3. Sonntag nach Trinitatis, 25. Juni 2023

Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat´s nicht.
Das aber verdross Jona sehr, und er ward zornig und betete zum Herrn und sprach: Ach, Herr, das ist’s ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Lande war. Deshalb wollte ich ja nach Tarsis fliehen; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. So nimm nun, Herr, meine Seele von mir; denn ich möchte lieber tot sein als leben. Aber der Herr sprach: Meinst du, dass du mit Recht zürnst? Und Jona ging zur Stadt hinaus und ließ sich östlich der Stadt nieder und machte sich dort eine Hütte; darunter setzte er sich in den Schatten, bis er sähe, was der Stadt widerfahren würde. Gott der Herr aber ließ einen Rizinus wachsen; der wuchs über Jona, dass er Schatten gab seinem Haupt und ihn errettete von seinem Übel. Und Jona freute sich sehr über den Rizinus. Aber am Morgen, als die Morgenröte anbrach, ließ Gott einen Wurm kommen; der stach den Rizinus, dass er verdorrte. Als aber die Sonne aufgegangen war, ließ Gott einen heißen Ostwind kommen, und die Sonne stach Jona auf den Kopf, dass er matt wurde. Da wünschte er sich den Tod und sprach: Ich möchte lieber tot sein als leben. Da sprach Gott zu Jona: Meinst du, dass du mit Recht zürnst um des Rizinus willen? Und er sprach: Mit Recht zürne ich bis an den Tod. Und der Herr sprach: Dich jammert der Rizinus, um den du dich nicht gemüht hast, hast ihn auch nicht aufgezogen, der in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb, und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere? (Buch des Propheten Jona 3,10; 4,1-11)

Am 14. Juni 2014 erschüttert eine gewaltige Detonation durch Truppen des islamischen Staats (IS) die menschenleere Stadt Mosul, in deren Mitte die Ruinen der riesigen assyrischen Hauptstadt Ninive liegen und legt das Wahrzeichen der Stadt, die altehrwürdige Nebi-Yunus-Moschee mit dem Grab des auch im Islam hochverehrten Propheten Jona – also des Nebi Yunus – in Schutt und Asche. Nicht zum ersten Mal wird Ninive zerstört: Im Jahr 612 v. Christus, also vor gut 2600 Jahren, ging das assyrische Großreich im Sturm von Medern und Babyloniern unter und mit ihm die Hauptstadt Ninive, die belagert, eingenommen und gründlich niedergebrannt wurde – und trotz aller Zerstörung reiche Kunst- und Kulturschätze unter den Trümmern hinterließ. Auch um deren endgültige Zerstörung als Götzenbilder ging es bei dem Angriff auf Mosul vor 9 Jahren durch die islamistische Terrormiliz.

Es berührt merkwürdig, wie sich die Geschehnisse wiederholen und wie die Weltläufe heute und damals sich berühren – und obendrein wie realistisch und aktuell das humoristisch-prophetische Märchenbuch über den Propheten Jona immer noch ist. Wir erinnern uns an den Walreisenden wider Willen, den widerwilligen Propheten, der erst trotzt, weil er den Untergang Ninives verkünden soll, und dann schmollt, weil der Untergang ausbleibt. Genau an dieser Stelle der Geschichte befinden wir uns mit unserem Predigttext: Als aber Gott das Tun der Niniviten sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat´s nicht. Das aber verdross Jona sehr.

Verdruss über die Gnade Gottes: wenn es so nicht immer noch in den Handbüchern gewaltbereiter religiöser Fanatiker stünde, wäre das beinahe komisch. Das zentrale Gottesbekenntnis von Juden, Christen, Muslimen und sicherlich vielen Religionen, das Bekenntnis zum gnädigen Gott, zum barmherzigen Gott, zum Allerbarmer spricht Jona als Karikatur eines Vorwurfs: ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. In vollendeter prophetisch-dramatischer Ironie mault der Diener Gottes darüber, dass Gott, sein Herr, gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte ist, wie es die Psalmbeter in ihrem Gotteslob oft und oft besingen. Jona beklagt sich darüber, dass Gott ist, wie er ist; klagt, dass dieser mit seiner Gnade im Unrecht sei; fordert vielmehr Gerechtigkeit als Strafe und Rache.

Immerhin nimmt er nicht selbst das Schwert Gottes in die Hand, wie so viele andere religiöse Fanatiker und Gewalttäter; zieht in keinen heiligen Krieg gegen Ungläubige und Ungerechte; legt keine Weltreiche und Metropolen in Schutt und Asche – sondern er verzieht sich nur in seine Schmollecke, widmet sich seinem Ärger über Gott und die Welt, pflegt seine Verbitterung: So nimm nun, Herr, meine Seele von mir; denn ich möchte lieber tot sein als leben. Und Jona ging zur Stadt hinaus und ließ sich östlich der Stadt nieder und machte sich dort eine Hütte; darunter setzte er sich in den Schatten, bis er sähe, was der Stadt widerfahren würde. Wir kennen das von uns selbst und von anderen: Als gekränkte und beleidigte Leberwurst verziehen wir uns in unsere Schmollecke; eigentlich dämmert uns schon, dass wir uns verrannt haben; aber die Kraft der Einsicht, selbst da wieder herauszukommen, reicht noch nicht.

Auch Gott hätte allen Grund, ihn dort nun ein bisschen schmoren zu lassen, er sagt ihm auf den Kopf zu, sich nicht so zu haben: Aber der Herr sprach: Meinst du, dass du mit Recht zürnst? Und erbarmt sich dann eben doch wieder, nun halt über Jona; Gott scheint nicht anders zu können als gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte zu sein. Und dazu unternimmt Gott einiges, auch unwahrscheinliches.

