Predigttext für den 2. Advent, 5. Dezember 2021

Predigttext für den 2. Advent, 5. Dezember 2021

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.

Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name.

Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind!

Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten.

Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen,

wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten,

wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten – und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! –

und das man von alters her nicht vernommen hat. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.

(Buch des Propheten Jesaja 63,15 – 64,3)

Komm raus, Gott, wenn es dich gibt!
Zeige dich, damit wir dich sehen!
Zeige, was du kannst! – Wenn du was kannst!
Reiß den Himmel, den Vorhang zwischen dir und uns endlich auf, reiße ihn ein, lass dich sehen.
Zeige deine Taten!

Das Warten ist dem Propheten lang geworden, zu lang. Jetzt muss auch einmal etwas passieren. Nach so viel Passivität; nachdem so lange nichts geschah.

Das Warten ist dem Propheten lang geworden. Nach so viel Leid und Unrecht, die der Prophet miterleben musste. Nach so viel Abfall von Gott, nach Eroberung des Heiligen Landes, nach dem Verlust der heiligen Stätten, nach der Zerstörung des Tempels durch die Babylonier, nach Verschleppung und Erniedrigung – nach so vielem, das gegen Gott spricht – soll Gott endlich wieder sprechen: ein Machtwort, eindeutig, klar, machtvoll. Zeige dich Gott, damit wir an dich glauben können!

Das Warten ist dem Propheten lang geworden – und so verlangt er um des Glaubens willen Zeichen und Taten Gottes; Zeichen und Taten, wie es sie früher gab und wie es sie heute wieder geben soll. Eine Erscheinung in Macht und Herrlichkeit, mit Feuer und Rauch, mit Aufwallungen der Natur, die das Kommen des Schöpfers begleiten.

Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen,
wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten,
wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten – und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen!

So hatte man sich das vorgestellt im alten Israel, im alten Orient überall, die machtvolle Niederkunft Gottes auf der Erde, seiner Erde, die er doch samt Himmel geschaffen hat. Das wollen wir glauben – so zeige uns, dass unser Glauben recht hat. Damit wir alles andere ertragen können.

Das Warten ist dem Propheten so lang geworden, dass er nun in prophetischer Ungeduld, Gott vom Himmel herab wünscht, ihn herabpredigen möchte, ihn hinunterzwingen möchte in die ganze Trostlosigkeit unserer menschlichen Existenz.

Wer könnte ihm in seinem prophetischen Eifer schon widersprechen? Wer könnte ihm sagen: das gehört sich nicht. Sei still und gib dich zufrieden! Harre des Herrn! Befiel dem Herrn deine Wege, er wird’s wohl machen! Oft genug sagen wir uns das, immer wieder sagen wir das, aber die Unheile nehmen ihren Lauf, die Verhängnisse gehen ihre Bahn, – und darüber wird das Warten länger, wer sollte da nicht auch seine Geduld verlieren?

Wenn Menschen, die wir lieb haben und lieb hatten, wenn die dann sterben müssen, aber nicht sterben können, sich quälen auf ein langes Ende hin – und das Warten lang wird.

Wenn Menschen, die wir lieb haben und für die wir Verantwortung haben, krank werden und leiden – immer wieder ja – und wir nicht wissen, ob es und wann es ein Ende haben wird, das Leiden und das eingeschränkte Leben – und das Warten darüber lang wird.

Wenn Menschen und Völker sich seit Generationen immer tiefer, immer tiefer in ihren Hass verstricken, Gewalt neue Gewalt schafft, Leben und Lebensmöglichkeiten zerstört, sogar das Wissen davon zu zerstören droht, dass auch ein anderes Leben möglich ist – und das Warten darüber unendlich, quälend lang wird.

Dann lässt sich doch gar nicht anderes tun als unserem ungeduldigen, zornigen Propheten zustimmen und mit ihm einstimmen in seine Rede:

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist du doch unser Vater!

Solcher prophetischer Zorn ist allemal besser, als Resignation und Gleichgültigkeit, die mit Gott nicht mehr rechnet, die sich selbst säkularisiert hat wie unsere Gesellschaft, wie unsere Kirche sogar, die sich weithin mit sich selbst beschäftigt, sich organisiert und verwaltet, aber kaum noch mit ihrem Gott beschäftigt; kaum noch auf ihren Gott wartet, von dessen Kommen sie spricht aber nichts mehr weiß.

Solcher prophetischer Zorn ist aber noch nicht das Beste in unserem Warten. Zu sehr erinnert dieses Warten mit seiner Erwartung an einen tobenden, mächtigen Gott an jene andere Prophetengeschichte, damals bei Elia, in der auch auf ein Zeichen Gottes gewartet wird, in der Gott erwartet wurde, also Gott im großen, starken Wind erwartet wurde, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach; Gott aber war nicht im Wind; und Gott im Erdbeben erwartet wurde, aber er war nicht im Erdbeben; und im Feuer erwartet wurde – aber war nicht im Feuer: Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen – darin sprach Gott..

Als Wartende werden unsere Erwartungen enttäuscht. Das mag schmerzhaft sein; aber es ist ein heilsamer Schmerz.

Unsere Täuschung wird aufgehoben; Gott sei Dank!
Gott entspricht nicht unseren Erwartungen, aber ein bloß erwarteter Gott, einer der unseren Erwartungen entspricht, wäre gar nicht Gott.
Ein Gott, der unseren Wünschen – und seien es die frommsten Wünsche – ein Gott, der unseren frommen Wünschen entspricht, ist nicht Gott; sondern Einbildung, Phantasie, ein Götze, der unsere Frömmigkeit nicht verdient.
Der lebendige Gott – und auf den lebendigen Gott warten wir doch – lässt sich nicht erwarten, nicht ausrechnen in seinem Handeln und seinem Kommen. Wenn wir ihn im Getöse erwarten, dann kommt er erst recht im sanften Säuseln des Windes.

Das scheint unserem zornigen Propheten, dem das Warten lang geworden ist, beinahe aus dem Blick geraten zu sein.
Beinahe: denn er sagt es ja selbst; dass Gott so kommen möge, wie man von alters her nicht vernommen hat. Wie es kein Ohr gehört, kein Auge gesehen hat; einen solchen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.

