Predigttext für Karfreitag, 2. April 2021

Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten – so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch und seine Gestalt nicht wie die der Menschenkinder –, so wird er viele Völker in Staunen versetzen, dass auch Könige ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn was ihnen nie erzählt wurde, das werden sie nun sehen, und was sie nie gehört haben, nun erfahren. Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und an wem ist der Armes Herrn offenbart? Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der Herr warf unser aller Sünde auf ihn. Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf. Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wen aber kümmert sein Geschick? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat seines Volks geplagt war. Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist. Aber der Herr wollte ihn also zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und lange leben, und des Herrn Plan wird durch ihn gelingen. Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben dafür, dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten. (Buch des Propheten Jesaja 52,13-53,12)

Die sonst eher kämpferische Autorin Samira El Ouassil äußert sich in einen überaus einfühlsamen, beinahe zarten Artikel (spiegel online, 1.4.2021) über das Leiden und Mitleiden in Zeiten von Corona, sie schreibt:

„Ein gutes Jahr … [nach den ersten Nachrichten über Corona] stehe ich auf einem Friedhof bei einer Beisetzung. Tante E. [92] war vor Kurzem an Covid erkrankt, ihr Sohn hatte sie angesteckt. Er hatte das Virus von der Arbeit mit nach Hause gebracht, obwohl er alles getan hatte, um Tante E. so gut wie möglich zu schützen: … Das Kümmern um seine greise Mutter, das Pflegen ihrer Gesundheit, waren sein Lebensinhalt, auch schon vor der Pandemie. Selten hatte ich einen Sohn gesehen, der sich so liebevoll um die eigene Mutter gekümmert hatte.

Tante E. hat die Infektion gut überstanden, nahezu symptomfrei. Sie ist fit, rüstig und widerstandsfähig. Ihr dreißig Jahre jüngerer Sohn hat Corona nicht überlebt.“

El Ouassil fährt fort: „In Anbetracht der inzwischen über 70.000 Verstorbenen allein in Deutschland müssten mittlerweile schon viele Personen die Beisetzung eines Coronatoten erlebt haben. … Auch sie sind Opfer von Corona, dieser surrealen Sache, die erst seit 425 Tagen in Deutschland existiert. Eine Kleinstadt an Menschen ist inzwischen gestorben, eine ganze Großstadt wie München ist vom Verlust dieser Menschen betroffen.“

Die Autorin der Kolumne möchte mit ihren einfühlenden Worten, die Geschädigten der Pandemie sichtbar machen – auch indem sie sicherlich ganz bewusst das Wort „Opfer“ verwendet. Was ist damit gemeint?

Wenn Menschen durch Gewalt zu Schaden kommen, dann sprechen wir ja oft davon, dass sie Opfer geworden sind: die 2724 Verkehrstoten im vergangenen Jahr etwa werden als Verkehrsopfer bezeichnet; die ungefähr 120000 Menschen, die jährlich an den Folgen des Rauchens sterben, werden ebenfalls Opfer des Rauchens genannt und die bisher sogar über 76000 an Corona Gestorbenen gelten uns als Opfer der Pandemie.

Im Begriff „Opfer“ stecken aber zumindest zwei grundverschiedene Bedeutungen, die im Deutschen nicht getrennt werden, aber etwa im Lateinischen oder auch im Englischen durch zwei verschiedene Vokabeln bezeichnet und damit unterschieden werden: victima oder victim auf der einen und sacrificium oder sacrifice auf der anderen. Während victim einen Menschen oder ein anderes Lebewesen bezeichnet, der oder das zu Schaden, womöglich ums Leben gekommen ist; bedeutet das sacrifice ein sichtbares Kommunikationsgeschehen, einen demonstrativen Tausch für einen höheren Zweck, eine öffentliche Hingabe für etwas; victima ist passiv, Objekt und stumm, oft anonym – sacrificium ist aktiv, Subjekt und spricht, identifizierbar.

Die eingangs genannten Opfer des Straßenverkehrs, des Rauchens oder der Pandemie, sind zuerst allesamt stumm und wurden passiv zum Opfer, anonym allein schon in den großen Zahlen; die Frage nach einem tieferen oder höheren Sinn ihres Leidens und Sterbens verbietet sich, wenn sie sich überhaupt stellt. Anders das Opfer, über das wir heute an Karfreitag nachdenken sollen: Wir sollen Jesus am Kreuz nicht ausschließlich als victim verstehen, das als bloßes Objekt einer brutalen Justiz vom Tode in Leben befördert wird – das er ja ist! – sondern wir sollen ihn auch als sacrificium sehen, als handelndes Subjekt, dessen Tod Hingabe für die Menschen und Kommunikation mit Gott ist. Wir sollen also den Sinn seines Kreuzestodes begreifen.

Das war früher nicht leichter als heute, zu groß der Schmerz und zu groß auch die offensichtliche Sinnlosigkeit von Gewalt und Tod. Welcher Sinn könnte darin bestehen, dass die antike Supermacht Rom einen Wanderprediger als politischen Aufrührer am äußersten Rand seines Imperiums exekutiert, eine Person, die den allerwenigsten Menschen im eigenen völlig unbedeutenden Land bekannt gewesen sein dürfte, geschweige denn irgendjemandem im fernen großen Rom. Niemand hat von Jesus in Rom zur Zeit seines Todes gewusst; und so viele im eigenen Land werden es auch nicht gewesen sein. Was für ein völlig sinnloser Tod.

Um damit irgendwie fertig zu werden, jenseits von Furcht und Zittern und der alles weitere lähmenden Stille, haben die Freunde und Jünger Jesu die Heilige Schrift befragt, das Alte Testament, und dabei sind sie auf Texte wie unseren Predigttext gestoßen. Dabei ist es nicht der Tod, auch in unserem Lied vom Gottesknecht ist es nicht der Tod selbst, der Sinn hat, sondern der Tod für andere kann deshalb Sinn machen, weil das Leben für andere Sinn hat. Der Prophet zeichnet den Gottesknecht als verachteten Außenseiter, als kranken, leidenden Schmerzensmann, als geplagten und gestraften Übeltäter – der als solcher seinen Mitmenschen, der Gesellschaft insgesamt den Spiegel vorhält. Er ist eben nicht der Sonderfall, für den er gehalten wird, sondern er trägt an sich sichtbar das Leid und die Schuld, die die Menschen alle an sich tragen – und löst das Entsetzen aus, dass eigentlich den Entsetzten selbst gilt. Dennoch wird er von Gott angenommen, trotz allem.

Das Opfer zu dem der Gottesknecht sich hingibt besteht im Sichtbarmachen, im schonungslosen Offenlegen menschlicher Nöte und Abgründe an sich selbst. In der Auseinandersetzung mit den Überlieferungen der Bibel rangen – und gewannen! – die ersten Christen dem sinnlosen Tod am Kreuz so einen Sinn ab. Der dort leidet und stirbt, ist nicht allein: In ihm sehen wir unser eigenes Leiden und Sterben. Die Evangelien gehen aber noch weiter, indem sie nicht nur im Tod des einen die vielen sehen und sichtbar machen, – sondern in großer theologischer Kühnheit und Konsequenz nicht nur den Menschen Jesus sondern auch den Gottessohn, ja Gott selbst am Kreuz erkennen: Wenn Gott in diesem Menschen Jesus gelebt hat – dann ist er auch mit ihm gestorben.

Diese Erkenntnis dürfte das Entsetzen der ersten Christen zunächst noch um einiges gesteigert haben: „Oh große Not, Gott´s Sohn ist tot“ – wie wir gesungen haben, oder wie es in der Originalfassung heißt – „Oh große Not, Gott selbst ist tot“ – um dann aber nach und nach zu erkennen, dass in dieser kaum zu überbietenden Steigerung der Solidarität nicht weniger als unser ganzes Heil liegt: Gott selbst nimmt Leid und Schuld von uns Menschen, indem er es auf sich nimmt, er begibt sich ans Kreuz, macht sich für uns zum sacrificium – damit wir endlich erkennen, wie er es mit uns meint.

Mit solcher göttlichen Solidarität wird das Opfer am Kreuz maximal sichtbar. Es geht also an Karfreitag neben allem anderen auch um das Sichtbarmachen der Leidenden und Sterbenden, deren Leben wir damit würdigen. Und es geht um Mitleid und Trost für die Betroffenen.

Die eingangs zitierte Autorin Samira El Ouassil schließt ihre Kolumne mit dem Passionsmotiv der trauernden Mutter:

„Tante E. drücke ich zum Abschied und halte ihre Hand. Nicht zu fest, ich will die fragile Dame nicht kaputt machen, aber doch fest genug, weil ich ihre Traurigkeit wegumarmen, ihre Angst wegstreicheln will. Aber wie fest umarmt man eigentlich eine trauernde Mutter, deren Kind an Covid gestorben ist? Ich weiß es nicht.“

Amen.

Predigttext für Palmsonntag, 28.3.2021

Es ist aber der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. In diesem Glauben haben die Alten Gottes Zeugnis empfangen. 

Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde, an einen Ort zu ziehen, den er erben sollte; und er zog aus und wusste nicht, wo er hinkäme. Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen im Land der Verheißung wie in einem fremden Land und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheißung. Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist. Durch den Glauben empfing auch Sara, die unfruchtbar war, Kraft, Nachkommen hervorzubringen trotz ihres Alters; denn sie hielt den für treu, der es verheißen hatte. Darum sind auch von dem einen, dessen Kraft schon erstorben war, so viele gezeugt worden wie die Sterne am Himmel und wie der Sand am Ufer des Meeres, der unzählig ist.