Wie schon zuvor in der Jonageschichte engagiert Gott die Natur auf wunderbare Weise, um ihren Gang zu lenken und Jona auf die Spur zu bringen. Nach dem Walfisch kommt eine Rizinuspflanze zum Einsatz, und dann Wurm und Sturm. Die ganze Schöpfung wird in Dienst genommen für unser theologisches Märchen, das sich hier einen pädagogischen Schabernack erlaubt. Auch wenn die Rizinuspflanze schnell und hoch wächst, bis zu drei Metern Höhe in diesen Breiten sagen die Pflanzenkundler, aber dann doch nur im Märchen so schnell und so hoch, dass sie in nur einem Tag einem ausgewachsenen Propheten zum Unterschlupf vor der Sonnen dienen kann. Und sie wächst auch nur um gleich wieder zu welken, angefressen von einem Wurm; angefressen wie Jona angefressen ist vom Wurm der Selbstgerechtigkeit und Selbstbezogenheit; angefressen wie Jona, der sich wegen einer theologischen Rechthaberei eine große Stadt in Schutt und Asche wünscht, aber dann eben doch große Freude über den schnellgewachsenen Sonnenschutz erlebt – nur um diesen gleich wieder zu verlieren durch Schädlinge und Stürme, ganz wie heute im richtigen Leben.

Ob Jona die Moral seiner Geschichte verstanden hat? Eher nicht, zumindest bricht die Geschichte mit der Belehrung Gottes ab, von einer Einsicht Jonas wird nicht berichtet. Dich jammert der Rizinus, um den du dich nicht gemüht hast, hast ihn auch nicht aufgezogen, der in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb, und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere? Wichtiger ist, dass wir sie hören und verstehen. Nicht um theologische Richtigkeiten geht es dem unbekannten Autor des Jonabuches – denn selbst die Wirklichkeit hat er mit seinem humoristischen Prophetenmärchen längst hinter sich gelassen – sondern es geht ihm um Einsicht in den unbedingten Vorrang von Gottes Gnade und unserem menschlichen Mitleid. Also nicht Selbstmitleid, davon hat Jona mehr als genug – sondern um die Einsicht in das Leid der anderen, mit der Gott uns und die Welt verändern möchte. Dafür lässt er den Jona weite Wege gehen und uns dabei zusehen.

Nachdem im Irak und in Mosul der IS vertrieben und zumindest annäherungsweise staatliche Ordnung wieder hergestellt ist, bemühen sich auch deutsche Archäologen um die Sicherung der Hinterlassenschaft auch des antiken Ninive, und auch des Palastes, in dem Jona unserer Geschichte nach den assyrischen Herrscher zur Umkehr gerufen haben soll. Eine Erinnerungsstätte an diesem Ort des bei Juden, Christen und Muslimen gleichermaßen erinnerten Propheten wäre nicht das schlechteste Zeichen gegen religiöse Gewalt und für die Resilienz der Religion, die noch auf unwahrscheinlichste Weise – trotzige, ungläubige Propheten – und auf unwahrscheinlichsten Wegen – wer schwimmt schon durch das Meer im Bauch eines Wals? – das Wort von der Gnade Gottes verbreitet: Denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. Amen.

Sonntag Trinitatis, 4. Juni 2023, Konfirmationsjubiläum

In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch. Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei. Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich!

Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet’s nicht; sehet und merket’s nicht! Verfette das Herz dieses Volks und ihre Ohren verschließe und ihre Augen verklebe, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen.Ich aber sprach: Herr, wie lange? Er sprach: Bis die Städte wüst werden, ohne Einwohner, und die Häuser ohne Menschen und das Feld ganz wüst daliegt. Denn der Herr wird die Menschen weit wegführen, sodass das Land sehr verlassen sein wird. Auch wenn nur der zehnte Teil darin bleibt, so wird es abermals kahl gefressen werden, doch wie bei einer Terebinthe oder Eiche, von denen beim Fällen noch ein Stumpf bleibt. Ein heiliger Same wird solcher Stumpf sein. (Buch des Propheten Jesaja 6,1-13)

Heilig ist Gott der Herr, was sage ich, dreimal heilig, niemand darf ihn ansehen, sogar die Seraphen, gefiederte Feuerschlangen, bedecken ihr Angesicht und Augen; doch wohl aus Gottesfurcht und Gottesscham; wie ja auch der Prophet nach seiner Vision sogleich entsühnt werden muss, glühende Kohle an seinen Mund, damit er ohne Schaden zu nehmen sagen kann, weitersagen kann, was er gesehen hat. Groß ist Gottes heilige Majestät, raumfüllend, tempelraumfüllend, aber verborgen in seinem nur ihm vorbehaltenen Raum; und dabei erstrahlt die ganze Welt gleichzeitig durch seine heilige Herrlichkeit; schlechthin verborgen und ganz und gar offensichtlich zugleich – „hidden in plain sight“: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!

Als die Christen begannen, diesen Text mit seinem Dreimalheilig und wegen des Dreimalheilig auf die Dreieinigkeit ihres Gottes zu beziehen, in dem Versuch den Propheten, der sicher nicht trinitarisch glaubte, besser zu verstehen als dieser sich selbst verstand, erschlossen sie sich – zusammen mit dem sprachlich-oberflächlichen Dreimalheilig – einen Hintergrund ihrer Trinitätslehre, der diese noch viel tiefer und gründlicher erklärt: Gottes verborgene Heiligkeit und seine offensichtliche Herrlichkeit sollen zusammen gedacht, zusammen geglaubt und zusammen verehrt werden. Erst Gottes Majestät mit seiner Offenbarung in seinem Sohn und in ihrem gemeinsamen Geist sind Gott, der dreieinige Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist.

Aber als ob der Prophet seine christlichen Interpreten schon besser verstand, als diese sich ein paar Jahrhunderte später selbst verstehen würden, scheint er die Kommunikationsstörungen, die Missverständnisse, das ganze Kuddelmuddel um die Trinitätslehre zwischen Verkündigern und Hörern vorwegzunehmen, die von Anfang an als tief, schwer, dunkel galt, als zu hoch, zu verwickelt, zu verworren, unentwirrbar und unverständlich: Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet’s nicht; sehet und merket’s nicht! Verfette das Herz dieses Volks und ihre Ohren verschließe und ihre Augen verklebe, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen.