Vielleicht fällt es diesem lebendigen Gott ein – gerade nicht in Macht und Herrlichkeit zu kommen – sondern – sagen wir mal etwas besonders Merkwürdiges, etwas besonders Gewagtes, etwas ganz und gar Unerwartbares: Vielleicht fällt es diesem Gott ein, als Mensch zu uns zu kommen; oder machen wir es noch merkwürdiger, noch gewagter, noch unerwartbarer; vielleicht gefällt es Gott als Mensch geboren zu werden, als kleines Kind zu uns zu kommen, damit er uns so aus unserem Elend erlöse.

Denn: »Unser Erlöser«, das ist doch von alters her dein Name. Und: Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.

Darauf – das Gott kommen möge, wie er will – darauf lasst uns warten. Amen.

1. Advent, 28. November 2021

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.

Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der HERR unsere Gerechtigkeit«.

Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: »So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«,

sondern: »So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen. (Buch des Propheten Jeremiah 23, 5-8)

Es kommt die Zeit, spricht Gott durch seinen Propheten, wenn es um das Gottesreich gehen soll, jenes Reich, in dem ein guter König – und das ist in der Tradition der Bibel ein Nachfahre des König David – Recht und Gerechtigkeit und Frieden – also den Frieden Gottes für die ganze Welt, den Schalom – für alle schaffen wird: Es kommt die Zeit.

„Es kommt die Zeit“, dichtet und singt der Volkssänger Campino von der Düsseldorfer Deutschpunk-Kombo Die Toten Hosen – die Älteren unter den Jüngeren werden sich erinnern – und bekennt dann halbironisch und ganz ernst seinen Glauben an ein zukünftiges Friedensreich, in dem Liebe und Gerechtigkeit herrschen, so – beinahe so – wie es in der Bibel steht:

„Es kommt die Zeit …

Ich glaube, dass die Welt sich noch mal ändern wird
Und dann Gut über Böse siegt …
Alle werden wieder voreinander gleich
Jeder kriegt, was er verdient

Ich glaube, dass die Menschheit Mal in Frieden lebt
Und es dann wahre Freundschaft gibt
Und der Planet der Liebe wird die Erde sein
Und die Sonne wird sich um uns drehen

Es wird ein großer Sieg für die Gerechtigkeit
Für Anstand und Moral
Es wird die Wiederauferstehung vom heiligen Geist
Und die vom Weihnachtsmann

Es kommt die Zeit …“

Wie gesagt, beinahe so wie es in der Bibel steht, sogar der weihnachtliche Bezug fehlt nicht; nur dass der Sänger mit seinen Wünschen und Träumen von einer besseren Gesellschaft und einer besseren Welt sich selber nicht ganz zu glauben scheint.

Glauben wir uns? Glauben wir unseren Propheten? Glauben wir unseren Träumen von einer besseren Gesellschaft und einer besseren Welt?

Zumindest wird man weder dem Propheten noch dem Sänger eine blauäugige Realitätsflucht nachsagen können; denn beide formulieren ja ihre Wünsche und Hoffnungen für eine bessere Welt angesichts einer miserablen Gegenwart, die ihrerseits vom guten Ende aus gesehen nur noch als „ein alter böser Traum“ erscheinen wird.

Davon können wir gerade nur träumen, nämlich unsere Gegenwart endlich für einen bösen alten Traum halten zu dürfen; noch sind wir ja gefangen in der Dauerschleife dieses Corona-Alptraums, der zwar in vielen – zuerst den Ärzten und Wissenschaftlern und Pflegern – viel Gutes hervorbringt; aber in viel zu vielen anderen von uns Schlechtes und Schlechtestes. Zwei Jahre Stress haben uns verändert und eben nicht durchweg zum Besseren: in anderen Zeiten harmlose Spinnereien – was juckt es mich normalerweise, wenn andere sich nicht impfen lassen? Selbst dran schuld, wenn sie erkranken! – eigentlich für andere harmlose Spinnereien verwischen unter Seuchenbedingungen die Konturen von Wahrheit und Wirklichkeit; harmlose Spinner verwandeln sich in Randalierer und Umstürzler; die Unterschiede in der Gesellschaft verschärfen sich in schneidende Gegensätze und eine gemeinsame Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit verschwindet im Novembernebel der Pandemie.

Wehe den Hirten, die die Herde meiner Weide umkommen lassen und zerstreuen!, spricht der Herr (Jeremia 23,1) durch seinen Propheten Jeremia unmittelbar vor unserem Predigttext – und er scheint es direkt in unsere verwirrte und zerstreute Gesellschaft zu sprechen, in der so viele Menschen umkommen, den Seuchentod sterben müssen, in der vergangenen Woche – so haben wir es gehört – ist die Zahl der Coronatoten allein in unserem Land bei über 100.000 angekommen, was für eine Tragödie! Und die anderen, die sie nicht direkt trifft, müssen sich dennoch wieder einmal in das Exil des eingeschränkten Lebens begeben, mit Kontaktverminderung und dem ganzen Rest und Mist.

Und auch wenn wir die bisherige Regierung und die neue, die ja mindestens zur Hälfte die alte ist, bestimmt nicht für die bösen Hirten halten müssen, die ihre Herde umkommen lassen und zerstreuen, so tun wir ihnen – also den alten und den neuen alten Regierenden – gewiss auch kein Unrecht, wenn wir sie ebenfalls nicht für die biblisch erhofften, prophetisch angekündigten neuen guten Könige halten, die ein für alle Mal Recht und Gerechtigkeit aufrichten, dass alles gut werde, für immer und ewig.

Wir treten ihnen nicht zu nahe, wenn wir sie nicht für die gerechten Friedensherrscher halten und ihr Programm nicht für das Evangelium. Und doch müssen sie sich an dem Maßstab von Recht und Gerechtigkeit messen lassen – natürlich unter den Bedingungen und Begrenzungen fehlerhafter Menschen, die sie sind. Auch ihnen wird nach den vier Jahren ihrer Amtszeit viel zu vergeben sein – nämlich was sie uns zu einer besseren Gerechtigkeit schuldig geblieben sind.

Und hier scheint mir nicht nur der religiöse sondern auch der politische Sinn dieser prophetischen Texte eines Jeremia zu liegen, der selbst seine Worte nie nur religiös sondern immer auch politisch gemeint hat. Der gute König aus dem Hause David, der Frieden und Gerechtigkeit aufrichtet, war das Herrscherideal, vor dem sich der real existierende Herrscher messen musste. Was ja nicht einer gewissen Ironie entbehrt, da der biblisch erzählte, geschweige denn ein realer König David keineswegs seinem eigenen Idealbild entsprach. Der gute König ist also sozusagen doppelt fiktional: es gibt ihn nicht gegenwärtig als Realpolitiker und das verklärte Bild von ihm in der Rückschau ist eben genau das – eine Verklärung einer guten alten Zeit, die es nie gab. Wann hätte es die je gegeben?