Diese alle [- im Zusammenhang dieser Stelle werden noch Abel, Henoch, Noah, außerdem Isaak, Jakob, Josef, Mose, Josua und viele weitere große Glaubende des Alten Testaments genannt -] haben durch den Glauben Gottes Zeugnis empfangen und doch nicht die Verheißung erlangt, weil Gott etwas Besseres für uns vorgesehen hat: dass sie nicht ohne uns vollendet würden.

Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns umstrickt. Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, dass ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst. (Brief an die Hebräer 11,1-2[8-12.39-40]; 12,1.3)

Glauben ist nicht Wissen. Das kann man abwertend meinen wie in der unwirschen Nachfrage gegenüber einer Behauptung: „Glaubst Du das bloß, oder weißt Du das wirklich – dass der Bus kommt, dass Heinz und Frieda geheiratet haben, dass das das richtige Ergebnis der Matheaufgabe ist?“ Dann ist Glauben bloß eine mindere Form des Wissens oder eher eine Form des Unwissens.

Mit dem Aufstieg der Wissenschaften ist die Religion und ihre Glaubensvorstellungen in diesem abwertenden Sinn ins Hintertreffen geraten, so dass viele der Religion überhaupt keinen Platz mehr einräumen wollen, wie etwa der berühmte Evolutionsforscher Richard Dawkins, der alles, was nicht Wissen ist, für Humbug hält und der als „Gottes-Wahn“ bekämpft werden muss. Ist es Religion? Dann kann es weg!

Glauben ist nicht Wissen. Das kann man abwertend meinen, muss man aber nicht! Nach dem Autor des Hebräerbriefes ist Glauben keineswegs eine mindere Form des Wissens sondern eine andere, vielleicht sogar bedeutsamere, anspruchsvollere Form der Gewissheit. Glauben bezieht sich nicht auf das Offensichtliche, das Sichtbare, das Vor-Augen-Liegende; nicht auf das dann zu Erforschende, Überprüfbare, das Verständliche und Selbstverständliche – sondern auf das was man nicht sieht, weil man es nicht sehen kann! Und zwar entweder, dass speziell ich es nicht sehen kann, sei es, weil ich am falschen Ort stehe oder weil ich nicht klug genug bin: das wäre dann nur für mich und meinesgleichen zu glauben aber grundsätzlich schon ein Gegenstand möglichen Wissens und nicht besonders sinnvoll, es grundsätzlich zu bezweifeln – wie etwa Berichte aus Ländern, in denen ich nicht war; oder etwa Forschungsergebnisse aus Disziplinen, in denen ich mich nicht auskenne – das dürften übrigens immer und für alle Menschen die weitaus meisten sein. An Viren müssen wir in der Mehrheit solange glauben, wie wir selbst keine medizinischen oder biologischen, besser noch virologischen Kenntnisse erworben haben. Trotzdem sind Viren natürlich kein Glaubensgegenstand sondern Wissen, nur nicht meins.

Außer diesem Glauben, der sich auf ein Wissen bezieht und grundsätzlich in ein Wissen verwandelt werden kann, gibt es nach Meinung unseres Autors und nach Meinung der Religionen weithin, einen Glauben, der nicht in Wissen aufgelöst werden kann, sondern grundsätzlich und immer Glauben ist und bleibt. Dieser Glauben bezieht sich auf Gott, der kein Gegenstand unseres möglichen Sehens oder Erkennens ist, und der im strengen Sinne noch nicht einmal „Gegenstand“ genannt werden sollte, weil Gott ja per Definition kein Gegenstand unserer Wirklichkeit sondern „die alles bestimmende Wirklichkeit“ (Rudolf Bultmann) ist: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“ (Dietrich Bonhoeffer) Und da dürften selbst die wildesten Atheisten mit den glühendsten Gläubigen übereinstimmen.

Während Gottes Unwirklichkeit als Teil unserer Welt von den einen als atheistische Kritik verstanden und verwendet wird, gehört genau das (also Gottes weltliche Unwirklichkeit) für die Glaubenden zum Wesen Gottes als „Geheimnis der Welt“ (Eberhard Jüngel): Gott ist kein Teil der Welt, denn er ermöglicht diese Welt erst. Gott ist nicht Teil sondern Grund und Ursache unserer Welt: Er ist der, der schlechthin nicht zu sehen und zu erkennen ist. Er kann nicht gewusst sondern nur geglaubt werden. Nicht durch Wissen und Wissenschaft sondern allein durch den Glauben erkennen wir, dass die Welt durch Gottes Wort geschaffen ist, dass alles, was man sieht, aus nichts geworden ist (Hebräer 11,3).

Wen wir etwas von Gott erfahren, dann durch Gottes eigenes Zeugnis an seine Propheten und Apostel, die Wolke der Zeugen: Diese alle haben durch den Glauben Gottes Zeugnis empfangen – und bis zu uns weitergeben. Können uns diese Zeugen für Gott mit ihrem Zeugnis überzeugen? Wie alle Zeugen stehen sie unter Vorbehalt: Sie können sich ja geirrt haben, sie können etwas falsch verstanden haben, sie können sich getäuscht haben oder getäuscht worden sein, sie können das Zeugnis teils vergessen und teils ausgeschmückt haben, sie könnten es auch willentlich verfälscht haben. All das ist sicherlich auch passiert, die historische Kritik an der Bibel versucht möglichst genau nachzuzeichnen, wie sich das Zeugnis gebildet, entwickelt und verändert hat – ohne es dabei aufzulösen.

Weil es diesen Vorbehalt gibt, spricht unser Autor von der Wolke der Zeugen, die nicht alleine für sich stehen, sondern insgesamt und gemeinsam als große Erzählung der Bibel Zeugnis abgeben und Glauben erwecken, längst nicht bei jedem. Wenn sie es aber tun, üben sie in uns eine Fähigkeit, die gerade in schwierigen Situationen und Krisen äußerst nützlich sein kann: nämlich den gegenwärtigen Zustand, die Misere, in der wir uns befinden, nicht für das Ganze zu halten, nicht in Gedanken zu verewigen: in dem Glauben halt, der eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und einem Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht ist.

Hier wäre nun alles einzutragen zwischen Kummer und Katastrophe, was uns gegenwärtig beherrscht aber nicht auf ewig beherrschen wird. Sogar die verdammte Pandemie wird zu Ende gehen, wie es uns der naive, aber schöne Glaubenssatz aus Italien im vergangenen Jahr lehrte: andrà tutto bene.

Und damit wird keineswegs einer Realitätsflucht das Wort geredet, sondern die Gewissheit geäußert, dass unser Beharren im jetzigen Leiden den Sinn hat, uns für die Zeit danach zu erhalten. Es ist sinnvoll jetzt durchzuhalten, damit am Ende auch für uns alles gut sein wird: Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist!

Das könnte noch allzu sehr nach Durchhalteparole klingen, zu unbestimmt, zu wolkig, so dass sich die Wolke der Zeugen zum Nebel verdichtete, ohne Anhaltspunkt, ohne klares Bild, auf was genau sich der Glauben richtet, denn der Gott, der bildlos verehrt werden will („Du sollst dir kein Bild von Gott machen!“ 10 Gebote), könnte sich als bloßer Grenzbegriff, als bloßer Fluchtpunkt, von dem alles herkommt und auf den alles hinläuft, in einem bloßen grauen Nebel des Glaubens verflüchtigen (eher: Nebel des Grauens!)

Deshalb fährt unser Autor fort und schreibt: Lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist, und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens; den hat Gott uns zu seinem Bild gegeben, an das wir uns halten können in den Kämpfen unseres Lebens. Er – nämlich Jesus – ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines – nämlich Gottes – Wesens und trägt alle Dinge – nämlich die ganze Welt – mit seinem kräftigen Wort – nämlich dem Zeugnis, von dem schon die Rede war (Hebräer 1,3 als programmatischer Anfang des ganzen Briefes).

Zu dem verbalen Zeugnis über Gott kommt das sichtbare Bild, mit dem wir Gott selbst erblicken, das freilich schon unserem Autor – wie auch uns – nur als Zeugnis der Propheten und Apostel überliefert ist. Ein bisschen ist es also für uns wie mit dem Blinden, dem die Farben und Formen der sichtbaren Welt erklärt werden, ohne dass er sie selbst je sehen könnte – er sich aber dennoch daraus etwas bildet, das beinahe „Bild“ genannt werden kann. Eine Bildbeschreibung wird die unmittelbare Erfahrung des Bildes nicht ersetzen, muss aber fürs erste, für dieses Leben, für diese Kämpfe in Zuversicht und Wachheit reichen: Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, dass ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.

500 Jahre Josquin Desprez († 1521)

Ob es Ludwig XI. oder Ludwig XII. war, dem Josquin, der wohl größte Komponist der Renaissance, einen Streich spielte, ist auch nach 500 Jahren noch nicht völlig geklärt. Auf jeden Fall war es der französische König persönlich, der den Meister um eine eigene Gesangspartie bat: er wolle bei einer Aufführung gerne einmal mitsingen. Josquin tat, wie ihm befohlen. Allerdings hielt er von den sanglichen Qualitäten des Königs so wenig, dass er dessen Stimme nur auf einem einzigen Ton komponierte.

