Winterkirche und Gemeinsame Gottesdienste

Der Kirchenvorstand der Thomasgemeinde hat beschlossen, dass wir in den Wintermonaten, Januar bis März 2023, den Gottesdienst im Gemeindehaus feiern. Der offensichtliche Grund für diesen zeitweisen Umzug aus der Kirche, die dann kalt bleiben kann, ist die erwartete Energiekrise, wegen der die Kir-chenleitung empfiehlt, Möglichkeiten der Einsparung wie diese zu erproben. Wir planen, dass wir zu Palmsonntag am 2. April 2023 wieder in unsere Thomaskirche einziehen können. Auch das Gemeindehaus bietet einen geeigneten Rahmen für Gottesdienste, insbesondere technische Möglichkeiten, ein Bild auf die große Leinwand zu projizieren und es so zum Gegenstand der Betrachtung zu machen. Als weitere Maßnahme empfiehlt unsere Kirchenleitung, Gottesdienste in der Nachbarschaft gemeinsam zu feiern. Auch diese Möglichkeiten wollen wir nutzen und planen im neuen Jahr, zunächst in den Wintermonaten Gemeinsame Gottesdienste im Nachbarschaftsraum in jeweils einer der vier beteiligten Gemeinden für alle Gemeinden (bitte die unterschiedlichen Uhrzeiten beachten!). Mitfahrgelegenheiten wird es geben:

Sonntag, 22. Januar, 10 Uhr im Gemeindehaus der Thomasgemeinde
Sonntag, 12. Februar, 11.00 Uhr im Gemeindehaus der Versöhnungsgemeinde
Sonntag, 19. März, 10.00 Uhr in der Thalkirche in Sonnenberg
Sonntag, 30. April, 17.00 Uhr in der Ev. Kirche in Rambach

An den anderen Sonntagen finden die Gottesdienste wie üblich in den Gemeinden statt.

20. Sonntag nach Trinitatis, 30.10.2022

Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine gewaltige Flamme. Viele Wasser können die Liebe nicht auslöschen noch die Ströme sie ertränken. Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, würde man ihn verspotten. (Das Hohelied Salomos 8,6b-7)

Das letzte Mal, dass ich dieses Buch der Bibel – das Hohelied Salomos – aufgeschlagen habe, um darüber zu predigen, das war auf einer weißen Insel im blauen Mittelmeer dieses Jahr; auf einer Insel, was sag ich? – auf der Insel der Inseln – auf Capri! Schönheit, die man kaum aushalten und der auch die Masse der Besucher nichts anhaben kann; Hort der Sehnsucht und der Leidenschaft seit Menschengedenken.

Und dann auch noch in Sichtweite, aber in wohl sicherer Sichtweite des immer noch aktiven Vulkans, des gefährlichsten Vulkans Europas, der vor 78 Jahren sicher nicht zum letzten Mal Wut und Feuer gespuckt hat – Seine Glut ist feurig und eine gewaltige Flamme – , wie er es immer wieder getan hat, besonders gründlich und grausam im Jahre 79, was heute noch in Pompeji, dieser in Asche bedeckten Stadt, zu besichtigen ist: ein Ort wie das Totenreich. Ausgestreckt die von Glut, Feuer und Asche bedeckten Leiber, auch die ineinander verschlungenen Leiber von Liebenden, deren Umrisse in der Asche noch zweitausend Jahre nach ihrem Ende sichtbar sind, bzw. durch die berühmten Gipsabdrücke sichtbar gemacht wurden: Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich.

Für ihr Fest in Capri haben die beiden Liebenden – einer davon aus unserer Gemeinde, die andere aus Land und Gegend selbst – sich ein Wort aus dem Hohelied Salomos ausgesucht, nicht weniger schön und nicht weniger gefährlich als der Ort selbst: Steh auf, Nordwind, und komm, Südwind, und wehe durch meinen Garten, dass der Duft seiner Gewürze ströme! Mein Freund komme in seinen Garten und esse von seinen edlen Früchten. (Das Hohelied der Liebe 4,16) Sie können sich denken, welche Herausforderungen den Prediger über solche Verse treffen, damit er sein Thema nicht verfehlt, ohne unschicklich zu werden.

Ein Predigttext aus dem Hohelied Salomos gehört zu den seltenen Vergnügen von Prediger und Gemeinde und wenn nicht die Traupredigten wären, für die sich dann und wann ein Paar einen Vers aus diesem Buch aussuchte, müssten wir beinahe ganz darauf verzichten; aber beides – Seltenheit und Vergnüglichkeit – hat seinen Grund, und zwar ein und denselben; und man fragt sich, ob die beiden Glücklichen überhaupt wissen, was sie sich da aussuchen und wünschen: Ein Wort aus dem Hohelied der Liebe, einem Buch der Bibel zum rot werden auf jeder Seite, so deftig und saftig wird da von der Liebe gesprochen von einem der offensichtlich weiß, wovon er spricht; jeder erotisch relevante Körperteil – und welcher wäre das nicht? – wird in den glühendsten Bildern und Farben beschrieben – und dabei Gott kein einziges Mal erwähnt. Wer´s nicht glaubt, soll gerne selbst mal um unsere Verse im 8. Kapitel herumlesen; und wer sich dann nicht der erotischen Unverblümtheit, oder eher der eindeutigen Verblümtheit wunderte, dem wäre nicht zu helfen.

