Konfirmation am 29. Mai 2022

Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss es nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit. (Psalm 103,1-4)

Aus reinem Überschwang singen, voller Begeisterung – voller Übertreibung ja auch – das Herz voll und der Mund überfließend – so singt der Vers hier vom Dank und von der Freude über Gott.

So geradezu ekstatisch nach außen gekehrt kennen wir das kaum aus unseren Gottesdiensten, die ja meistens an eine langweilige Schulstunde erinnern, sondern wir kennen es eher aus dem Fußballstadion, wenn uns die Choreographie und der Gesang mitreißen und in ganz seltenen Fällen – so ungefähr alle vierzig Jahre – auch das mitreißende Spiel selbst, wie neulich mal wieder im Waldstadion nicht weit von hier; oder eben vor 42 Jahren am selben Ort, was die Dichter nicht ruhen und ihre Helden in Hymnen damals besingen ließ:

„Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,
Die den großen Gedanken vermochte, den
Knaben zu träumen, zu denken – und dann auch zu
Bilden mit den schnellen, beseelten, jauchzenden
Füßen des Jünglings: Flink, flitzend,
Flirrend und flackernd – nicht lange fackelnd,
Doch feuernd und feiernd; den fühlenden Herzen
Frankfurts zur Freude.
Bum Kun Cha! Freund aus dem Osten! Fremdling bist
Du nicht länger – nicht bitt’res Los ist Exil
Dir! Heimat, die zweite, du fandst sie. …“ (hier nach Wikipedia)

10 solche Verse lang besingt der Dichter Eckhardt Henscheid den Star jener Mannschaft; denkt euch Kostic in seinen besten Momenten und legt dann noch ne Schippe drauf, dann habt ihr einen Eindruck vom Spiel dessen, der da besungen wird. Genug davon.

Denn nicht von Fußballgöttern singt unser Psalm, sondern von Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde. Gibt es Momente, in denen wir solche Begeisterung für Gott empfinden, so dass wir singen und loben wollen und danken, dass es ihn gibt und dass es uns gibt durch ihn?

Vielleicht dieser: Vor ein paar Jahren habe ich mich nach einer kniffligen Operation im Krankenzimmer wiedergefunden, überall voller Schläuche – gut vernetzt könnte man sagen; noch mit schwerer Zunge – aber keiner lustigen Tränke wegen; zwar ohne Schmerzen, aber ziemlich unbeweglich, auch noch unsicher, wie gut es gegangen ist, aber doch schon froh, dass es gutgegangen ist. Laut singen hätte ich da noch nicht können, aber innerlich habe ich da gesungen, gelobt und gedankt; meinem Gott zuerst, der mein Gebrechen geheilt und mich vom Verderben erlöst hat; aber auch dem Halbgott in Weiß, den er mir geschickt hat, mit seinen geschickten Händen – ein von Gott begnadeter Handwerker wie ein Chirurg verdeutscht heißt – mein Innerstes auseinander- und dann wieder zusammenzuflicken sich getraut hat. Das war ein solcher Moment der überschwänglichen Begeisterung, dass es mich gibt – noch gibt aus reiner Gnade und Barmherzigkeit.

Und dann gleich der zweite Moment dieser Art; denn Gott hatte mir auch noch einen Zimmernachbarn geschickt, einen komischen Kauz, dem es schon etwas besser ging als mir, der mir ungefragt seine Lebensgeschichte anvertraute und seine Philosophie gleich dazu, die er durch mancherlei wunderliche Rituale mit Leben füllte – und hoffentlich immer noch füllt. Eins davon war sein Morgengruß, den er Gottseidank nur in abgemilderter Form im Krankenhaus durchführte, nämlich sonst eigentlich unbekleidet – also hier: schicklichkeitshalber leicht bekleidet – sich ans geöffnete Fenster zu stellen, die Arme auszustrecken und ein paar Minuten tief einzuatmen; dabei den ganzen Kosmos – den Weltengott nach seiner Lehre – zu spüren und ihm zu danken und zu loben: Lobe den Herrn, meine Seele! Konvertiert bin ich nicht zu seiner Religion, aber mich an seinem Glauben gefreut, das habe ich.

Und dann auch noch den dritten und viele weitere Momente, nämlich immer wenn meine Liebsten zu Besuch kamen, ihren Kummer über mein kümmerliches Äußere verbargen und mir allein durch ihre Anwesenheit ihre Liebe zeigten und mich meines neugewonnenen Lebens freuen ließen.

Die Liebe zu unseren Nächsten kann uns immer wieder mit Begeisterung, mit Lob und Dank erfüllen, auch wenn sie uns viel zu selten tatsächlich singen lässt, warum eigentlich nicht? Welcher Moment in einem Menschenleben wäre denn noch mehr ein Lied wert, als wenn wir unserem Kind das erste Mal begegnen: verschrumpelt, erschöpft, schreiend – aber nun da, nach unserem Abbild und in unserer Verantwortung. Sehr zu Recht feiern wir diesen Moment in einem Leben als das wichtigste Fest gleich neben Weihnachten, Halloween und dem Gewinn des Europapokals: Wie schön dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst! Noch im spätmodernen Geburtstagslied klingt das uralte Danklied nach: Lobe den Herrn, meine Seele!

Wenn wir heute als Eltern unsere Kinder zur Konfirmation begleiten, dann denken wir jenen ersten uranfänglichen und viele weitere Momente mit; so viel haben wir mit euch schon erlebt, so viel habt ihr schon erlebt; und so viel mehr wird da noch kommen. Und ihr habt es schon erfahren, dass uns keineswegs immer zum Singen zu Mute ist und sein wird; wenn wir Leid spüren und Verluste hinnehmen müssen; wenn wir an anderen schuldig werden; wenn wir Unrecht erleiden oder wenn uns etwas Wichtiges misslingt – und damit meine ich bestimmt nicht die 5 in Mathe, die wir zugleich überbewerten, denn sie sagt ja nun mal nichts über unsere Persönlichkeit; andererseits aber auch unterbewerten, denn immerhin spiegelt die Mathematik die Ordnung und damit die Schönheit der von Gott geschaffenen Welt: die alten Griechen haben es passenderweise bei dem einen Wort für alles drei belassen: Kosmos als Ordnung, als Schönheit, als Welt. Lobe den Herrn, meine Seele, der Himmel und Erde geschaffen hat!

Mit der Konfirmation feiern wir das Leben, das uns Gott gegeben hat und – trotz allem – erhält; und wir schaffen mit ihr einen weiteren Moment, an den wir uns erinnern können; einen Tag wie diesen für die Unendlichkeit in unserem endlichen, begrenzten Leben.

Der Volksdichter Campino hat das für die Freunde der lauten und schnellen Musik so verdichtet:

„Ich wart‘ seit Wochen
Auf diesen Tag
Und tanz‘ vor Freude, über den Asphalt
Als wär’s ein Rhythmus
Als gäb’s ein Lied
Dass mich immer weiter durch die Straßen zieht

Durch das Gedränge
Der Menschenmenge
Bahnen wir uns den altbekannten Weg
Entlang der Gassen
Zu den einen Terrassen
Über die Brücken, bis hin zu der Musik

An Tagen wie diesen
Wünscht man sich Unendlichkeit
An Tagen wie diesen
Haben wir noch ewig Zeit. …“ (hier nach Wikipedia)


Wir müssen nicht denken, dass hier die Konfirmation besungen wird, aber wenn wir sie darin wiedererkennen, umso besser. Auch der Volksdichter und -sänger kommt nicht ohne Übertreibungen aus, wo doch seine Musik eine einzige maßlose Übertreibung an Lärm und Tempo darstellt; aber anders als er richten wir mit dem Psalmvers unseren Überschwang und unsere Übertreibungen an Gott; wir halten Gott für den, der uns Lebenszeit schenkt und in ihr die Momente der Ewigkeit dazu; diese kostbaren, krönenden Momente voller Gnade und Barmherzigkeit.

Wir feiern heute, dass wir nicht aus uns selbst leben; wir sind keine autonomen Monaden, die nur um uns selbst kreisen und für sich selbst da sind; sondern wir leben unser Leben von Gott her und zu Gott hin: Lobe den Herrn, meine Seele. Amen.

Sonntag Rogate, 22. Mai 2022

Und es begab sich, dass er an einem Ort war und betete. Als er aufgehört hatte, sprach einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht:

Vater!
Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Gib uns unser täglich Brot Tag für Tag
und vergib uns unsre Sünden;
denn auch wir vergeben jedem, der an uns schuldig wird.
Und führe uns nicht in Versuchung.