Wer sich so etwas traut, weiß um seinen Wert. Nicht nur wegen seines kantigen Charakters wird Josquin oft mit Beethoven verglichen. Josquins Erneuerungen der frankoflämischen Vokalpolyphonie strahlten weit voraus bis hin zu J.S. Bach. Zwar sind die Stationen seines Lebens – St. Quentin, Aix-en-Provence, Paris, Mailand bei Kardinal Ascanio Sforza, Sixtinische Kapelle in

Rom, Mailand, Ferrara, zurück nach Nordfrankreich – nicht lückenlos rekonstruierbar. Aber einiges gilt doch als gesichert, z.B. dass Josquin 1503 in Ferrara als Kapellmeister am Hofe des Herzogs Ercole I. d’Este mit 200 Dukaten das höchste Gehalt verhandelte, das je ein Musiker dort erhalten hatte. Für den Herzog, eine schillernde, Pracht liebende Persönlichkeit, schrieb er eine ebenso prachtvolle Messe, die „Missa Hercules dux Ferrariae“. Schon zu Lebzeiten war sein Vorname in aller Munde, bei Herrschern, Musikern und Dichtern. In Italien verglich man ihn posthum mit Michelangelo. Als erstem Komponisten der Musikgeschichte wurde ihm ein Individualdruck seiner Messen mit dem hochmodernen Notendruckverfahren mit Metalllettern gewidmet. Eine größere Ehre gab es nicht.

Zu Josquins berührendsten Werken zählt die französische Trauermotette über den Tod Ockeghems, der 1497 an der damaligen Pandemie, der Pest, verstarb. Die „déploration de la mort de Jehan Ockeghem“ imitiert mit fünf Stimmen den Stil des älteren Komponisten in unablässig ineinanderfließenden Linien über einem Cantus firmus aus dem Introitus „Requiem aeternam“. Ein pures Meisterwerk ist die „Missa Pange Lingua“ für vier Gesangsstimmen. In der Regel singen höchstens drei Sänger je eine Stimme. Allen fünf Sätzen (Kyrie, Credo, Gloria, Sanctus und Agnus Dei) liegt der gleichnamige Hymnus von Thomas von Aquin zugrunde. Größere und kleinere Fragmente der berühmten Melodie ziehen sich nach den komplexen Regeln des Kontrapunkts echoartig durch das gesamte Stück. Gleichzeitig lässt Josquin kaum eine Gelegenheit der expressiven Ausdeutung des Textes durch die Musik aus und verleiht ihm dadurch noch mehr Tiefe. Mit Josquin setzt die Kunst der musikalischen Interpretation des Textes, später ein Hauptmerkmal des Barock, ein.

Luther schätzte Josquins Musik sehr und kannte sie in Form von Lautentabulaturen, also Transkriptionen von polyphonen Gesangsstücken für Zupfinstrumente. In den Tischreden schrieb er über den Nordfranzosen, der selbst nie in Deutschland gewesen war: „So hat Gott das Evangelium auch durch die Musik gepredigt, wie man an Josquin sieht.“

Anne Sophie Meine

CD-Tipps: The Tallis Scholars sing Josquin, Label Gimell 2015, mit „Missa Pange Lingua“; The Hilliard Ensemble: Missa Hercules Dux Ferrariae, Motets & Chansons, Label Plg Classics Warner 2004, mit „La déploration de la mort de Jehan Ockeghem“.

Predigttext für den Sonntag Judika, den 5. Sonntag in der Passionszeit, 21.3.2021

Hiob spricht: So merkt doch endlich, dass Gott mir unrecht getan hat und mich mit seinem Jagdnetz umgeben hat. Siehe, ich schreie »Gewalt!« und werde doch nicht gehört; ich rufe, aber kein Recht ist da. Er hat meinen Weg vermauert, dass ich nicht hinüberkann, und hat Finsternis auf meinen Steig gelegt. Er hat mir mein Ehrenkleid ausgezogen und die Krone von meinem Haupt genommen. Er hat mich zerbrochen um und um, dass ich dahinfuhr, und hat meine Hoffnung ausgerissen wie einen Baum. Sein Zorn ist über mich entbrannt, und er achtet mich seinen Feinden gleich. Vereint kommen seine Kriegsscharen und haben ihren Weg gegen mich gebaut und sich um meine Hütte her gelagert. Er hat meine Brüder von mir entfernt, und meine Verwandten sind mir fremd geworden. Meine Nächsten haben sich zurückgezogen, und meine Freunde haben mich vergessen. Meinen Hausgenossen und meinen Mägden gelte ich als Fremder; ich bin ein Unbekannter in ihren Augen. Ich rief meinen Knecht und er antwortete mir nicht; ich musste ihn anflehen mit eigenem Munde. Mein Odem ist zuwider meiner Frau, und den Söhnen meiner Mutter ekelt’s vor mir. Selbst die Kinder geben nichts auf mich; stelle ich mich gegen sie, so geben sie mir böse Worte. Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt. Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel in Blei geschrieben, zu ewigem Gedächtnis in einen Fels gehauen! Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.(Buch Hiob 19,6-27; der vorgesehene Predigttext Hiob 19,19-27 ist vorgehoben)

Dass Optimismus nur ein Mangel an Information sei, liebe Schwestern und Brüder, lässt sich zumindest an Hiob nicht belegen: Ihn treffen die schrecklichsten Nachrichten – unsere redensartlichen Hiobsbotschaften – die Gewinnwarnungen und die Verlustmeldungen prasseln nur so auf ihn nieder und alle bewahrheiten sich: Gesundheit weg, Besitz weg, Wohlstand weg, Ansehen weg, Kinder weg, sogar die Liebe seiner Frau ist weg – Mein Odem ist zuwider meiner Frau (das soll vorkommen, besonders morgens) – und auf die Freunde, die ihm geblieben sind, könnte man gerne verzichten. Hiob geht auf Zahnfleisch. Warum geht er nicht unter? Was hält ihn am Leben, was hält ihn am Glauben? Was lässt ihn angesichts seiner Lage reichlich optimistisch sagen: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.

Eine wirkliche Antwort erhalten wir darauf nicht, nicht hier und nicht im ganzen Buch Hiob. Das Leid des Gerechten bleibt unerklärt und bleibt unerklärlich. Und die Erklärungsversuche, die das Buch anstellt – eine Sache gegen ihn zu finden, also die Schuld bei ihm zu suchen – zeigen nur, dass sie nichts taugen. Im Leiden, in Krankheit, in Seuche, in Katastrophen einen Sinn zu suchen, funktioniert nicht. Und Gott im Weltlauf zu erkennen, funktioniert genauso wenig wie ihn dafür zu rechtfertigen. Anders als der Philosoph Leibniz mit all seiner universellen Gelehrsamkeit in seinem Werk Theodizee sich bemüht hat, lässt sich Gott nicht rechtfertigen und so – angesichts der Weltläufe – schon gar nicht.

Im Gegenteil: Mit Hiob, der ausdrücklich sagen kann: „Die Erde ist in die Hand des Frevlers gegeben“ (Hiob 9,24) und damit Gott meint, erkennen wir im Herrn der Weltgeschichte den Teufel – wie ja auch die Hiobsgeschichte als Wette zwischen Gott und Satan konstruiert ist, wobei sich Gott in dieser makabren und blasphemischen Wette zum zweiten Teufel verdoppelt. Auch der reichlich theaterhafte Schluss der ganzen Geschichte, an dem ein deus ex machina das Lebensglück Hiobs gleich doppelt wiederherstellt, kann das Leid, das das doppelte Teufelchen mit seiner Wette angerichtet hat, niemals rechtfertigen. Wo aber ist Gott? wäre mit Hiob zu fragen – dessen hebräischer Name genau das heißt: Wo ist Gottvater? Er hat sich Hiob zum Feind gemacht – auch dieses Wort „Feind“ klingt im Hebräischen beinahe wie der Name Hiob: Gott hat mich zerbrochen um und um, dass ich dahinfuhr, und hat meine Hoffnung ausgerissen wie einen Baum. Sein Zorn ist über mich entbrannt, und er achtet mich seinen Feinden gleich.

Wenn also weder Gott noch Glauben mit der Hiobsgeschichte erklärt werden können oder sollen, was dann? Was will sie erzählen? Was sagt sie uns? Das Buch Hiob soll zeigen, dass der nackte – allen Schutzes, allen Schmucks und aller Schätze beraubte – Mensch, zumindest der nackte Hiob, an Gott glaubt und glauben kann; und dass dieser Glaube kein Tauschgeschäft für ein gutes Leben ist. Genau darum ging ja die Wette, die die Geschichte in Gang setzt, wenn der eine Teufel zum anderen sagt: Meinst du dass Hiob Gott umsonst fürchtet? Hast du doch ihn, sein Haus und alles, was er hat, ringsherum bewahrt. Du hast das Werk seiner Hände gesegnet und sein Besitz hat sich ausgebreitet im Lande. Aber strecke deine Hand aus und taste alles an, was er hat: Was gilt´s, er wird dir ins Angesicht fluchen! (Hiob 1,9-11), was seine Frau ihm dann auch empfiehl: Hältst du noch fest an deine Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb! (Hiob 2,9; Der Heilige Augustinus hält sie wegen dieses Sätzchens für eine Helferin des Teufels, eine „adiutrix diaboli“) Ein unfrommer Rat, dem der fromme Hiob nicht folgt.Hiob wird zwar von allem entkleidet – Er hat mir mein Ehrenkleid ausgezogen – nur das nackte Leben brachte ich davon – er wird entblößt – und behält aber dennoch Würde und Glauben.

