Predigttext für den 3. Mai 2020, 3. Sonntag nach Ostern, Sonntag „Jubilate“

Jesus spricht: Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger. (Johannesevangelium 15,1-18)

Ein Gleichnis wie für uns gemacht, die wir beinahe im Rheingau wohnen, und mit dem Neroberg auch einen Weinberg mitten in der Stadt und einige Glückliche von uns sogar als Ausblick aus dem Fenster haben. Manchmal, wenn ich jemanden in der Händelstraße oder in der Rosselstraße besuche, muss ich mich erst ein paar Minuten ans Fenster stellen und den herrlichen Blick auf die Griechische Kapelle (ich weiß, dass sie eine russische Kirche ist!) und den Weinberg am Neroberg genießen (der mir aus zwanzig Kindheitsjahren von der anderen Seite des Nerotals so vertraut ist). Das kann leicht unhöflich wirken, ist aber nicht so gewollt und wird dann vielleicht durch das neidische Kompliment etwas gut gemacht, dass das nun wirklich ein herrlicher Ausblick sei (was beweist, dass Komplimente nicht lügen müssen).

Selbst in diesen irren und wirren Zeiten sind kurze Abstecher und lange Wanderungen – streng nach häuslichen Gemeinschaften isoliert, versteht sich – in den Rheingau, in die Weinberge möglich. Außer den Weingärtnern ist da jetzt kaum jemand, selbst an sonnigen Tagen ist es da gerade viel leerer als im – gleichfalls wunderbaren – Wiesbadener Stadtwald (also zur Erholung müssen wir uns jedenfalls nicht lange ins Auto oder gar in den Flieger setzen; so schön wie bei uns muss es anderswo erstmal sein). Man konnte in diesen Tagen den Buchen beim Grünen und den Weinstöcken beim Austreiben zuschauen. Und man bekommt bei den Arbeiten im Weinberg selbst als önologischer Laie (als solcher kann man ja trotzdem Amateur sein) einen Hauch von Ahnung und jede Menge Respekt vor der Kulturleistung, die der Weinbau darstellt, den uns bekanntlich die Römer vererbt haben. Manchmal – schon gegen den Mittelrhein zu, also ab Rüdesheim etwa – wird in geradezu abenteuerlichen Steillagen die Erde gepflügt, das Unkraut beseitigt, jeder einzelne Trieb gepflegt, keine Mühe gescheut, damit der Wein wächst und der Wein des Menschen Herzerfreue (Psalm 104).

Aber selbst im wunderbaren Geschenk des Weins zeigt sich die Ambivalenz, die alle Natur und die ganze Schöpfung regiert (wie ja auch die Überbringer dieses Geschenks, die Römer bekanntlich nicht nur Kultur und Weinkultur überbrachten sondern auch grausame Eroberer und Sklavenhalter waren). Aus dieser geschöpflichen Ambivalenz kommen wir nicht heraus: Der Wein, zu rechter Zeit und in rechtem Maß getrunken, erfreut Herz und Seele. Aber wenn man zu viel davon trinkt, bringt er Herzeleid. (Jesus Sirach 31) „Alkoholsensibel“ (für diese Vokabel verweise ich dankbar auf den Gesundheitsminister) ist nicht nur das Virus selbst, sondern auch wir als Träger, was wir als Jugendliche mit dem ersten Kater erleben und gar nicht wenige von uns in Krankheit und Sucht erleiden. In der kulturell tolerierten, was sage ich: In der unsere Kultur prägenden Droge Alkohol zeigt sich wie im Brennglas die Ambivalenz des Genusses, sein Segen und Fluch zugleich. Nicht von ungefähr waren die ersten Hotspots der Seuche auch Orte der alkoholgesteigerten Lebensfreude wie Karneval, Tanzclub und Apres-Ski. (Der in diesen Tagen hochbetagt gestorbene schwedische Dichter Per Olof Enquist hat seine alkoholischen Qualen und die Kämpfe gegen die Sucht – die er gewann! – aus der herzzerreißenden Innensicht beschrieben in seinem Buch „Ein anderes Leben“ – auch um andere „alkoholsensibel“ zu machen. Unbedingt (wieder)lesen!)

So hat der freimütige Umgang Jesu mit dem Wein (seine Gegner haben ihn als „Fresser und Weinsäufer“ beschimpft) seit jeher verwundert. Sein Umgang mit dem Wein als Bild des Heils muss irritieren (in den dazugehörigen Geschichten wird nicht etwa der übermäßige Alkoholkonsum: wenn sie betrunken sind, getadelt sondern auch noch Wasser in immer mehr Wein verwandelt! Johannesevangelium 2); ebenso der Weingenuss als Teil des Sakraments. So viel – zu viel? – Ehre für einen solch ambivalentes Geschöpf der ambivalenten Schöpfung wie den Wein. Warum? Vielleicht eben darum!

Wein verlangt uns Verantwortung ab, um Freiheit zu erleben; sein Genuss ist immer auch mit dem Risiko verbunden, daran zu scheitern. Wenn und solange wir aber diese Balance schaffen, kann unser Leben erhöht werden und viel Frucht bringen. Diese Idee liegt unserem Text zugrunde – glaube ich. Weder der vollständige Verzicht noch der übermäßige und darin destruktive Konsum sondern der verantwortliche genussvolle Gebrauch ist gemeint und bildet damit die schon (vielleicht ein bisschen zu oft) erwähnte Ambivalenz des geschöpflichen Daseins des Menschen ab. Und die wird erlebbar in der Gemeinschaft untereinander und mit Christus. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.Das Leben in Christus erhöht unser Leben.