Es gibt genug Theologen, die es für einen genialen Irrtum halten, dass dieses Buch fleischlicher Gesänge unter falscher Flagge, nämlich des Salomon, in den Hafen der Bibel gesegelt ist; aber es wären keine guten Theologen, die das Buch und solche Verse nicht getauft und nicht so gedeutet hätten, dass sie für sie am Ende von Gottes Liebe sprechen; eigentlich schade aber wahrer als man zuerst denkt.

Die religiöse Aneignung dieser und der anderen sinnlichen Verse aus dem Hohenlied der Liebe bestand in ihrer hemmungslosen Spiritualisierung; also dass die auf die körperliche Liebe abzielenden Metaphern nun als Bilder der geistigen, göttlichen Liebe gedeutet werden. – Wenn Gott zwar nie genannt wird, wird er wohl immer gemeint sein. – Das muss man nicht für platonisch-christliche Verklemmtheit halten (zumal sich diese Interpretation schon bei den jüdischen Gottesgelehrten findet), sondern das vollzieht nur in der Poesie nach, was Gott durch die Evolution in der Biologie ins Werk gesetzt hatte: das körperliche Begehren im Dienste höherer Zwecke, die erotische Liebe als Lehrerin der agapischen Liebe.

Die griechische Sprache macht hier einen deutlichen Unterschied, den die deutsche nicht kennt. Das deutsche Wort Liebe umschließt beides, die begehrende Liebe des Eros wie auch die empfangende Liebe der Agape, wobei, wie wir allein schon an der antiken Interpretation des Hohelieds Salome erkennen, die eine durchaus Metapher der anderen sein kann. Und vielleicht enthält ja gerade der vereinheitlichende und vermeintlich ungenauere deutsche Sprachgebrauch die tiefere Weisheit, dass Liebe im eigentlichen Sinne umfassend und ganzheitlich zu verstehen und auch zu praktizieren sei. Es fehlt der Liebe etwas, wenn ihr einer der eigentlich so unterschiedlichen Aspekte fehlt. Begehren und Empfangen, menschliche und göttliche Liebe, könnten enger zusammengehören als es die griechische Schulweisheit wissen wollte.

Was sie aber zusammen mit dem unter dem Namen des großen Liebhabers und Königs Salomo dichtenden hebräischen Dichter zu wissen glaubt und wir ihr darin gerne folgen, ist die unüberwindliche Stärke der Liebe, die selbst nicht vom Tod überwunden werden kann, sondern ihrerseits den Tod überwindet: Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich.

Paradoxerweise und tragischerweise zugleich erkennen – und erleben wir womöglich selbst – die Wahrheit dieses Wortes im Tod des geliebten Menschen, der der Liebe zu ihm kein Ende zu setzen vermag. Über den Tod hinweg verbinden uns unsere Gefühle mit dem Verstorbenen, hält uns unsere Liebe zusammen, hält, obwohl uns der Tod längst geschieden hat.

Auf einer ganz anderen Insel als der vorhin erwähnten, umflossen von Atlantik und Ärmelkanal, in Großbritannien natürlich, viel kälter die Wasser, schlechter das Wetter und angeblich viel gefühlskälter die Menschen, gibt es ein bewegendes – und bestimmt nicht nur dieses eine bewegende – Zeugnis und Denkmal der Liebe – nämlich das heute noch hoch aufragende Albert-Memorial im Hyde-Park in London, das die nicht eben für ihre feurige Liebe bekannte Königin Viktoria ihrem Prinzgemahl Albert nach dessen Tod gestiftet hat und damit ihre unerloschene und nie erlöschende Liebe zu ihm zeigen wollte.

Ähnlich unserer golden leuchtenden Griechischen Kapelle in Wiesbaden, die ja als Grabmal vor allem Denkmal der überschwänglichen Liebe eines hessischen Fürsten zu einer russischen Zarentochter ist. Nicht jeder von uns kann auf diese Weise seiner Liebe ein Denkmal bauen, aber nachvollziehen und fühlen, um was es hier geht, können wir schon; uns davon berühren lassen und in uns wiederfinden, doch auch. Unsere Fähigkeit um unsere Liebsten zu trauern, jede Träne um sie, ist ein Denkmal unserer Liebe.

Der christliche Glaube ist hier noch einen kühnen Schritt weiter gegangen, indem er im Tod selbst das unerfindbare Zeichen der Liebe Gottes zu uns Menschen gesehen und gefunden hat. Der, der nichts für sich selbst zu sein vermag, will uns alles sein. Seine Liebe überwindet den Tod, indem er ihn mit uns und für uns erleidet. Indem wir das erkennen und glauben, empfangen wir die Liebe Gottes, die den Tod überwunden hat.

Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich.

