500 Jahre Josquin Desprez († 1521)

Ob es Ludwig XI. oder Ludwig XII. war, dem Josquin, der wohl größte Komponist der Renaissance, einen Streich spielte, ist auch nach 500 Jahren noch nicht völlig geklärt. Auf jeden Fall war es der französische König persönlich, der den Meister um eine eigene Gesangspartie bat: er wolle bei einer Aufführung gerne einmal mitsingen. Josquin tat, wie ihm befohlen. Allerdings hielt er von den sanglichen Qualitäten des Königs so wenig, dass er dessen Stimme nur auf einem einzigen Ton komponierte.

Wer sich so etwas traut, weiß um seinen Wert. Nicht nur wegen seines kantigen Charakters wird Josquin oft mit Beethoven verglichen. Josquins Erneuerungen der frankoflämischen Vokalpolyphonie strahlten weit voraus bis hin zu J.S. Bach. Zwar sind die Stationen seines Lebens – St. Quentin, Aix-en-Provence, Paris, Mailand bei Kardinal Ascanio Sforza, Sixtinische Kapelle in

Rom, Mailand, Ferrara, zurück nach Nordfrankreich – nicht lückenlos rekonstruierbar. Aber einiges gilt doch als gesichert, z.B. dass Josquin 1503 in Ferrara als Kapellmeister am Hofe des Herzogs Ercole I. d’Este mit 200 Dukaten das höchste Gehalt verhandelte, das je ein Musiker dort erhalten hatte. Für den Herzog, eine schillernde, Pracht liebende Persönlichkeit, schrieb er eine ebenso prachtvolle Messe, die „Missa Hercules dux Ferrariae“. Schon zu Lebzeiten war sein Vorname in aller Munde, bei Herrschern, Musikern und Dichtern. In Italien verglich man ihn posthum mit Michelangelo. Als erstem Komponisten der Musikgeschichte wurde ihm ein Individualdruck seiner Messen mit dem hochmodernen Notendruckverfahren mit Metalllettern gewidmet. Eine größere Ehre gab es nicht.

Zu Josquins berührendsten Werken zählt die französische Trauermotette über den Tod Ockeghems, der 1497 an der damaligen Pandemie, der Pest, verstarb. Die „déploration de la mort de Jehan Ockeghem“ imitiert mit fünf Stimmen den Stil des älteren Komponisten in unablässig ineinanderfließenden Linien über einem Cantus firmus aus dem Introitus „Requiem aeternam“. Ein pures Meisterwerk ist die „Missa Pange Lingua“ für vier Gesangsstimmen. In der Regel singen höchstens drei Sänger je eine Stimme. Allen fünf Sätzen (Kyrie, Credo, Gloria, Sanctus und Agnus Dei) liegt der gleichnamige Hymnus von Thomas von Aquin zugrunde. Größere und kleinere Fragmente der berühmten Melodie ziehen sich nach den komplexen Regeln des Kontrapunkts echoartig durch das gesamte Stück. Gleichzeitig lässt Josquin kaum eine Gelegenheit der expressiven Ausdeutung des Textes durch die Musik aus und verleiht ihm dadurch noch mehr Tiefe. Mit Josquin setzt die Kunst der musikalischen Interpretation des Textes, später ein Hauptmerkmal des Barock, ein.

Luther schätzte Josquins Musik sehr und kannte sie in Form von Lautentabulaturen, also Transkriptionen von polyphonen Gesangsstücken für Zupfinstrumente. In den Tischreden schrieb er über den Nordfranzosen, der selbst nie in Deutschland gewesen war: „So hat Gott das Evangelium auch durch die Musik gepredigt, wie man an Josquin sieht.“

Anne Sophie Meine

CD-Tipps: The Tallis Scholars sing Josquin, Label Gimell 2015, mit „Missa Pange Lingua“; The Hilliard Ensemble: Missa Hercules Dux Ferrariae, Motets & Chansons, Label Plg Classics Warner 2004, mit „La déploration de la mort de Jehan Ockeghem“.