Und dennoch entfaltet sein Bild Wirkung in der Wirklichkeit: die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, das Verlangen nach Frieden und die Idee eines guten Ortes zum Leben – was die biblische Sprache im Wort Schalom zusammenfasst – sind in der Welt und wirken – jetzt schon; noch der Altpunker Campino (in einem Interview 2007) muss zugestehen: „Das Lied war eigentlich ironisch gemeint, aber die Leute haben es oft nicht so interpretiert. Also habe ich mir gesagt: Bitteschön, wenn denen das Mut macht, ist es auch okay.“

Das dürfte seine Umschreibung dafür sein, dass der Glaube an eine zukünftige, andere Wirklichkeit unsere gewohnte Wirklichkeit jetzt schon verändern kann, oder wie Jesus gelegentlich gesagt hat: Glaube versetzt Berge (Matthäus 17,20). Allein der Glauben an eine zukünftige Gerechtigkeit macht jetzt schon Mut für mehr und für eine bessere Gerechtigkeit. Es kommt die Zeit!

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 7. November 2021

Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande
der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk
und all ihre Sünde bedeckt hast;
der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen
und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:
Hilf uns, Gott, unser Heiland,
und lass ab von deiner Ungnade über uns!

Willst du denn ewiglich über uns zürnen
und deinen Zorn walten lassen für und für?
Willst du uns denn nicht wieder erquicken,
dass dein Volk sich über dich freuen kann?
Herr, zeige uns deine Gnade
und gib uns dein Heil!

Könnte ich doch hören,
was Gott der Herr redet,
dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen,
auf dass sie nicht in Torheit geraten.

Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,
dass in unserm Lande Ehre wohne;
dass Güte und Treue einander begegnen,
Gerechtigkeit und Friede sich küssen;
dass Treue auf der Erde wachse
und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;
dass uns auch der Herr Gutes tue
und unser Land seine Frucht gebe;
dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe
und seinen Schritten folge. (Psalm 85)

Am Tag nach dem Mauerfall – am 10. November 1989 – hatten wir neben ungläubigem Staunen und großer Freude über den Lauf der Geschichte – ausgerechnet am 9. November – auch noch erlebt und gelernt, dass uns als Land und als Volk beides, Lied und Gesang, fehlten, um diesem Staunen und dieser Freude Ausdruck zu geben. Bundeskanzler Kohl und Altkanzler Brandt – Gott hab sie selig! – und zahlreiche weitere Politiker hatten am Ende einer Kundgebung vor dem Brandenburger Tor, die den überaus erfreulichen historischen Moment würdigen sollte, die Nationalhymne angestimmt, sie auch tapfer aber ganz und gar kläglich zu Ende gebracht unter dem ohrenbetäubenden Gejohle und Gepfeife ihrer Zuhörer, während wir Zuschauer am Fernsehen doch eher peinlich berührt waren – und wären das vielleicht auch gewesen – also peinlich berührt, wenn es besser geklungen und besser geklappt hätte.

Denn jedes Schulkind – und die Älteren sowieso – kannte ja die Bilder von den Umzügen nur wenige Jahrzehnte zuvor, als am selben Ort dasselbe Lied gesungen, bzw. deutlich kraftvoller gegrölt wurde und in deren Tradition jeder Sänger dieses Liedes unweigerlich steht – wie auch in der Tradition von Missetat und Sünde, um deren Vergebung wir wie der Beter unseres Psalms bitten können, die Nachfahren unserer Opfer zuerst, aber auch Gott: der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk/ und all ihre Sünde bedeckt hast.

In diesem Zusammenhang wirkte es unschicklich – bei aller berechtigter Freude – an diesem Ort mit diesem Lied dieser Freude Ausdruck geben zu wollen. Das Lied kann nichts dafür, dass es missbraucht wurde, aber wir können seinen Missbrauch nicht ignorieren.

Dabei wäre es doch schön, ein Lied zu haben und gemeinsam singen zu können, wenn uns etwas als Volk gemeinsam bewegt, sei es nun gemeinsame Freude wie beim Mauerfall oder etwa auch gemeinsame Sorge wie in den ersten Wochen und Monaten der Pandemie letztes Jahr, als wir uns noch nicht so heillos zerstritten hatten – in Torheit geraten – wie jetzt. Ein Lied, wie unser Psalm 85 heute, das Volksklagelied, das ein Volk in seiner Klage sammelt, seiner Sorge Ausdruck verleiht und dann in der Hoffnung von der Überwindung der Krise auch ein Versprechen, ein Verpflichtung anklingen lässt, zukünftig anders und besser miteinander umzugehen: dass Güte und Treue einander begegnen,/ Gerechtigkeit und Friede sich küssen; und dabei sogar „blühende Landschaften“ herbeisehnt, und unser Land seine Frucht gebe.

Aber auch ohne ein solches Lied, geht es darum in einem Gemeinwesen, sich über die Zeitläufe zu verständigen, die Schuld der Vergangenheit zu benennen, um Vergebung zu bitten und dann auch Vorstellungen für die Zukunft zu entwickeln. Es beschädigt unsere Bemühungen in der Gegenwart und unsere Chancen für die Zukunft, wenn wir uns unserer Missetaten in der Vergangenheit nicht oder nur als Last oder nur als lästige Pflichtübung erinnern. Nicht Vergessen, sondern Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung, heißt es in vielen Ansprachen in diesen Novembertagen, sehr zu Recht und auf vielfältige Weise zu Recht: Für unseren Psalmbeter heißt das, dass er sich an Gott mit der Bitte um Erinnerung wendet, indem er sich selbst erinnert; erst das Aussprechen der eigenen Schuld ermöglicht überhaupt ihre Vergebung; erst Erinnerung schafft die Bedingung der Möglichkeit zur Erlösung: Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande/ und hast erlöst die Gefangenen Jakobs;/ der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk/ und all ihre Sünde bedeckt hast/ der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen/ und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:/ Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!