Nacktheit ist ja ein vieldeutiges, auch widersprüchliches Symbol, sie heißt so viel! – Unschuld im Paradies und Ursünde dortselbst, dann Scham; Liebe, Lust, Leidenschaft, Laster; private Intimität und öffentliches Ärgernis; Hingabe und Ausgeliefertsein; Schutzlosigkeit; Kälte, Armut; Anmut, Schönheit, Gleichheit, Freiheit (Freikörperkultur! für solche Worte wird die deutsche Sprache in aller Welt geliebt, mit Recht!), Brüderlichkeit, Lächerlichkeit, Peinlichkeit, Hässlichkeit, Grobheit.

„Auf die Erde voller kaltem Wind, kamt ihr alle als ein nacktes Kind. Frierend lagt ihr alle ohne Hab als ein Weib euch eine Windel gab“ dichtet der Dichter Bertolt Brecht „Von der Freundlichkeit der Welt“ und frei nach Hiob: “Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren.“ (Hiob 1,21); der Philosoph Giorgio Agamben philosophiert vom nackten Leben des homo sacer, der getötet aber nicht geopfert werden darf, und die Cartoonisten Hauck & Bauer machen sich über die von ihnen erfundene Nudistenpartei „Die Nackten“ lustig. Der Malerfürst Peter Paul Rubens malt Barockschinken, an deren Inkarnat wir uns heute noch erwärmen. Das Künstlerpaar Gilbert & George zeigt sich als living sculptures gerne selbst nackt, nackter jedenfalls als man es seinen minderjährigen Pfarrerstöchtern zumuten sollte. Nackt sind wir mit unserer Liebsten zusammen; nackt sind wir im OP, wo uns der nackte Leib aufgeschnitten wird. Nackt sind wir nicht in der Kirche, auch wenn einer meiner pubertären Lieblingswitze „die Nacht der Kirchen“ zu „Nackt in der Kirche“ verkalauert; nackt sind wir aber vor Gott. Nackt wie Hiob.

Als Nackte sind wir so, wie wir sind: unverborgen, ohne Maske, unverhüllt, ohne die Distinktionsmerkmale unserer Kleidung, auf uns selbst reduziert. So stehen wir vor Gott, der es – wie es Hiob erlebt und wir doch auch bisweilen so erleben – dabei belässt; uns nicht schützend bedeckt, nicht unsere Blöße zudeckt, eben nicht jede Krankheit heilt, nicht jeden Streit schlichtet, nicht – als Löser, wie es eigentlich im Text steht, als Fürsprecher – dem Gerechten zu seinem Recht verhilft, nicht die Sünden vergibt. So steht Hiob vor Gott und wir neben ihm – und so lässt Gott uns stehen, peinlich. Nackt am falschen Ort, das ist peinlich.

Diese metaphysische Nacktheit entdeckt, erzählt, erforscht uns die Hiobsgeschichte, die uns darin moderner erscheint, als sie ist. Denn warum sollte Gottesferne, warum sollte Gottverlassenheit eine Erscheinung der Moderne sein. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ – schreit ein Nackter am Kreuz vor zweitausend Jahren, gleichfalls wie Hiob ein leidender Gerechter. Von Gott und den Menschen verlassen wendet er sich an den, von dem er sich verlassen weiß.

Das muss man nicht für besonders konsequent, nicht für logisch oder vernünftig halten. Wie gesagt, die Hiobsgeschichte erklärt nicht sondern sie zeigt; also sie zeigt in den vielen Erklärungen, die sie durchprobiert, – Erklärungen über den Lauf der Welt, über Gott und die Menschen – dass diese Erklärungen nicht funktionieren; und sie zeigt uns mit Hiob einen Menschen, der ohne jeden Grund und gegen jeden Grund – unerklärlicherweise! – dennoch an Gott festhält.

Hiob weigert sich schlicht, die Abwesenheit Gottes zu akzeptieren: Abwesenheit ist keine Option, ziemlich verrückt. Seine Gottessehnsucht schlägt Gottesferne: Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Und ist meine Haut noch so zerschlagen und mein Fleisch dahingeschwunden, so werde ich doch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust. 

Die christliche Lektüre – Hiob ist ja ein Buch im Alten Testament und wird von Juden und Christen gelesen – die christliche Lektüre wird in diesen Zeilen auch ihren Erlöser mitlesen und erkennen – „imaginieren“, wie Luther gelegentlich gesagt hat, also das Bild des – aus dem Staub – auferstandenen, lebendigen Erlösers Jesus Christus in diese Hiobverse eintragen. Noch so eine Glaubensvorstellung, die unserer Vernunft spottet: Auferstehungshoffnung schlägt Todesgewissheit, völlig verrückt!

Ein solcher Glauben mag manchen sinnlos erscheinen, aber er ist jedenfalls möglich, wie wir am Beispiel des Hiob sehen und lernen – und er kann unser nacktes Dasein umhüllen – in den überaus kleidsamen Worten des Propheten Jesaja:

Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt. (Jesaja 61,10)

Predigttext für den Sonntag Lätare, 4. Sonntag in der Passionaszeit, 14.3.2021

Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest. Die traten zu Philippus, der aus Betsaida in Galiläa war, und baten ihn und sprachen: Herr, wir wollen Jesus sehen. Philippus kommt und sagt es Andreas, und Andreas und Philippus sagen’s Jesus. Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Wer sein Leben lieb hat, der verliert es; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s bewahren zum ewigen Leben. Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren. (Johannesevangelium 12,20-26)

Zur Feier des Weltfrauentages, liebe Schwestern zuerst, aber auch liebe Brüder, am vergangenen Montag haben wir in der Familie den neuen Film „Wonder Woman 1984“ angesehen, leider nicht im Kino sondern nur gestreamt im Fernsehen.

Da ich nicht annehme, dass alle von Ihnen den Film schon gesehen haben, fasse ich ihn kurz zusammen: Wie bei allen Superheldenfilmen rettet der Superheld – hier die Superheldin Wonder Woman, verkörpert durch die unvergleichliche israelische Schauspielerin Gal Gadot – sie rettet also die Welt vor einem Superschurken.

Umstände der Rettung, Fähigkeiten der Helden, Bösartigkeit der Schurken variieren – aber im Grunde sind die Filme alle gleich, indem unweigerlich und trotz größter Bedrängnis das Gute siegt über das Böse und am Ende das moralische Gleichgewicht im Universum wieder hergestellt ist. Diese Superheldengeschichten sind damit, nebenbei bemerkt, nicht nur allesamt allerhöchst moralische Märchen sondern säkularisierte Erlösungsmythen, in denen der Superheld engelsgleich die Lüfte durchfliegt und Botschafter des Guten ist. In diesem Film letzten Montag lernt Wonder Woman erst noch das Fliegen, aber sehr lange braucht sie dafür nicht, es zu lernen, um auch als sichtbar starker Engel mit goldenen Flügeln überaus ansehnlich die Welt zu retten.

Ihr schurkiger Gegenspieler, ein Versager und Betrüger, modelliert als Karikatur der Finanzwelt, hatte sich zuvor in den Besitz eines Wunschsteins gebracht, mit dessen Hilfe und bei Berührung des Steins ein beliebiger Wunsch – ich sage ja, es ist ein Märchen – in Erfüllung geht – allerdings nur ein Wunsch pro Person, wo kämen wir da hin. Deshalb, also um mehr Wünsche zur Verfügung zu haben, verwandelt sich der Schurke – hier wird es etwas verwirrend und das musste ich mir von meinen Töchtern erklären lassen – den Wunschstein ein, damit er nun beliebig viele Wünsche zur Verfügung hat. Allerdings muss der Wünschende im Tausch das ihm Liebste und Wichtigste weggeben und aufgeben – womit sich natürlich die Nemesis schon aufbaut. Wie gesagt – soviel Spoiler darf sein – anders als das Leben geht jede Superheldenstory gut aus – auch diese; vor allem deshalb, weil unsere Superheldin – im Gegensatz zum Superschurken – bereit ist, das ihr Liebste im Leben hinzugeben.

„Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönnen und nähme doch Schaden an seiner Seele“, fragt Jesus gelegentlich – und der Film antwortet eindeutig:

Dem Superschurken hat es nicht geholfen, die ganze Welt zu gewinnen, sondern durch den Schaden an seiner Seele gibt er dem rettenden Engel Wonder Woman Gelegenheit die Welt zu retten. So wie der Wunscherfüllung liegt auch der Erlösung ein Tausch oder ein Wechsel zugrunde, ein fataler Tausch auf der einen und ein fröhlicher Wechsel auf der anderen Seite. Ganz ohne Kenntnis unserer Superhelden hat Martin Luther vom „fröhlichen Wechsel“ gesprochen, der uns erlöst.

Tausch und Wechsel sind eigentlich ökonomische Vorgänge; auch unsere Geldwirtschaft hat keineswegs die Tauschwirtschaft überwunden sondern vielmehr nur verfeinert, denn sie beruht auf dem Eintauschen eines Metallplättchens, einer Geldmünze, oder eines Papierfetzens, einer Geldnote, in die Ware oder die Leistung, die ich zu haben wünsche. Um das eine zu bekommen, muss ich das andere hergeben. Das lernen wir meistens schon im Sandkasten, wenn uns gesagt wird, dass wir das Eimerchen an unseren Spielkameraden abgeben müssen, um dessen Schäufelchen zu bekommen. Wenn das einer nicht einsieht, fließen die Tränen – und wer das nicht im Sandkasten eingesehen hat, kann schon mal als Finanzjongleur die Welt in eine Wirtschaftskrise stürzen. Wer was bekommen will, muss was abgeben, basta. Noch der Ganove erlebt das an sich, wenn er zwar keinen Wert und keine Leistung hingibt, aber eben seine Rechtschaffenheit und seine Unschuld, und wenn er fortan damit rechnen muss, im Nachhinein für Schuld und Schulden zu bezahlen.