Und er sprach zu ihnen: Wer unter euch hat einen Freund und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote; denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann, und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf.

Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.  Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. Wo bittet unter euch ein Sohn den Vater um einen Fisch, und der gibt ihm statt des Fisches eine Schlange? Oder gibt ihm, wenn er um ein Ei bittet, einen Skorpion? Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten! (Lukasevangelium 11,1-13)

Beten heißt: über seine Sorgen und Freuden sprechen.
Beten heißt: einem anderen so sehr zu vertrauen, dass man ihm sein Innerstes anvertraut.
Beten heißt: nicht von sich selbst alles erwarten.
Beten heißt: Gott für einen Ansprechpartner zu halten und ihn zu seinem Ansprechpartner zu machen.

Das sind ganz schön viele Bedingungen für das Beten, kein Wunder, dass es vom Aussterben bedroht ist. Wer betet denn noch in diesen Zeiten des allgemeinen Gelabers, des gegenseitigen Misstrauens, der quasi religiös verklärten Autonomie und außerdem gefühlte Jahrhunderte nach der Verkündigung des Todes Gottes? Uns scheinen die Voraussetzungen, die Möglichkeiten, die Fähigkeit und der Gegenstand des Betens abhandengekommen zu sein. Wir sind dem Gebet abhandengekommen; es liegt nicht in der Luft, es bietet sich nicht an, es verweigert sich unseren geplagten Seelen.

Und da wirkt es nur wie ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn ein ganzer Kirchenvorstand in seiner Klausur über die Psalmen meditiert oder ein Konfirmandenkurs im frommen Eichsfeld das Beten buchstabiert. Was wir übrigens mit viel Freude in den letzten Wochen getan haben, beides, und beides hoffentlich mit dem Gewinn, dass uns unsere Sprachlosigkeit vor Gott zumindest zeitweise gelindert wird. Wie nachhaltig, muss sich zeigen.

Unser Predigttext klärt uns darüber auf, dass es schon zur Zeit Jesu eine Not des Betens gab, einen Mangel an richtigen Worten, die Not des Beters in Worte zu fassen. Die hier geschilderte Episode verdankt sich ja der Aufforderung der Jünger, dass Jesus sie beten lehren möge, worauf dieser ihnen das – oder besser gesagt ein – Vaterunser vorspricht, denn die Version bei Lukas ist zwar deutlich als Vaterunser erkennbar, aber doch anders als die uns vertraute Fassung bei Matthäus. Hier bei Lukas klingt das Gebet konzentrierter und etwas kantiger; aber ich würde mich nicht darauf festlegen, was jetzt die ursprünglichere Fassung sei, die längere, die gekürzt, oder die kürzere, die verlängert worden wäre. In einer Kultur, die viel stärker als unsere durch Sprechen als durch Lesen geprägt war, ist auch denkbar, dass beide Fassungen Spielarten eines Grundmusters sind und mal so und mal so geklungen haben, wer kann das schon wissen?

In beiden überlieferten Formen folgt jedenfalls nach der Heiligung des Gottesnamens, die wir der jüdischen Gebetstradition verdanken: Dein Name werde geheiligt, und nach der Bitte um das Kommen des Gottesreiches: Dein Reich komme; eine dreifache Bitte, mit der im Grunde alle denkbaren, möglichen Gebetsbitten zusammengefasst und doch voneinander unterschieden werden:

  • Erhaltung der geschöpflichen Lebensgrundlagen; also nicht nur Brot sondern überhaupt Nahrung, Luft, Kleidung, Obdach usw; Gib uns unser täglich Brot Tag für Tag
  • Wiederherstellung der Gerechtigkeit durch Vergebung; also dass Gerechtigkeit nicht allein durch die Identifizierung der Schuld sondern erst durch ihre Vergebung wiederhergestellt werden kann: und vergib uns unsre Sünden; denn auch wir vergeben jedem, der an uns schuldig wird.
  • Rettung vor dem Bösen innerhalb und außerhalb meiner selbst: Und führe uns nicht in Versuchung.

Damit gibt das Gebet Jesu nicht nur den Wortlaut eines Gebets vor, der ja, wie wir sahen, durchaus auch variieren kann, sondern darüber hinaus einen inhaltlichen Leitfaden für die eigenen Gebete, um je nach Lebenslage unterschiedliche Schwerpunkte zu setzen, ohne aber die anderen Aspekte zu vergessen. Das leisten die 150 Psalmen in ihrer ganzen Fülle als Gebet- und Liederbuch des alten Israel auf ihre Weise ja auch. Ein Dankgebet an einem Frühsommermorgen – „Herr, deine Güte reicht so weit der Himmel ist“ (mit Psalm 36) wird anders klingen als die angstvolle Klage aus dem Schutzbunker „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ (mit Psalm 130) – im Vaterunser aber ist das alles jeweils mitgedacht: ziemlich viel Gebet in wenig Worten.

Im Anschluss an das Vaterunser, an dem wir Wortlaut und Inhalt eines Gebetes lernen, geht es dann um die Haltung von uns Betern, die der Text in ziemlich drastischen Beispielen als „unverschämtes Drängen“ vor Gott nun nicht etwa verurteilt, sondern fordert: Maximale Impertinenz ist gefragt!

Die alltägliche Bitte des Nachbarn an seinen Nachbarn um das, was er gerade nicht hat aber braucht – eine Prise Salz zum Kochen, ein Ei zum Backen, was weiß ich noch; hier halt Brote für einen unverhofften Gast – wird beinahe ins Absurde gesteigert, zumindest so weit, dass es uns wehtäte: Nächtens, nach dem zu Bett gehen, die Kinder haben längst die Zähne geputzt, ihre Geschichte gehört und gebetet; und man selbst dämmert so langsam in den Schlaf – da klopft und klingelt es und der bis eben noch sehr geschätzte, beinahe befreundete Nachbar steht vor der Tür und fordert nicht ein, nicht zwei, nein, gleich drei Brote für seinen Gast. Der hätte doch eher die eine oder andere Freundlichkeit ins Gesicht verdient oder zumindest den guten Rat, dass jetzt eben bis zum Morgen mal Intervallfasten angesagt ist. Und dann kriegt er halt doch seine Brote, aber nicht weil ich ihn noch mag, sondern weil dann endlich Ruhe ist und wir alle weiterschlafen können.

Soll heißen: Wenn unsere harten Herzen sich schon erweichen lassen, dann ist unserem Gott, der es offensichtlich nicht so eng mit der Nachtruhe sieht („Der Herr schläft und schlummert nicht“ Psalm 121), schonmal gleich gar keine Bitte zu groß und keine Stunde zu spät, dass wir ihm nicht unser Anliegen vorbringen könnten.

Zurückhaltung ist nicht die Haltung des Betens, Bescheidenheit ziert das Gebet nicht, sondern wir sollen uns wünschen, was wir brauchen, und darauf vertrauen , dass es Gott unbedingt gut mit uns meint: Nicht Schlangen und Skorpione bietet er uns an – wobei ich mich nicht verbürgen würde, dass es nicht auch Weltgegenden gibt, in denen so etwas nicht nur für nahrhaft sondern für delikat gehalten wird – sondern Fisch und Ei – und die, die sich auch dafür nicht erwärmen können, dürfen sich hier ihre Lieblingsspeise hineindenken – von der baskischen Fischsuppe, die mir neulich ganz ordentlich gelungen ist, zu den obligaten Fritten an roter Soße aus der Plasteflasche, warum denn nicht?

Unser Evangelist Lukas spricht übrigens nicht davon, dass wir uns Gott als willfährigen Oberkellner zu denken hätten, der umgehend um die Ecke kommt und das von uns gewünschte Menü auftischt – sondern: er gibt uns den heiligen Geist: wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten! Wir bekommen so viel mehr, als das, worum wir Gott bitten.

Wenn wir am Anfang die Not des Betens betrachtet haben, können wir am Ende sagen, dass diese Not nur durch Beten gelindert werden kann; ein Zirkelschluss aber kein Teufelskreis, denn wir können ihn durchbrechen; heute haben wir die Anleitung dazu bekommen.