Erinnerung ist eine Frage der Ehre; mit dem Begriff der Ehre überschreibt der Psalmbeter seine Zukunftsvision, was in unseren Ohren einigermaßen unvertraut klingen mag, wobei im hebräischen Original eigentlich Gottes Herrlichkeit, sein majestätischer Lichtglanz und insofern seine heilbringende Gegenwart gemeint ist, die Leben schafft und Lebenserneuerung ermöglicht: Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,/ dass in unserm Lande Ehre wohne . In Luthers Übersetzung klingt aber für mich auch die – ursprünglich gar nicht gemeinte – Ehre eines Volkes an, die durch Sünde, Missetat und Torheit verlorene Ehre; und die durch Erinnerung ermöglichte und durch Gott wiederhergestellte Ehre. Allerdings ist der Ehrbegriff nicht nur unvertraut sondern auch heikel; im Namen der Ehre sind die Massenmörder im schwarzen Gewand ihrem grausamen Geschäft nachgegangen unter dem Wahlspruch: Meine Ehre ist meine Treue; und noch heute werden sogenannte Ehrenmorde begangen – aus Rache für eine Kränkung der eigenen archaischen Lebensvorstellungen. Ohne den Bezug auf die Herrlichkeit Gottes, die auch uns bescheint und darin glänzen lässt, scheint mir der Ehrbegriff religiös untauglich zu sein.

Wie gesagt: im hebräischen Original ist ohnehin eigentlich Gottes Herrlichkeit, sein majestätischer Lichtglanz und insofern seine heilbringende Gegenwart gemeint, die Leben schafft und Lebenserneuerung ermöglicht. Der Psalmbeter versammelt die in seiner Tradition wichtigsten Sozialbegriffe: Güte, Treue, Gerechtigkeit, Frieden – religiöse Buzzwords, um das heilvolle Wirken Gottes zu beschreiben, dass er sich wünscht, dass er erbittet und das er von niemand anders erwarten kann als von Gott alleine: Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,/ dass in unserm Lande – Gottes! – Ehre wohne;/ dass Güte und Treue einander begegnen,/ Gerechtigkeit und Friede sich küssen;/ dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;/ dass uns auch der Herr Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe;/ dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge.

Predigttext für den Reformationstag, 31. Oktober 2021

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. (Brief des Paulus an die Galater 5,1-6)

Welche Freiheit meinen wir, wenn wir von Freiheit sprechen?

Die Freiheit der Autofahrer? – freie Fahrt für freie Bürger! – Oder die Freiheit der Radfahrer? – Immer diese Radfahrer! Fand schon Heinz Erhard. Und neuerdings immer diese Fahrer von Lastenrädern, den SUVs unter den Zweirädern, unter die kann man nicht nur als älterer Mensch leicht geraten. – Oder die Freiheit der Fußgänger? – Gerade in größeren Gruppen beherrschen sie spielend die Technik der nur unmerklichen sich bewegenden Straßensperre.

Die Freiheit der Hundebesitzer oder die Freiheit der Vorgartenhüter? – Ich wurde schon gelegentlich darüber aufgeklärt, dass die Entrichtung der Kirchensteuer doch wohl zur Benutzung des Kirchgartens als Hundeklo befreie. Welche Freiheit? Die Freiheit der Aktionäre oder die Befreiung der Armen? Die Freiheit dieser oder der nächsten Generationen? Freiheit wovon oder Freiheit wozu? Die Freiheit der Regeln oder der Regellosigkeit? Die Freiheit in Bindungen oder die Unfreiheit der Bindungslosigkeit.

Glauben wir noch an die liberale Lüge vom freien Spiel der Kräfte oder an den müden Mythos der Befreiung der Unfreien durch die Umverteilung der Güter – oder dann doch lieber gleich an den Weihnachtsmann? Die Gedanken sind frei.

Bin ich frei, wenn ich alles darf, oder dann, wenn ich manches muss – und ist das vielleicht sogar dasselbe, also dass der, der alles darf, auch alles muss, weil er es kann? Ist die Freiheit als Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit nicht der Eingang in die Unfreiheit der eigenen grenzenlosen Verantwortung unter den engen Bedingungen meiner endlichen Existenz? Ist die Freiheit eine Lust oder eine Last? So viele Fragen – aber allein sie zu stellen und nach den eigenen Antworten leben, heißt frei sein – trotz und in allen Ambivalenzen des befreiten Lebens.

Und welche Freiheit meint überhaupt Paulus, wenn er hier von Freiheit spricht; und welches Joch der Knechtschaft? Er sagt es ja: Paulus meint, dass die Befolgung des jüdischen Ritualgesetzes und also die Beschneidung nicht nur keine Voraussetzung für die Teilhabe an der Gnade Gottes sei, sondern geradezu ihre Verhinderung, weil allein in Christus allein der Glaube Gnade verleiht. Paulus hält die Beschneidung für religiöse Freiheitsberaubung, weil sie den Weg zu Christus auf einen Umweg, nein sogar auf einen Abweg führt.

Nun hat sich zwar diese Fragestellung im engeren Sinne seit längerem für Christen überholt – die allerwenigsten Christen kommen auf die Idee, sie müssten ihre Söhne oder sich selbst beschneiden lassen, um zu Gott zu gehören; und eigentlich ist es eher umgekehrt ein Beispiel von Freiheit, nämlich von Religionsfreiheit, wenn Staat und Gesellschaft trotz gelegentlicher antisemitischer Kampagnen den jüdischen Gemeinden die Beschneidung nicht verwehren – aber die hier von Paulus im Prinzip formulierte Freiheit des Glaubens besteht fort, aktuell wie eh und je; auch angefochten und bedrängt wie eh und je.

Die Freiheit des Glaubens besagt, dass sich keine Autorität, keine Behörde – und noch die wohlwollendste nicht -, auch keine Kirche zwischen mich und meinen Glauben stellen darf. Hilfestellung, Ermöglichung, Unterricht, Vermittlung, Formulierungshilfen – das alles ja: aber kein Zwang in Dingen des Glaubens, denn im Glauben sind wir christus-unmittelbar.

Martin Luther, an den wir uns heute erinnern, war ein treuer Schüler des Apostels und hat dessen Lehre von der christusunmittelbaren Glaubensfreiheit auf die Probleme seiner Zeit angewendet, die für Luther im Wesentlichen in der Gestalt der spätmittelalterlichen-katholischen Kirche begründet lagen. Für ihn und für erstaunlich viele andere (die Reformation war ein unvorstellbar erfolgreiches Massenereignis und ohne die ebenso unvorstellbare Gewalt der Gegenreformation hätte Luthers Reform zumindest nördlich der Alpen die Kirche als Ganze reformiert und nicht nur die beiden Kirchentümer hervorgebracht, die wir heute als die evangelische und die katholische Kirche kennen und sich viel ähnlicher sind, als wir bisweilen meinen) waren insbesondere das unbiblische priesterliche Amtsverständnis, die Lehre vom Abendmahl als priesterliches Opfer und der Mangel an biblischer Bildung der Kern des Anstoßes und der Grund seiner Kritik, weil sie je für sich und zusammen gegenseitig verstärkend Christus verdunkelten und nicht erhellten.