Johannes Brahms‘ „Schicksalslied“ nach Friedrich Hölderlin

Das Jahr 2020 kennt neben Beethoven noch einen weiteren großen Jubilar. Vor 250 Jahren, am 20. März 1770, wurde Friedrich Hölderlin geboren, einer der größten deutschen Dichter – zu seiner Zeit nur von wenigen erkannt und erst im 20. Jahrhundert rezipiert, etwa von nicht weniger als 20 Komponisten. Von der strengen Mutter für das evangelische Pfarramt vorgesehen, konnte sich Hölderlin nie dazu durchringen. Die Poesie galt ihm alles. Als hochgebildeter, von der griechischen Antike faszinierter „Sprachkünstler“ erneuerte er die traditionellen Gedichtformen und schuf in seinem Roman „Hyperion“, in seinen Hymnen, Oden und Elegien einen bis dahin ungekannten Ton von hohem Pathos und außergewöhnlicher Musikalität. Selbst wenn man seine Gedichte nicht kennt, hat man vielleicht schon von seiner bewegten Biografie, seiner tragischen Liebe zu Suzette, der Frau des Frankfurter Bankiers Gontard, oder vom Tübinger „Hölderlin-Turm“ gehört, wo der an einer schweren Psychose erkrankte Dichter von 1806 bis zu seinem Tod 1843 bei einer Schreinerfamilie untergebracht war und von ihr gepflegt wurde. Einen guten Einstieg in Hölderlins Welt bietet z.B. das „Schicksalslied“ für Chor und Orchester von Johannes Brahms. In seiner Schönheit und Dramatik erinnert das im Sommer 1868 begonnene Werk an Brahms‘ Deutsches Requiem von 1867. Die emotionale Fallhöhe des Gedichts aus „Hyperion“ setzt der Komponist in einen quasi lichtdurchfluteten, schwebenden ersten Teil und einen stürmischeren, düsteren zweiten Teil um. Beim dritten Teil, der Wiederholung des sanften Anfangs, war sich Brahms auch noch nach der Uraufführung 1871 unschlüssig. Er beließ es dabei. Das Gedicht endet in Verzweiflung – die Musik aber sollte, wie das Requiem, mit der Hoffnung ausklingen.

Anne Sophie Meine

Schicksalslied
aus Hölderlins Roman „Hyperion oder
der Eremit in Griechenland“ (1797/99)

Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.
Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller
Ewiger Klarheit.
Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.

Mehr zu Hölderlin unter www.hoelderlin2020.de: mit vielen interessanten Texten, (virtuellen) Ausstellungen, Gesprächen und Radio-Podcasts.
Lyrik-CD: Friedrich Hölderlin: Gedichte. Mit Mathias Wiemann. SWR2 Lesung
1947/1956, SWR edition 2013.
Musik-CD: J. Brahms: Werke für Chor und Orchester, u.a. Danish National Choir & SO, Gerd Albrecht, Chandos 2004.

Das Phänomen der Stille

In der Anfangszeit der Krise, als der Alltagslärm verstummte, nahmen wir alle plötzlich wieder wahr, wie still es sein kann. Seit es ihn gibt, horcht der Mensch. Er muss die Stille deuten. Ist eine unsichtbare Gefahr im Verzug? Oder ist sie Ausdruck des Friedens? Ganz still ist es nie. Naturgeräusche gehören dazu. Das Singen entstand daraus, und aus ihm die Musik. Sie ist wiederum ohne Stille nicht denkbar, denn Musik wird von Stille eingerahmt. Eine gezähmte Stille, in ihrer Dauer sauber notiert und gezielt gesetzt, ist die Pause. Dauert sie länger als erwartet, wird sie zur Stille umgedeutet. Der Mensch horcht auf (wie wir heute): Was passiert hier? Wann geht es weiter?

Eine unglaubliche Idee übernahmen die antiken Pythagoräer von den Babyloniern: die Sphärenharmonie. Sie stellten sich die Strecke von der Erde zum Himmel als gespannte Saite vor, die von den umlaufenden Planeten in exakten Höhenverhältnissen zum Schwingen gebracht wird. Dass ausgerechnet der Mensch die Sphärenharmonie nicht hören kann, war noch lange kein Argument gegen ihre Existenz. Die Idee wurde Jahrhunderte lang immer wieder diskutiert. Schließlich überwog die uns heute noch prägende Dialektik: Musik ist das Hörbare – Stille ist ihr Gegenteil.

