. Etwa die Ablehnung von Impfungen kann darüber hinaus auch zu einer kollektiven Gefährdung der Gesellschaft führen (siehe Impfmüdigkeit).“ (Immer noch der Wikipedia-Artikel „Alternativmedizin“; mehr Information im Buch der Ärztin und Ex-Homöopathin Nathalie Grams, Was wirklich hilft, 2020)

Dabei ist ja die zitierte Impfmüdigkeit nur ein – allerdings ein besonders schädlicher und gefährlicher – Aspekt einer viel umfassender destruktiv wirkenden Wirkung „alternativer Medizin“, dessen Schädlichkeit und Gefährlichkeit aber gerade in der Corona-Krise unabweisbar und bedrängend deutlich wird: „Alternative Medizin“ schadet, wie überhaupt das Geschwafel von „Alternativen Fakten“ oder das Streuen von „Fake-News“, weil sie unser Urteilsvermögen beschädigen und letztlich unseren Sinn für Wahrheit und Lüge verwirren. (Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt hat dazu – lange vor Donald Trump! – den leider unübersetzbaren Begriff „bullshit“ analysiert, der im Unterschied zur vergleichsweise harmlosen Lüge, die totale Gleichgültigkeit gegenüber Wahrheit und Lüge bezeichnet; Harry G. Frankfurt, On Bullshit, 2005)

In der Licht-Dunkelheit-Metaphorik des Johannes gesprochen bemüht sich die „alternative Medizin“ und ihre ebenso hässlichen Schwestern „alternative Fakten“ und „Fake-News“ um einen Grauschleier, der die Unterscheidung des Lichts der Wahrheit von der Nacht der Unwahrheit verhindert – oder im religiösen Bereich die Grenze zwischen Glaube und finsterem Aberglaube verwischt – nach dem Motto: Wer an die Auferstehung glaubt, muss auch nicht an Globuli zweifeln.

Der christliche Glauben hat hier viel zu verlieren: Wenn nämlich – wie gesagt – die Grenze zwischen Glauben und Aberglauben verwischt und entweder jeder Humbug für möglich gehalten wird – oder mit dem Humbug zusammen auch der christliche Glaube entlarvt und abgelehnt wird. (Wie das die oben zitierte Ärztin und Autorin Grams leider tut.)

Noch einige Male – beinahe penetrant oft – nennt unsere Geschichte im Fortgang die merkwürdige Heilung mit dem Brei aus Staub und Spucke, der anschließend abgewaschen wird. Schon dem Evangelisten Johannes geht es darum, das Merkwürdige – eher das Absurde – dieses Vorgangs herauszustellen, der in keinem Verhältnis zu seiner Wirkung steht.

Er möchte hier nichts alternativmedizinisch plausibilisieren, sondern den riesigen Unterschied zwischen absurder Handlung und ihrem „Ergebnis“ verdeutlichen. Nicht die Handlung selbst sondern der Handelnde allein (solus Christus!) bewirkt die Heilung: Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Kein Brei aus Dreck heilt – sondern Jesus heilt.

Und sowenig die Handlung selbst zur Heilung führt sondern der Heilende allein, sowenig kann sie der Kranke verhindern. Damit sind wir auf einen zweiten großen Aberglauben rund um die Medizin gestoßen, dass nämlich Krankheit Strafe für unsere Sünden wäre, was aber klar zurückgewiesen wird: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern. Das spukt ja immer noch überall herum, dass es moralische Gründe für Krankheit und Seuche geben könnte, dass hier ein Fehlverhalten bestraft würde, dass jemand moralische Schuld für seine Krankheit oder die Seuche hätte.

Das ist gar nicht so leicht auszuhalten und auseinanderzuhalten, dass es einerseits sinnvoll ist nach Gründen für Krankheit und Plage zu forschen – und dann im günstigsten Fall die Ursachen festzustellen und zu beseitigen; und andererseits nicht diese Ursachen zu moralisieren, um dann die Krankheit für eine Strafe zu halten. Selbst gutgemeinte Gesundheitskampagnen können bewirken, dass Lungenkrebs, Leberzirrhose oder Fettleibigkeit moralisiert und dann irgendwann für die gerechten Strafen für Raucher, Trinker und Esser gehalten werden – was sie nicht sind. Auch Corona ist keine Strafe – schon gar keine Strafe Gottes – sondern eine Krankheit (bzw. ihr Erreger), wie sie zur Natur in der wir leben gehört, schon immer gehört hat und – so unangenehm die Aussicht auch ist – immer gehören wird.

Ein kluger Augenarzt in unserer Gemeinde (der in seiner Praxis ganz ohne Spuckebrei und Dreck auskommt) hat mir einmal damit die Augen geöffnet, dass er in Reaktion auf die Frage, warum es gerade diese oder jene mit einer schweren Krankheit getroffen habe, meinte, dass nicht die Krankheit die erklärungsbedürftige Abweichung – sondern Gesundheit und noch mehr: Heilung das bestaunenswerte Wunder sei. Dass wir krank werden ist das Normale, dass wir gesunden ist das Besondere. Dass wir leben; das Leben eben!

Und genau das dürfte die Pointe unseres Textes sein: dass die Werke Gottes offenbar werden an ihm: Leben und immer neues Leben zu schaffen. Dass wir unser Leben als Gottes Geschenk verstehen; aus Gott leben und nicht aus uns selbst.

Jesus Christus spricht: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben. (Johannes 8,12)

Amen.