Dagegen setzte Luther seine Kernbotschaften

  • Von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben – kein Regeln oder Rituale bringen mich näher zu Gott, allein der Glaube
  • vom „allgemeinen Priestertum“ – alle Glaubenden und Getauften sind christusunmittelbar und bedürfen eines Priesters nicht,
  • vom Abendmahl für alle in beiderlei Gestalt,
  • und seine Bibelübersetzung in der Volkssprache, deren 500. Geburtstag wir dieses Jahr feiern.

In der von Paulus geforderten Standfestigkeit – So steht nun fest! – hat Luther der Forderung, diese Lehren zu widerrufen und damit unter das Joch (symbolisiert in der priesterlichen Stola, die mittlerweile und merkwürdigerweise auch viele Evangelische tragen) zurückzukehren, widerstanden – lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Denn: Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Ein Denkmal, das uns zum gedenken und zum nachdenken auffordert: Gedenke! Denk mal! Denk mal bloß! (wie Karlsson vom Dach als freier Geist zu sagen pflegte), ja, denk mal bloß! – also ein Denkmal der Reformation wird diesen Moment zu verbildlichen suchen – so wie es das Lutherdenkmal in Worms versucht.

Lutherdenkmal in Worms

In der heroischen Bildsprache des wilhelminischen Kaiserreiches droht allerdings dem Geehrten in den Augen von uns nachgeborenen – also besserwissenden und besserwisserischen – Betrachtern leicht eine Verfälschung, oder sogar Fälschung, zumal der von mir gewählten Ausschnitt große Teile des Gruppendenkmals ausblendet und den Betrachter in Untersicht auch noch dem „Helden“ Luther unterwirft (was aber vor allem meinem fotografischen Unvermögen geschuldet ist). Bei den gelegentlichen Besuchen im vergangenen Jahr und zuletzt bei der Gemeindepilgerwanderung Anfang des Monats habe ich aber auch andere Seiten am Denkmal wahrgenommen. Dabei ist mir das Machwerk, dass man doch eigentlich schon immer schön scheußlich gefunden hat, ans Herz gewachsen, wieso?

  • Recht betrachtet und richtig fotografiert ist es eben kein Lutherdenkmal, sondern ein Reformationsdenkmal; das viele Figuren und Ereignisse abbildet und viele Sichtweisen erlaubt. Der Betrachter eignet sich durch sein Betrachten und Begehen des Denkmals in ziemlicher Freiheit höchstpersönliche Erfahrungen mit dem Denkmal an. Und je näher man dem dreieinhalbmetergroßen Luther kommt, desto weniger ist von ihm zu erkennen. Er befreit sich aus unserem Zugriff.
  • Auf unserem Bildausschnitt sind links und rechts große Skulpturen der Vorreformatoren Girolamo Savonarola und Jan Hus, dessen grausamer Märtyrertod auf dem Scheiterhaufen in Konstanz zeitlebens auch Luther vor Augen führte, dass die römische Kirche nicht mit ihm reden sondern ihn verbrennen wollte: Recht und Freiheit seines Lebens standen immer unter der Drohung des päpstlichen Mordauftrags.
  • Außer diesen und anderen Skulpturen zeigt das Denkmal in zahlreichen Inschriften und Reliefs weitere Aspekte der Reformation, wie in einer multiperspektivischen begehbaren bronzenen Graphic Novel der Reformation, virtuell realer Rundgang durch eine Epoche: Für uns auf dem Bild sichtbar den berühmten Satz Luthers in Worms vor Kaiser und Reich: Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen. Darunter Bilder zweier seiner politischen Unterstützer mit sprechenden Namen, auch wenn diese dem Betrachter nicht geläufig sein mögen: Johann der Beständige und Johann Friedrich der Großmütige – was für ein Wunder, dass es in solchen bewegten Zeiten Fürsten gab, denen solche Namen angeheftet werden konnten – und dann ein vielfiguriges Relief der Wormser Reichstagsszene, die weit über Kirche und Religion hinaus für die Freiheit des Einzelnen gegenüber den Mächtigen steht.
  • Um den auf unserem Bild sichtbaren Teil des Denkmals legt sich rechteckig eine äußere Mauer mit weiteren Akteuren und Ereignissen jener Zeit, genug Stoff für mehrere Besuche und neue Entdeckungen, beim letzten Mal hatte es mir die Personifikation der „Trauernden Magdeburg“ angetan, die als wunderschöne, aber todtraurige Frau, die unfassbare Gewalt darstellt, die ohne Zweifel auch in den Religionskriegen vor allem und unschuldigerweise als Nichtkombattanten damals wie heute Frauen und Kinder traf – und wenn die Opfer evangelisch waren typischerweise mit Glockengeläut im Vatikan bejubelt wurden. Freiheit ist immer die Freiheit der Schwächsten.
  • Ebenfalls in der äußeren Mauer befinden sich die großen Skulpturen zweier großer und weithin berühmter humanistischer Gelehrter ihrer Zeit: Johannes Reuchlin und seines entfernten Verwandten Philipp Melanchthon; beide aus dem noch heute bildungsprivilegierten deutschsprachigen Südwesten, wo sie in Heidelberg, Tübingen, Freiburg, Basel und Straßburg gelebt und gewirkt haben. Beide verweisen darauf, dass die Reformation eine Befreiung durch Bildung und zur Bildung hin gewesen ist – und lassen gerade durch ihre Anwesenheit die Abwesenheit des berühmtesten aller damaligen Humanisten Erasmus von Rotterdam noch viel schmerzhafter wirken. Der fehlt unserem Denkmal weil er eben auch der Reformation gefehlt hat, seinem freien Willen, über den er sich mit Luther publikumswirksam gestritten hat, gefolgt ist und im Schoß der katholischen Kirche sitzen geblieben ist!
  • Wer oder was fehlt noch? Sicherlich viele Opfer der Reformation, die tatsächlichen wie Bauern und Täufer; aber auch die Opfer übler Rhetorik, wie die Juden, denen Luther fürchterliche und unverzeihliche Tiraden entgegengeschickt und damit jüdischen Menschen über Jahrhunderte hinweg geschadet aber auch seinen eigenen Ruf nachhaltig beschädigt hat. Am auffälligsten – gerade für den wiederkehrenden Betrachter – ist aber die Abwesenheit dessen, um den es allein! in Luthers Freiheitsbotschaft geht: allein aus Christus her und allein zu Christus hin soll die Reform der Kirche nach Luther geschehen; da kann man ihr Gedächtnis eigentlich schlecht als Hagiographie alter Männer in Stein meißeln und zu Bronze schmieden.
  • Und was spricht überraschenderweise für das Denkmal? Dass es einer der wenigen einladenden Orte in einer nicht gerade durch Schönheit verwöhnten Stadt ist, an dem der Pilgerwanderer auf den Spuren Luthers sich beim Dönerschmaus stärken kann und den die Kinder vor allem der Einwanderer längst als Spielplatz der Freiheit für sich entdeckt haben, ballspielend zwischen Friedrich dem Weisen und Johannes Calvin. Erst reizt einen der hausmeisterliche Reflex, dieses Kinderspiel nervig zu finden, etwa weil er die Andacht stört – bis zu dem Moment der Einsicht, dass nichts besser passen könnte: Ein Lutherdenkmal als Ort kindlicher Freiheit! Die Idee der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes besiegt noch allen wilhelminischen Pomp alter, was sage ich, längst verblichener weißer Männer.

