Silvester 2023

Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon.

Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes.Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll. Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist. (Prediger Salomo 3,1-15)

Nach einem Jahr voller Schrecken – annus horibilis! – hören wir auf dieses berühmte Bibelwort: Alles hat seine Zeit. Wir hören darauf auf der Suche nach Trost; dass es uns Spuren Gottes zeigen möge in dem ganzen Chaos, das wir Menschen auch in diesem Jahr angerichtet haben. Solche Spuren seines Erscheinens, die man mit Recht Wunder nennen kann, würden aus diesem Jahr kein Wunderjahr – kein annus mirabilis – machen, aber vielleicht doch etwas Licht in der Finsternis und Silberstreifen am Horizont aufzeigen. Alles hat seine Zeit, wie ist das gemeint?

Alles hat seine Zeit: Wenn sich, wie gar nicht so selten, Angehörige eines Verstorbenen dieses Bibelwort für die Trauerfeier wünschen, stelle ich – mir und Ihnen – den Autor unserer Verse, den Prediger Salomo, als alten, weisen Menschen, als Freund der Weisheit vor, genau: als Philosophen vor, der über sein Leben nachdenkt und über das Leben von uns Menschen überhaupt. Der sein Alles hat seine Zeit nicht resigniert meint, sondern der die Wechselfälle des Lebens in sein Leben integrieren kann; auch weil er so viel gesehen und erlebt hat.

Der mit seinem Alles hat seine Zeit nicht meint, dass etwa alles gleich gültig wäre, um darauf in Gleichgültigkeit, – oder wer weiß: in „Melancholie“ zu verfallen, sondern der einsieht, dass in einem langen, in seinem langen Leben für vieles, auch für vieles Gegensätzliche ein Platz ist. Und dass dieses alles – unsere Zeit und jeder ihrer Momente – in Gottes Ewigkeit gehalten und getragen ist.

Allerdings: Gerade das scheinbare Gleichgewicht der Gegensatzpaare muss ja irritieren, da sie in Wahrheit weder von uns noch von Gott gleich gewichtet werden; damit hält der Prediger nebeneinander, was so schwer auszuhalten ist: das Böse und Schlechte neben dem Guten, den Hass neben der Liebe, das Hässliche neben dem Schönen; Krankheit, Gewalt und Tod mitten im Leben.

Man kann dann – ausreichend irritiert – durchaus fragen, ob sich dieser gewichtige Text wirklich für die im Zusammenhang einer Trauerfeier angemessene Würdigung eines Menschenlebens eignet, die doch nicht auf das allgemein Gültige sondern das unterscheidend Besondere abzuheben hat: auf den Unterschied dieses zu anderen Leben.

Und man kann sich weiter fragen, ob der Autor mit seinem Wort Alles hat seine Zeit insgesamt die Unterschiede des von Gott Gewollten und von Menschen Gewünschten zu den ganzen Gottlosigkeiten und Unmenschlichkeiten ununterscheidbar verwischt – und damit in letzter Konsequenz die Idee des jüdischen und des christlichen Glaubens schmerzhaft verletzt und sogar verlässt, die doch beide gleichermaßen auf die Durchsetzung von Gottes gutem Willen zielen: „Friede auf Erde, den Menschen seines Wohlgefallens!“ Wie es uns die Engel vor ein paar Tagen gelehrt haben.

Für diese – ihrerseits irritierende, unfromme, unorthodoxe und häretische – Deutung des Prediger Salomos spricht der Kontext seiner Worte, insbesondere der Anfang seines Buches, von dem unser Alles hat seine Zeit nur die Fortsetzung ist: Alles ist eitel, heißt es dort.

Alles ist eitel. Es ist alles ganz eitel und ein Haschen nach Wind – wie Luther übersetzt. Vanitas Vanitatis – Eitelkeit der Eitelkeiten – hat er in der lateinischen Übersetzung vorgefunden; und im wie so oft anschaulicheren und konkreten hebräischen Original steht: Häbäl Habelim – Windhauch der Windhauche.

Der unbekannte Autor, der erst mit der Zeit mit dem weisen König als Prediger Salomo identifiziert wird und so überhaupt erst mit seinem Text Eingang in die Bibel gefunden hat, meint damit, dass beides, menschliche Erkenntnis wie auch ihr Gegenstand, womöglich Gott selbst – Windhauch und Haschen nach Wind ist: Häbäl Habelim; alles ist eitel.

Einer unserer Lehrer in Mainz, der sein ganzes Forscherleben mit dem Prediger Salomo verbrachte, hielt in Anlehnung an Albert Camus folgende Übersetzung des Alles ist eitel für besonders treffend: Alles ist absurd. So wie im antiken Mythos Sisyphos täglich seinen Stein nach oben rollt, nur um ihn abends wieder den Berg hinunterrollen zu sehen, sind auch nach Ansicht des Predigers alle menschlichen Bemühungen um wahres Denken und richtiges Handeln vergeblich, eitel, Haschen nach Wind, absurd. Der Mensch kann dem, was schon immer war und für immer sein wird, niemals nichts durch nichts hinzufügen; sondern er bleibt gefangen in seiner sinnlosen, absurden Existenz.

In diesem Zusammenhang ist unser heutiges Alles hat seine Zeit schwer erträglich, umso mehr, wenn es wahr sein sollte. Denn angesichts von kommenden Katastrophen und gegenwärtiger Krisen und Kriegen – das reicht jetzt mal! – lässt sich kaum fröhlich resignieren, wie es der Prediger empfiehlt: dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. Das kann es nicht sein, was aber dann?

Es bleibt nur der Widerspruch aus der jüdisch-christlichen Tradition heraus, die auf ein moralisches Universum insistiert und mit dem Erscheinen Gottes rechnet, warum denn nicht mit dem Wunder, dass wir dieser Tage gefeiert haben; einem Wunder das dem gleichförmigen Chaos der natürlichen Welt Gottes Ordnung entgegensetzt. Für das Wunder aber gilt:

„Wirklichkeiten erschließen sich, Möglichkeiten werden einem zugespielt, Mögliches stellt sich ein, Unwahrscheinliches wird wahrscheinlich, Erwartetes bleibt aus, Unerwartetes überrascht, Neues geschieht, die Welt gerät aus den Fugen, das Leben nimmt Wendungen, die nicht absehbar waren, Ordnungen brechen zusammen, neue Ordnungen bahnen sich an, Vertrautes verliert seinen Sinn, Unbeachtetes gewinnt ungeahnte Bedeutung.“ So der Theologe Ingolf Dalferth über das Erscheinen Gottes im Wunder (in einem Zeitschriftenartikel über die Erscheinung Gottes, 2023), auf den wir schon am Heiligen Abend gehört haben.

Der abgeklärten Weltsicht des Prediger Salomo ist unbedingt diese gespannte Erwartung der Wunder Gottes entgegenzusetzen. Statt allem – nur weil Alles seine Zeit hat – gleiche Gültigkeit zuzusprechen und darüber in Gleichgültigkeit zu verfallen, ist es an uns, die Wunder Gottes zu erkennen und anzuerkennen; noch im Jahr 2023 – eher Jahr der Schrecken als Jahr der Wunder – wird es solche Wunder gegeben haben.

Und so nehmen wir in der Hoffnung, dass Gott neue Schrecken verhindern und neue Wunder bereiten möge, das neue Jahr aus seiner Hand.