Predigttext Misericordias Domini, 01. Mai 2022

Da sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr, als mich diese lieb haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Lämmer! Spricht er zum zweiten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst. Das sagte er aber, um anzuzeigen, mit welchem Tod er Gott preisen würde. Und als er das gesagt hatte, spricht er zu ihm: Folge mir nach! (Johannesevangelium 21,15-19)

und führen, wohin du nicht willst – so hat der seinerzeit weit bekannte Theologe Helmut Gollwitzer den Bericht seiner Erlebnisse in Krieg und Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion 1945-49 überschrieben. Trotz seiner – in der Gegenwart wieder schrecklich aktuellen – Erfahrungen als Gegner und Gefangener einer russischen Armee und eines russischen Machthabers hat er sich zeitlebens für die Aussöhnung mit dem einstigen Feind, für den Frieden über Feindesgrenzen hinweg und insbesondere gegen die Atombewaffnung eingesetzt und ist so zu einem Wortführer und Symbol eines pazifistischen Protestantismus geworden, dessen Wahrheit nun spätestens seit zwei Monaten schal geworden zu sein scheint. Ist sie das wirklich?

und führen, wohin du nicht willst – bringt für Gollwitzer den Verlust von Autonomie in Gefangenschaft und Verschleppung zum Ausdruck, aber auch schon den Verlust von Autonomie durch Teilnahme an einem ungerechten Krieg und der Beteiligung an den Verbrechen seines Volkes. Für Gollwitzer stellt der weitgehende Verlust der Selbstbestimmung in Krieg und Kriegsgefangenschaft aber keinen Grund dar, die Verantwortung für das eigene Leben und das eigene Handeln abzuweisen. Denn genau darum geht es ihm: die Möglichkeiten des richtigen Lebens im ganz und gar falschen Leben aufzuzeichnen. Noch im Gulag – falscheres, schlimmeres, fremdbestimmteres Leben lässt sich kaum denken – findet sich Leben.

Auch die Quelle seines Buchtitels, und führen, wohin du nicht willst, die wir heute als Predigttext besichtigen, meint den Verlust von Autonomie – nämlich des Petrus – in einer späteren Lebensphase. Man könnte das Jesuswort für eine allgemeingültige Beschreibung des fremdbestimmten Lebens im Alter halten und ihm darin zustimmen: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst. So ist es ja und jeder kann sich das jetzt schon anschauen im Seniorenheim, in das die wenigsten von uns geführt werden wollen, lange bevor es einen selbst treffen mag. Und natürlich wird hier zuerst ein altersbedingter Mangel beschrieben, der den Alltag beschwerlich macht; noch beschwerlicher allerdings für den, der niemanden hat, zu dem er seine Hände ausstrecken kann, der ihn gürtet und führt.

Aber sicherlich ist hier an unserer Bibelstelle konkreter der fremdbestimmt-selbstbestimmte Märtyrertod des Petrus gemeint, von dem der Autor des Johannesevangeliums dann wohl schon gewusst hat: Das sagte er aber, um anzuzeigen, mit welchem Tod er Gott preisen würde. Auch wenn – oder gerade weil! – hier etwas vorhergesagt wird, was schon eingetreten ist, wird man aber am Martyrium des Petrus in Rom – anderes als frühere Generationen – historisch nicht zweifeln müssen. Dieses römische Martyrium hat zu seiner besonderen Wertschätzung in der Erinnerung der frühen Christen beigetragen und natürlich zum Anspruch des römischen Bischofs als seines Nachfolgers.

Dabei sind die Erinnerungen an Petrus überaus ambivalent. Dreimal verleugnet Petrus seinen Heiland, lässt darüber einen Hahn heiser werden, und wohl deshalb fragt ihn Jesus diesmal dreimal, ob er ihn liebe. Sicher kann er sich dessen nicht mehr sein; wer einmal lügt, dem glaubt man nicht; und wer einmal die Solidarität verweigert, hat schnell sein Ansehen verspielt. Der Kummer des Petrus über die wiederholte, vergewissernde Frage Jesu – Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. – ist einerseits verständlich – wer wird schon gerne an sein Versagen erinnert? – aber durchaus unberechtigt, denn Jesus möchte eben ganz genau wissen, auf was für einen wackeligen Felsen er seine Kirche baut.

Immerhin gibt Jesus ihn nicht auf, sondern fragt und beauftragt ihn nun eben dreimal – für jedes Leugnen eine Frage – seine Lämmer, seine Schafe zu weiden; also Hirte, Pastor seiner Kirche zu werden. Ob Petrus in Zukunft verlässlich sein wird, bleibt offen, ob sich Jesus auf ihn verlässt, nicht. Der Verlassene verlässt ihn nicht. Trotz seiner Fehler, die unsere Fehler sind, wird Petrus in die Verantwortung berufen; trotz unserer Verkrümmungen sollen wir für uns und andere geradestehen.

Helmut Gollwitzer bringt diese Bestimmung des Menschen durch Gott in einem anderen seiner vielgelesenen Werke auf den Punkt: „Krummes Holz – Aufrechter Gang“ lautet der sprechende Titel. Es mag sein, wie ein ehemaliger Kirchenvorsteher immer mal wieder bei passender Gelegenheit bemerkte, dass man aus einem Ochs kein Rindfleisch machen kann, aber Gott wenigstens will uns trotz unserer Verkrümmungen mit aufrechtem Gang durchs Leben gehen sehen; noch der feige, unsolidarische und leugnende Petrus soll sich wieder aufrichten, bekommt eine zweite Chance, eine geöffnete Tür, eine Brücke in ein Leben der Verantwortung für sich selbst und andere: „Krummes Holz – Aufrechter Gang“

Auch Helmut Gollwitzer und die von ihm zeitlebens geforderte Aussöhnung unter Feinden verdient eine relecture, eine zweite Chance. Es ist unbedingt richtig, den angegriffenen Menschen im überfallenen Land mit allen verantwortbaren Mitteln in ihrer Selbstverteidigung zu helfen. Vielleicht geht da noch mehr, „um dem Rad in die Speichen zu fallen“, also – in einer Wendung Dietrich Bonhoeffers – auch militärisch Widerstand zu leisten. Aber es erscheint mir nicht richtig – bitte korrigieren sie mich – mit dem Angreifer ein ganzes Volk, seine Kultur zu dämonisieren und seine Bekämpfung zu rechtfertigen. Auch mit Feinden wird Frieden zu schließen sein, angesichts der Zerstörungen und des Leids besser heute als morgen.

„Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ sagt Jesus an anderer Stelle und begründet damit den christlichen Pazifismus, der nun über Nacht falsch geworden sein soll, wo doch eigentlich nur die Mittel, Frieden zu sichern, sich als untauglich erwiesen haben. Bleibt zu hoffen und alles daran zu setzen, bessere Mittel zu finden, den Frieden zu stiften und dann zu erhalten, denn Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.

Predigttext Ostermontag, 18. April 2022

Aber der Herr ließ einen großen Fisch kommen, Jona zu verschlingen. Und 
Jona war im Leibe des Fisches drei Tage und drei Nächte.
Und Jona betete zu dem Herrn, seinem Gott, im Leibe des Fisches und sprach:
Ich rief zu dem Herrn in meiner Angst,
und er antwortete mir.
Ich schrie aus dem Rachen des Todes,
und du hörtest meine Stimme.
Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer,
dass die Fluten mich umgaben.
Alle deine Wogen und Wellen
gingen über mich,
dass ich dachte
ich würde von deinen Augen verstoßen,
ich würde deinen heiligen Tempel nicht mehr sehen.
Wasser umgaben mich bis an die Kehle,
die Tiefe umringte mich, Schilf bedeckte mein Haupt.
Ich sank hinunter zu der Berge Gründen,
der Erde Riegel schlossen sich hinter mir ewiglich.
Aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt,
Herr, mein Gott!
Und der Herr sprach zu dem Fisch, und der spie Jona aus ans Land.
(Buch des Propheten Jona 2, 1-11)

Save the whales! Rettet die Wale! Heißt es heute und zu recht so; biblisch ursprünglicher ist umgekehrt, dass ein Wal einen Menschen rettet, den Propheten Jona nämlich, wobei dahingestellt sei, ob es sich bei dem großen „Fisch“ um einen Wal gehandelt hat, was er als Säugetier nicht ist. Eine zoologische Besserwisserei ist hier jedoch nicht sonderlich ergiebig. Denn für die Alten war etwas, dass so aussah wie ein Fisch, so lebte wie ein Fisch und so schmeckte wie ein Fisch, nichts anderes als ein Fisch, und im Falle der Wale eben ein großer Fisch, ungeachtet der ihnen sicherlich unbekannten Tatsache, dass Wale ihre Nachkommen lebend gebären und eine Zeit lang säugen.