Der Prophet benennt hier das prophetische Paradox, nämlich den Auftrag, so zu sprechen, dass ihn möglichst niemand versteht, was ja bis heute ganz gut funktioniert in der Kirche – kahl gefressen und reichlich ungewiss, ob wie bei einer Terebinthe oder Eiche, … beim Fällen noch ein Stumpf bleibt. Klingt alles ein wenig nach dem Mann, der in den Laden kommt und dem Verkäufer sagt: Das was ich will, haben Sie sowieso nicht! Aber ist das wirklich die Verkündigungsabsicht der Wahl, möglichst nicht verstanden zu werden? Und sollte das wirklich Gottes Wille sein, die Ohren zu verschließen, die Augen zu verkleben und das Herz als Sinnesorgan des Verstandes zu verfetten? Ziemlich viel Aufwand, nur um keinen Erfolg zu haben – auch wenn es wie gesagt empirisch betrachtet die Lage ganz gut beschreibt. Obendrein nehme ich – in einem eleganten Schwung sekundären Gewinns durch Scheitern – aller Kritik den Wind aus den Segeln, immunisiere mich gegen Einwände, wenn ich sage: „Das was ihr nicht versteht, sollt ihr auch gar nicht verstehen!“ Soll man das wollen? Die absichtlich das nicht verstehen zu lassen, was einem selbst so wichtig ist?

Andrerseits zeigen die Übertreibungen des Propheten an, dass der Glaube hier einen gewaltigen Sprung über einen garstigen Graben zu springen hat – Achtung: man kann auch auf dem Hosenboden landen! – und sie zeigen, dass sich die Anstrengung des Gedankens schließlich doch lohnen könnte. Der Prophet hat Dinge gesehen und gehört, die schlechthin unerhört sind; Erfahrungen gemacht, die im Grunde unteilbar, also eigentlich nicht mitteilbar sind; Erlebnisse, die einem die Sprache verschlagen; Abenteuer erlebt und in Gegenden vorgedrungen, die kein Mensch je betreten hat; Galaxien des Geistes bereist, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat. „Ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion. Und ich habe C-Beams gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor. All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im Regen. … Zeit zu sterben.“ Nein, das sind keine Worte der Bibel, sondern die letzten Worte des Replikanten Roy Batty alias Rutger Hauer gegenüber dem Blade Runner Rick Deckard alias Harrison Ford im gleichnamigen Film Blade Runner von 1982; auch so eine Art Prophetie aus utopisch kahl gefressener Erde. „Ich habe Dinge gesehen“: Geheimnisse, Mysterien, schrecklich und faszinierend zugleich. Wie davon reden?

Wie reden wir von den Dingen, die uns wirklich bewegen und wirklich etwas bedeuten, die unserem Leben Sinn geben, seine Richtung verändert haben, an die wir unser Herz hängen und die deshalb unser Gott sind; wann ist uns unser Gott begegnet und wo haben wir Gott gesehen, und wie davon reden, von dem, woran unser Herz hängt? Wie reden wir von der Geburt unserer Kinder und dem Tod unserer Eltern; wie reden vom großen Gelingen und wie vom krachenden Scheitern in den Prüfungen unseres Lebens; vom Suchen und Finden der Liebe, vom Verlieren und Wiederfinden; von unseren Reisen in die wirkliche und in die geistige Welt; vom Ringen mit Krankheiten und Sehnsüchten und Süchten? Von unseren Unerheblichkeiten, mit denen wir einen erheblichen Teil unserer Lebenszeiten verbringen? Wie von den Zielen, die wir erreicht haben, und von denen, die wir verfehlten und von denen, die noch vor uns liegen? Wie von dem, was uns antreibt, und von dem, was uns bremst? Wie vom großen Schmerz und wie von der kleinen Freude?

Also wenn wir überhaupt jemanden finden, der uns zuhört und dem wir unser Herz öffnen können und auch wollen, dann reden wir zwar bestimmt mit dem leisen Zweifel, ob wir verstanden werden, aber gewiss nicht in der unlauteren Absicht nicht verstanden zu werden; also nicht wie der Mann aus dem Laden mit der Haltung: Das was ich Ihnen jetzt erzähle, verstehen Sie sowieso nicht.

Und deshalb werden wir uns im Gespräch bemühen, an die Erfahrungen anderer uns bekannter Menschen anzuknüpfen, nicht zuletzt an die unseres Gesprächspartners; an mögliche gemeinsame Erfahrungen, Erlebnisse und Vorstellungen, die selten die gleichen sein werden, aber gar nicht so selten ähnliche sind, weil sie ja unsere Lebensbedingungen als Menschen betreffen, unsere conditio humana: Geburt, Tod, Liebe, Leiden, Gelingen, Scheitern – wer erlebte das nicht? In diesen Erzählungen begegnen wir uns als Menschen.

Nicht anders hat es Gott gemacht, indem er Mensch geworden ist und uns als Mensch begegnet; indem Gott Wort wird und uns eine menschliche Geschichte erzählt: von Geburt und Tod des Jesus von Nazareth, von Liebe und Leiden im Zusammenhang, vom guten Gelingen und schrecklichen Scheitern; indem sich Gott ganz in unsere menschlichen Geschichten verstrickt und dabei ganz und gar Gott bleibt; in seiner ganzen Heiligkeit verborgen und in seiner ganzen Herrlichkeit offenbar: „das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“(Johannes 1,14); den wir im Geist anbeten sollen, denn: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Johannes 4,24).

Die Pointe des trinitarischen Glaubens besteht also in der Identität der Herrlichkeit des Sohnes mit der Heiligkeit des Vaters im Geist, so dass uns der wahre Gott durch den wirklichen Jesus im Glauben begegnet. In den Worten des johanneischen Jesus: „Wer mich sieht, sieht den Vater“ (Johannes 14,9); „Ich und der Vater sind eins“ (Johannes 10,30) – oder eben in der glücklichen, prophetischen Ahnung und Wendung:

Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!

Ökumenischer Gottesdienst an Pfingstmontag, 29. Mai 2023

Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten soll. Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr betet an, was ihr nicht kennt; wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. Aber es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen. Jesus spricht zu ihr: Ich bin’s, der mit dir redet.