Wenn also unser Predigttext heute davon spricht, dass das Korn hinzugeben ist, um später die Frucht zu erhalten: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht, dann folgt er eigentlich auch mehr dieser grundsätzlichen wirtschaftlichen Logik als der oberflächlichen landwirtschaftlichen Logik – der natürlich auch. Aber dass es Jesus und seinem Biographen Johannes hier nicht so sehr um Wachsen und Gedeihen – und eben nach auflösender Deutung um Begraben Werden und Auferstehen – sondern um Tausch und Wechsel geht, erhellt ganz klar aus dem Zusammenhang: Wer sein Leben lieb hat, der verliert es; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s bewahren zum ewigen Leben. Wer mir dienen will, der folge mir nach; und wo ich bin, da soll mein Diener auch sein. Und wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.

In einem Kommentar zu dieser eigentlich gut verständlichen, aber durch die Wendung „sein Leben hassen“ etwas sperrigen Stelle heißt es: „,Sein Leben zu lieben´ heißt, das eigene Leben und Überleben als der Güter Höchstes zu betrachten, es heißt allein darauf bedacht zu sein, die eigenen Interessen durchzusetzen, … Demgegenüber wird mit der Rede vom ,Hassen´ des eigenen Lebens ,in dieser Welt´ nicht etwa zu pathologischen Selbsthass aufgerufen, sondern [eine] Rangordnung eingeklagt. … [Man wird das Wort] besser durch ,hintansetzen´oder dem höheren Gut gegenüber ,geringachten´ übersetzen.“ (Thyen, Das Johannesevangelium)

Vielleicht folgt die hier ausgedrückte Idee aber vor allem der beschriebenen ökonomischen Logik, ohne das Tauschmittel abzuwerten – so wie wir ja auch den Zehneuroschein keineswegs schon dadurch abwerten, wenn wir mit ihm eine Kinokarte bezahlen. Im Tausch- und Zahlungsmittel selbst erfüllt sich noch nicht sein Zweck, aber auch noch uneingelöst vermittelt es dem Träger Freiheit es einzusetzen und Verantwortung es richtig einzusetzen. So werten Jesus und sein Biograph Johannes unser menschliches, irdisches Leben keineswegs ab, sie machen aber deutlich, dass sich der Zweck unseres Lebens nicht in diesem erfüllt.

Im vergangenen Jahr hat das schon zitierte Schiller-Wort eine erstaunliche Karriere in der Deutung der Pandemie gemacht: „das Leben ist der Güter höchstes nicht“ (Schiller, Braut von Messina, Schlusswort des Chors) und wir haben als Publikum gelernt, dass es ein breites Deutungsspektrum entfaltet. Allerdings dürfte es weder als milde Altersweisheit (wie vom Bundestagspräsidenten) noch als Alibi menschenverachtender Nützlichkeitserwägungen (wie vom Vorsitzenden der Partei am rechten Rand) vom Dichter gemeint gewesen sein, wenn der es vom Schlusschor ausdrücklich „erschüttert“ vortragen lässt: „Erschüttert steh‘ ich, weiß nicht, ob ich ihn/ Bejammern oder preisen soll sein Loos./ Dies Eine fühl‘ ich und erkenn‘ es klar:/ Das Leben ist der Güter höchstes nicht,/ Der Uebel größtes aber ist die Schuld.“ Dann fällt der Vorhang vor den beiden Leichnamen der tragischen Helden.

Auf diese Erschütterung angesichts des Todes reimt sich weder stoischer Gleichmut noch das zynische Kalkül über Wert und Unwert von Menschenleben – auch nicht der verblendete Jubel der Märtyrer – sondern auf die Erschütterung angesichts des Todes reimt sich aber durchaus die Sorge um dieses eine unendlich kostbare Leben und die Angst vor dem Tod, mit dem wir es verlieren – trotz der österlichen Hoffnung mit Christus auferweckt zu werden. Die Endlichkeit unseres Lebens muss uns erschüttern, auch wenn an Ostern beides – das Leben und sein Ende – in einem neuen Licht erscheinen, wie die Frauen – in Furcht und Zittern! – es am leeren Grab erfahren haben – und wir von ihnen.

Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Das gilt auch uns. Amen.

Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist

Jesus Christus spricht:
Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.
(Lukasevangelium 6,36; Jahreslosung für das Jahr 2021)

Es versteht sich nicht von selbst, dass wir Gott für barmherzig und schon gar nicht, dass wir ihn für einen barmherzigen Vater halten. Gerade in Zeiten der Seuche könnte man ja auch auf das Gegenteil kommen, dass er grausam wäre, ein grausamer Herrscher, der uns Menschlein mit harter Hand straft und prüft und uns zeigt, wer der Herr ist. Es soll ja sogar solche Väter gegeben haben, die ihre Kinder mit harter Hand erziehen, getreu dem Bibelwort: „Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er, und er schlägt jeden Sohn, den er annimmt.“ (Hebräerbrief 12,6 nach Sprüche 3,12) Und es soll sogar Theologen gegeben haben, die diese Form der schwarzen Pädagogik als die höhere Barmherzigkeit verkauften, Pfui Teufel!

Wahr bleibt, dass weder Gottes Barmherzigkeit am Lauf der Welt ablesbar ist (was die Bibel übrigens auch nicht behauptet; wohl aber gibt es historische Momente göttlicher Barmherzigkeit!), noch dass alle real existierenden Väter zum Bild der Barmherzigkeit taugen (was ebenfalls den Autoren der Bibel nicht entgangen ist; wohl aber erzählen sie und nicht nur ausnahmsweise von löblichen Beispielen!). Dennoch wissen wir, auch wenn wir selbst keinen solchen erlebt haben sollten, was mit der väterlichen Barmherzigkeit gemeint ist und nicht umsonst hat sich in der Bibel das Gottesbild „Vater“ weithin durchgesetzt – nach eher zurückhaltenden Anfängen im Alten Testament hin zur dominanten Metapher bei Jesus, der uns seinen Vater im Himmel als unseren Vater zu glauben gibt: „Vater unser im Himmel …“

Was genau ist mit der väterlichen, genauer (wie gleich zu sehen ist): elterlichen Barmherzigkeit gemeint, mit der uns Gott begegnet und mit der wir anderen begegnen sollen? Barmherzigkeit ist eher Kraft als bloße Eigenschaft, und zwar die, die von sich selbst absieht und anderes Leben schenkt: einem anderen seiner selbst Platz zum Leben einräumt. Das wird bildlich überdeutlich sichtbar an einem der vielen Begriffe für Barmherzigkeit in der Hebräischen Bibel, der nämlich zugleich auch Mutterleib bedeutet.

Natürlich ist Barmherzigkeit als das Geschenk des Lebens nicht zuerst oder vor allem biologisch gemeint, sondern umfassend als Selbstzurücknahme, als Verzicht auf eigene Ansprüche zugunsten eines anderen, der seine Ansprüche nicht anmelden, geschweige denn durchsetzen kann. Der Barmherzige gibt von dem, was er zu viel hat, einem anderen, der davon zu wenig hat. Das müsste er nicht – aber vielleicht doch und deshalb hat die Bibel Alten Testaments neben die großen Bereiche des Straf- und des Kultgesetzes den nicht geringeren des Erbarmensgesetzes gesetzt, dessen Grund und Auftrag unser Bibelwort zusammenfasst: Seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist.

Barmherzigkeit ist nach biblischem Verständnis nicht die philanthropische Kür der Privilegierten, die sie sich leisten können, sondern von Gott auferlegte Pflicht, sich von der Bedürftigkeit anderer anrühren zu lassen und mit ihnen die eigenen Lebensmöglichkeiten zu teilen. Sie ist der für eine gelingende Gesellschaft unverzichtbare Verzicht auf eigene Privilegien zugunsten von Solidarität mit denen, die weniger vom Leben haben, damit auch die leben können.

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den Sonntag Okuli, 3. Sonntag der Passionszeit, 7. März 2021

So ahmt nun Gott nach als geliebte Kinder und wandelt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat und hat sich selbst für uns gegeben als Gabe und Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch. Von Unzucht aber und jeder Art Unreinheit oder Habsucht soll bei euch nicht einmal die Rede sein, wie es sich für die Heiligen gehört, auch nicht von schändlichem Tun und von närrischem oder losem Reden, was sich nicht ziemt, sondern vielmehr von Danksagung.  Denn das sollt ihr wissen, dass kein Unzüchtiger oder Unreiner oder Habsüchtiger – das ist ein Götzendiener – ein Erbteil hat im Reich Christi und Gottes. Lasst euch von niemandem verführen mit leeren Worten; denn um dieser Dinge willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Ungehorsams. Darum seid nicht ihre Mitgenossen. Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit. (Epheser 5, 1-9)

Wissen Sie noch, liebe Schwestern und Brüder, als ungefähr um diese Zeit im vergangenen Jahr die Corona-Wolken über uns immer dunkler und düsterer wurden, und es uns langsam dämmerte, dass da etwas auf uns zukommt und dass es uns bedroht? Schul- und Ladenschließungen waren noch unvorstellbar und zeichneten sich dennoch schon ab.

