„Stille Post“ zur „Stillen Nacht“:
Von Kindergeburtstagen – und heute feiern wir ja den Geburtstag eines Kindes – von Geburtstagsfeiern kennen wir das Spiel „Stille Post“, das geht etwa so: Dem ersten in einer Reihe wird ein Begriff oder ein Satz ins Ohr geflüstert, der das, was er verstanden hat, dann dem Nächsten zuflüstert und immer so weiter, bis der letzte ausspricht, was bei ihm angekommen ist. Ziel des Spiels ist – glaube ich – keineswegs die möglichst korrekte Wiedergabe des Ursprungs, auch nicht seine absichtliche Verunstaltung, sondern der kreative Umgang mit ihm, wobei jener – also der Ursprung – schon irgendwie auch im Ergebnis anklingen sollte. Wenn es gut läuft, macht das einen Riesenspaß und vermittelt obendrein spielerisch etwas von der kreativen Dynamik eines Überlieferungsprozesses. Einiges geht verloren, anderes wird gewonnen, wie immer kommt es darauf an, dass die Bilanzen stimmen.Und die frühen Redakteure der Bibel werden gewusst haben, warum sie das so betonen, dass kein Wort abgezogen und kein Wort hinzugefügt werden darf – denn genau das haben sie getan und genau so ist die Bibel entstanden!
Es mag etwas frivol klingen, die Erfahrungen mit der „Stillen Post“ auf Bibel und Weihnachtsbotschaft anzuwenden; und wie jeder Vergleich hinkt natürlich auch dieser gewaltig, enthält aber dennoch das eine oder andere Körnchen Wahrheit, vor allem die Wahrheit, dass wir uns gegenseitig die Weihnachtbotschaft so weitersagen sollten, dass sie neuund interessant klingt, obwohl wir sie ja gut kennen, sie „alle Jahre wieder“ hören und schon oft gehört haben; also dass eine Pointe in ihr laut wird, die uns überraschen kann, ohne uns zu befremden. Das Alte neu hören; und im Neuen das Alte wiedererkennen.
Und uns froh und fröhlich machen, das darf sie dabei auch; auch wenn es zunächst gar nicht danach klingt. Auch die Ursprungsgeschichte erzählt ja kein bürgerliches Idyll und schon gar keine Hüttengaudi zum Schenkelklopfen, sondern erzählt von denkbar prekärenFamilienverhältnissen, von Armut und Mangel, erzählt vom Leben unter einem gewaltbereiten Besatzungsregime, von Nacht und Not – und erst dann von „großer Freude“ jubelnder Engel. Die Engel wissen schon mehr als die Familie im Stall und die Hirten auf dem Feld, und viel mehr als wir hier. Wussten wir mal mehr? Waren wir früher frommer? War mehr Lametta?
Wer die öffentliche Diskussion über Kirche und Glaube verfolgt, wundert sich, dass es uns noch gibt. Wenn ich in den letzten Wochen und Tagen richtig gelesen habe, schreibt selbst die für konservativ geltende Presse die Kirchen – und keineswegs nur die unter ihren Skandalen ächzende katholische Kirche – als gesellschaftliche und mehr noch als moralische Größe ab; geschieht uns recht, könnte man sagen, denn auch wir Evangelischen lassen ja keinen Quatsch aus, den wir dann auch noch Kirchenreform nennen: „ecclesia semper deformanda“. Von wegen „Stille Post“ zur „stillen Nacht“; die Boten scheinen doch eher zu verstummen. Das Ende des Konstantinischen Zeitalters, in dem der christliche Glaube anerkannt und verbreitet war, der Untergang des christlichen Abendlandes scheint unaufhaltsam. Es sei denn, es sei denn … die Botschaft erwiese sich als haltbarer als ihre Boten.