(Johannes 4,19-26)

„Immer im Gespräch bleiben“ – sagt mir der Konfirmandenvater an der Kasse beim Tegut und meint damit seine Strategie – seine im übrigen erfolgreiche Strategie! – die unendlichen Qualen – die für Jugendliche und Eltern gleichermaßen unendlichen Qualen – der Pubertät zu bewältigen. Was immer kommen mag – und manchmal kommt wirklich eine Menge! – Wir werden das nicht voraussehen, wir werden es im Zweifelsfall weder vermeiden oder lindern oder gar steuern können, wir werden es aushalten müssen und nur im Aushalten bewältigen können. Und dazu gehört: „Immer im Gespräch bleiben“.

„Die Gesprächskanäle offenhalten“, scheint für das persönliche, das familiäre – aber auch das weltpolitische Gedeihen – ein echtes Patentrezept zu sein, auch wenn es zur Zumutung werden kann. Wenn ich mich frage, mich fragen muss, was soll das und was kann es bringen, mit einem solchen Menschen im Gespräch zu bleiben, die Gesprächskanäle zu ihm offen zu halten; der mir die Worte im Munde verdreht, der mich doch nicht versteht, nicht verstehen will, nicht verstehen zu wollen scheint, dessen Wort nichts gilt und dessen Worte nichts gelten, zumindest nicht das, für was sie sonst gelten oder was sie sonst bedeuten. Besser als Schweigen ist selbst solches Reden allemal, denn wer redet, ist nicht tot.

Die Gespräche im Johannesevangelium sind Paradebeispiele für die Wahrheit solcher Redensarten. Der johanneische Jesus spricht über die Frustrationen des Missverstehens und über die Quälereien des Nicht-Verstehens hinweg, nun nicht immer hin zum Ziel eines Einverständnisses der Sprechenden, aber doch zum Ziel einer Klärung „of sorts“, einer Aufklärung der Hörenden, einer Art, irgendeiner Art der Klärung. Zumindest für uns Zuhörer und Leser wird klar – annähernd klar – worum es geht, auch hier?

Die samaritanische Frau lenkt in diesem Gesprächsgang die Frage auf den Ort der Gottesbegegnung und des Gottesgesprächs; der war strittig zwischen Samaritanern und Juden, Garizim im Norden des Heiligen Landes für die einen oder Jerusalem in der Mitte für die anderen. Und wenn zwischen beiden Orten entschieden werden müsste, dann wäre es Jerusalem, denn das Heil kommt von den Juden, was für sich genommen eine kraftvolle, aber auch erstaunliche Aussage wäre, auch angesichts anderer, reichlich schmerzvoller Aussagen im Johannesevangelium. Aber gemeint ist vermutlich, dass wenn zwischen beiden Orten der Anbetung entschieden werden müsste, dann Jerusalem die älteren Rechte besäße, was selbst Samaritaner kaum bestreiten könnten.

Aber letztlich kommt es – nach Meinung unseres Bibeltextes – auf den Ort eines Gesprächs nicht an; ob nun der eine oder der andere heilige Berg oder ein unheiliges Tal, oder der Weg zwischen beiden oder meinetwegen die Kasse im Supermarkt: Jeder Ort kann zum Ort echter Kommunikation werden, nur eben, dass sich die Gesprächspartner im richtigen Geist der Wahrhaftigkeit begegnen. Andererseits kann natürlich auch jeder Ort – noch der heiligste Ort – zum falschen Ort werden, wenn das Gespräch geistlos und unwahrhaftig geführt wird.

Das hört sich jetzt unkatholischer und protestantischer und damit strittiger an als es ist. Denn schon unsere alltägliche Erfahrung bestätigt das ja zunächst, dass nämlich echte Begegnung und wahrhaftige Kommunikation ziemlich unabhängig vom Ort sind. Dass unverhoffte Gespräche an merkwürdigen Orten zwischen Tür und Angel nicht weniger belangvoll sein müssen als der verabredete Austausch in der guten Stube, bei dem sich die Partner genauso begegnen aber eben auch genauso stumm und fremd bleiben und verfehlen können.

Und für das religiöse, das gottesdienstliche Gespräch, die Zwiesprache mit Gott gilt das – korrigieren Sie mich – ebenfalls. Noch der schönste, prächtigste, weihevollste Kirchenbau kann das Gespräch mit Gott hemmen oder belasten und andererseits kann ein ungemütlicher, ja menschenfeindlicher Ort ein solches Gespräch nicht verhindern. Mich haben damals als Werkstudent in der Fabrik meine muslimischen Kollegen schwer beeindruckt, die in der Schichtpause neben ihrer Stelle am Fließband die Pappkartons als Gebetsteppiche ausgebreitet haben und ihr Gebet an Gott gerichtet haben – trotz Lärm, Dreck und Betrieb.

Folgen dann etwa unsere Kirchenleitungen in ihren sogenannten Reformprogrammen mit der Abrissbirne nicht nur dem Sparzwang sondern auch einer höheren, womöglich gottgefälligen Logik? Raus aus den Kirchen, runter mit den Kirchen, weg mit den Kirchen – damit endlich wieder im Geist und in der Wahrheit angebetet werden kann? Keineswegs! Notwendig sind sie wohl nicht, unsere Kirchengebäude, denn natürlich könnten wir überall beten und Gottesdienst feiern, auch wenn es bequem ist, einen bekannten, sicheren Ort zu haben, Glaubensheimat, hoch und trocken.

Notwendig sind solche Orte wohl nicht, aber mehr als notwendig. Sie verweisen in all ihrer Pracht und ihrem Überschwang – und noch unsere nüchternen, ziemlich unprächtigen, wenig überschwänglichen Nachkriegsbauten, die unsere Gemeinden behausen, tun das deutlich genug – sie verweisen auf den, der selbst nicht notwendig, sondern mehr als notwendig ist. Ohne weiteren Zweck und praktischen Nutzen außer dem Gottesdienst, aber eben auch nicht verhandelbar unter rein kaufmännischer Betrachtung, zeigen sie allein dadurch, dass sie in der Gegend herumstehen, dass auch unser Glauben sich der ökonomischen Verrechenbarkeit entzieht: Glauben nutzt und lohnt sich nicht, hat er noch nie getan. Wer anfängt, Kosten und Nutzen seines Glaubens zu berechnen, hat ihn längst verloren. Und genau das, und erst das macht ihn so wertvoll.