Damit (in der Kulturbedeutung des Weins als Sinnbild unseres Lebens in und mit Christus) ist der Sinn unseres Textes sicherlich noch nicht erschöpft. Vielmehr beschreibt er bildlich, gleichnishaft die aus der eucharistischen (also Abendmahls-) Gemeinschaft hervorgehende mystische (d.h. verborgene) Verbindung mit Christus: Die Teilnehmer am Abendmahl werden Glieder am Leib Christi, am verborgenen, aber nichtsdestoweniger wirklichen und Wirklichkeit verändernden und am Ende sogar Wirklichkeit überwindenden Leib, – nämlich Glieder am die geschöpflichen Ambivalenzen zugunsten des Göttlichen Heils aufhebenden Leib Christi, damit Gott sei alles in allem (1. Brief des Paulus an die Korinther 15,28; worüber wir an Ostern nachgedacht haben). Während wir als wirkliche Menschen der wirklichen Welt am Abendmahl teilnehmen, werden wir – im Glauben! – schon zu Teilhabern einer noch verborgenen Wirklichkeit: Glieder am Leib Christi. Ich lebe, aber nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir (Brief des Paulus an die Galater 2,20; die „Mystik des Apostel Paulus“).

Jeder Teilnehmer am Abendmahl spürt (oder müsste eigentlich spüren), dass das Wesentliche verborgen ist; dass es jedenfalls nicht in den einzelnen Elementen besteht, auch nicht in der Gemeinschaft der zum Abendmahl Versammelten. Jeder Versuch, einzelne Elemente oder die Teilnehmer selbst als die Realität der Eucharistie zu präsentieren, muss scheitern (die aus evangelischer Sicht katholischen bzw. pfingstlichen Irrtümer der „Realpräsenz“), vielmehr bleibt Christus in, mit und unter der Feier (so die bleibende Formulierung Luthers) verborgen, aber als Verborgener ist er real präsent.

Die volle sichtbare Realität steht noch aus (allerdings als eine dem Glauben gewisse feste Zusage und nicht als vage Hoffnung auf einen Sankt-Nimmerleins-Tag), hat aber jetzt schon konkrete wirkliche Folgen: Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Früchte und Folgen können zusammengefasst werden im Begriff der Nächstenliebe, also der Fähigkeit, „nichts für sich selbst zu sein zu vermögen“ (nach der Wendung von Eberhard Jüngel). „Christus in mir“ bedeutet, dass ich nicht zur Selbstbehauptung gezwungen bin, dass ich mich nicht selbst verwirklichen muss, weil die für mich relevante Realität außer mir ist, eben in Christus. Und ich kann die freiwerdende Energie, die ich dann nicht mehr für mich verschwende, auf andere und anderes wenden: viel Frucht bringen! Anderen beistehen können wir auch ohne direkten Kontakt – nicht zuletzt, indem wir auf direkten Kontakt verzichten!

Und was bedeutet es, dass ich in diesen irren, wirren Zeiten keinen oder keinen gewohnten Gottesdienst und schon gar nicht mit Abendmahl feiern kann? Eigentlich weniger als befürchtet und weniger als beklagt. Mir fehlt sehr die Gemeinschaft mit den Geschwistern in Christus. Schmerzlich vermissen wir das sichtbare Zeichen, unter dem Christus konkret verborgen ist. Aber: der wäre und bliebe ja ohnehin verborgen, d.h. die Unmöglichkeit Abendmahlsgottesdienst zu feiern entzieht uns Christus nicht mehr, als dass er uns ohnehin entzogen ist (solange wir nicht dem katholischen oder dem pfingstlichen Irrtum über die Realpräsenz anhängen), zumal wir ja definitiv wissen, dass die Unmöglichkeit von Gottesdiensten zeitlich begrenzt ist. (Mit anderen Worten: Es ist schlimm, aber es gibt Schlimmeres in dieser Zeit, als auf den Gottesdienst zu verzichten!)

Wir bleiben Glieder am verborgenen Leib Christi – auch in der Phase, in der wir keine Gottesdienste in der gewohnten Form feiern können. (Manche evangelische Richtungen haben zu manchen Zeiten und Orten eine regelrechte „Abendmahlsscheu“ ausgebildet, so dass sogar ohne äußeren Zwang vielleicht nur einmal im Jahr die Eucharistie gefeiert wurde. Das muss man nicht wollen, aber es hat andererseits die solchermaßen abendmahlsscheuen Pietisten und etwa die Reformierten in Ostfriesland bestimmt nicht davon abgehalten, Glieder am Leib Christi zu sein.)

In dieser Phase ohne „normale“ Gottesdienste ist unsere Zuversicht gefragt auf ein Ende der Seuche („tutto andrá bene!“) und unsere Phantasie, Gott anders und auch zu Hause zu feiern: mit einem Vaterunser zum Glockenschlag am Mittag, mit einer Bibellesung, einem Hausabendmahl, mit den vielfältigen Angeboten im Fernsehen und im Internet. Wenn wir es glauben, bleiben wir Glieder am verborgenen Leib Christi. (Und ich werde auch mit meinen Lieben zu Hause einen guten Schluck Rheinwein trinken auf das Wohl der Lieben, die woanders sind – und dabei den Ambivalenzen meiner Geschöpflichkeit trotzen!)

Klaus Neumann, Pfarrer