Der Barockmusiker Johann Sebastian Bach setzte die längere Generalpause als rhetorische Figur ein, die z.B. in beiden Passionen den Tod Christi nach den Worten „…und verschied“ eindrucksvoll symbolisiert. Ein Freigeist wie Beethoven nutzte oft sehr dramatische Pausen. Ein Beispiel: Im Schlusssatz der 9. Sinfonie (1824 in Taubheit komponiert) schmettert der Chor mit voller Kraft: „und der Cherub steht vor Gott, vor Gott, vor Gott!“ Es folgt eine kurze, aber umso wirkungsvollere Pause: das ganze Gefüge hängt für einen atemlosen Moment in der Luft. Und dann folgt ein völlig neuer Teil. Noch dramatischer geht es in Igor Strawinskys Skandal-Ballett „Frühlingsopfer“ (1913) zu. Der erste Teil endet in einem irrsinnigen Tumult, der brutal abbricht. Ein unheilvolles Vorzeichen. Denn im leise beginnenden zweiten Teil wird nach heidnischem Ritus ein Mensch geopfert.

Den schmalen Grad zwischen Musik und Stille kannte niemand besser als Franz Schubert. Kurz vor seinem frühen Tod (1828) schrieb er sein Streichquintett C-Dur. Im Adagio gibt es eine sehr leise Stelle, wo die fünf Streicher wie blind und taub nach der Musik zu tasten scheinen. Die Pausen sind zwar sauber notiert, doch die Töne ergeben keinen Sinn mehr. Für einen Moment löst sich die Musik ins Nichts auf. Ganz ähnlich verfährt Arvo Pärt im 2. Satz „Silentium“ im Stück „Tabula Rasa“ (1977). Es bleiben –wie am Ende von Haydns Abschiedssinfonie – zwei Streichinstrumente übrig. Immer tiefer und leiser werdend, nähern sie sich der Stille an und verschmelzen schließlich mit ihr. Die Stille ist hier nicht mehr Gegenteil, sondern Teil der Musik.

Und schließlich John Cages „4‘33“. (1952) Der Musiker spielt viereinhalb Minuten: nichts. Cage dreht die Konzertsituation um. Also wird das Publikum unruhig und lauscht. Es horcht in sich hinein. Es nimmt den eigenen Atem, die Geräusche der anderen, die knisternde Stille wahr. Man könnte dies für einen simplen Kunstscherz halten, doch Cage führt hier etwas vor, was wir so oft vergessen. In der Stille schärft man seine Sinne und bemerkt vieles mehr als erwartet.

Anne Sophie Meine

CD-Tipp: Franz Schubert: Adagio aus Streichquintett C-Dur, Alban Berg Quartett, Heinrich Schiff; EMI. Arvo Pärt: Tabula Rasa: Viktoria Mullova, Paavo Järvi; Onyx.

250 Jahre Ludwig van Beethoven (1770-1827): Die Missa solemnis (1824)

Das berühmteste aller Beethoven-Portraits (J.F. Stieler, 1820) zeigt den großen Jubilar mit selbstbewusstem, sinnendem Blick, romantischer Sturmmähne, feuerrotem Tuch und einem Skizzenbuch in der Hand. „Missa solemnis“ steht auf dem Deckblatt. Beethoven selbst nannte sie mehrmals sein „größtes Werk“. Kaum ein Stück hatte ihn über so viele Jahre (1817-1824) in Atem gehalten, noch nicht einmal seine parallel entstandene, ebenso monumentale „Neunte“. Ursprünglich war die „feierliche Messe“ für die Inthronisation des Erzherzogs Rudolph zum Erzbischof von Olmütz 1820 gedacht. Doch der Komponist hielt die Frist nicht ein. Das Projekt wuchs und wuchs und verlangte immer mehr Zeit. Beethoven erklärtes Ziel lag jenseits aller üblichen Zwecke, selbst dem einer Bischofsweihe. Es ging ihm um „wahre Kirchenmusik“. So schrieb er 1821 dem Erzbischof, seinem Freund, Förderer und Schüler: „Höheres gibt es nichts, als der Gottheit sich mehr als andere Menschen nähern, u. von hier aus die Strahlen der Gottheit unter das Menschengeschlecht verbreiten“. Die Missa solemnis hat den Charakter einer Bekenntnismusik, zum eigenen Trost und zum Wohle der
Menschheit.