Ohne unsere teuren Kirchen wird es – allein im Geist und in der Wahrheit – viel schwieriger sein zu zeigen, wie gratis Gottes Gnade ist. Andererseits geben wir uns ohne sie die Chance, dass Jesus uns noch viel unverhoffter begegnet, uns anspricht und offenbart: Ich bin’s, der mit dir redet. Auch wenn unsere Gotteshäuser längst vergangen sind, wird es Gelegenheit geben – wo und wann Gott es will – ihn im Geist und in der Wahrheit anzubeten.

Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.

Pfingsten, 28. Mai 2023

Wir aber haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, damit wir wissen, was uns von Gott geschenkt ist. Und davon reden wir auch nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Dinge für geistliche Menschen. Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; es ist ihm eine Torheit und er kann es nicht erkennen; denn es muss geistlich beurteilt werden. Der geistliche Mensch aber beurteilt alles und wird doch selber von niemandem beurteilt. Denn „wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer will ihn unterweisen“? (Jesaja 40,13) Wir aber haben Christi Sinn.
(1. Brief des Paulus an die Korinther 2,12-16)

Wer sich – wie Paulus und in seinem Gefolge – auf Gottes Geist, höhere Wahrheit oder tiefere Weisheit beruft, kann im Meinungsstreit nicht mit Rabatt rechnen, konnte er noch nie. Sonderoffenbarungen begründen keine Sonderrechte einzelner oder einzelner Gruppen. Weder war es jüngst in der Coronapandemie, noch ist es gerade in der Klimadebatte rechtens oder zielführend die eigene Meinung zu überhöhen und höhere Rechte aus ihr abzuleiten. Schon allein die Verwechslung von eigener Meinung mit geprüftem, überprüfbarem Wissen und die folgende Flucht in Meinungskorridore und in die Echokammern der eigenen Überzeugungen bedrohen die Suche nach Wahrheit. Nur gemeinsame, mitteilbare Erkenntnis aber verdient Wahrheit genannt zu werden.

Das hat schon der Apostel Paulus zu spüren bekommen, der sich an seinen Gegnern in Korinth die Zähne ausgebissen hat und sehr wohl von ihnen beurteilt – und eben nicht zu seinem Vorteil beurteilt – wurde: Seine Aussage – Der geistliche Mensch aber beurteilt alles und wird doch selber von niemandem beurteilt – hat sich an ihm selbst jedenfalls nicht bewahrheitet. Und das muss man noch nicht einmal bedauern, sondern – im Gegenteil – haben wir ihm die Missverständlichkeit seiner Bemerkungen zu kritisieren. Denn mit ihnen und damit mit dem Apostel Paulus kann man ganz prima der Selbstimmunisierung der Religion das Wort reden. Muss man das auch? Geistbesitz als Anmaßung, Glauben als Abschottung gegenüber der Welt, Glaubensgemeinschaft als Parallelgesellschaft – muss man Paulus so verstehen?

„Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2. Korinther 3,17), sagt Paulus an anderer Stelle, ebenfalls an die Korinther gerichtet, und nicht unbedingt geeignet die Sache unmittelbar besser zu machen. Denn so wie wir gegenwärtig – und im Zusammenhang der genannten gesellschaftlichen Debatten – immer wieder auf eine Verwahrlosung des Freiheitsbegriffs treffen – Freiheit als Willkürfreiheit, Freiheit als Wolfsfreiheit und Recht des Stärkeren, Freiheit als Bindungslosigkeit, Freiheit als Verantwortungslosigkeit, also insgesamt die völlige Verkehrung von Freiheit als Knechtschaft unter eine abstrakte und absolute Autonomie des natürlichen Menschen; so vermeidet auch Paulus im Kontext seines schönen Freiheitswortes nicht, zumindest höchst missverständlich und beinahe denunziatorisch, seine jüdische Herkunftsreligion als Gegenbegriff der Freiheit zu charakterisieren

und mit seiner Kritik an Mose den Inbegriff der Befreiung, den von Mose geführten Auszug aus Ägypten, zu verfehlen; und das, obwohl sein „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, in Wahrheit nichts anderes ist, als die Anwendung des von Israel unter Mose erfahrenen und entdeckten Begriffs Gottes als des Befreiers: „Gott schenkt Freiheit, seine größte Gabe gibt er seinen Kindern“ (EG 360), wie wir es im Kirchenlied singen. Gott befreit.

Diese Befreiung durch Gott, genauer und pfingstlich: durch Gottes Geist, ist aber keine Befreiung aus der Welt hinaus oder gegen die Welt, wie es die Worte des Paulus zu meinen scheinen, sondern eine Befreiung für die Welt und in die Welt hinein. Keine „Entweltlichung“, wie es der ehemalige Papst Benedikt – Gott hab ihn selig! – für die Kirche forderte. Der Geist Gottes schafft kein Ghetto des Glaubens, er errichtet keine religiöse Gegenwelt – und, wo wir gerade dabei sind, er baut schon gar keine spirituelle Sonderwelt des esoterischen Humbugs, wie sie uns die falschen Freunde der Spiritualität mit ihren Glöckchen, Düften und Zaubersteinchen verkaufen wollen.

Anders als an unserer recht missverständlichen Stelle bemüht sich Paulus gerade in der Auseinandersetzung mit den Korinthern, die wir uns nach Auskunft der Historiker als spirituelle Leistungssportler zu denken haben, um eine vernünftige, auch weltlich verständliche Einschätzung der Geistwirkungen, geradezu um eine Rationalisierung des Geistdiskurses.

Es geht ihm um Verständlichkeit und Verlässlichkeit – also doch „Weltlichkeit“ – wenn er sagt, dass die Rede im und aus dem Geist Gottes in menschlich vernünftige Sprache zu übersetzen und die Wirkungen des Geistes als dem Aufbau der in der Welt stehenden Gemeinde dienende zu überprüfen sind. Geist schafft nicht Ghetto abseits von der Welt, sondern Geist schafft Gemeinde in der Welt und für die Welt.

Andererseits – und daran steht er eben doch gegen die Welt – sagt der Geist auch nicht einfach das, was wir uns selbst im Zustand des natürlichen Menschen sagen könnten: Und davon reden wir auch nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Dinge – nun gerade nicht nur – für geistliche Menschen, sondern zuerst für den – wie Paulus sagt – natürlichen Menschen, der wir doch selbst waren und obwohl vom Geist angesprochen dennoch bis auf weiteres auch bleiben!