Die Weihnachtsgeschichte führt uns in vorkonstantinische Zeiten, ins Morgenland zurück; es ist der Kaiser Augustus, der die Welt regiert, ihr mit harter Hand seinen Willen als „Pax Romana“ aufzwingt; mit harter Hand und seinen Legionen, die nur wenn sie frech geworden ausnahmsweise im winterlichen Matsch unwegsamer Wälder stecken bleiben. Und das alles haargenau in dem Moment, in dem Gott durch seinen Sohn einen ganz anderen Frieden – den „Schalom Gottes“ – aufziehen lässt. Zeitenwende – aber richtig! Zeitenwende, nach der unsere Zeit gerechnet wird, seit 2022 Jahren, wie lange noch?
Der Evangelist und Chronist Lukas gibt sich alle Mühe, seine Geschichte vom Rande der damals bekannten, also römischen Welträumlich und zeitlich einzuordnen: Kaiser, Statthalter, Provinz, Zeit und Anlass weiß er zu nennen. So genau hätten wir es gar nicht wissen müssen; ob er es denn so genau wusste? Aber seine Absicht ist natürlich klar: das Weihnachtswunder ist in die wirkliche Welt hineingeschehen und bildet den größten möglichen Kontrast zu allem, was im Imperium Romanum Rang und Geltung hat. Denkt euch das unbedeutendste Geschehen im armseligsten Nest in der abgelegensten Gegend, und zieht dann noch einmal die Hälfte ab, oder legt eine Schippe drauf – so kontrastiert Lukas Bethlehem und Rom. Wenn Rom der Nabel der Welt ist, dann Bethlehem der … aber lassen wir das! Und von diesem Ursprung betrachtet war es vielleicht verständlich aber eben nicht die beste Idee des entstehenden Christentums, sich ausgerechnet in Rom sein Zentrum zu suchen. Das Konstantinische Zeitalter mit Rom als seinem Gravitationspunkt – ein Irrtum? Der Weg nach Rom – ein Irrweg? Da sind schon andere draufgekommen.
Kein Haus sondern ein Stall, keine Herberge – geschweige denn Tempel oder Palast – sondern eine Krippe ist der Ort der Geburt des Heilands; gleich dreimal kurz hintereinander nennt der Evangelist Lukas diesen für Geburtszwecke reichlich ungeeigneten Ort: „in der Krippe“; immerhin widerholt er auch das „In-Windeln-Gewickelt“ des Knäbleinsmit allen olfaktorischen Implikationen: auch die Windeln des Heilands werden nach Bedarf gewechselt worden sein. „In Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend“ soll heißen: ärmlich, aber versorgt;unbequem, aber sauber; nackt, aber die Blöße bedeckt; an abgelegenem Ort, aber nicht schutzlos abgelegt.
Gemessen an den armseligen Umständen ist viel los in oder bei jener Krippe in Bethlehem: Engel aus dem Himmel und Hirten von der Herdefinden sich ein, viel Aufmerksamkeit für eine junge Familie, die sich in der neuen Situation erstmal einrichten muss. Mit der im Vergleich zu Lukas ganz anderen Geburtsgeschichte des Matthäus denken wir unwillkürlich weitere Besucher, weitgereiste Weise und Sterndeuter,dazu – aus denen ein langer Prozess „Stiller Post“ die „Drei Heiligen Könige“ gemacht hat, für deren Verehrer es sich sogar irgendwann gelohnt haben muss, namenlose Gebeine aus Mailand ins heilige Köln zu verbringen. Aber sogar Namen für die Könige haben Hellhörigen im Geflüster der Überlieferung herausgehört: Caspar, Melchior und Balthasar, die von lateinkundigen Mitflüsterern als Segenswort abermals dechiffriert wurden: C-M-B: Christus mansionem benedicat: Christus segne dieses Haus!