Eine Art damit umzugehen – man kann es den Eichhörnchenreflex nennen – war, Vorräte anzulegen, Hamsterkäufe zu tätigen. Und so sind wir massenhaft, aber noch durchweg ohne Masken in die Supermärkte gestürmt, haben Klopapier in die Einkaufswagen getürmt und in unseren Vorratskammern gebunkert. Ziemlich sinnlos das alles – Übersprungverhalten im Angesicht einer unbekannten Gefahr, vor der es noch keinen effektiven Schutz gab; aber in Ermangelung sinnvoller Alternativen, sich vor dem Virus zu schützen, haben wir das gemacht, was die anderen gemacht haben.

Und erst mit der Erfahrung, dass die unsichtbare Hand eines fürsorglichen Kapitalismus jeden morgen die Regale wieder auffüllt, hat uns – zumindest vorläufig – und allmählich beruhigt, wie auch die eine oder andere Bemerkung weiser Politiker wie des niederländischen Regierungschefs Mark Rutte, der in aller gebotenen niederländischen Offenheit bemerkte, dass wir in fünf Jahren nicht so viel kacken werden, wie wir jetzt Papier haben. Und so haben wir uns – zumindest was das Kaufverhalten angeht – übers Jahr gemeinsam wieder beruhigt, so wie wir uns vorher gemeinsam aufgeregt hatten.

Tun, was die anderen machen; Nachahmen, sich Anstecken lassen – gefährliches Wort! – vom Tun der anderen; im Schwarm mitschwimmen – Schwarmintelligenz, wie wenig intelligent die auch sein mag – gehört jedenfalls zum Verhaltensrepertoire, das wir Menschen von den Fischen und Vögeln, was sage ich, von den kleinsten und primitivsten Wesen der Evolution geerbt haben – zum Guten wie zum Bösen. Das Nachahmen und Abfärben von Verhaltensweisen scheint es auch in der Religion zu geben. Der heutige Predigttext spricht davon.

Der heutige Predigttext spricht von der Nachahmung Gottes, die er empfiehlt, und vom Einfluss schlechter Gesellschaft, die wir vermeiden sollten, von der wir uns sozial distanzieren sollten! So ahmt nun Gott nach als geliebte Kinder; aber seid nicht Mitgenossen der Kinder des Ungehorsams. Schlechter Umgang verdirbt die Sitten; guter Umgang veredelt sie. Was könnte falsch sein, daran zu erinnern und danach zu handeln? Erstmal nix – aber eigentlich alles!

Denn dass die Kinder des Lichts im Schein ihrer Kerze bleiben und den Gang in die Dunkelheit scheuen, ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was Jesus getan und gesagt hat: „Zündet man denn ein Licht an, um es unter den Scheffel zu stellen oder unter die Bank zu setzen? Und nicht, um es auf den Leuchter zu setzen?“ (Markus 4,21) „In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hats nicht ergriffen. … Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.“ (Johannes 1,4.5.9)

Licht bleibt nicht bei sich; noch die dunkelste Nacht wird durch Sterne erhellt, die ihr Licht durch die dunklen Weiten des Weltalls zu uns senden. Der hellste Stern am Nachthimmel, der Sirius, der uns in den klaren Nächten der vergangenen Winterwochen heimgeleuchtet hat, wie er das seit geschätzten 240 Millionen Jahren tut, ein paar Handbreit links vom Orion, Richtung Süden nach Westen wandernd, vom Orion, den auch der Sternunkundige erkennt an seinem dreisternigen Gürtel in der Mitte und dem kleinen Sternennebel als Schwert darunter; oder im Kopfumdrehen, Richtung Norden, der Polarstern, zwischen Großem Wagen und Kassiopeia, 2000mal heller als unsere Sonne, aber eben auch mit 430 Lichtjahren etwas weiter entfernt als diese; und nur scheinbar über dem Nordpol fixiert, aber in Wirklichkeit immer noch mehr – und zwar mit 17 Sekundenkilometer-Geschwindigkeit – die unendlichen Weiten des Weltalls suchend, in die noch nie ein Mensch vorgedrungen ist und nach menschlichem Ermessen das auch nicht tun wird, wenn uns nicht doch noch einer das Raumschiff Enterprise baut, um auf den großen Treck in Richtung Sterne – den Star-Trek – zu gehen.

Licht bleibt nicht bei sich; Licht geht weite Wege; und auch unser Licht soll nicht bei uns bleiben, sondern weite Wege gehen: zum Nächsten hin, zum Fremden hin, sogar zum Feind hin – unendliche Weiten; emotional und sozial sind das auch Lichtjahre-Entfernungen, die uns Jesus zu gehen beauftragt, um unser Licht, unsere Liebe weiterzutragen. Lasst uns also gerade nicht um das Licht bloß sammeln und es von anderen abschirmen, sondern – den Sternen folgend – das Licht weitertragen und aussenden, damit auch andere vom wahren Licht erleuchtet werden. Erst in der Begegnung mit dem anderen leuchtet das Licht. Wandelt in der Liebe; Wandelt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit. Die sollen wir unter die Leute bringen.

Dabei haben wir im vergangenen Jahr lernen müssen – in einem dialektischen Moment, der vielleicht nur in einem Hegeljahr so möglich war – dass es Situationen gibt, dass ausgerechnet und ausschließlich in der sozialen Distanz unsere Nächstenliebe zum Ausdruck kommen kann: Liebe deinen Nächsten, schütze den Nächsten wie Dich selbst, in dem du dich von ihm fernhältst. Dieses Paradox ist kaum zu verstehen und kaum auszuhalten – und es scheint so, dass wir es nach einem Jahr kaum noch aushalten können. Begleitet von allerlei schändlichem Tun und orchestriert von närrischem oder losem Reden scheinen wir es uns gerade jetzt zeigen zu wollen, dass unsere Geduld in dieser Zeit und unsere Einsicht in ihre besonderen Erfordernisse aufgebraucht ist und tun so – selbst solche, die bislang behutsam und besonnen waren, tun so – als sei das schon ein Argument, dass die Leute die Schnauze voll haben. Ob das das Virus überzeugt, dass wir die Schnauze von ihm voll haben? Wer hätte das denn nicht? – Aber deswegen wird die Seuche nicht verschwinden; genauso wenig wie ein Schnupfen verschwindet, wenn und weil er mich stört. Gegen jede Vernunft scheinen viele zu meinen: Genug ist genug; jetzt lassen wir das Mal mit den Maßnahmen, dann wird die Pandemie schon weggehen; Hauptsache die Wirtschaft brummt.

Aber: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele“ (Markus 8,36), sagt Jesus gelegentlich. Was hülfe es dem Menschen, wenn alle Geschäfte öffnen, er aber zu krank oder zu tot zum Einkaufen ist. Entgegen anderslautender Gerüchte ist festzuhalten, dass es keinen Konflikt medizinischer und ökonomischer Logiken in Zeiten der Seuche gibt, denn nur ein gesunder Kunde ist ein guter Kunde und die Mindestanforderung zur Teilnahme am Wirtschaftsleben ist die Existenz der Teilnehmenden: Wer tot ist, kauft nichts.

Deshalb: Wandelt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit. Zur Wahrheit gehören auch die unangenehmen Wahrheiten, die wir uns anders wünschen, die sich aber durch Wunschdenken nicht verändern werden. Und Gerechtigkeit muss immer allen gelten, also auch den Schwächsten im Blick haben, den Verwundbarsten, die Risikogruppen, die nicht zum Opfer frühzeitiger Öffnungen werden dürfen. Und Güte kann auch unter ihrem scheinbaren Gegenteil erscheinen, in der schützenden physischen Distanz von denen, zu denen wir uns – soviel Dialektik muss auch im Jahr nach dem Hegeljahr sein – eigentlich hinwenden wollen und denen wir uns ganz gewiss wieder – auch leiblich, physisch, sozial – zuwenden werden – unter der Voraussetzung, dass es sie dann noch gibt!

Wandelt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit. Amen.

Predigttext für den Sonntag Invokavit, erster Sonntag in der Passionszeit, 21.2.21

Als Jesus das gesagt hatte, wurde er erregt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete. Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete. Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist’s? Jesus antwortete: Der ist’s, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald! Niemand am Tisch aber wusste, wozu er ihm das sagte. Denn einige meinten, weil Judas den Beutel hatte, spräche Jesus zu ihm: Kaufe, was wir zum Fest nötig haben! oder dass er den Armen etwas geben sollte. Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht. (Evangelium des Johannes 13,21-30)

Neulich hat ein britischer Mathematiker ausgerechnet, dass alle Corona-Viren, die zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der ganzen Welt gerade zirkulieren, in eine Cola-Dose passen, eigentlich reicht sogar eine halbe Coladose. Das erinnert einerseits an die berühmten mittelalterlichen Theologendispute (die es vielleicht gar nicht gab) über die Zahl der Engel, die auf einer Nadelspitze Platz finden. Toll, dass das einer berechnet, aber irgendwie sinnlos, zumal die Existenz von Engeln bestritten werden kann – die von Viren leider und idiotischerweise bekanntlich auch – und beiden eine gewisse, dem Alltagsverstand unzugängliche Körperlosigkeit eignet, die in keinem Verhältnis zu ihren Wirkungen steht – zum Guten die einen, zum Bösen die anderen. Ob Engel sich auf Nadelspitzen tummeln, bleibt spekulativ, aber dass die Corona-Viren längst ihre Cola-Büchse der Pandora verlassen haben, was immer die ist und wo immer die geöffnet wurde, und nun milliardenfach als nanometergroße apokalyptische Reiter, als wildes Heer in den letzten Winkel der Erde rasen – das aber ist schmerzhaft bekannt: so klein und schon so böse!