Predigttext für den 17. Sonntag nach Trinitatis, 9. Oktober 2022

Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will. Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott. Und nun spricht der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem Herrn wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –, er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde. (Buch des Propheten Jesaja 49,1-6)

Inseln am Ende der Erde:

Gestern Abend ist unsere liebe Freundin, Sophie Meine – stellvertretende Vorsitzende unseres Kirchenvorstandes – mit ihrer Familie zu einer Insel, zu fernen Völkern am anderen Ende der Erde aufgebrochen, nach Neuseeland; sie sitzen wohl noch immer oder schon wieder Flugzeug, nach einem Stopover in Singapur, konnten dort ihre Füße vertreten, es ist nett dort, mehr als das, wunderschön und schön warm, dort hat meine Frau als Kind ein paar Jahre den schweizerischen Kindergarten besucht. Bis nach Neuseeland – oder Ao-tea-roa – ist es von da noch ein Stück. So klein ist die Welt; so groß ist die Welt!

Auf Inseln am Ende der Erde werden auch wir heute geführt; zumindest in Gedanken.

Mit unserem Predigttext aus dem Buch des Propheten Jesaja begegnen wir heute einem wegweisenden Dokument unserer Religion, also natürlich zuerst der Religion des alten Israel und insofern und deshalb auch unserer christlichen Religion; einem Dokument, das die universalistische Wende markiert, die Ausweitung des Blicks vom Heiligen Land und von Gottes Volk auf die ganze Welt und alle Völker – bis an die Enden der Erde. Gottes Wort und Gottes Recht gelten allen Menschen; „Kirche für andere“ – im weitesten Sinne des Wortes. Der Prophet, der Knecht Gottes, ein neuer Mose, soll seine Stimme an wirklich alle Menschen richten – und macht so erst die Botschaft Jesu an alle Völker und die Mission des Paulus bis an die Enden der Erde möglich; wobei es unerheblich ist, dass für Paulus sein Ende der Erde in Nordspanien lag, denn auch unser Prophet meint mit den fernen Inseln wohl die für ihn fernen Inseln der Ägäis – und nicht die fernen Archipele der Südsee: Ao-tea-roa!

Jesaja und die Propheten, die sein Buch unter seinem Namen fortgeschrieben haben, müssen wir uns nicht unterwegs beim Segeltörn denken und ob sie ein Sabbatical eingelegt haben wie unsere zweite KV-Vorsitzende, wissen wir auch nicht; sie sprechen jedenfalls zu uns Daheimgebliebenen und nehmen uns so mit in die Ferne. Sie erweitern unseren Horizont, befreien uns aus den Verengungen unserer kirchlichen Milieus, wollen uns davon überzeugen, dass das, was wir im Namen Gottes sagen – und vielleicht wieder einmal nur zu wenigen sagen können, – eigentlich allen Menschen und auf der ganzen Welt gesagt und zugesagt ist: Gottes Heil, Rettung – die Jesaja und Jesus in ihren Namen tragen – Frieden und Segen.

Mit dem heutigen Text werden wir Zeugen, mehr noch Adressaten, einer Grenzüberschreitung, die wie jede Grenzüberschreitung ihr eigenes Problem in sich trägt und im schlimmsten Fall ein Missbrauch von Gottes guter Botschaft in alle Welt sein kann. Das soll aber nicht sein und das ist also unsere Verantwortung, Grenzen zu überschreiten, ohne sie zu verletzen; wir sind aufgefordert, ohne Rückfall in koloniale Muster oder imperiale Interpretationen unseren Glauben global zu denken, weil er nämlich global gedacht und gemeint ist, wie wir ja heute nicht zum ersten und nicht zum einzigen Mal hören: „Also hat Gott die Welt geliebt, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.“.

Gerade in Perioden weltweiter Krisen – wie wir sie erleben – kann es nicht darum gehen, durch kulturelle – oder für uns Christen: religiöse Selbstabschließung – also durch Lockdown! – vermeintlich retten zu wollen, was zu retten ist; im Gegenteil: Religion braucht Luft zum Atmen, Freiräume des Glaubens, Erfahrungen, die wir noch nicht gemacht haben.

Es sollte sich aber ebenso verbieten, unsere eigene kulturelle Aneignung des christlichen Glaubens, anderen als Norm aufzuzwingen. Nicht weil bei uns – aber was ist eigentlich mit diesem „uns“ gemeint? – alles in bester Ordnung wäre – was es nicht ist! – soll es uns zu den anderen Menschen und an andere Orte ziehen und denen unsere Ordnungen auferlegen, sondern weil wir doch unübersehbar und unzweifelhaft im Glauben fortwährend scheitern: Deshalb sendet uns Gott auf die Inseln an die Enden der Erde. Nicht dort weit weg ist Exil, wo neue Chancen sich eröffnen, sondern hier ist unser Exil in der Gefangenschaft unserer Routinen und Frustrationen und verpassten Möglichkeiten, die heutige „babylonische Gefangenschaft der Kirche“. Deshalb meint Gott: Wenn wir es alleine nicht hinkriegen, dann vielleicht mit den anderen?

