Das Phänomen der Stille

In der Anfangszeit der Krise, als der Alltagslärm verstummte, nahmen wir alle plötzlich wieder wahr, wie still es sein kann. Seit es ihn gibt, horcht der Mensch. Er muss die Stille deuten. Ist eine unsichtbare Gefahr im Verzug? Oder ist sie Ausdruck des Friedens? Ganz still ist es nie. Naturgeräusche gehören dazu. Das Singen entstand daraus, und aus ihm die Musik. Sie ist wiederum ohne Stille nicht denkbar, denn Musik wird von Stille eingerahmt. Eine gezähmte Stille, in ihrer Dauer sauber notiert und gezielt gesetzt, ist die Pause. Dauert sie länger als erwartet, wird sie zur Stille umgedeutet. Der Mensch horcht auf (wie wir heute): Was passiert hier? Wann geht es weiter?

Eine unglaubliche Idee übernahmen die antiken Pythagoräer von den Babyloniern: die Sphärenharmonie. Sie stellten sich die Strecke von der Erde zum Himmel als gespannte Saite vor, die von den umlaufenden Planeten in exakten Höhenverhältnissen zum Schwingen gebracht wird. Dass ausgerechnet der Mensch die Sphärenharmonie nicht hören kann, war noch lange kein Argument gegen ihre Existenz. Die Idee wurde Jahrhunderte lang immer wieder diskutiert. Schließlich überwog die uns heute noch prägende Dialektik: Musik ist das Hörbare – Stille ist ihr Gegenteil.

Der Barockmusiker Johann Sebastian Bach setzte die längere Generalpause als rhetorische Figur ein, die z.B. in beiden Passionen den Tod Christi nach den Worten „…und verschied“ eindrucksvoll symbolisiert. Ein Freigeist wie Beethoven nutzte oft sehr dramatische Pausen. Ein Beispiel: Im Schlusssatz der 9. Sinfonie (1824 in Taubheit komponiert) schmettert der Chor mit voller Kraft: „und der Cherub steht vor Gott, vor Gott, vor Gott!“ Es folgt eine kurze, aber umso wirkungsvollere Pause: das ganze Gefüge hängt für einen atemlosen Moment in der Luft. Und dann folgt ein völlig neuer Teil. Noch dramatischer geht es in Igor Strawinskys Skandal-Ballett „Frühlingsopfer“ (1913) zu. Der erste Teil endet in einem irrsinnigen Tumult, der brutal abbricht. Ein unheilvolles Vorzeichen. Denn im leise beginnenden zweiten Teil wird nach heidnischem Ritus ein Mensch geopfert.

Den schmalen Grad zwischen Musik und Stille kannte niemand besser als Franz Schubert. Kurz vor seinem frühen Tod (1828) schrieb er sein Streichquintett C-Dur. Im Adagio gibt es eine sehr leise Stelle, wo die fünf Streicher wie blind und taub nach der Musik zu tasten scheinen. Die Pausen sind zwar sauber notiert, doch die Töne ergeben keinen Sinn mehr. Für einen Moment löst sich die Musik ins Nichts auf. Ganz ähnlich verfährt Arvo Pärt im 2. Satz „Silentium“ im Stück „Tabula Rasa“ (1977). Es bleiben –wie am Ende von Haydns Abschiedssinfonie – zwei Streichinstrumente übrig. Immer tiefer und leiser werdend, nähern sie sich der Stille an und verschmelzen schließlich mit ihr. Die Stille ist hier nicht mehr Gegenteil, sondern Teil der Musik.

Und schließlich John Cages „4‘33“. (1952) Der Musiker spielt viereinhalb Minuten: nichts. Cage dreht die Konzertsituation um. Also wird das Publikum unruhig und lauscht. Es horcht in sich hinein. Es nimmt den eigenen Atem, die Geräusche der anderen, die knisternde Stille wahr. Man könnte dies für einen simplen Kunstscherz halten, doch Cage führt hier etwas vor, was wir so oft vergessen. In der Stille schärft man seine Sinne und bemerkt vieles mehr als erwartet.

Anne Sophie Meine

CD-Tipp: Franz Schubert: Adagio aus Streichquintett C-Dur, Alban Berg Quartett, Heinrich Schiff; EMI. Arvo Pärt: Tabula Rasa: Viktoria Mullova, Paavo Järvi; Onyx.