Und dass sie das immer noch tun, ist ein beinahe so großes Wunder wie das Jona- und Osterwunder zusammen. Denn trotz ihrer durch unsere Jona-Geschichte ausgewiesene Gottesfürchtigkeit und Prophetenfreundlichkeit – von ihrer Intelligenz und Geselligkeit gar nicht zu reden – wurden Wale bekanntlich lange Zeit gejagt, getötet und verwertet bis kurz vor ihrer Ausrottung. Bis zur Industrialisierung war der Walfang der größte und bedeutendste Wirtschaftszweig weltweit, vergleichbar der Energiewirtschaft heutzutage. Mittlerweile sind die Wale nicht mehr vom Aussterben durch den Walfang bedroht, der seinerseits gottseidank in den meisten Ländern ausgestorben ist, sondern bedroht durch die Vermüllung und Beschallung ihres Lebensraums, der Ozeane. Wer Wale retten will, muss ihren Lebensraum retten, die Meere natürlich. Und nur wer die Meere und die Wale rettet, rettet sich selbst: Save the whales! Rette die Wale und rette dich selbst.

Die wunderbare, wunderliche Jona-Geschichte hat schon deshalb recht und ist allein deshalb wahr, dass sie unsere Aufmerksamkeit auf die Natur lenkt, auf die natürlichen Lebensbedingungen von uns Menschen, auf die natürliche Umwelt als Matrix unseres Lebens. Was hülfe es dem Menschen, wenn er auferstünde, aber in eine tote Umwelt hinein? Nur wenn es Wale gibt, kann es den einen Wal geben, der Jona rettet; und nur wenn es intakte, lebendige und lebensvolle Meere gibt, kann es diesen Wal geben. Save the whales, rette die Welt, feiere das Leben!

Ostern als Fest des Lebens feiert seit jeher mit den Bildern des frühlingshaft auflebenden Lebens: Ei und Hase und der aus der Erde hervorkeimende Samen mit seinem zarten frischen Grün; deshalb stimmt der Blick, der heute auf die Meere als Welt der Wale gelenkt wird. Auch das nicht mehr aber auch nicht weniger als ein Bild aus der Natur für die Auferstehung, die ja eigentlich die Aufhebung der Natur meint mit deren unverrückbarem Gesetz, dass alles und nicht nur das Schöne sterben wird und sterben muss.

Aber auch das – also die übernatürliche Steigerung der Natur – leistet die Jona-Geschichte, die ja keineswegs naturalistisch und naturgetreu unseren Blick auf die Natur lenkt, sondern diese wundersam, märchenhaft überhöht. Nach Auskunft führender Walforscher neigen die meisten Wale – je größer desto eher – dazu, Menschen zu ignorieren; vermutlich weil wir aus ihrer Sicht einfach zu unbedeutend sind. Ein Verschlucken, noch dazu ein von Gott befohlenes fürsorgliches Verschlucken von Menschen durch Wale ist natürlicherweise nicht vorgesehen. Und wenn es ein Menschlein in einem allerhöchst unwahrscheinlichen Fall dann doch in den Bauch des Wales verschlüge, würde es dort keine gedeihlichen Bedingungen zum Überleben vorfinden – und schon gar nicht für drei Tage. Und selbst wenn der Mensch sich als für den Wal unverdaulich erweisen sollte – wir versteigen uns ins immer noch Unwahrscheinlichere – wäre nicht damit zu rechnen, dass er sich dann auch noch als kommodes Verkehrsmittel erweist, der seinen vorübergehend erblindeten Passagier am passenden Ort absetzt, pardon: ausspeit. Womit also hinreichend geklärt wäre, was ohnehin jedem Kind von vorneherein klar war, dass die Jona-Geschichte nicht nach der Natur sondern als Märchen erzählt wird, das die Regeln und Gesetze der Natur mühelos überschreitet – auch darin ein Bild der Auferstehung. Auferstehung ist keine von der Natur vorgesehene Option.

Sondern sie ist ganz und gar gottgemacht – wie auch die Rettung des Jona ganz und gar gottgemacht ist: Der Wal handelt im Auftrag des Herrn und Jona weiß genau, wem er seine Rettung verdankt: Aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt, Herr, mein Gott!

Die Jona-Geschichte ist eine Glaubensgeschichte vom Durchgang aus dem Leben durch den Tod ins Leben: Ich schrie aus dem Rachen des Todes, und du hörtest meine Stimme. Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer, dass die Fluten mich umgaben. Das beschreibt etwa die Logik und den Zusammenhang von Karfreitag und Ostern, von Tod und Auferstehung: die Not der Gottverlassenheit: Alle deine Wogen und Wellen gingen über mich, dass ich dachte, ich würde von deinen Augen verstoßen, ich würde deinen heiligen Tempel nicht mehr sehen; und die Erfahrung, dass das Band Gottes aus Glaube, Hoffnung und Liebe dennoch hält: Aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt, Herr, mein Gott!

Wir sind aufgefordert unsere eigenen Nahtoderlebnisse in diese Geschichte einzuzeichnen und in ihr zu deuten: Unsere Geschichten des Verlassenwerdens, des Verstoßenwerdens, des Verlusts, der Krankheit und der Not. Und wir dürfen das neue Leben als von Gott geschenkt verstehen: das Wiederfinden und Wiedergefundenwerden, die Genesung; auch das in der Folge von Krankheit eingeschränkte Leben, was mehr ist als kein Leben. Und ich finde schon auch, dass die Beispiele gefährdeter, geschädigter, schon scheintoter Natur und ihre Wiederbelebung hier dazugehören – die Renaturierung von ehemals abgestorbenen Flüssen und Seen etwa; wenn wir an den Rhein denken, der in meiner Kindheit vor 50 Jahren eine übel riechende, giftige Brühe war und nun wieder das Zuhause ist von den kleinen Verwandten oder bloß Wahlverwandten der Wale.

Auferstehung müssen wir das noch nicht nennen, so wie auch Jona nicht Jesus heißt; aber das eine, den einen als Bild des anderen zu nehmen, das geht schon an; und heute schon sagen, was morgen erst in seiner ganzen Fülle Wirklichkeit werden soll: du hast mein Leben aus dem Verderben geführt, Herr, mein Gott!

Mozarts Requiem – erst Neubeginn, dann letztes Werk

Ein grauer Bote klopft eines Nachts bei Mozart an. Sein anonymer Auftraggeber wünsche eine Totenmesse. Mozart nimmt den Auftrag samt Vorauszahlung an. Doch mit jeder Note fühlt er sich elender und muss schließlich vom Bett aus weiterkomponieren, bis ihm der Tod am 5.12.1791 nach exakt acht Takten im „Lacrymosa“ die Feder aus der Hand nimmt. Aus purem Neid soll der Komponist Salieri den Auftrag erteilt und seinen Konkurrenten dabei vergiftet haben. Wurde Mozart also dazu gedemütigt, sein eigenes Requiem zu schreiben?

Die Wirklichkeit war etwas profaner als diese berühmte Legende. Als Todesursache nimmt man heute eine plötzliche Infektion an. Der „graue Bote“, ein Wiener Rechtsanwalt, kam im Auftrag des Grafen von Walsegg, der zum Jahrestag des Todes seiner jungen Frau († 14.2.1791) eine Totenmesse bestellte – ein üblicher Vorgang, allerdings mit der pikanten Note, dass der Musik liebende Graf sich am liebsten mit fremden Federn schmückte. Ohne es zu wissen, sollte Mozart sein Ghostwriter sein.

Kirchenmusik war für Mozart kein Neuland. Die meisten Werke stammten noch aus Salzburger Zeiten. Im Mai 1791 hatte er sich die Nachfolge des Domkapellmeisters an St. Stephan in Wien gesichert. Ihm stand also nach der Karriere als Opernkomponist eine vielversprechende Neuausrichtung als Kirchenmusiker bevor. Das Requiem war damit als nicht zu prunkvoll ausgestattete, aber meisterhaft angelegte Kantatenmesse so etwas wie ein Referenzstück zum Vorzeigen. Da Mozart die Musik stets im Kopf entwarf, bevor er sie, erst in den Hauptstimmen, dann im vollen Satz zu Papier brachte, wurden aber nur das Introitus und teilweise das Kyrie voll auskomponiert. Die übrigen Sätze blieben Fragmente bzw. wurden posthum u.a. von Mozarts Assistenten Süßmayr ergänzt.