Und das ist doch die unwahrscheinlichste aller Pointen unseres Predigttextes: Der prophetische Knecht Gottes bekommt seinen neuen Auftrag, aber nun nicht weil er den bisherigen so gut gemacht hätte, sondern obwohl er ihn so schlecht gemacht hat (was wir als persönliches Wort Gottes an uns hören können): Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Der namenlose Prophet, der sich in der Nachfolge des Jesaja mit dessen Namen kleidet, trifft ziemlich genau die Stimmung und das Lebensgefühl von vielen Engagierten in unserer Kirche: Vergebliche Arbeit, verzehrte Kraft, das gut gemeinte Engagement: umsonst und unnütz.

Und da ist eben nicht nur der besinnungslose Taumel einer bald dreißigjährigen Reformtherapie unserer Landeskirche die eigentliche Ursache, die keine Probleme beseitigt sondern unaufhörlich neue schafft (mit Woody Allen gesprochen eine Therapie, die uns nach Jahren ihrer Anwendung nicht der Sabberlätzchen entwöhnt sondern sie uns immer wieder neu umbindet), sondern die eigentliche Ursache ist die erst in der Pandemie unmissverständlich offenbar gewordene Systemirrelevanz unserer Kirche in der postreligiösen Gesellschaft: umsonst und unnütz. Let´s face it!

Mein Großonkel hat mir als Kind einen wenig schmeichelhaften Namen angeheftet. Für ihn war ich der Unnütz (auch heute nennt mich noch mancher so). Für diesen Großonkel Karl, einen sein Leben lang als polnischer Exilant am Hochofen bei Krupp schuftenden Arbeiter war der kleine Schöngeist genau das: der Unnütz, von dem auch in Zukunft keine Nützlichkeit oder auch nur Leben aus eigener Kraft zu erwarten war, was sich weitgehend bewahrheitet hat, denn so kann ich heute als Pfarrer dieser Kirche sprechen: Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.

Der prophetische Knecht Gottes lädt uns ein, es nicht bei einem solchen Unnützlichkeitsurteil über uns selbst zu belassen, wenn er seine Rede sogleich fortsetzt: Doch mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott. Und ich bin vor dem Herrn wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke.

Unsere eigene, nicht zu verbergende, noch nicht einmal vor uns selbst zu verbergende persönliche Schwäche ist nach Meinung des Propheten völlig irrelevant für den Auftrag Gottes. Der hat uns schon im Mutterleib erwählt und noch vorgeburtlich ausgestattet mit allem, was wir brauchen für unseren Dienst: die starken Waffen seines Wortes. Und Gott schenkt uns dazu das, was wir uns von Dienstherren und Vorgesetzten, auch der Kirchenleitung vor Ort, so sehr wünschen und so oft vermissen: eine echte und ehrliche Wertschätzung unserer Bemühungen, die uns sagen lässt: Ich bin vom Herrn wert geachtet.

In weiteren Texten im Buch des Propheten Jesaja, den anderen sogenannten Gottesknechtsliedern, ist unser Prophet noch deutlicher geworden, wenn er die dialektische Verschränkung von menschlicher Schwäche und göttlicher Kraft zur Vorlage des Evangeliums des Gekreuzigten macht: „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig“, Gottes Kraft ist in uns Schwachen mächtig: Unnütze, die wir sind, stellt er uns in seinen Dienst.

Das ist unsere letzte und einzige Hoffnung, und sie reicht weit – bis zu den fernen Inseln, wie wir heute gehört haben, wo unsere Freundin und Kirchenvorsteherin unserer Gemeinde nun für eine ganze Weile leben wird, am anderen Ende der Erde.

Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe

„Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe, der da reicht von der Erde bis zum Himmel“, was der Autor, Martin Luther, vor ziemlich genau 500 Jahren (in seiner Predigt am 7. Tag nach dem Sonntag Invokavit, am 15. März 1522), vielleicht nicht ganz so überschwänglich ausgesprochen hätte in einem backheißen Sommer wie diesem. Er selbst und seine Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts hatten eher mit dem Gegenteil, einer sogenannten „kleinen Eiszeit“ zu kämpfen, die aber ebenfalls Missernten und Not mit sich brachte; und die übrigens genau wie unsere Klimaprobleme heute die Menschen als widernatürlich empfanden. Nur dass damals der Teufel und seine Leute verantwortlich gemacht wurden und heute wir höchstpersönlich und selbst dafür verantwortlich sind.

Vielleicht hat der Autor, der nämlich gerade in seiner Predigt über das Abendmahl nachdachte, den Duft seines Abendessens in der Nase gehabt: einen leckeren Auflauf, eine raffinierte Pastete, ein üppiges Brathähnchen, wer weiß? Vielleicht hat er sich auch an die Aromen der Küche seiner Kindheit erinnert, an köstliche Kuchen von Mutter oder Großmutter, wie sie auch uns träumend nun nicht mehr in die Nase, aber in den Kopf steigen: ach, dieser Apfelkuchen! Vielleicht hatte er auch nur einfach Kohldampf; wofür einiges spricht, da seinerzeit die Kartoffel noch nicht über den Atlantik gesetzt hatte und Fleisch ein seltener Festschmaus war.