Martin Luther hat irgendwann seinen nicht gerade vornehmen Nachnamen gräzisiert und damit aufgewertet: Er verwandelt das schäbige Luder seiner Vorfahren in Luther – und verbindet sich so mit dem griechischen Eleutherius: d.h: der Freie. Als erster Freigelassene des kirchlichen Mittelalters ruft er uns noch heute das Pauluswort zu: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Amen.

17. Sonntag nach Trinitatis, 26. September 2021

Brüder und Schwestern [Im Original sind nur die „Brüder“ genannt!], meines Herzens Wunsch ist und ich flehe auch zu Gott für sie [nämlich seine jüdischen Brüder und Schwestern], dass sie gerettet werden. Denn ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer für Gott haben, aber ohne Einsicht. Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und suchen, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan. Denn Christus ist des Gesetzes Ende, zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt. Mose schreibt von der Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt (3. Mose 18,5): »Der Mensch, der dies tut, wird dadurch leben.« Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht so (5. Mose 30,11-14): »Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren?« – nämlich um Christus herabzuholen; oder: »Wer will hinab in die Tiefe fahren?« – nämlich um Christus von den Toten heraufzuholen. Aber was sagt sie? »Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen.« Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen. Denn wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und glaubst in deinem Herzen, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet. Denn wer mit dem Herzen glaubt, wird gerecht; und wer mit dem Munde bekennt, wird selig. Denn die Schrift spricht (Jesaja 28,16): »Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden.« Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen; es ist über alle derselbe Herr, reich für alle, die ihn anrufen. Denn »wer den Namen des Herrn anruft, wird selig werden« (Joel 3,5). Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? 

Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden? Wie denn geschrieben steht (Jes 52,7): »Wie lieblich sind die Füße der Freudenboten, die das Gute verkündigen!« Aber nicht alle waren dem Evangelium gehorsam. Denn Jesaja spricht (Jesaja 53,1): »Herr, wer glaubte unserm Predigen?« So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi. (Brief des Paulus an die Römer 10, 1-17)

Einen Regierungschef, der vor den Vereinten Nationen in der Klimadebatte Kermit den Frosch aus der Muppet-Show zitiert („Es ist nicht leicht, grün zu sein“) nur um ihm gleich zu wiedersprechen („Ist es eben doch!“) und ihn dann obendrein noch der übertriebenen Grobheit an Miss Piggy schilt, was merkwürdig ist, weil meiner Erinnerung nach sie die viel gröbere in ihrer komplizierten Beziehung war – einen Regierungschef, der im selben Atemzug den antiken Dramatiker Sophokles im altgriechischen Original interpretiert und andere Interpreten verbessert; der darüber hinaus spaßhaft erwägt, seinen Namen Boris in Boreas zu verändern, seiner Leidenschaft für die Windkraft wegen und zu Ehren also des nördlichen Gottes des Windes – klar, dass ich vom britischen Premierminister Boris Johnson spreche – einen solchen Bundeskanzler voller verspielter Gelehrsamkeit und windiger Rhetorik und absurdem Humor werden wir uns auch am heutigen Abend nicht gewählt haben; vielleicht besser so, denn es warten ja genug ernsthafte Anliegen auf ihn oder sie, denen er gerecht werden soll. 

Überhaupt: Eifer für die Gerechtigkeit für alle und in allen Belangen, das scheint doch eine ganz passende Kurzfassung seiner – oder wie wir in den vergangenen 16 Jahren erlebt haben: ihrer! – Dienstbeschreibung zu sein. 

Was aber schon unter Menschen immer wieder und oft neu errungen werden muss – was ist gerecht? Was kommt jedem gerechterweise zu? Was ist das Meine und was das Deine? – das ist zwischen Gott und den Menschen noch um einiges strittiger, meinte wenigstens der Apostel Paulus, meint auch der Reformator Martin Luther und das trifft auch heute noch zu: Wie erlange ich Gerechtigkeit vor Gott? Wenn es schon manchmal schwierig genug ist, oder sogar unlösbar scheint, zwischen Menschen – also etwa z.B. zwischen Radfahrern und Autofahrern, zwischen Hausbesitzern und Mietern, zwischen Einwanderern und Einheimischen, zwischen Alten und Jungen, zwischen Reichen und Armen – Gerechtigkeit zu finden und zu erwirken; um wieviel mehr zwischen Gott und den Menschen, die wie wir wissen einen unheilbaren Drang und Zwang von Gott weg, in die Ungerechtigkeit zum eigenen Vorteil hin haben; oder wie die alten Theologen, wie Paulus und Luther und der ganze Rest davon sagen: der Sünde. Wie erlange ich Gerechtigkeit vor Gott – trotz meiner Sünde?  

Paulus übernimmt diese Fragestellung aus seiner – und über die Generationen hinweg ja auch unserer – Mutterreligion, dem jüdischen Glauben seines Volkes Israel, dem er – und also wir – bleibend verbunden sind. Darum geht es im Zusammenhang unserer Bibelstelle: um die bleibende Verbundenheit zwischen Juden und Christen und – viel mehr noch – um die bleibende Erwählung seines Volkes Israel durch Gott.

Paulus insistiert mit der ihm eigenen Beharrlichkeit auf die bleibende Erwählung seines Volkes Israel durch Gott – auch wenn sie, sehr zu seinem Bedauern und sehr zu seinem Unwillen – nicht die gute Botschaft von Jesus Christus annehmen – zumindest nicht in ihrer großen Mehrheit annehmen: und das obwohl Paulus ihnen den Eifer für Gott attestiert.