Die Mahnung des Paulus, sich nicht dem Schema dieser Welt anzupassen – „Und stellt euch nicht der Welt gleich, sondert ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes“ (Römer 12,2), ist kein Selbstzweck und schon gar kein Aufruf für den Rückzug ins Ghetto, sondern die Voraussetzung dafür, für die Welt – um Gottes und seines Geistes Willen – interessant zu sein, oder erst zu werden. Das, was wir uns nicht selbst sagen können, sollen wir der Welt sagen, die sich das ebenfalls nicht selbst sagen kann. Und selbstverständlich haben wir dabei als Christen, die aus dem Geist leben, sich dem Urteil der Welt zu stellen, wie denn nicht?

In diesem Sinne wäre auch der Begriff „Querdenker“ wieder zu Ehren zu bringen, um ihn nicht den Unbelehrbaren und Böswilligen zu überlassen, die ja gerade in Reinform und geradezu als Karikatur Torheit und Idiotie des geistlosen Menschen an sich zeigen: Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; es ist ihm eine Torheit und er kann es nicht erkennen. Demgegenüber denkt und spricht der von Gottes Geist erfüllte Mensch wahrhaft „quer“ zur queren Welt, um sie gerade zu machen. Und das heißt: zu befreien.

„Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“: Freiheit in diesem Sinne – also im Geist und durch den Geist – ist immer Befreiung, also immer Geschehen und nicht Zustand. Damit trägt der paulinische Freiheitsbegriff der Beobachtung Rechnung, dass jede Befreiung Zustände schafft, die neuerlich und immer so weiter Befreiung erfordern. Das könnte man an jedem historischen oder persönlichen Ereignis der Befreiung zeigen, wie etwa dem Großereignis der Befreiung meiner Generation, dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Sowjetsystems. Dass dadurch Zustände geschaffen wurden, die neuerlich auf Befreiung zielen und sie erfordern, ist kein Mangel, der zu bemäkeln wäre, sondern schlichtes Wesensmerkmal einer Befreiung, die zu neuen Befreiungen bewegt.

In solchen Befreiungen in der wirklichen Welt dürfen wir als Glaubende im Gegensatz zum natürlichen Menschen das Wirken des Geistes Gottes erkennen. Die von Gottes Geist geschenkte Freiheit hat Wirkungen und zielt weit über die Gemeinden der Glaubenden hinaus. Nicht auf Freiheit von der Welt, sondern zur Befreiung in der Welt zielt Gottes Geist. Denn: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Galater 5,1)

Konfirmation am Sonntag Exaudi, 21. Mai 2023

Und zu der Zeit, als der Knabe Samuel Gott dem Herrn diente unter Eli, war des Herrn Wort selten, und es gab kaum noch Offenbarung. Und es begab sich zur selben Zeit, dass Eli lag an seinem Ort, und seine Augen fingen an, schwach zu werden, sodass er nicht mehr sehen konnte. Die Lampe Gottes war noch nicht verloschen. Und Samuel hatte sich gelegt im Tempel des Herrn, wo die Lade Gottes war.Und Gott der Herr rief Samuel. Er aber antwortete: Siehe, hier bin ich!, und lief zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Er aber sprach: Ich habe nicht gerufen; geh wieder hin und lege dich schlafen. Und er ging hin und legte sich schlafen. Der Herr rief abermals: Samuel! Und Samuel stand auf und ging zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Er aber sprach: Ich habe nicht gerufen, mein Sohn; geh wieder hin und lege dich schlafen. Aber Samuel kannte den Herrn noch nicht, und des Herrn Wort war ihm noch nicht offenbart. Und Gott der Herr rief Samuel wieder, zum dritten Mal. Und er stand auf und ging zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Da merkte Eli, dass der Herr den Knaben rief. Und Eli sprach zu Samuel: Geh wieder hin und lege dich schlafen; und wenn du gerufen wirst, so sprich: Rede, Herr, denn dein Knecht hört. Samuel ging hin und legte sich an seinen Ort.Da kam Gott der Herr und trat herzu und rief wie vorher: Samuel, Samuel! Und Samuel sprach: Rede, denn dein Knecht hört. (1. Samuel 3,1-10)

Viermal rufen um einmal Gehör zu finden: das dürfte doch eher das untere statistische Mittel sein bei der Kommunikation zwischen den Generationen, zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, Pfarrern und Konfirmanden; und das gilt natürlich in beide Richtungen. Denn was die Jugend an alterstypischer Renitenz mitbringt, gleicht die ebenfalls altersgemäße Taubheit der Alten – nun nicht etwa aus, sondern verstärkt, verdoppelt, potenziert sie. Harthörigkeit trifft auf Schwerhörigkeit, oje. Die einen wollen nicht hören, die anderen können nicht hören. Kurz: Man versteht sich nicht.  

Dafür, dass wir uns gar nicht verstehen können, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, haben wir uns eigentlich ganz gut verstanden in diesem Konfirmandenjahr; zumal auf Camp und Kurs, da ist ja einfach mehr Gelegenheit für die Kommunikation; aber doch auch gelegentlich in unseren donnerstäglichen Nachmittagssitzungen, in denen wir der allgemeinen Mattigkeit aus Arbeitswoche und Schultag immer mal wieder echte Gesprächsmomente über den garstigen Graben der Generationen hinweg abgerungen haben, Lichter der Verständigung – Die Lampe Gottes war noch nicht verloschen – bisweilen sogar einen Geistesblitz, helle Flammen der Erleuchtung – aber lassen wir das! Eine gefährliche Metapher.

Viermal rufen um einmal Gehör zu finden, viermal ruft jemand, damit es einer einmal versteht. Das nächtliche Geschehen zwischen Schüler Samuel und Meister Eli klingt für mich nach so einer klassischen Meister-Eder-und-sein-Pumuckl-Situation. Ihr erinnert Euch hoffentlich an dieses in jeder Weise merkwürdige Gespann aus Eurer Kindheit, fabelhafte Fabelwesen, die den Alltag oft genug auf den Kopf stellten, das Selbstverständliche hinterfragten und dadurch auch uns den Zuschauern fraglich machten; Begebenheiten, in denen oft erst Missverständnisse zum tieferen Verstehen geführt haben; beide, Meister Eder und sein Pumuckl auf ihre Weise Philosophen des Lebens, Propheten der Alltagsweisheit, Meister der Wortfindung und Virtuosen der Wortfindungsstörung.