Und wenn wir gerade dabei sind: In einer weiteren Kapriole hat die Überlieferung ausgerechnet auf dem Gebiet des ehemaligen und in seinen Ruinen immer noch unübersehbaren römischen Reiches aus dem anderen Namen des Dreikönigsfestes – Epiphanias – eine Knusperhexe heraus- oder hineingehört, eine Rosina Leckermaul auf Italienisch, die am Ende der Weihnachtszeit die Kinder mit Süßigkeiten beschenkt: die gute Hexe Befana – von der ist es nur ein kurzer Weg durch „die Nacht ohne Sterne und Mond“ zu Humperdincks Meisterwerk für die Weihnachtszeit – „Hänsel und Gretel“ natürlich – , das übrigens übermorgen zum letzten Mal in dieser Saison in Wiesbaden aufgeführt wird. Vielleicht gibt’s noch Karten.
„Wahr“ ist das, wie alle solche Geschichten wahr sind, nämlich als Anwendungen der Weihnachtsbotschaft auf uns selbst, höchstpersönlich und individuell. So wie Engel, Hirten und Weise das Kindlein segnen, seine Eltern, seinen Stall segnen – so möge es uns segnen. Unser Haus soll an Weihnachten zum Stall von Bethlehem werden, in dem wir uns um die Krippe versammeln; und hier in der Thomaskirche ist das sogar an der schlichten, stallartigen Wandgestal(l!)tung zu besichtigen; kein üppiger Schmuck wie sonst vielfach in den Knusperhäuschen des Historismus, sondern eine schlichte Bretterwand, der signature move,unseres Baumeisters Rainer Schell! Wir haben es direkt vor Augen: Hier und heute ist Bethlehem, ist Heiliger Abend, ist Weihnachten, mit uns hier im Stall, weitgehend ohne Geruch. Das geht in Ordnung.
Weihnachtsüberlieferung ist kulturelle Aneignung in Reinform und auf Gegenseitigkeit. Sie fordert unser eigenes Bestes und sie schenkt uns das Beste eines anderen, des ganz Anderen; mit den Worten unserer Geschichte: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens. Was ersehnen wir uns mehr als Frieden! Frieden auf Erden – ganz besonders im geplagten Land der Ukraine und dass die Legionen des Gewalttäters in Matsch und Wald stecken bleiben mögen – wie damals der verblendete und unglückselige Feldherr des Augustus ziemlich ungefähr zur Zeit Jesu Geburt!
Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens. Auch an dieser berühmten Stelle haben bekanntlich nicht alle dasselbe gehört und dasselbe weitergegeben; noch Luther hat mit wichtigen Textzeugen Friede auf Erden den Menschen ein Wohlgefallengelesen und es ist nicht lange her, dass ich in einem bitterbösen Brief der Bibelfälschung bezichtigt wurde, bloß weil ich mit der wahrscheinlich originalen Version Menschen von Gottes Wohlgefallen angeblich ausgeschlossen hätte. Dabei ist der Unterschied ein nur scheinbarer, denn auch die Fassung Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens schließt keineswegs jemanden aus, wenn man bedenkt, dass alle Menschen unter Gottes Wohlgefallen stehen. Auch wenn wir uns von Gott abwenden mögen, wird er sich doch uns immer wieder zuwenden. Gottes Art der Zuwendung zu uns Menschen ist sein Wohlgefallen, das sich als Frieden – als Schalom – äußert: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.
Solches hörend, brechen die einen – mit den Hirten – in Lob und Jubel aus; andere – mit Maria – bewegen es still in ihrem Herzen, die Temperamente sind verschieden; nicht jeder ist auf dieselbe Weise religiös musikalisch, mancher gar nicht und wendet sich ab, wie Schade. Dabei kann ich nicht glauben, dass es an dieser durch und durch frohen Botschaft liegen soll, eher doch an den Boten, die beim Flüstern nuscheln, oder gleich ganz verstummen. Wir jedenfalls wollen jetzt gemeinsam darüber laut werden: Ehre sei Gott in der Höhe!