Für Paulus ist dieser Eifer nämlich fehlgeleitet: statt nach Glauben und Vertrauen in Gott durch Jesus Christus zu streben – eifern sie nach der genauen und pünktlichen Erfüllung des Gesetzes des Mose. 

Für Paulus, den ehemaligen und rechtskundigen Pharisäer, erlangen Juden durch die genaue Erfüllung des mosaischen Gesetzes Gerechtigkeit vor Gott, also Heil und Rettung; beziehungsweise: Sie bemühen sich darum voller Eifer, müssen aber – nach Paulus – daran scheitern, weil ihnen die Sünde ein Schnippchen schlägt. Das Gesetz kann nach Paulus nur die Aufgabe haben, diese Sünde aufzudecken: Ich soll nicht das begehren, was meinem Nachbarn gehört, sagt das Gesetz; ich tue es aber trotzdem, ich elender Sünder; oder wie Paulus an anderer Stelle sagt: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; und das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (Römer 7, 19; oder wie der englische Premierminister, der die Wälder von Windrädern über den Wellen des Ärmelkanals preist aber gleichzeitig erwägt, darunter die Schürfrechte für fossile Brennstoffe zu verscherbeln) 

Für Paulus, den bei Damaskus zum Apostel Christi konvertierten – also gedrehten und gewendeten – ehemaligen Juden, ist Jesus Christus das Ende des Gesetzes als Weg zu Gott. Nicht meine ohnehin zum Scheitern verurteilten Gerechtigkeitsbemühungen um das Gesetz führen zu Gott – sondern allein der Glaube daran, dass Jesus Christus das Gesetz für mich erfüllt hat: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ (Römer 3,28; das „allein“ steht nicht im Text des Paulus und ist eine der berühmtesten oder – je nach Sichtweise – berüchtigtsten Textergänzungen Martin Luthers)

Sola fide! Der Glaube ist alles, was ich vor Gott brauche. Allein der Glaube an Jesus Christus, der uns durch das Wort Gottes in der Bibel und in ihrer Auslegung vermittelt wird, führt uns zu Gott. Der Glaube allein reicht zum Seelenheil: Denn wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und glaubst in deinem Herzen, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet. Denn wer mit dem Herzen glaubt, wird gerecht; und wer mit dem Munde bekennt, wird selig.

Womit zugleich prägnant der Unterschied zwischen Religion und Politik genannt ist. Für die, nämlich für die Politik, reichen Herzensglaube und Lippenbekenntnis nicht. Da sollten schon Taten folgen und es sollten besser Taten der Gerechtigkeit sein. 

Auch wenn wir wissen und nicht vergessen dürfen, dass jedes menschliche Bemühen um Gerechtigkeit – nun vielleicht nicht, wie Paulus meint, zum Scheitern verurteilt ist, aber doch – vom Scheitern bedroht ist; allein deshalb, weil es fehlbare, also sündhafte Menschen sind, die sich im politischen Leben um Gerechtigkeit bemühen. Aber das sollten wir von unseren Politikern verlangen und nur solchen eine Stimme geben, von denen wir annehmen können, dass sie sich mit vollem Eifer für das Gesetz um Gerechtigkeit in dieser Welt bemühen.   

Damit erhöht der Glaube den Anspruch an die Politiker, nicht nur Ansprüche zu vertreten oder Interessen zu kanalisieren, sondern für die Gerechtigkeit aller zu eifern. 

Und damit entlastet er sie gleichzeitig, wenn er ihre Fehlbarkeit noch vor ihrer Wahl einpreist; ja, auch diese Politiker, die wir heute wählen, werden Fehler machen, hoffentlich nicht allzu schlimme.

Für Rettung und Heil unserer Seelen ist gottseidank ein anderer zuständig. Amen

15. Sonntag nach Trinitatis, 12. September 2021, Konfirmation

Und die Apostel sprachen zu dem Herrn: „Stärke unseren Glauben!“ Der aber sprach: „Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und verpflanze dich ins Meer! und er würde euch gehorsam sein.“ (Lukasevangelium 17, 5f.)

Manchmal fühle ich mich, als könnte ich Bäume ausreißen – sagen wir, wenn wir uns groß und stark fühlen, was wir ja immer werden wollten und unsere Konfirmanden in erstaunlicher Weise geworden sind: groß und stark! – Aber wir tun gut daran, die Bäume stehen und der Natur ihren Lauf zu lassen. Eingriffe in die Natur durch den Menschen müssen keine Vorteile und können erhebliche Nachteile bringen – was man auch schon vor dem menschengemachten Klimawandel hätte wissen können.

Die großen Eingriffe in die Geographie, wie sie etwa die Kanalbauten in Panama oder der Suezkanal in Ägypten darstellen, sind spektakuläre Beispiele für einen starken Glauben, eine weite Vorstellungskraft und das feste Vertrauen in das eigene Vermögen, die vorfindliche Natur zu unserem vermeintlichen Vorteil zu verändern. An beiden Kanalbauten war der visionäre französische Ingenieur – dem Ingenieur ist nichts zu schwör – Ferdinand de Lesseps maßgeblich beteiligt, in Ägypten erfolgreich, in Mittelamerika – er selbst zumindest – erfolglos. Seither – also seit der Eröffnung des Suezkanals 1869 – verbindet der von ihm geplante und unter ihm gebaute Kanal das Rote Meer und den Indischen Ozean mit dem Mittelmeer – und fördert damit nicht nur Handel und Wandel von uns Menschen über die Kontinente und Ozeane hinweg sondern auch die Wanderung von Pflanzen- und Tierarten zwischen den Meeren.

Lessepssche Migration wird folglich der Austausch von Lebewesen zwischen dem Mittelmehr und dem Roten Meer genannt. Es handelt sich um einen invasionsbiologischen Vorgang, der so illustre Arten wie den Gestreiften Korallenwels, den Rotstreifen-Husarenfisch oder den Gepunkteten Igelfisch in das Mittelmeer brachte – nicht unbedingt zum Vorteil der ansässigen Fauna und Flora, die sich nicht immer der Neuankömmlinge erwehren kann, sondern ihnen Futter und Beute und von ihnen verdrängt wird.