Den glühenden Backofen ohne Backduft zu denken, verbietet sich schon aus Gründen der Energieeffizienz. An kalten Tagen war ein solcher Backofen die einzige Heizung und machte die Küche zum Mittelpunkt der Wohnung. Noch lange konnte man – wie mein lieber Vater, Gott hab ihn selig, es getan hat – vom Kanonenofen der Kindheit schwärmen, um den sich an Wintertagen die Familie versammelte, dem Knistern und Knastern von Holz und Kohle zuhörte, was ja nicht selten Unterhaltung genug ist. Der nur dem Namen nach kriegerische Ofen war mit seiner abstrahlenden Wärme ein Bild des Friedens, des Wohlbehagens, der Geselligkeit und des Schutzes. Wie wird es sein, wenn wir uns womöglich im nächsten Winter um die gerade noch hastig zusammengekauften Ölradiatoren und Heizlüfter sammeln und Wärme suchen?

Gott strahlt seine Liebesenergie in die Welt hinaus. Das zu bedenken, löst zunächst keins unserer aktuellen Probleme, aber es stellt sie in ein anderes Licht. Der Mensch lebt nicht von Holz und Kohle, nicht von Atom, Gas oder Wind allein, sondern von der wie ein glühender Backofen ausstrahlenden Liebe Gottes. In der zitierten Predigt Luthers geht es um das Abendmahl als Zeichen dieser grenzenlosen, überschwänglichen Liebe Gottes – und mehr noch darum, diese Liebe unter den Menschen auszubreiten, also Gemeinschaft zu suchen, gegenseitig zu helfen, Gott im Angesicht des Nächsten zu erblicken.

Not stresst, Mangel kann entzweien, wissen wir und haben wir zuletzt mit Corona und in unserer Reaktion auf den schrecklichen Krieg in der Ukraine erlebt; Mangel und Not können aber auch Impulse zur Solidarität geben, Energien der Hilfe freisetzen; auch das haben wir in den jüngsten Krisen erfahren. Darum soll es gehen, wenn wir die Liebe Gottes spüren, dass wir sie weitergeben. Wie das am besten geht, müssen wir jeder selbst herausfinden, aber wir wissen es ja auch schon. Ich für meinen Teil habe vor, mich noch mehr als bisher an Herd und Ofen zu stellen und von dort aus Gemeinschaft zu pflegen. Es muss ja nicht jeder sein eigenes Süppchen kochen. Auch aus unserem Backofen kann zwischen den herüberwehenden Aromen von Kohl und Wurzeln die Liebe Gottes strahlen: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist“ (Psalm 34,9)

Klaus Neumann, Pfarrer der Thomasgemeinde

Predigttext für den 14. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2022

Zu der Zeit wirst du sagen:
Ich danke dir, Herr! Du bist zornig gewesen über mich.
Möge dein Zorn sich abkehren, dass du mich tröstest.
Siehe, Gott ist mein Heil,
ich bin sicher und fürchte mich nicht;
denn Gott der Herr ist meine Stärke und mein Psalm
und ist mein Heil.
Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen
aus den Brunnen des Heils.


Und ihr werdet sagen zu der Zeit:
Danket dem Herrn,
rufet an seinen Namen!
Machet kund unter den Völkern sein Tun,
verkündiget, wie sein Name so hoch ist!
Lobsinget dem Herrn, denn er hat sich herrlich bewiesen.
Solches sei kund in allen Landen!
Jauchze und rühme, die du wohnst auf Zion;
denn der Heilige Israels ist groß bei dir!
(Buch des Propheten Jesaja 12)

Das Danklied, das wir gerade gesungen haben („Nun danket alle Gott“ EG 321) und das durchaus als Echo auf Danklieder der Bibel nachklingt, war für viele Generationen evangelischer Christen berühmt als der „Choral von Leuthen“. Was haben sie damit gemeint?

Am Abend nach der Schlacht von Leuthen, am 5. Dezember 1757, sollen die 25.000 preußische Soldaten spontan dieses Lied angestimmt haben – als Lob und Dank für einen unwahrscheinlichen Sieg, den sie unter König Friedrich dem II. – dem Großen – gegen eine österreichische Übermacht errungen hatten. Von diesem Ereignis aus ist das zuvor schon überaus populäre Kirchenlied – die 25.000 werden keine Liedblätter gehabt haben und konnten es trotzdem mitsingen – zu einer nationalen Hymne des weitgehend evangelischen Preußen geworden, wobei weder der Wortlaut selbst, noch die Melodie konfessionell evangelisch und schon gar nicht preußisch militärisch gefärbt sind, wie wir uns eben im Gesang überzeugen konnten. Man muss diese Wirkungsgeschichte nicht mitsingen, meine ich, aber ganz ausblenden kann man sie doch auch nicht.

In Kriegszeiten, in denen wir leben, lässt sich der Umgang vergangener Generationen mit Krieg und Frieden noch viel weniger ausblenden. Meine Generation hatte sich daran gewöhnt, dass Krieg ein Ereignis der fernen Vergangenheit oder ferner Länder wäre, jedenfalls nichts, was uns nahekommen oder direkt angehen könnte. (Obwohl die Redeweise von der Friedenszeit nach dem 2. Weltkrieg nie gestimmt hat.)