Auch der gefallene Engel, der Teufel – als es ihn noch gab – konnte sich klein machen, wie wir mit unserem: Der Teufel steckt im Detail, immer noch exorzistisch korrekt bekunden, und er konnte quasi körperlos seine Bosheit exekutieren, wie wir heute in unserem überaus merkwürdigen Predigttext lesen; so klein, dass er dem Judas in den Mund fährt, so körperlos, dass das niemand der zu Tische Liegenden sieht. Und das ist ja – neben ihrer Zerstörungswut bei gleichzeitiger Winzigkeit – eine weitere Ähnlichkeit zu den fiesen Viren, dass sich der Teufel menschlicher Körperöffnungen bedient, um als todbringender Parasit seinen Wirt zu befallen, zu verderben und umzubringen. Deswegen – und unter unwissender Vorwegnahme der virologischen Erkenntnisse späterer Zeiten – waren die mit diesen Öffnungen verbundenen Tätigkeiten so verdächtig – und wurden je nach Temperament der Exorzisten und Mode der Zeit dämonologisch priorisiert. Noch heute spucken wir unser Aerosol mit dem unseren Ekel bekundenden: Pfui Teufel! demselben symbolisch entgegen als performativer Mundschutz. Analoges hat Luther auf dem Klo verrichtet und ausführlich berichtet.

Damit dürften schon die wichtigsten Ähnlichkeiten einigermaßen erschöpfend benannt sein, die aber nur die viel größere Unähnlichkeit zwischen Teufel und Viren beleuchtet, insbesondere die für uns Aufgeklärte selbstverständliche Unähnlichkeit zwischen der Existenz der einen und Nicht-Existenz des anderen, bzw. die umgekehrt proportionale Idiotie bei der Leugnung beider. Aber vielleicht liegt da auch ein Irrtum vor: Vielleicht ist es genauso idiotisch den Teufel zu leugnen wie das Virus.

Einer meiner theologischen Lehrer hat uns auf die Frage, ob es den Teufel gäbe, geantwortet, dass er nicht an den Teufel glaube aber sich vor ihm fürchte, und dass dessen Geschäft seit alters die Verharmlosung des Bösen sei und seine Leugnung durch uns genau das wäre, was er sich wohl wünschen würde, wenn es ihn denn gäbe.

Mit der Austreibung des Teufels aus der Theologie – ein selten erfolgreicher Exorzismus! – fehlt uns nun ein Begriff für das Böse und mehr noch ein Symbol für den Bösen und wir halten den Sieg über den Teufel für einen Sieg über das Böse, was aber ein offensichtlicher Irrtum wäre, worüber uns jeden Morgen der Blick in die Zeitung unterrichtet: Böses gibt es reichlich und gerade das Virus, das ja zunächst und für sich eine Naturkatastrophe ist, bietet jede Menge Möglichkeiten das menschliche Böse zu kultivieren: sei es die Verfeinerung unseres rücksichtslosen Egoismus, schön erkennbar in der Impffrage; sei es die Relativierung menschlichen Lebens, wenn etwa reputierliche Wirtschaftsweise fordern, eine gewisse höhere Sterblichkeit zugunsten der Ökonomie hinzunehmen – das könnte beinahe vom Teufel persönlich stammen: lasst die Alten sterben damit es mit der Wirtschaft flutscht! – ; sei es die Verwirrung der öffentlichen Debatte durch chaotische Berichterstattung eines Journalismus, der alles Chaos und Katastrophe nennt, was eigentlich nur Fehler – und vielleicht nicht einmal das – genannt zu werden verdient. Darüber würde sich der Teufel bestimmt freuen, weil Verwirrung zu den Kerngeschäften des Teufels, also des Diabolus gehört – des „Durcheinanderwerfers“ nach dem griechischen Wort „diaballein“ – „durcheinanderwerfen“.

Die Kenntnis des Virus als biologischer Sachverhalt allein widerlegte noch nicht, dass die Pandemie ein Werk des Teufels ist, zumal Erderwärmung, Zerstörung der Urwälder und profitmaximierte Fleischindustrie das Entstehen neuer Viren und also auch des Corona-Virus begünstigt und allesamt auf menschliches Verhalten zurückgehen, für das man früher den Teufel – als es ihn noch gab – verantwortlich gemacht hat. Ohne ihn zerfällt die Suche nach den Ursachen und die Identifikation der Verantwortlichen in ein Puzzle ohne Bild, ohne Struktur und ohne moralische Logik: trotz aller Beteuerungen wird es nach einer Schrecksekunde von ein zwei Jahren wieder so weitergehen wie zuvor. Und das wünschen wir uns ja auch wie nichts sonst: die Rückkehr in die Normalität – unter völlig verwirrter Ausblendung, dass uns genau diese Normalität in genau diese Ausnahmesituation geführt hat. Also doch ein Werk des Teufels?

Dass der Teufel nach seinem Ableben nicht einfach theologisch reanimiert werden kann, erschwert auch unseren Zugang zu unserem Predigttext, in dem nun einmal der Teufel einen prominenten Auftritt hat. Mindestens zwei Nachrichten aber hat der Text für unser postdiabolisches Zeitalter, zuerst die schlechte:

Der Teufel – also für uns Ungläubige das schlechthin Böse – schleicht sich noch in die privatesten Beziehungen, vermag aus einem Freundeskreis einen wahren Teufelskreis machen, zersetzt unsere Verbindungen aus Vertrauen und Liebe. Wie das Virus lebt auch der Teufel von unseren sozialen Kontakten, und wie dieses lässt er sich bisweilen nur durch soziale Distanz aufhalten – so dachten wenigstens die Eremiten früherer Zeiten, die mit ihrem Gang in die Wüsteneinsamkeit auch dem Teufel entfliehen wollten; und so denken wir gelegentlich noch heute, wenn wir meinen, dass nur eine Trennung ehemals Liebender Böses und Böseres verhindern kann; und so wird dann ja auch der Verräter unserer Geschichte später getrennt – hinaus in die Nacht.

Der jesuanische Jüngerkreis wird in unserer Geschichte in irritierender Fremdheit und Offenheit als antikes Symposion geschildert: Der Meister und seine Freunde, darunter der Jünger, den Jesus liebte und dessen literarische Rolle die des Autors des Johannesevangeliums ist, liegen zu Tisch, je zwei auf einer Liege, körperlich näher als wir uns das vorgestellt haben, miteinander tuschelnd und sich gegenseitig die Brocken in den Mund fütternd. Und sogar in diesen heiligen Freundschaftsbund der Liebe und des Glaubens kann der Teufel eindringen. Nichts ist vor ihm sicher, noch nicht einmal der Gottessohn. Auch wir sollten uns nicht zu sicher fühlen. Soweit die schlechte Nachricht, jetzt die gute.

Trotz seiner Gewalt und seiner gewaltigen Macht noch die innigsten Kreise der Liebe zu durchdringen und zu zerstören, kann er doch nicht anders, als dem Willen Gottes zu folgen, der immer stärker bleibt. Selbst die krummen Touren des Teufels – seine Anstiftung zum Verrat der Liebe – müssen zum guten, zum göttlichen Ziel führen. Gott ist offensichtlich nicht so allmächtig, dass er den Teufel einfach wegsperren kann – so wie wir ihn in und mit unserer Vernunft wegzusperren vermeinen; aber Gott ist doch allemal mächtiger als dieser Widersacher. Einzelne – auch viele – infizieren mit seiner Bosheit, das kann er schon; aber Gottes Menschheitsprojekt dauerhaft und nachhaltig in Frage stellen, das kann er nicht. Unsere durchaus gefährdeten, verwundbaren – vulnerablen: noch so ein schönes Wort, dass uns die Seuche lehrt – Gemeinschaften sind stärker als alle möglichen Angriffe: stärker nicht durch Rüstung und Waffen, stärker vielmehr durch die Macht der Liebe und der Gemeinschaft und der Solidarität; stärker also durch ihre Verwundbarkeit und die Bereitschaft die Wunden anderer zu verbinden.

Die teilt Gott mit uns durch seinen Sohn, übrigens nicht erst am Kreuz, auf das wir nun in diesen Wochen zugehen, sondern schon hier und jetzt, wenn er nämlich auch schon seine Sorge und seinen Schmerz mit uns teilt, was da auf ihn zukommt. Wenn es in der Einleitung unserer kurzen Szene heißt: er wurde erregt im Geist , müsste es wörtlich eher heißen er „wurde betrübt im Geist“ in Anlehnung an den 42. Psalm, der hier frei zitiert wird:

„Was betrübst du dich, meine Seele,
und bist so unruhig in mir?
Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken,
dass er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.“

Aus unseren Wunden erweckt Gott das Wunder neuen Lebens, weiß der Beter und wir können das auch wissen. Amen.