Seit langem gehört das Requiem fest zum Konzertrepertoire der Passionszeit. Es spannt den Bogen von der Archaik des Gregorianischen Chorals über die straffe Rhythmik und die Fugenlabyrinthe des Barock bis zu Passagen, die an Mozarts eigene Opern erinnern. Nicht die vier Vokalsolisten, sondern der vierstimmige Chor bildet das Herzstück. Auf kleinstem Raum wählt Mozart schärfste Kontraste, z.B. zwischen dem aggressiven „Confutatis maledictis“ in den Bässen und Tenören und dem leisen Bitten der Sopran- und Altstimmen im „Voca me cum benedictis“. In jedem Satz ringen im Hintergrund zwei Extreme miteinander, der Schrecken vor dem Jüngsten Gericht und die Hoffnung auf Erlösung. So fragmentarisch dieses Werk eigentlich ist, so eindrücklich klingt die Musik zu dem Jahrhunderte alten Latein, auch noch nach dem Hören, nach.

Man würde Mozart missverstehen, suchte man nach absichtlich Autobiografischem, romantisch Subjektivem in seinem Requiem. Nicht in der Tragik seiner Person erkennt man sich wieder, sondern in Universalität seiner Klangwelt. Der evangelische Theologe Karl Barth fasste dies einmal so zusammen: „Das ist das eigentümlich Aufregende und Beruhigende seiner Musik: sie kommt bemerkbar aus einer Höhe, von der her (man weiß dort um alles!) des Daseins rechte und seine linke Seite und also die Freude und den Schmerz, das Gute und das Böse, das Leben und den Tod zugleich in ihrer Wirklichkeit, aber auch in ihrer Begrenzung eingesehen sind.“

Anne Sophie Meine

Judika, 5. Sonntag in der Passionszeit, 3. April 2022

Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen zu ihm: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, was wir dich bitten werden. Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, dass ich für euch tue? Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben steht mir nicht zu, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist. Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.
(Markus 10,35-45)

Was ist hier los?
Scheint sich um einen unappetitlichen Fall irgendwo in der Grauzone zwischen religiöser Streberei und kirchlichem Karrierismus zu handeln. Da will sich jemand einen Vorteil erschleichen, da schleimt sich jemand an den Meister heran, da will jemand mehr als ihm von Rechts wegen zukommt, um größer als die anderen zu sein. Schön ist das nicht, auf so unbillige Weise die teuren Plätze ergattern zu wollen, und der Evangelistenkollege Matthäus erzählt die Episode noch um einiges unschöner und krasser:

Da sind es nicht die beiden Apostelbrüder selbst sondern ihre Mutter – die ich mir als frühchristliche „tiger mom“, also als „Tigermutti“ vorstelle, (sie erinnern sich vielleicht an die chinesisch-amerikanische Professorin, die ihren Kindern mit harter Hand die Karriere befiehlt, jede 1- mit Hausarrest bestraft und darüber auch noch Bücher schreibt: Amy Chua, Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte; noch besser im amerikanischen Original: Battle Hymn of the Tiger Mother von 2011; die darin beschreibt, wie sie ihren Kindern, den prachtvollen Töchterchen Sophia und Lulu, koste es was es wolle, das Siegen beibringt) – und die also hier als zurück in die Zeit Reisende in unserer Parallel-Geschichte den unfrommen Wunsch äußert, ja, die Forderung nach Beförderung stellt, dass ihre beiden Prachtjungs Johannes und Jakobus, die Donnersöhne, wie Jesus sie an anderer Stelle nennt, doch bitte sehr stets und immer in der ersten Reihe sitzen mögen; Platz da, ruft sie donnernd und dröhnend (jedenfalls in meiner Phantasie): hier komm ich mit meinen beiden prachtvollen Siegersöhnen!

Schade eigentlich, dass Markus in seiner Version unsere Phantasie beschneidet und die beiden das selbst sagen lässt: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit.

Kann man das auch anders sehen? Vielleicht. Vielleicht ist das hier zunächst nicht mehr als der Wunsch der beiden nach Nähe zu ihrem Heiland; also die verständliche und nicht unsympathische Sehnsucht, ihm immer nahe zu sein und nahe zu bleiben, ihm nachzufolgen, wohin auch immer – „wo du hingehst, da will auch ich hingehen“ – auch wenn sich die Zeiten und die Verhältnisse ändern, was sie ja – das jedenfalls war die gemeinsame und weit verbreitete und sichere Erwartung – unmittelbar bald tun würden. Sie erwarteten ja mit ihrem Meister jeden Augenblick die große Zeitenwende, das endgültige Ende dieses Zeitalters und den Einbruch des neuen Äons, das Ende vom Ende und den Anfang eines ganz neuen Anfangs. Wenn das Reich Gottes nahe herbeigekommen ist, wollen sie jedenfalls weiterhin ganz nahe bei ihm sein, in seinem Licht und von ihm erleuchtet: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit.

Jesus hält dieses Verhalten für anderes als eine etwas übertriebene Sympathiebekundung und für mehr als eine bloße Geschmacksverirrung und versucht seinen beiden Apostel, den Zebedäussöhnen Johannes und Jakobus, die zum innersten Kreis – dem inner circle – seiner Jünger gehören, den Ernst der Lage zu vermitteln, den sie offensichtlich trotz ihrer Nähe und Vertrautheit zu ihrem Meister noch nicht begriffen haben: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?

Mit dem Wort von Kelch und Taufe meint Jesus nicht nur seine bleibende Gegenwart in den Sakramenten der christlichen Gemeinde – die auch natürlich – sondern er meint vor allem sein Leiden und Sterben, das ihm bevorsteht und das die, die seine Nähe suchen, ebenso erwartet. Wenn Herrlichkeit, dann ist es die Herrlichkeit des Kreuzes. Könnt ihr das? Wisst ihr was ihr bittet?

Aber so leicht lassen die beiden Donnersöhne sich nicht abschütteln: Ja, das wissen wir und Ja, das können wir; meinen sie, nämlich aushalten. Und dann muss Jesus halt noch deutlicher werden, dass bei aller Nähe zu ihm und aller Leidensbereitschaft seiner Jünger, die Verhältnisse im Reich Gottes unverfügbar bleiben, dass noch nicht einmal er die Plätze an der Sonne verteilt und dass sich jede Rangelei und jedes Geschacher darum verbietet: zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben steht mir nicht zu, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist. Ein Vorteil vor Gott lässt sich nicht ausrechnen, der Platz in der ersten Reihe lässt sich nicht reservieren, die tickets für die besten Plätze im Gottesreich sind nicht verfügbar – und schon gar nicht für den, der darauf Anspruch erhebt, im Gegenteil!

Und jetzt kommt es richtig bitter für die eben noch siegessicheren Donnersöhne, denn Jesus wendet die Verhältnisse im Gottesreich – „die ersten werden die letzten sein“ – auf die Zeit davor an. Was sich dort dann definitiv umkehren wird, soll auch schon hier gelten: wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein – wie übrigens schon die Mutter Jesu, keine Tigermutti sondern Lämmermama noch vor dessen Geburt gesungen hat in ihrer unvergleichlichen Battle-Hymn gegen die Sieger und Krieger und von den unmittelbar bevorstehenden Umwälzungen durch Gott:

„Meine Seele erhebt den Herrn
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.
Und seine Barmherzigkeit währet für und für
bei denen, die ihn fürchten.
Er übt Gewalt mit seinem Arm
und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
Er stößt die Gewaltigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen.
… “ (Lukas 1,46-53)

Es geht für uns darum, mit dem eigenen Verhalten diesen großen Umwälzungen Gottes entgegen zu kommen, ihnen zu entsprechen. Jesus macht sich keine Illusionen über die Verhältnisse dieser Welt, aber er erwartet, dass wir diesen Verhältnissen nicht einfach entsprechen, sondern dass wir diesen mit unserem eigenen Verhalten widersprechen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht! So soll es unter uns nicht sein!

Auch wenn wir in diesen Jesusworten wieder einmal nicht anders können, als einen erstaunlich hellsichtigen Kommentar zu den Ereignissen unserer Tage hören – Ja, so ist es immer noch, dass die Autokraten ihre Völker niederhalten und die autoritären Regime nach innen und außen mit Gewalt herrschen – geht es Jesus an dieser Stelle eigentlich um die inneren Verhältnisse in der christlichen Gemeinde: Aber so ist es unter euch nicht. Wir hören heute nicht mehr aber auch nicht weniger als eine Absage aller Machtstrukturen in der Kirche, ein Ende kirchlicher Hierarchie, als scheinbar heiliger, göttlicher, gottgewollter Ordnung. Aber so ist es unter euch nicht.