Nun aber haben wir eine Außenministerin, die vor Kriegsmüdigkeit warnt. Kein Tag vergeht, an dem nicht über Waffenlieferungen und taktische Finessen berichtet wird. Nicht der Abbruch von Kampfhandlungen sondern nur der Sieg soll den Krieg beenden. Noch die schlimmsten Schäden erscheinen nicht als Grund, den Krieg zu beenden, sondern als Grund, den Krieg fortzusetzen. Wir waren doch – so lange ist das nicht her – darin übereingekommen, dass Krieg nicht – und noch nicht einmal für den Sieger – zu gewinnen wäre angesichts seiner Verluste und Zerstörungen, und auf einmal macht sich der verdächtig, der einen Frieden ohne Sieg dem Krieg vorzieht. Dass wir Krieg wieder für ein Mittel halten, Frieden herzustellen, muss uns bedrücken. Mich bedrückt es.

Und deshalb – weil die Zeiten so sind – erreicht mich auch der Trost unseres biblischen Danklieds nicht mit seiner ganzen Kraft; wie ihn vielleicht auch seine ersten Hörer nicht mit ganzer Kraft traf. Denn auch sie konnten noch nicht – mit den Worten unseres Liedes gesprochen – die Fülle des Heils ausschöpfen; ihre Brunnen waren versiegt oder vergiftet, sie lebten in Zeiten des Zorns und Gottes Herrlichkeit war alles andere als bewiesen. Das Volk Gottes lebte zu Lebzeiten des Propheten im Exil oder unterdrückt im eigenen Land. Stadt und Tempel waren zerstört, das Land verwüstet. Fremde Herren bestimmten das geringe Leben im Land.

Der Dank unseres Danklieds nimmt also etwas vorweg, das noch nicht zu erleben war, das noch nicht real war, das noch in der Zukunft lag: Zu der Zeit wirst du sagen; Und ihr werdet sagen zu der Zeit – meint eine Zeit, die noch kommt, die noch aussteht; eine Zeit nach Unterdrückung und Krieg; eine Zeit nach Zerstörung und Gewalt. Wenn das alles geschehen und vergangen ist, dann ist die Zeit dieses Lobs und dieses Danks.

Zu den besonderen Gaben des Propheten gehören zum einen das Verstehen und Ansagen der Zeit; Zu der Zeit – also noch nicht jetzt! – wirst du sagen, sagt der Prophet;

und zu seinen Gaben gehören zum anderen die „Imaginationen des Friedens“ wie es Professor Scherle vor kurzem hier in der Thomasgemeinde genannt hat. Der Prophet kann sich vorstellen, wie es nach dieser bösen Zeit zu dieser anderen Zeit aussieht. Er blickt durch das Grauen des Krieges hindurch auf das zukünftige Heil durch Frieden. Er malt sich das aus und er malt es uns aus. Gerade im Buch des Propheten Jesaja finden sich kühne Bilder des Friedens:

  • Die gemeinsame Wallfahrt der Völker zum Zion
  • Gefüllte Brunnen; also die sichere Versorgung mit Wasser im von Dürre bedrohten Land
  • Der Garten, in dem wir unter Wein und Feigen sitzen werden
  • Das Umschmieden der Schwerter zu Pflugscharen
  • Friede unter den Tieren als Spiegel und Metapher des Friedens unter den Menschen: „Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und die Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinander liegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind.“ – wie es ein paar Verse vor unserer Stelle heißt.

Die prophetische Überzeugung hält Frieden für möglich; Wandel durch Annäherung selbst von Carnivoren und Vegetariern; Leben ohne Gewalt und Waffen.

Dieser prophetische Überschwang soll sich zumindest im Lied auf die Gemeinde, auf die Sänger von Dank und Lob übertragen. Singend nehmen sie vorweg, was noch nicht sichtbar, noch nicht wirklich ist – aber vom Propheten für möglich gehalten wird.

Auch unser Kirchenlied „Nun danket alle Gott“ erscheint erstmals 1636, mitten im Dreißigjährigen Krieg, ein Frieden war da noch nicht in Sicht; zwölf unvorstellbar lange Jahre sollte die Verwüstung des Landes vor allem durch fremde Mächte da noch weiter betrieben werden, bis zur Erschöpfung und darüber hinaus. Erst allgemeine Kriegsmüdigkeit führte zum Frieden, der noch lange bloße Abwesenheit des Krieges und doch und deshalb schon willkommen war.

Wenn wir Gott danken und loben, haben wir allen Grund dazu, sichtbaren und spürbaren Grund; aber nicht allein und nicht vor allem deshalb sollen heute unser Dank, unser Lob erklingen; sondern um dieser Zeit willen, die Gott herbeiführen wird, wenn alle Furcht und aller Zorn vergangen sind:

Und ihr werdet sagen zu der Zeit:
Danket dem Herrn,
rufet an seinen Namen!
Amen.

Konzert zum Sommerausklang

Rückblick zum 11.9.22

(Fotos: David Eggert)

Kurz vor Beginn verzog dann doch noch das feuchte Wetter, der Flügel konnte behutsam vor die Türen der Kirche gerollt werden und später war der Himmel sogar strahlend blau: Vor einer großen Zuhörerzahl gaben Gabriela Blaudow (Klavier), Lisa Rau (Gesang) und Britta Roscher (Flöte) ein sommerliches Open air-Konzert mit Werken von Händel, Haydn, Debussy, Leonard Bernstein u.v.a. Das Publikum applaudierte begeistert. Mit einem Gläschen Sekt oder Saft klang dieser musikalische Sommerabschluss unter den Kastanien aus.