Predigttext für den Sonntag Estomihi, letzter Sonntag vor der Passionszeit, 14.2.2021

Rufe laut, halte nicht an dich! Erhebe deine Stimme wie eine Posaune und 

verkündige meinem Volk seine Abtrünnigkeit und dem Hause Jakob seine Sünden! Sie suchen mich täglich und wollen gerne meine Wege wissen, als wären sie ein Volk, das die Gerechtigkeit schon getan und das Recht seines Gottes nicht verlassen hätte. Sie fordern von mir Recht, sie wollen, dass Gott ihnen nahe sei. »Warum fasten wir und du siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst’s nicht wissen?« Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit oder seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag, an dem der Herr Wohlgefallen hat? Ist nicht das ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß jedes Joch weg! Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. (Buch des Propheten Jesaja 58,1-9a)

Was lässt sich nach diesem Sturm an Worten, liebe Schwestern und Brüder, noch für das Fasten vorbringen? Wie könnten wir es rechtfertigen nach diesem prophetischen Frontalangriff auf seine Wirkungslosigkeit, seine Läppischkeit, seine Heuchelei? Welche Argumente für das Fasten könnte es geben und wer lieferte sie uns?

Also die bekannte Fastenzeit-Aktion „Sieben Wochen ohne …“ der evangelischen Kirche eher nicht. Sie wirbt in diesem Jahr doch tatsächlich mit den folgenden Worten auf ihrer Homepage:

„ ‚Sieben Wochen ohne Blockaden‘ liegen vor uns. Klingt fast vermessen, oder? Selten wurden wir so umfassend ausgebremst wie jetzt, in der Corona-Pandemie. Kein Fußballtraining, kein Kino, kein Stöbern im Buchladen. Das Krankenhaus lässt keine Besucher:innen hinein. Die Gastwirtin darf ihr Lokal nicht öffnen. Diese Beschränkungen sind notwendig, wir müssen sie respektieren. Aber wir wollen in dieser Fastenzeit den Blick heben, um mehr zu sehen als nur die verschlossenen Türen.

Die ausgetretenen Pfade verlassen und neue Wege entdecken. Das war schon immer das Motto der Fastenaktion ‚7 Wochen Ohne‘. In diesem Jahr sind wir da besonders gefragt. Wir können uns als Fastengruppe nicht im Gemeindehaus treffen, als Gemeinde nicht in der Kirche Gottesdienste feiern. Diese Türen sind zu. Aber andere sind weit offen – die zur virtuellen Welt. Auf dem Bildschirm können wir uns digital begegnen. Es eröffnet sich ein neuer Raum, ein großer Spielraum. Betreten wir ihn gemeinsam!“

Sieben Wochen – ohne Blockaden? Geht’s noch? Ich hatte spontan eine – eine Blockade – beim Lesen und habe allein diesen Abschnitt ein paar Mal lesen müssen, um zu kapieren, auf was die eigentlich hinauswollen. Vermutlich haben sie gemeint, dass sie in diesem besonderen Jahr nicht an Corona vorbeikommen, womit sie wohl recht haben, aber was „Sieben Wochen ohne Blockaden“ jetzt mit Fasten und mit der Fastenzeit zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht; abgesehen davon, dass Corona doch ohnehin über den Begriff der Quarantäne (von dem italienischen Wort für „Vierzig“) ganz eng mit der vierzigtägigen Fastenzeit verbunden ist; denn die Seuchenbekämpfung hat sich seit alters dieser biblischen Idee einer vierzigtägigen Abwesenheit oder Wüstenzeit bedient; die Brücke zwischen Fastenzeit und Corona wird einem ja förmlich mit dem Silbertablett serviert – aber von der Fastenaktion nicht überschritten.

Schon im vergangenen Jahr hatte die Aktion ordentlich danebengehauen mit dem damaligen Slogan „Sieben Wochen ohne Pessimismus“ und hatte auch sonst wohlwollende Leser oder teilnehmende Beobachter etwas ratlos gelassen: Was sollte das? Abgesehen davon, dass so mal kurz der ursprüngliche Sinn des biblischen Fastens, nämlich als Ausdruck der Trauer oder der Buße, ins Gegenteil verkehrt wurde, konnte nicht einleuchten, wieso der Verzicht auf Pessimismus als Einschränkung oder Mühe, die doch intrinsisch zum Fasten gehören, gesehen werden sollte. Dass der zeitgleiche Beginn der Pandemie vor einem Jahr allen Grund zu Pessimismus gab, konnte natürlich niemand vorherwissen, hebt aber nur noch den Missgriff hervor.

Dieser Missgriff könnte schon genau darin bestehen, was die Initiatoren als „Motto“ der Aktion bezeichnen und wohl als ihren eigentlichen Sinn meinen: „Die ausgetretenen Pfade verlassen und neue Wege entdecken“; also wohl eher ein religiöses Wellnessprogramm als alles andere: Sieben Wochen Wohlfühlen, sich etwas Gutes gönnen, Entschlackungskur, die Seele baumeln lassen.

Noch in dieser Karikatur des religiösen Fastens zeigt sich aber das Problem, das der Prophet wortgewaltig aufspießt: Fasten hat eine – vielleicht unvermeidliche – Tendenz zur religiösen Selbstbeschäftigung: „unterm Strich zähl ich“, um es in den Worten eines ollen Werbespruchs zu sagen. Wie jede Form der Askese fordert das Fasten eine Art selbstoptimierter Leistung, die aber eigentlich für alle anderen außer einem selbst komplett sinnlos ist: Denken wir an heilige Männer, die sich auf Nagelbretter setzen oder Gliedmaßen durchbohren oder ihr Leben hungernd auf einer Säule verbringen.

Um ein eigenes, nicht religiöses Beispiel zu nehmen: Das ist so ein bisschen wie bei den Spezialfähigkeiten bei der ehemaligen Fernsehshow „Wetten das“ – die Älteren werden sich erinnern, wo man auch immer gedacht hat: irgendwie toll, dass der das kann, aber warum verbringt er seine Zeit nicht mit was Sinnvollem? Ok, er kann mit einem Bagger Weinflaschen entkorken oder an Buntstiften die Farbe herausriechen – Nein, das konnte er nicht! – aber warum baut er kein Haus mit dem Bagger und warum malt er kein Bild mit den Stiften? Und beim Fasten: Warum verzichtet er nicht auf etwas, das anderen zugute kommt? Warum verwendet er seine Kraft nicht dazu anderen zu helfen? Warum – zum Teufel – glaubt er mit seinem – glauben wir mit unserem – Fasten, Gott zu beeindrucken, wenn gleichzeitig Menschen verhungern? Der mit dem Fasten beschäftigte Mensch ist letztlich mit sich selbst beschäftigt und verschließt sich Gott, anstatt sich ihm zu öffnen. Muss das so sein und muss man das so sehen?

Der Theologe und Philosoph Schleiermacher hat grundsätzlich zwei Formen menschlichen Handelns unterschieden: Das wirksame Handeln, etwa das Handeln, das Jesaja einfordert, um jemand Bedürftigem zu helfen – oder überhaupt auch das wirksame Handeln, mit dem wir im Alltag tätig sind, im Beruf, bei der Arbeit, in Haushaltsdingen. Er meint damit jedes Handeln, das auf einen Effekt oder ein Ergebnis ausgeht. Davon unterscheidet er das darstellende Handeln, das nichts bewirken, nichts erreichen will sondern etwas zeigen, etwas sichtbar machen, eben etwas darstellen soll. An Kinderspiel und Theater, an Fest und Feier ist da zu denken, aber auch an den Sonntagsgottesdienst, der ja auch nichts erreichen oder bewirken will sondern den gemeinsamen Glauben feiern und so darstellen soll. Auch solches darstellendes Handeln hat seine Berechtigung, es soll halt nur nicht mit dem anderem, dem wirksamen Handeln verwechselt werden oder es ersetzen. Es verhält sich ungefähr wie der Ruhetag zu den vorhergehenden Arbeitstagen, hat ein eigenes Recht und eine eigene Berechtigung; Schleiermacher spricht von der Hemmung der Geschäftstätigkeit als Voraussetzung und Sinn des darstellenden Handelns.

Wenn nun auch das Fasten als besondere Form des Gottesdienstes und damit als darstellendes Handeln verstanden wird, ließe sich vielleicht – sicher bin ich mir da nicht! – auch ein Jesaja damit versöhnen. Man müsste natürlich sicherstellen, dass mein übriges wirksames Handeln dem nicht widerspricht; man müsste sicherstellen, dass es nicht frommes Getue ist oder religiöser Leistungssport wird, sondern dass ich es mir selbst glaube, was ich da zeige.

Wenn wir das Fasten als religiöses Spiel betrachten, das nichts bewirkt und niemanden, schon gar nicht mich selbst, besser macht, dann könnte es vielleicht den strengen Blick des Propheten aushalten. Es wäre vor aller Verwechselbarkeit mit religiösen Wellnessprogrammen und auch vor dem Lob gesundheitlicher Vorteile – die es natürlich hat, die aber religiös unerheblich sind – zu bewahren. Es hätte die vierzig Wüstentage Jesu in ihrer Mühe und ihrer Einsamkeit nachzuvollziehen. Es hätte sich nichts zu beweisen, müsste sich klar sein, dass der echte Hunger allemal wichtiger und dringlicher ist als der gespielte Hunger und sollte glauben können, dass Gott auch ohne jedes Fasten zu mir sagt: Siehe, hier bin ich.

Kurz: Das Fasten müsste sich als Spiel ernst nehmen. Amen.