Vor einiger Zeit offenbarte mir ein vergleichsweise verständiger Vertreter unserer evangelischen Kirche nach einer wie so häufig unerfreulichen Sitzung – die vergangene Woche war voll davon! – , dass die Evangelischen erst wieder den Umgang mit Macht und also Hierarchie lernen müssten. Wenn er sich da nicht irrt! Abgesehen davon, dass die Evangelischen ohnehin nur die farbenfrohe und glitzernde Hierarchie der Ämter und Gewänder, der Seidenschläppchen und Samthütchen, des von den Decken triefenden Goldes und des berauschenden Räucherwerks zugunsten der grauen und bis heute grauenerregenden Hinterzimmer-Hierarchie der Verwaltung eingetauscht haben – kein fröhlicher Wechsel! – können sich beide jedenfalls nicht auf Jesus berufen. Kein katholischer Bling-Bling und keine protestantischen Nieten in Nadelstreifen – was ist nur aus den Donnersöhnen geworden! – können sich als in der Wolle unterschiedlich gefärbte kirchliche Karrieristen auf Jesus berufen, der klar und deutlich fordert: Aber so ist es unter euch nicht.

So soll es nicht unter uns sein – und zwar nicht, weil ein demokratischer Zeitgeist das so wollte (wie demokratisch der ist, sei dahingestellt!) – sondern weil Jesus selbst das so will und weil Jesus selbst so war. Das ganze Wesen dessen, „der es nicht für einen Raub hielt Gott gleich zu sein, sondern sich selbst entäußerte und Knechtsgestalt annahm“ (Philipper 2), war nicht auf Herrschaft sondern auf Dienst gerichtet; nicht herrschend sondern nur dienend kann man ihm folglich nachfolgen: Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele. Auch für uns. Amen.

500 Jahre Lutherbibel (1552-2022)

Vor ziemlich genau 500 Jahren – im Winter 1521/22 – sitzt Martin Luther in seinem Kämmerchen auf der Wartburg und übersetzt das Neue Testament. Ein halbes Jahr später kommt das Werk nach zahlreichen Korrekturen und Revisionen auch zusammen mit anderen als „Septembertestament“ heraus und sorgt für Furore – nicht nur auf dem gerade sich herausbildenden Buchmarkt und nicht nur als Fanal der Reformation. Bis heute ist die daraus mit den Jahren entstandene „Lutherbibel“ ein epochales Ereignis und definiert mehr als alles andere, was „evangelisch“ heißt: Glauben aus dem Wort Gottes der Bibel, die allen zugänglich und verständlich ist – grundsätzlich auch ohne Vermittlung kirchlicher Profis, aber doch im Austausch mit anderen (d.h. „Gemeinde“). Denn die Bibel drängt selbst zu Kommunikation, zum „Bibelgespräch“, wie es viele Gemeinden, auch unsere, immer noch pflegen, oft genug in der Version Luthers.

Geradezu „un-evangelisch“ kann einem die Anhänglichkeit an diese alte und manchmal altertümlich klingende Übersetzung vorkommen, da sie (lutherische) „Tradition“ vor „Schrift“ (im Original) zu stellen scheint, selbst wenn jene nicht mehr dem heutigen Sprachgebrauch entsprechen sollte. Typisch protestantische Gegenmittel gegen mögliche Erstarrung in der Tradition sind aber zum einen die Revisionen der Lutherbibel, deren vorerst (aber sicher nicht die) letzte 2017 herausgekommen ist und die sich um Korrekturen und behutsame Anpassung bemühen; und andererseits der Pluralismus hervorragender Übersetzungen, die heutzutage per Internet nur einen Mausklick entfernt sind (viele davon bequem etwa unter die-bibel.de der Deutschen Bibelgesellschaft). Da erschließt sich auch sofort der Grund für die mehr als nur sentimentale Anhänglichkeit über die Jahrhunderte: Luthers Übersetzung ist durchweg und meistens die schönste. Deshalb: nimm und lies, vergleiche und wähle! Das können wir leicht selbst – nicht zuletzt durch das Ereignis „Lutherbibel“, das vor 500 Jahren begann.

Klaus Neumann

Predigttext für den Sonntag Okuli, 3. Sonntag in der Passionszeit, 20. März 2022

Und Ahab sagte Isebel alles, was Elia getan hatte und wie er alle Propheten Baals mit dem Schwert umgebracht hatte.
Da sandte Isebel einen Boten zu Elia und ließ ihm sagen: Die Götter sollen mir dies und das tun, wenn ich nicht morgen um diese Zeit dir tue, wie du diesen getan hast!
Da fürchtete er sich, machte sich auf und lief um sein Leben und kam nach Beerscheba in Juda und ließ seinen Diener dort.
Er aber ging hin in die Wüste eine Tagereise weit und kam und setzte sich unter einen Wacholder und wünschte sich zu sterben und sprach: Es ist genug, so nimm nun, HERR, meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter.
Und er legte sich hin und schlief unter dem Wacholder. Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iss!
Und er sah sich um, und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen.
Und der Engel des HERRN kam zum zweiten Mal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir.
Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb.
Und er kam dort in eine Höhle und blieb dort über Nacht. Und siehe, das Wort des HERRN kam zu ihm: Was machst du hier, Elia?
Er sprach: Ich habe geeifert für den HERRN, den Gott Zebaoth; denn Israel hat deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert getötet, und ich bin allein übriggeblieben, und sie trachten danach, dass sie mir mein Leben nehmen.
Der Herr sprach: Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den HERRN! Und siehe, der HERR wird vorübergehen.
Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben.
Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen.
Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle. (1. Könige 19, 1-13)

„Mögest du in interessanten Zeiten leben!“ – dass dieser chinesische Gruß, der wohl gar nicht aus China kommt – das sei jetzt aber mal dahingestellt – eher als Fluch denn als Segen gemeint ist, leuchtet in Zeiten wie diesen unmittelbar ein. Interessant sind die Zeiten gerade sehr, aber eher als Fluch und recht betrachtet wären uns etwas langweiligere Zeiten deutlich lieber. Krisen gab es schon vorher genug, die verdammte Pandemie ist noch lange nicht vorbei und jetzt hat auch noch ein Gewaltherrscher seinen Nachbarn und unserer Nachbarn Nachbarn überfallen und einen verfluchten Krieg vom Zaun gebrochen. Eigentlich längst Zeit für uns, eine Auszeit zu nehmen, den Rückzug in die Wüste anzutreten. Wer kennt eine dunkle Höhle, in die man sich wie Elia verkriechen könnte? Wer einen Ort ohne Viren, ohne Bomben und ohne Nachrichten von beiden?

Interessant, verflucht interessant, sind unsere Zeiten auch, weil sie uns zu Zeitreisenden machen. Das Zeitalter der Seuchen schien doch längst vorbei und die Epoche der Kriegstreiber und ihrer blindwütigen Überfälle auf Nachbarstaaten hatten wir doch hinter uns gelassen. Und indem wir uns gegen die Pandemie behaupten und das Kriegsgedröhn wieder hören müssen, scheinen wir zurück in dunkle, längst vergangene, eher: lange verdrängte Zeiten zu reisen. Unsere journalistischen Zeitreiseführer dahin sind dieselben, die uns vor dreißig Jahren mit dem Ende des Sowjetreiches das Ende der Geschichte verkündet haben und uns heute einen neuen Anfang derselben predigen: nämlich die Wiederkehr der Machtpolitik, die sich in Sturm, Beben und Feuer durchzusetzen hätte gegen das sanfte Säuseln von Diplomatie und Demokratie.

Apropos Zeitreise: In der Höhle, in die wir als Familie uns abends verkriechen, läuft gerade eine völlig abgedrehte norwegische Fernsehserie von Zeitreisenden, die dort „Beforeigners“ heißen, also aus einem Wortspiel von „before“ und „foreigners“ Menschen bezeichnen, die aus drei Epochen früherer Zeiten, nämlich der Steinzeit, der Wikingerzeit und aus dem 19. Jahrhundert, in der Jetztzeit auftauchen, und zwar buchstäblich aus den Wassern des Oslofjords auftauchen und als Zeitmigranten die Stadt bevölkern. Die Stadt verwandelt sich darüber bis zur Unkenntlichkeit in ein einziges, riesiges, brodelndes Flüchtlingslager, in welchem sich Fremde, Zeitmigranten verschiedener Zeiten begegnen, aufeinanderprallen in einem absurden und dennoch einleuchtenden „clash of cultures“, sich gegenseitig fremd sind und dabei doch nicht alle sich gegenseitig fremd bleiben. Das ist genauso abgedreht, wie es klingt, aber eben auch lustig und spannend und ziemlich interessant.