Neulich haben wir im Familienkreis unsere Erinnerungen durchsucht und gefragt, welche Episode uns die liebste und lustigste war und eigentlich immer noch ist; und wir konnten uns schnell einigen auf die mit dem Pumeister und Edermuckl; und zwar natürlich wegen des Namenspiels, das aber viel mehr als nur der alberne Quatsch ist, der es zu sein scheint, sondern der halbernste Schwank mit den vertauschten Rollen, eine Verwechslungskomödie, der fröhliche Wechsel von hoch und niedrig, der erst das Leben im allgemeinen interessant und das Lernen im besonderen spannend macht.

Ähnliches haben wir mit euch auch in diesem Jahr in einigen kostbaren Augenblicken erlebt, wenn wir den Unterricht gemeinsam so ernst genommen haben, dass wir uns im zeitweisen, vielfachen Tausch der Rollen die Religion gegenseitig gelehrt haben: Was glauben wir eigentlich, wer wir sind und wofür alles ist, was ist? Welchen Sinn denken wir uns für uns und unsere Welt? Welche Bedeutung geben wir den Dingen und den Menschen?

Gerade unsere Namen zeigen an, was sich zumindest unsere Eltern bei uns dachten und für uns wünschten – vielleicht ungefähr so: Benjamin, Sohn des Glücks; Rafael, Gott schenkt Heil; Anna, Hanna, die Begnadete; Clara, die Erleuchtete; Lara, die Lorberbekränzte; Cameron wie Cameron Diaz, erfolgreich und selbstbewusst; Finn, der nordische Wanderer; Tia, die Fröhliche; Florian, der Blühende; Franziska, die Freie; Philipp, der Pferdefreund; Kelley, die Kriegerische; oder Achim, den Gott aufrichtet; so wie auch Prophetenlehrer und Prophetenschüler unserer Geschichte sprechende Namen haben: Eli, Gott ist der Höchste, und Samuel, der von Gott erhörte, was ja eine hübsche Pointe dadurch bekommt, dass in unserer Geschichte umgekehrt Samuel der ist, der Gott erhört – allerdings erst beim vierten Anlauf. Und noch der Pumuckl, heißt nicht einfach so, sondern dieser Kobold ist nach Johannes Nepomuk benannt, dem böhmischen und unkomischen Heiligen der Gegenreformation, keine Ahnung, was sich sein Erfinder da gedacht hat.

Viermal rufen um einmal Gehör zu finden, viermal ruft jemand, damit es einer einmal versteht. Dieses produktive Missverständnis, dass wir selbst auch aus den seltenen Situationen kennen, in denen Missverstehen doch noch zur Einsicht gewendet wird, dieses produktive Missverstehen ist das literarische Mittel, uns aufmerksam zu machen für das, worum es unserem Predigttext heute geht, nämlich:

Gott ruft uns.

Gott ruft uns so lange, bis wir ihn hören; sicherlich auch mehr als viermal, zur Not auch viermal vierzigmal, wie es anderer Stelle der Bibel beinahe heißt – solange halt, wie es braucht, dass wir hören.

Gott ruft uns an ungewöhnlichem Ort und zu unerwarteter Zeit – auch nachts – und in Worten und Stimmen, die unseren Lehrern, Eltern, Pfarrern zum Verwechseln ähnlich klingen können.
Was im Umkehrschluss heißt:
Nicht alles, was die uns sagen, muss falsch sein.
Kein Ort, keine Zeit – noch nicht einmal unsere – ist so gottesfern, dass in ihnen Gott nicht sprechen könnte: Die Lampe Gottes ist noch nicht verloschen.
Und schließlich: Wenn wir Gott bisher nicht gehört haben, heißt das nicht, dass er nicht zu uns spricht; und schon gar nicht, dass er es nicht immer wieder versuchen würde, mit uns ins Gespräch zu kommen.
Darum ging es uns im vergangenen Jahr und darum geht es uns heute: Auch wenn des Herrn Wort selten geworden ist, und es kaum noch Offenbarung gibt will Gott mit uns ins Gespräch kommen, immer wieder und immer neu; und sei es durch so merkwürdige Gestalten wie euren Pädagogen und euren Pfarrer.
Durch einen anderen Propheten spricht er zu uns, zu Euch:
„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst;
Ich habe dich bei deinem Namen gerufen;
Du bist mein!
Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollen sie dich nicht ersäufen.
Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen.
Denn ich bin der Herr dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland.“ (Jesaja 43)

Heute ruft Gott euch: Anaëlle, Benjamin, Cameron, Clara, Finn, Florian, Franziska, Hanna, Kelley, Lara, Philipp, Rafael, Tia. Gott ruft euch mit euren Namen. Amen.

Konfi-Gottesdienst 21. Mai 2023
Konfi-Gottesdienst 21. Mai 2023

Predigttext Himmelfahrt 18. Mai 2023

Imagine there´s no heaven
It´s easy if you try
No hell below us
Above us, only sky

Schönes Lied vom großen John Lennon, aber vielleicht nicht die erste Wahl für den Himmelfahrtsgottesdienst; und wenn es wie vor ein paar Wochen in der wundervollen Rambacher Kirche erklingt, führt das zu verstärktem Stirnrunzeln bei den sprachkundigen Gottesdienstbesuchern. Erst die Abwesenheit von Religion und also ein leerer Himmel soll Frieden und Liebe bringen? Während ihre Gegenwart zu fürchten wäre? – das ist eher nicht die reine Lehre, die sie in einem evangelischen Gottesdienst erwarten dürfen.

Andrerseits ist die hier gemachte Unterscheidung von religiösem heaven und natürlichem sky schon relevant, wie auch das Vorstellen und Träumen einer besseren möglichen Welt und die Frage von Gegenwart und Abwesenheit eben auch. Gerade darum soll es heute gehen: um die Präzisierung von Jesu Abwesenheit durch seine Himmelfahrt.