In Zusammenarbeit mit dem Kulturamt der Landeshauptstadt Wiesbaden

Predigttext für den zweiten Sonntag nach Trinitatis, 26. Juni 2022

Und es geschah das Wort des Herrn zum zweiten Mal zu Jona: Mach dich auf, geh in die große Stadt Ninive und predige ihr, was ich dir sage! Da machte sich Jona auf und ging hin nach Ninive, wie der Herr gesagt hatte. Ninive aber war eine große Stadt vor Gott, drei Tagereisen groß. Und als Jona anfing, in die Stadt hineinzugehen, und eine Tagereise weit gekommen war, predigte er und sprach: Es sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen. Da glaubten die Leute von Ninive an Gott und riefen ein Fasten aus und zogen alle, Groß und Klein, den Sack zur Buße an.Und als das vor den König von Ninive kam, stand er auf von seinem Thron und legte seinen Purpur ab und hüllte sich in den Sack und setzte sich in die Asche und ließ ausrufen und sagen in Ninive als Befehl des Königs und seiner Gewaltigen: Es sollen weder Mensch noch Vieh, weder Rinder noch Schafe etwas zu sich nehmen, und man soll sie nicht weiden noch Wasser trinken lassen; und sie sollen sich in den Sack hüllen, Menschen und Vieh, und heftig zu Gott rufen. Und ein jeder kehre um von seinem bösen Wege und vom Frevel seiner Hände! Wer weiß, ob Gott nicht umkehrt und es ihn reut und er sich abwendet von seinem grimmigen Zorn, dass wir nicht verderben. Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht. (Buch des Propheten Jona 3,1-10)

„Das glaube ich nicht!“, ruft eine meiner Schülerinnen aus der 6. Klasse laut in den Unterricht bei vielen passenden und bei noch viel mehr unpassenden Gelegenheiten. Das nervt manchmal, weil der Reliunterricht in der Schule ja nun gerade kein Glaubensbekenntnis erfordert, sondern eigentlich Kenntnisse über die Religion vermitteln soll, unabhängig vom eigenen Glauben. Unterricht – auch Reliunterricht – ist kein Gottesdienst. Auch in Mathe muss niemand an die binomischen Formeln glauben oder sie verehren – sondern sie kennen. Andererseits erleichtert einem natürlich der eigene Sinn und Geschmack fürs Unendliche den Zugang zum Thema; man hat dann schonmal eine Ahnung, worum es geht und wieso das interessant sein könnte: Gott und die Welt und der ganze Rest; übrigens auch die Welt der Zahlen als Abbild der Schöpfung aus Gottes grenzenloser Barmherzigkeit.

Hier bei unserer Geschichte könnte uns auch so ein Ausruf „Das glaube ich nicht“ herausrutschen: Kommt einer nach Gottes Auftrag in eine Großstadt, stellt sich hin vor die Leute, sagt ihren Untergang voraus, und die Zuhörer – schon dass er welche findet im Getümmel der Stadt, klingt reichlich unglaubwürdig – also die Zuhörer glauben ihm nicht nur, sondern ändern ihr Verhalten – und zwar allesamt, die ganze Stadt, sogar der König – sie fasten und kleiden sich in Sack und Asche zum Zeichen der Buße, kehren um: komplett unglaubwürdig! „Das glaube ich nicht!“

Stellen sie sich unseren Propheten in einer Großstadt vor, durchaus mit Ausblick auf Symbole einer möglichen Katastrophe, die ja Warnung sein könnten – vielleicht im Frankfurt der Bankentürme, oder in Neapel im Angesicht des Vesuvs, oder jede beliebige Metropole im Februar des Jahres 2020, also kurz vor dem weltweiten Ausbruch der Pandemie: Ist es da überhaupt denkbar, dass mehr als nur eine Handvoll Zuhörer dem Unheilspropheten folgte und das Verhalten änderte, die Gefahrenzone verließe und Sicherheitsmaßnahmen befolgte – und zwar bevor der ganze Schlamassel losgeht? Keine Chance; ganz im Gegenteil, noch während oder kurz nach einer katastrophalen Krise kehren wir garantiert zurück in den alten Trott, auf die alten morschen Holzwege, in die Sackgassen neuer Krisen und Katastrophen. Ehrliche Reue, wirkliche Umkehr, nachhaltige Veränderungen – unglaublich! Meiner Schülerin ist in dieser Sache zuzustimmen: „Das glaube ich nicht!“

Und doch verklingt, verweht die Stimme des Propheten nicht; und doch lesen wir das Buch und die Worte des unbekannten Autors bis heute; erfreulicherweise etwas häufiger bei uns nach der letzten Lesereform der evangelischen Kirche (nicht alle Kirchenreformen sind Pfusch!); aber noch nicht ganz so regelmäßig und häufig wie unsere jüdischen Schwestern und Brüder, die das Buch Jona jährlich im Herbst am Jom Kippur, dem großen Versöhnungstag, dem höchsten jüdischen Feiertag, als gottesdienstliche Festtagslesung lesen und hören.