Dass Beethoven ausgerechnet eine Messe für sein gelungenstes Werk hielt, ist schon bemerkenswert. Denn auf die Institution Kirche war der Komponist nicht immer gut zu sprechen. Seine geistlichen Werke lassen sich an einer Hand abzählen. Er war kein Kirchgänger und spöttelte gern über den Klerus. Als kritischer Geist verfolgte er aufmerksam die Umbrüche seiner Zeit, die Aufklärung, die Französische Revolution, die napoleonischen Kriege. Die alten Autoritäten, ob weltlich oder klerikal, stellte er prinzipiell in Frage und hing doch finanziell von ihnen ab. Zeitgleich lässt sich in Tagebüchern und Briefen eine Hinwendung zur Religion, eine intensive Beschäftigung mit Fragen des Glaubens feststellen. Während der akribischen Arbeit an der Missa solemnis war Beethoven von Krankheit, Geldsorgen und dem Vormundschaftsstreit um den Neffen geplagt und oft am Rande der Verzweiflung. Bei der Musikalisierung des Jahrhunderte alten und schon tausendfach vertonten Messtextes suchte er, taub und isoliert, nach eigenen Antworten. 1824 dann schrieb er, bei dieser Messe sei die „Hauptsache“, „sowohl bei den singenden als Zuhörenden religiöse Gefühle zu wecken und dauernd zu machen.“

Wie so oft bei Beethoven, dem „Titanen“, überschreitet auch die Missa solemnis alle Grenzen des Gewohnten. Zeitgenössische Kritiker suchten verwirrt nach passenden Umschreibungen. Auch heute noch kann sich der Zuhörer halb hingezogen, halb ausgeliefert fühlen, so schnell folgen nach dem „Knall“ des ersten Taktes die gegensätzlichsten Ideen in dem großen, festen Gefüge aufeinander. Kirchenmusikalische Vergangenheit wie
Choräle und Fugen wechseln mit Opernhaftem und Sinfonischem, plötzliche Momente tiefster Innerlichkeit bei den Solisten mit gewaltigen Klangströmen des Chores. Mittendrin fällt überraschend ein sanftes Violinsolo (Benedictus) vom Himmel. Beim „Dona nobis pacem“ erklingt drohende Kriegsmusik mit Blech und Schlagwerk, womit der Rahmen des Liturgischen nun vollends verlassen wird. Der Schluss bleibt absichtlich in der Schwebe. Auch das gehört zu Beethovens persönlichem Bekenntnis.

Konzerttipp: Rheingau Musik Festival, 20.8.2020; CD-Tipp: Einspielungen
unter Frieder Bernius (Carus 2019) und Nikolaus Harnoncourt (Sony 2016).

Anne Sophie Meine

Stadtklänge 2019

Am Samstag, 15. Juni 2019 findet in der Wiesbadener Innenstadt das Kirchenmusikfest „Stadtklänge“ statt. Von 11:30 – 17:30 Uhr bringen Chöre, Instrumentalensembles und Orgeln die Wiesbadener Innenstadtkirchen zum Klingen. Vom Kinderchor bis zur Kantorei, vom Gospelchor bis zur Band, vom Posaunenchor bis zum Flötenchor ist alles dabei, was in
den Wiesbadener Kirchen Musik macht. Ein großer musikalischer Gottesdienst in der Lutherkirche beschließt um 18 Uhr das Kirchenmusikfest.

Auch unser Kinderchor ist dabei! Zusammen mit den Chorwürmern aus Klarenthal und dem Kinderchor der Ev. Kirchengemeinde Naurod treten wir gemeinsam unter der Leitung von Gabriela Blaudow um 15.30 Uhr im Roncallihaus (Friedrichstr. 26) auf. Wir freuen uns sehr, wenn wir bekannte
Gesichter aus der Gemeinde im Publikum sehen! Das gesamte Programm gibt es unter www.stadtklaenge-wiesbaden.de.