Und es geschah, als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr gen Himmel. (Lukas 24,51)

Viel mehr als eine Abwesenheitsnotiz ist das hier ja nicht, sondern etwa so wie auf unserem Email-Account oder auf der Mailbox; meistens wird einem dort nur mitgeteilt, dass der, den man erreichen wollte, gerade nicht erreichbar ist, was man sich aber schon denken konnte, weil man ihn ja nicht erreicht hat. Im besten Fall bekommt man noch gesagt, wo der Betreffende gerade ist und an wen man sich in dringenden Angelegenheiten wenden kann. So auch hier.

Aus der Abwesenheitsnotiz, die Lukas im Namen Jesu aufspricht und für uns notiert, geht hervor, dass dieser in den Himmel gefahren – eigentlich: „hochgehoben“ oder „fortgetragen“ – ist. Hier auf Erden werden wir ihn vergeblich suchen; wer etwas von ihm will, wende sich bitte an den Himmel; womit uns aber wie so oft bei solchen Ansagen nicht sehr viel weitergeholfen ist, denn wo ist der Himmel und wie erreiche ich ihn?

Eine Abwesenheitsnotiz dient der Bewältigung von Abwesenheit; es geht darum, sie überhaupt wahrzunehmen, zu wissen, woran man ist, und auszuhalten; auch unseren Ärger auszuhalten über das nicht stattfindende Gespräch, oder unsere Trauer auszuhalten darüber, dass ein Gespräch nie wieder stattfinden wird. Es geht auch darum, sie pragmatisch zu bewältigen, Alltagslösungen zu finden, das Leben trotz Abwesenheit des einen, einzelnen, wichtigen weitergehen zu lassen; nicht unbedingt Ersatz zu schaffen für den womöglich Unersetzlichen, aber doch Ersatzlösungen zu finden, um die Lücke herum; ein Leben zu finden unter den Bedingungen der Abwesenheit.

Oft hilft dabei, eine unbestimmte Abwesenheit in eine bestimmte zu überführen, also zu wissen, wo der Abwesende ist; Eltern geht es so, wenn sie nicht nur bemerken, dass der Nachwuchs weg ist, sondern dazu auch wissen, wohin weg; aber manchmal will man es auch gar nicht so genau wissen. Mit der Bestimmung des Abwesenheitsortes als Himmel ist allerdings nicht viel gewonnen, denn nach der Bibel ist der Himmel nicht nur Wohnsitz Gottes, sondern auch – und durchaus im Widerspruch dazu – die uns abgewandte Seite der Schöpfung, in keinem Fall aber das, was wir als Himmel über uns wahrnehmen und in gar keinem Fall ein Ort, den wir kennten oder über den wir etwas wüssten.

Die gleich mehrfache Unverfügbarkeit des Himmels als Wohnort Gottes, als unbekannte, unerkannte Schöpfung, als Universum – „unendliche Weiten, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat“ – macht ihn zum idealen Rückzugsort des abwesenden Jesus – abwesender geht’s nicht! – allerdings ohne unsere Bedürfnisse nach Bestimmtheit des Abwesenheitsortes zu befriedigen. Wenn wir wissen, dass Jesus im Himmel ist, wissen wir immer noch nicht, wo er ist.

Dennoch ist der Himmel in diesem Sinne mehr als nur ein unbestimmter Grenzbegriff, sondern als der uns abgewandte Bereich der Schöpfung ein unerschöpftes Reservoir noch nicht verwirklichter Möglichkeiten; mehr noch: als Wohnort Gottes ist dieses Reservoir nicht nur unerschöpft sondern unerschöpflich, grenzenlos, unendlich weit. Von dort her, vom Himmel hoch, kommen – ganz im Sinne John Lennons – die Imaginationen und Träume eines besseren Lebens; gute Mär für die Glaubenden, auch die ungläubig Glaubenden.

Noch als Abwesender versorgt uns der in den Himmel gefahrene Jesus so mit dem für ein besseres Leben Notwendigen aus dem Himmel herab, geistliches Manna in den Wüsten unserer Welt: Bilder des Friedens, Berichte von überwundener Not, Geschichten gelingender Gemeinschaft, Erzählungen von Menschen als Schwestern und Brüder – als Möglichkeiten besseren Lebens gegenüber der wirklichen Welt, nach denen wir diese gestalten sollen; wirksame Träume aus dem Himmel für unsere Erde:

You may say I´m a dreamer
But I´m not the only one
I hope someday you´ll join us
And the world will live as one

Beauftragung neuer Prädikantinnen und Prädikanten

Zwei Frauen und drei Männer wurden in einem festlichen Gottesdienst in der Wiesbadener Thomasgemeinde von Propst Oliver Albrecht als Prädikantinnen und Prädikanten beauftragt. Die mehrjährige Prädikantenausbildung haben Annegret Dietz (Martin-Luther-Gemeinde), Birgit Schmidt und Alexander Scholz (beide Johannesgemeinde), Thomas Seitz (Breckenheim) und Michaela Balonier (Odenwald) berufsbegleitend durchlaufen.

Zum Artikel auf der Seite des Dekanats Wiesbaden

Bild: Andrea Wagenknecht

Einladung zur ökumenischen Pilgerwanderung am 13. Mai

Vom Treffpunkt an der Thomaskirche führt uns der Weg zunächst durch das Eigenheim zur „Feldkapelle“ am Ende des Tennelbachtals. Von dort geht es weiter zum Goldsteintal, um dann im hohen Bogen nach Rambach zur evangelischen Kirche zu pilgern. Diese Kirche im neugotischen Stil erinnert in Bauart und Umgebung an englische Kirchen auf dem Lande. Auch ihr Innenraum ist in Proportion und Ausstattung überaus gelungen und jeden Besuch wert.

Treffpunkt: Samstag, 13.5.2023, 11:00 Uhr, Thomaskirche, Richard-Wagner-Straße 88

Ziel: Evangelische Kirche Rambach, Kirchweg 5; gegen 13.00 Uhr. Von dort Anschluss per Stadtbus Linie 16.