Interessant nicht zuletzt ist der Zusammenprall der Religionen der Wikinger auf der einen Seite mit dem Glauben der pietistischen Frömmler aus dem 19. Jahrhundert auf der anderen Seite, wobei es den kirchlichen Zuschauer betrüben kann, dass die Serie eindeutig mit den altnordischen Odingläubigen sympathisiert und die Christen ein bisschen zu sehr ihr Fett wegbekommen. In einer dennoch köstlichen Szene suchen zwei wilde Wikingerfrauen Zuflucht in einer Kirche und mokieren sich unter einem Kruzifix über den schwachen Gott, der dort hängt, und die erbärmlichen Christen, die an einen Gott glauben, der noch nicht einmal seinen eigenen Sohn retten konnte, geschweige denn sie. Irgendwie geht es auch in dem schrillen Panoptikum dieser norwegischen Fernsehserie um die Stärke der Religionen und die Gewalt der Götter. Und darum ging es doch auch in unserer Elia-Geschichte.

Auch Elia, der Diener des Herrn seines Gottes, dessen Name, gepriesen sei er, unaussprechlich ist, sieht sich in einem Kampf der Religionen, einem „clash of cultures“; er auf der Seite der nomadischen Migranten, der Hebräer nämlich und die Philister mit ihren Baalspriestern auf der Seite der Sesshaften, Besitzenden, die ihren angestammten Besitz zu verteidigen trachten. Wir betreten die Bühne dieser Auseinandersetzungen, als der große blutige Kampf Elias gegen die Baalspriester im Namen ihrer Götter gerade gekämpft war und der Nebel des Krieges sich gerade lichtet: wie er alle Propheten Baals mit dem Schwert umgebracht hatte. Vor der Rache der bösen Philisterkönigin Isebel: Die Götter sollen mir dies und das tun, wenn ich nicht morgen um diese Zeit dir tue, wie du diesen getan hast! – flieht Elia in den Süden erst in das Grenzland nach Beerscheba, noch begleitet von seinem Diener, und dann ganz allein weiter, immer weiter in die Wüste.

In der Wüste, dem Ort der Gottesbegegnung, begegnet Elia seinem Gott. Ich stelle mir vor, dass ihm schon während der schrecklichen Prophetenschlacht gedämmert hatte, dass das Gottes Wille nicht sein kann, so wie wir heute doch auch glauben, dass Krieg eben nach Gottes Willen nicht sein soll. Ich stelle mir vor, dass die Lektion, die Elia zu lernen hat, genau die ist, die bis heute und gerade heute zu lernen ist, dass das Recht der Selbstverteidigung nicht in das gewaltige Unrecht des Krieges umschlagen darf; und dass dieser Umschlag, dieser „tipping-point“ immer umstritten bleibt und bleiben muss. Im grausig-blutigen Kampf der Propheten war dieser Punkt jedenfalls weit überschritten.

Der geflohene Elia erfährt humanitäre Hilfe: einen sicheren Ort, an dem er sich ausruhen kann, dazu ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Freundliche Hilfe und ein freundliches Wort; und dazu – er ist ja ein Prophet – den Auftrag, die Höhle am Gottesberg aufzusuchen, um Gott zu begegnen. Es waren sicherlich die schrecklichen Erfahrungen und Bilder des Prophetenkampfes, die ihn auf die nun folgende, alle seine Gewissheiten umstürzende Gottesbegegnung vorbereitet hatten. Gott selbst verweigert sich der Logik von Gewalt und Macht, erscheint nicht in Donner und Blitz sondern in einem sanften Sausen. Welche Zeit wäre bereit für diese Botschaft eines gewaltlosen Gottes?

Die biblische Tradition hat Elia als Zeitreisenden verstanden, als einen der ersten seiner Art, von dem man es für möglich hielt, dass er Zeitgrenzen überwinden und zu ganz anderen Zeiten wiedererscheinen, wiederauftauchen kann. Nur wenige Kapitel nach unseren Ereignissen, stirbt Elia – eben nicht!, sondern wird in einer spektakulären Aktion zu Gott entrückt: „Siehe, da kam ein feuriger Wagen mit feurigen Rossen, … und Elia fuhr im Wetter gen Himmel“ (2. Könige 2,11). Als zu Gott Entrückter und also nie Gestorbener wird Elia in der religiösen Phantasie der Bibel, aber vor allem in der spekulativen Literatur der nachbiblischen Zeit zum Zeitreisenden, dessen Auftauchen zu anderen Zeiten und an anderen Orten – vor allem da, wo es brennt und raucht – für möglich gehalten wird.

Noch in den Worten des machtlosen Gottes am Kreuz kann von den unterm Kreuz Stehenden der Ruf nach Elia gehört werden, obwohl dieser doch bloß seinen Schmerz in die Welt hinausschreit: „Eli, Eli, lama asabthani? Das ist verdolmetscht: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Und etliche, die dabeistanden, da sie das hörten, sprachen: Siehe, er ruft den Elia.“ (Markus 15,34f.) Jesus ruft nicht nach Elia, aber er ruft dessen erschütternde Erkenntnis vom gewaltfreien Gott in Erinnerung, zu dem ihn selbst erst ein Weg voller Gewalt geführt hatte:
Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben.
Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen.

Solche Worte der Bibel sind auch Zeitreisende, sind geeignet unsere Verhältnisse durcheinander zu bringen, klingen als Fluch und Segen über die Jahrhunderte hinweg, vermögen unsere allzu interessanten Zeiten, ertragen zu helfen, indem sie uns an den Gott erinnern, der sich selbst seiner Macht entäußert und darin in den Schwachen mächtig ist.

Amen.

Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen. (Johannes 6,37)

Auch in diesem Jahr erreichen uns nicht nur schlimme Nachrichten – die ja auch – und mehr als wir hören wollen und ertragen können, aber eben auch gute, und sei es diese eine, dass Jesus uns einlädt, empfängt und nicht abweist. Gut zu hören!

Dabei will ich nicht glauben, dass er heimlich oder offen sich über sinnvolle Regeln und Maßnahmen einfach so hinweggesetzt hätte, die doch die Schwachen schützen und den Kranken helfen sollen. Gerade denen gilt seine Einladung im gleichen Sinne und an anderer Stelle: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“ (Matthäus 11,28)

Ich kann mir nicht vorstellen, nein, ich weiß, dass er nicht wie manche (aber doch viel zu viele, deren Dummheit uns Angst macht) einer Willkürfreiheit das Wort geredet und das Recht des Stärkeren propagiert hätte, wo er sich doch im Gegenteil immer wieder für die Schwächeren eingesetzt hat: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25,40) Freiheit ist immer auch die Freiheit der Schwächsten, die (also die Schwächsten und deren Freiheit) wir als Gemeinschaft zu schützen haben!

Vielleicht hätte Jesus besonnener als wir mit der Angst umgehen können und geduldiger das Ende der Seuche abgewartet, vielleicht hätte er fröhlicher die vorhandenen Nischen genutzt und vielleicht (ganz vielleicht nur!) hätte er mit seinen Wunderkräften hier und dort gezeigt, dass das Leiden so vieler nicht Gottes Willen ist. Ein gutes Wort bei seinem lieben Vater für uns eingelegt hätte er bestimmt, hat er bestimmt.

Und doch hätte Jesus sich mit uns unter das Geschehen gebeugt, hätte geschehen lassen, was auf dieser Welt geschieht, so wie er das zur Zeit seines Lebens und Wirkens gemacht hat, als er Kranke (einige wenige!), aber eben nicht die Krankheit geheilt hat, als er sich selbst für uns hingegeben hat, als er also nicht seinen Willen, sondern den seines Vaters im Himmel hat geschehen lassen. Wobei damit nicht unterstellt sei, dass Gott diese Pandemie will, aber wohl, dass Gott sie aus Gründen, die nur er kennt, geschehen lässt. Gleichzeitig setzt er Kräfte gegen das virale Böse auf vielfältige Weise frei: durch die Stärkung von medizinischer Pflege, Therapie und Forschung etwa oder durch Worte und Taten der Solidarität mit den Leidenden (ohne dass ich mir hätte vorstellen können, in welcher Weise auch die Dämonen destruktiver Irrationalität und des krassen Egoismus durch die Seuche entfesselt werden würden).