Johann Sebastian Bach: Johannespassion BWV 245

Wenn es nach Wilhelm Dilthey gegangen wäre, gäbe es Bachs „Johannespassion“ nur noch in einer stark gekürzten Fassung. So sehr den Kunst liebenden Philosophen aus dem 19. Jahrhundert diese Komposition von 1724 auch faszinierte, so sollte doch mit Rücksicht auf den gesamten „Bau“ die „zusammenhängende Erzählung“ nicht „dauernd unterbrochen werden“. (zit. n. Walter, S. 102, s.u.)
Zum Glück hatte Dilthey bei allem Kunstverstand in dieser Sache nicht Recht und auch keinen Einfluss auf die weitere Aufführungspraxis. Sonst würden Bachs monumentalem Werk, das dieser selbst sehr schätzte und das er von 1724 bis 1749 immer wieder veränderte und an einzelne Aufführungen bei den Leipziger Karfreitagsgottesdiensten anpasste, wichtige Abschnitte fehlen. Was Diltheys ästhetisches Empfinden störte, war tatsächlich Bachs selbstbewusster künstlerischer Wille. Gerade die Brüche, die Gegensätze, zusammengefügt zu einem großartigen Ganzen, machen die dialektische Spannung zwischen Tod und Erlösung geistig und sinnlich erfahrbar. Somit stellen die Teile dieser Oratorischen Passion unterschiedliche Zeiten (Vergangenheit / Bezug zur Gegenwart) und Perspektiven (der Blick auf die biblischen Akteure / der Blick nach innen: „ich“, „wir“) dar. Entsprechend reichhaltig ist das Spektrum der Affekte,
von Trauer, Verzweiflung, Schrecken und Demütigung bis hin zu Liebe und sogar Freude.

In diesem Werk gibt es vier kontrastierende „Bausteine“: der Bibeltext nach Johannes in den Rezitativen (z.B. Jesus: „Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.“ – Spricht Pilatus zu ihm: „Was ist Wahrheit?“), die hochdramatischen Chöre der Menge (z.B. „Wäre dieser nicht ein Übeltäter“, „Weg, weg mit dem, weg“, „Kreuzige, kreuzige“), verinnerlichende, von der italienischen Oper beeinflusste Arien (z.B. „Es ist vollbracht“, Zerfließe,
mein Herze“) sowie fast statische, vierstimmige Kirchenchoräle. Vor allem diese bringen den theologischen Gehalt des Vorangegangenen jeweils auf eine Formel (z.B. „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, muß uns die Freiheit kommen“) und gliedern und stützen das Werk, wie die Säulen in einer Kirche.

Visionär und radikal lässt Bach seine Johannespassion beginnen mit einem außergewöhnlich langen und komplexen dreiteiligen Eingangschor von fast 9 Minuten. Anders als bisher üblich und dem johanneischen Christus-Bild folgend, wird Jesus hier nicht als Dulder, sondern als Herrscher über den Tod dargestellt. Die ersten 18 Takte sind rein instrumental und nichts weniger als der Beginn eines „sinfonischen“ Konzepts von Musik. Drei Ebenen – eine ostinate, also tonwiederholende Basslinie als Fundament,
ein sich in schmerzlichen Dissonanzen vorschiebendes Bläserduo und dazwischen die auf- und abwogenden Streicher – bilden die Dreieinigkeit ab: Gottvater, Sohn und der „wehende“ Heilige Geist. Und auch wenn man das alles nicht weiß: dem mächtigen, bittersüßen Sog dieses Beginns kann sich kaum jemand entziehen. In nächster Zeit gibt es in Wiesbaden mindestens eine Gelegenheit, Bachs erstaunliches Werk zu hören: am 13. April in der Marktkirche.