Stellen Sie sich den Neujahrsmorgen und Karfreitag zusammen vor, alles ist still, kein Geschäft ist geöffnet, kein Mensch geht seinen Geschäften an, das normale Leben ist unterbrochen – so begehen Juden in ihren Gemeinwesen diesen Feiertag; man bleibt Zuhause; geht nicht herum, geht nur in die Synagoge: spricht nicht, isst nicht, wäscht sich noch nicht einmal, verzichtet sogar aufs Deo, von anderen noch privateren Verrichtungen zu schweigen; ein gesteigerter Sabbat, Schabbat Schabbaton wird er genannt, der Sabbat der Sabbate.

In der Schule – der Lehrplan sieht in der sechsten Klasse gerade das Judentum als Thema vor – haben wir versucht, den Charakter dieses Tages nachzuvollziehen. Wir sind natürlich schnell auf die Erfahrung des ersten Lockdowns vor zwei Jahren gekommen, der ja auch unser normales Leben zum Erliegen gebracht hat, der uns weitgehend Zuhause gehalten hat, der uns auf uns selbst geworfen hat. Bei allen solchen Ähnlichkeiten sind aber die Unähnlichkeiten zum religiösen Ruhetag noch viel größer: der Jom Kippur unterbricht das normale Leben präzise nur für diesen einen Tag; man weiß genau, wann er endet und dass anderntags, am nächsten Morgen das Leben – aber hoffentlich nicht einfach nur das alte Leben – wieder weitergeht; und das Thema dieses geplanten und genau terminierten religiösen Lockdowns ist nicht die Angst vor einer unheimlichen Krankheit und der Schutz vor ihr; wenn auch der Versöhnungstag durchaus die Sorge um das Leben, aber eben weniger die Sorge um den Leib sondern um die Seele thematisiert: es geht um mein Verhältnis zu Gott.

Am Jom Kippur treten Juden vor Gott – indem sie von ihrem eigenen Leben einen Moment zurücktreten. Die Zeit, die sie durch Nichtstun gewinnen, widmen sie ihrer Gottesbeziehung. Um sich ganz und gar unabgelenkt vor Gott zu stellen und damit nichts anderes ihre Gedanken beschäftigt, sind Juden gehalten, in der Zeit vor diesem Feiertag ihre Verhältnisse zu ordnen, ihre Schulden zu begleichen, nicht nur die finanziellen, die auch, aber vor allem die sozialen und emotionalen Schulden, begangenes Unrecht gutzumachen, sich mit seinen Gegnern zu versöhnen: erst mit den Mitmenschen ins Reine zu kommen, um mit Gott ins Reine zu kommen. Und dann, indem die Juden am Versöhnungstag Versöhnung mit Gott für möglich halten, wird sie wirklich. Versöhnungsbereit erleben sie den versöhnenden Gott.

Denn das war ja das Unglaublichste unserer Jonageschichte; noch nicht die erstaunliche Aufmerksamkeit einer Stadtgesellschaft für ihre, also für unsere Lebensprobleme, noch nicht die Einmütigkeit der Reaktion und auch noch nicht die Bereitschaft der Menschen zur Umkehr, sondern – eigentlich und viel mehr – die Umkehr Gottes. Gott kehrt um (auch die hebräische Bibel verwendet dieselbe Vokabel für den Sinneswandel von Mensch und Gott gleichermaßen); Gott reut sein Tun; Gott verändert sich im und durch das Verhältnis zu den Menschen. Gott ist veränderlich. Darf Gott so sein? Und darf ich das von Gott denken?

Also Jona meint bekanntlich erstmal: nein! Das wäre ja noch schöner, wenn Gott sich nicht nach unseren Regeln und Erwartungen verhielte, Jona setzt sich hin und schmollt erstmal. Er braucht ein paar Tage in Hitze und Sonnenlicht bis ihm ein Licht aufgeht und die Geschichte – wie die meisten Märchen – auch für ihn gut ausgeht.

Für uns Leser und Hörer bleibt die Erkenntnis, dass Gott immer größer ist als unser Denken über ihn, und dass auch seine Bereitschaft zur Barmherzigkeit keine Grenzen kennt. Und in dieser Erkenntnis liegt das Geheimnis begründet, dass der jüdische Tag der Gottesbegegnung als Versöhnungstag, Jom Kippur gefeiert wird. Wer sich in aller Ehrlichkeit Gott öffnet, kann mit Versöhnung rechnen. Indem wir Versöhnung mit Gott für möglich halten, wird sie wirklich. Gott für wahr zu halten, heißt, ihn als Versöhner für wahr zu halten; heißt, ihn für meinen Versöhner zu halten.

Können wir das glauben? Meine ungläubige Sechstklässlerin jedenfalls würde sich zu Jona in die Ecke setzen, eine Runde mitschmollen und alsbald und unaufgefordert ihr trotziges „Das kann ich nicht glauben!“ in die Runde geben.

Aber das muss ja nicht das letzte Wort bleiben. Amen.