Auch das Wort, das uns als Jahreslosung für dieses Jahr gegeben ist, gehört zur Strategie Gottes gegen die Chaosmächte. Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen, sagt Jesus und will uns auf diese Weise sammeln – untereinander und vor Gott – als unter Gottes Wort versammelte Gemeinde. Und will uns so stärken.

Wir haben in dieser Zeit auf neue Art erfahren, wie weit Gottes Wort reicht, weit über die physische Präsenz von Menschen hinaus; und wir haben ebenso erfahren – leidvoll erfahren – wie sehr wir solche leibliche Gegenwart vermissen, wenn wir sie entbehren müssen. Aber was immer die aktuell herrschenden Bedingungen der Begegnung mit ihm sein mögen, steht doch seine bedingungslose Einladung an uns: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen. Kein Wenn, kein Aber.

Klaus Neumann

Sonntag Invokavit, erster Sonntag der Passionszeit, 6. März 2022

Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfangt. Denn er spricht (Jes 49,8): »Ich habe dich zur willkommenen Zeit erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit dieser Dienst nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben. (2. Korinther 6, 1-10)

Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Selten scheint ein Predigttext so daneben zu liegen wie heute; viel falscher geht es nicht, denn wann wenn nicht jetzt erleben wir Tage des Unheils und wann wäre das Zeitgeschehen unwillkommener gewesen als gerade jetzt. Beinahe sehnen wir uns in die Zeit zurück als nur Corona unsere Sorge war, von Migrationsproblemen oder Finanzkrisen zu schweigen und selbst der Klimawandel scheint hinter dem schrecklichen Krieg in unserer Nähe viel von seinem Schrecken zu verlieren. Unheil überall und von überall her. Es läuft gerade nicht so gut. Und dann hören wir das:

Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Im weiteren Verlauf unseres Textabschnitts wird deutlich, dass auch für Paulus das Heilswort nicht als Beschreibung der von ihm erlebten Wirklichkeit gemeint ist; sondern – wie bei uns gerade – unter seinem äußerlich sichtbaren Gegenteil auf ihn trifft: in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen. Dennoch und trotzdem und gegen allen Augenschein ist jetzt die willkommene Zeit, ist der Tag des Heils! Wie unter dem Kreuz ist das Heil unter den Umständen und Zeitläufen verborgen – aber nicht weniger wahr. Alles ist schrecklich, aber alles wird gut – weil Gott alles gut gemacht hat und wieder gut machen wird.

Was unterscheidet eine solche Botschaft von einer bloßen Durchhalteparole, in Zeiten der Seuche, der Krise und nun des Krieges auszuhalten in großer Geduld? Was sollte uns dazu bringen, auf solche Worte zu hören, ihnen Glauben zu schenken? Was könnte uns davon überzeugen, dass trotz allem, was uns Sorgen macht und was uns bedrängt, auch heute ein Tag des Heils ist?

Nun, Durchhalteparolen sind gewöhnlich an andere gerichtet, die zu leiden haben, während man sich selbst schont; ganz anders der Apostel Paulus – und um den geht es zunächst in unserem Predigttext und eigentlich in seinem ganzen 2. Brief an die Korinther – der an sich zeigt, was es ihn kostet so zu glauben, wie er glaubt, und so zu leben, wie er lebt; wenn er von Bedrängnissen, Nöten, Ängsten, Schlägen, Gefängnissen, Aufruhr, Mühen spricht, dann von seinen eigenen, dann davon, dass er sie selbst erlebt hat und noch erlebt; was alles nicht wünschenswert, aber eben unvermeidbar ist, um Gottes Wort von der willkommenen Zeit, vom Tag des Heils auszurichten und selbst danach zu leben im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken.

Man muss sich hüten vor allzu vorschnellen Anknüpfungen oder kurzschlüssigen Bezügen, aber ich jedenfalls kann nicht anders als an den Präsidenten und den Bürgermeister in dieser fernen, nahen Stadt Kiew zu denken – gerade mal knapp zweitausend Kilometer von Wiesbaden entfernt und nach Google-Maps in 20 Stunden und angeblich ohne Stau – das dürfte ein Irrtum sein – auf Autobahnen über Ostdeutschland und Polen erreichbar. Seine, ihre Botschaften aus Bedrängnis und höchster Not sind ebenso wenig Durchhalteparolen sondern durch ihr Beispiel und das erhebliche Risiko für ihren eigenen Leib und ihr eigenes Leben beglaubigt.

Keine Mitfahrgelegenheit wolle er, auf das Angebot hin, ihn auszufliegen, keine Mitfahrgelegenheit wolle er, sondern Mittel zur Selbstverteidigung, Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, also Schwerter – rechts – zum Zurückschlagen und Schilder – links – zur Abwehr die Paulus nur metaphorisch und geistlich gemeint hat, die nun aber ein Gewaltherrscher die Angegriffenen im Wortsinn zu verstehen nötigt. Bei aller Undurchsichtigkeit im Nebel des Kriegsgeschehens, in dem bekanntlich die Wahrheit das erste Opfer ist, klingt in den Worten des hoffnungslos Unterlegenen das Wort der Wahrheit durch, dass ein solcher Überfall nicht gerecht sein kann und dass Selbstverteidigung ein Recht ist.

Im Weiteren skizziert Paulus die Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten, denen wir Menschen zeitlebens im eigenen und im Urteil der anderen ausgesetzt sind, besonders aber in Zeiten der Krise und des Krieges: Was ist die Wahrheit über mich? Was ist überhaupt Wahrheit? Und welches ist das Wort der Wahrheit? „Die einen sagen so, die anderen sagen so“, sagt der freundliche Kassierer im Tegut – selbst mutmaßlich kriegs- und fluchterfahren – und weiß nicht, was er aus den Nachrichten machen soll, außer sie mit Vorsicht zu genießen. Jedenfalls warnt er den Kunden, der eigentlich nur das Abendbrot einkaufen wollte, vor der Verwechslung der Wirklichkeit mit der Nachricht von ihr. So kann es im Land des Gewaltherrschers, der den jüdischen Präsidenten seines Nachbarlandes einen Nazi nennt, bis zu 15 Jahre Haft kosten, den Krieg Krieg zu nennen: Je nach Standpunkt und Blickrichtung kann sich Wahrheit in Lüge verwandeln und umgekehrt, wobei ich der altmodischen Vorstellung anhänge, dass nur eine gemeinsame Wahrheit diesen Namen verdient.

Paulus jedenfalls kennt diese unterschiedlichen, miteinander streitenden Sichtweisen auf dieselbe Sache, sieht sich ihnen selbst ausgesetzt, sieht sich und die seinen in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben.

Hin- und hergerissen aber nicht zerrissen; brennend aber nicht verbrennend; zerbrechlich aber nicht zerbrochen; ein tönernes Gefäß, das nichtsdestotrotz einen Schatz in sich trägt, von dem Paulus im selben Brief an anderer Stelle sagt: „Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, auf dass die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns. Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht.“ (2. Korinther 4,7f.)

Dieses Vexierbild unserer Existenz kann uns schwindelig machen; unser Leben mag schwanken in den Ambivalenzen und wanken in den Ambiguitäten der wirklichen Welt, unsere Sicherheiten mag durch böse Mächte und finstere Gestalten, den Wiedergängern des Teufels, den wir doch längst abgeschafft hatten, erschüttert werden, aber wir fallen nicht, weil Gottes Wort an uns nicht fällt, sondern uns aufrichtet.

Sein Zuspruch, dass jetzt wie stets die willkommene Zeit, der Tag des Heils ist, weil eben jede Zeit gleich unmittelbar zu Gott ist, erfüllt uns mit dem Heiligen Geist, der Kraft Gottes und befähigt uns zu Wahrheit und Gerechtigkeit in ungefärbter Liebe. So wenig der Apostel seinen Glauben und sein Leben vom Urteil der anderen abhängig gemacht hat, und so wenig er verzagt, obwohl ihm bange ist, so sehr sollen auch wir gerade in Bedrängnis und Not auf Gott und sein Wort hören. Nicht vor den bösen Mächten sollen wir uns beherrschen lassen, sondern von den guten Mächten geborgen wissen. Amen.

Noch will das alte unsre Herzen quälen, noch drückt uns böser Tage schwere Last. Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen das Heil, für das du uns geschaffen hast.
Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so lass uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner Kinder hohen Lobgesang.
Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

(Dietrich Bonhoeffer 1944)