Anne Sophie Meine

Literaturtipp: Meinrad Walter: J.S. Bach. Johannespassion, Stuttgart 2011;
Martin Geck: Bach. Johannespassion, München 1991.
CD-Tipp: Einspielungen von M. Lutz, J.E. Gardiner, H. Rilling und R. Otto

Das bekannte Unbekannte: Bachs Weihnachtsoratorium

Wann hatte der Mann eigentlich Zeit zu schlafen? Wenn man sich Johann Sebastian Bachs Wochenpensum als Leipziger Thomaskantor einmal vor Augen führt, kann man nur staunen. Ab 5 Uhr früh erfüllte er – nicht immer ohne Murren und Anstrengung – seine Pflichten: Gruppen- und  Einzelunterricht der Thomaner, Aufsichtsdienste, Hochzeiten, Begräbnisse, Gottesdienste, Orgelgutachten, Proben, Komponieren zu weltlichen und kirchlichen Anlässen, in den ersten Jahren wöchentlich eine Kantate, dazu nebenan die 55 Internatsschüler, die nicht auf Rosen gebettet wurden, und der Alltag in einer ständig wachsenden Familie. Zu den großen Tragödien in Bachs Leben zählt, dass von seinen 20 Kindern nur die Hälfte das Kindesalter überlebten. So überweltlich seine Musik ist, Bach komponierte nicht in einem Elfenbeinturm, sondern als Mensch seiner Zeit, der nur zu genau wusste, was Freude und Trauer, Zweifel und Hoffnung, Geburt und Tod waren.

Das Weihnachtsoratorium scheint Bachs zugleich bekanntestes und verkanntestes Werk zu sein. Wer hört nicht die berühmten ersten Takte mit Pauken und Trompeten, trillernden Flöten und sirrenden Streichern wie eine Art universalen Weihnachtsjingle und meint nicht, gleich das ganze Werk zu kennen, weil ihm viele der Kirchenlieder darin vertraut sind? Und wer hat nicht schon die besondere barocke Sprache („zärtliche Triebe“, „Herzensstube“, „abfahren“, „gerochen“…) als recht altmodisch empfunden? Wer würde sich überhaupt noch die Zeit nehmen, sich nicht nur die ersten drei, sondern alle sechs Zyklusteile mit all den Chören, Chorälen, Rezitativen und Arien aufmerksam anzuhören? Bachs Weihnachtsoratorium ist alles andere als ein einfaches Krippenspiel. Es war auch nicht als reines Konzert gedacht. Der Zyklus wurden vom 25.12.1734 bis 6.1.1735 als eigens für die Liturgie komponierte Musik in den Leipziger Hauptkirchen, der Nicolaikirche und der Thomaskirche, mit einem Teil der Thomaner und Stadtmusikern aufgeführt. Auch wenn Bach, wie es zu der Zeit absolut üblich und gar nicht unrühmlich war, viele Passagen aus früheren Stücken parodiert, d.h. übernommen, überarbeitet und veredelt hat, ist das Oratorium von bemerkenswerter Geschlossenheit und Perfektion, wie ein großer Kirchenbau, in dem jeder einzelne Stein seinen exakten Platz hat. Zahlreiche Bezüge (thematisch, tonartlich,  instrumentatorisch, textlich) halten die Teile zusammen.

Es lohnt sich, das Weihnachtsoratorium (neu) zu entdecken. Zum Beispiel die enorme rhythmische Vielfalt und Vitalität der schnelleren Sätze innerlich „nachzutanzen“ oder die vertrackten Synkopen in der Begleitung der Bass-Arie „Großer Herr und starker König“ (I/5) zu „sortieren“. Ist es in der Sinfonia (II/10) nur die Ambivalenz der Dur-Moll-Wechsel, dass aus einer harmlosen Pastorale ein fast schmerzhaftes Sehnen herauszuhören ist? Im Hirtenchor „Lasset uns nun gehen“ (III,26) bemerkt man schmunzelnd, dass die Hirten so aufgeregt sind, dass sie alle auseinanderlaufen. Wo wurde Geborgenheit und Zuversicht je besser in Noten gefasst als in dem schwebenden Duo von Altstimme und Solovioline (III/31: „Schließe, mein Herze“)? Und wie hat nicht die verspielte Echo-Arie im 4. Teil die ehrwürdige Fachwelt mit ihren überzähligen Echos („ja! – ja!“, „nein! – nein!“) verdrossen! Auch das Terzett im 5. Teil scheint geradewegs von einer Opernbühne herabzusteigen. Und im Schlusschoral steckt ein veritables Trompetenkonzert. Bei jedem Hören findet man etwas Neues in diesem Wunderwerk.

Anne Sophie Meine