Das Verpflanzen von Arten, der Eingriff in die Natur und ihre Veränderung durch uns Menschen – darauf will meine kleine Abschweifung, sozusagen als Lessepssche „Redemigration“ hinaus – muss kein Vorteil sein und kann erhebliche Nachteile nach sich ziehen: Warum nur sollte jemand zu einem Maulbeerbaum, der ganz prima auf dem Land gedeiht, sagen, dass er sich ins Meer verpflanzen möge; dorthin ins Meer, wo doch andere Wesen mit älteren Rechten ganz gut und vermutlich ganz gerne blühen, wachsen und gedeihen.

Der wichtigste Hinweis zum Verständnis unserer reichlich seltsamen Bibelstelle ergibt sich aus ihrem offenkundigen Unsinn: Wer um alles in der Welt sollte und wollte einen Maulbeerbaum ins Meer verpflanzen? Lass den Baum doch in Ruhe und an Land! Verschwende deine Kräfte nicht an der Veränderung der Natur, sondern verwende sie an ihrer Pflege! Der Glaube ist doch unvergleichlich größer, der die Natur um ihretwillen schützt, als der, der sie um seinetwillen verändert.

Jesus selbst hat im Unterschied zu zahlreichen anderen Wundertätern seiner Zeit niemals seine Wunderkräfte um ihrer selbst willen – sozusagen als Muskelspiele des Glaubens – eingesetzt, sondern immer, wirklich immer!, um eine Not zu beheben, also um Hunger zu lindern, ein Gebrechen zu heilen oder die für Menschen gefährliche Seite der Natur zu zähmen. Warum nur scheint Jesus hier – entgegen aller anderen Beispiele und Gelegenheiten – Glaubenskraft als Zauberkraft zu verstehen? Was könnte ihn dazu verleitet haben, so zu antworten?

Ich glaube, dass er mit seiner Antwort die Frage seiner Apostel auf eine starke Weise zurückweisen will: „Stärke unseren Glauben!“ fordern diese – aber er will ihnen durchaus polemisch verdeutlichen, dass sie ihn doch nach all der Zeit gut genug kennen müssten; dass sie nach seinen Taten und Worten genug wissen müssten, was der Glauben ist und was nicht; und was den Glauben stärkt und was eher schwächt. Fragt nicht so verstockt, ihr wisst es doch besser! Für den Glauben braucht niemand in eine Muckibude zu gehen, um das Sixpäck des Glaubens zu trainieren. Glauben ist keine Leistung, die von uns verlangt würde oder von uns zu erbringen wäre. Glauben wird uns geschenkt, ganz umsonst wo und wann Gott will, ohne Maß und ohne unser Zutun: Die christliche Gemeinde ist kein Fitnessstudio, in dem wir uns unsere Zweifel abtrainieren und unseren Glauben antrainieren könnten oder sollten; der ist so stark, wie er ist, nämlich so stark, dass er Bäume verpflanzen und Berge versetzen könnte – ohne dass wir das tun sollten und ohne dass das zu tun von irgendjemandem in der Bibel empfohlen würde. Umpflanzaktionen als Demonstrationen der Glaubenskraft werden von Jesus nicht erzählt und von uns nicht erwartet!

Ganz zu Beginn dieses merkwürdigen Konfirmandenjahres, als wir uns noch live und in Farbe und allerdings coronahalber hier in der Kirche zum Unterricht getroffen haben, hat eine von Euch Zweifel über ihren eigenen Glauben geäußert, ob der für Konfiunterricht und Konfirmation überhaupt reichen würde, auch eine Relilehrerin in der Schule habe diesen Zweifel bestärkt und die Latte des Glaubens ziemlich hochgelegt – ob sie sie selbst überspringt? Die Fragestellerin ist jedenfalls dabeigeblieben und wird heute konfirmiert – wenn sie es sich im letzten Moment nicht noch anders überlegt.

Wir haben damals natürlich etwas höflicher reagiert als der Jesus unseres Predigttextes, haben uns natürlich über eine solche Frage gefreut, aber inhaltlich doch dasselbe geantwortet; dass es kein Maß des Glaubens gibt und schon gar keins, dass von anderen Menschen zu wiegen oder zu werten wäre; dass der Glauben, den wir selbst für schwach halten, gerade deshalb stark ist; und dass es ihre – und also unser aller! – höchstpersönliche, freie und eigene Entscheidung ist, die Sache des Glaubens weiterzuverfolgen oder eben zu verwerfen.

Eine unverzichtbare Entscheidungshilfe ist die Kenntnis des Glaubens, wie sie im Unterricht vermittelt wird; aber auch seine Praxis in Gemeinde und im alltäglichen Leben; auch seine Bewährung angesichts der Prüfungen des Lebens – so vieles bildet und verändert unseren Glauben.

Vielen von uns scheint es so, als sei gerade unsere Zeit besonders von solchen Prüfungen geplagt – angesichts der Pandemie, die so viel Leid über so viele Menschen gebracht hat und Woche für Woche allein in den USA immer noch mehr Menschen tötet als der Terror vom 11. September; – aber auch angesichts des menschlichen Bösen, das wir durch den Jahrestag der Terroranschläge in New York und anderen Orten in den USA vor zwanzig Jahren fast unerträglich vor Augen haben: scheinbares Zeugnis eines angeblich starken Glaubens, der sich in verschwurbelten Pamphleten noch posthum selbst rechtfertigt – in Wirklichkeit aber die wahrhaft atheistische Perversion der Religion, als Anstiftung und Rechtfertigung menschenverachtender und gotteslästerlicher Gewalt, ein grausamer Kult der Rache, ein Hochamt des totalen Nihilismus: ein starker Glaube an – gar nichts! Und der uns, die er sich zu seinen Gegnern erwählte, viel zu lange in die Irre geführt hat – bis an die Enden der Erde; ob am Hindukusch unsere Werte, auch die des Glaubens, verteidigt werden können, ist sehr zweifelhaft, dass man sie dort verlieren kann, nicht.

Schon die scheinfromme Bitte um einen starken Glauben kann in die Irre führen und unseren Blick weg von dem lenken, der sich am Kreuz als unser Gott offenbart hat und der sagt: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2. Korinther 12,9).

Das ist die religiöse Wahrheit der allgemeinen Lebensweisheit, dass ich dort am ehesten ich selbst sein kann, wo ich meine Schwäche nicht verbergen muss – bei Eltern und Familie, guten Freunden, dem Liebsten, denen allen ich nicht den Starken – der Bäume ausreißen kann – vorspielen muss, der ich nicht bin; genauso wenig wie vor Gott, der es in Ordnung findet, wenn wir uns in unserer Schwäche an ihn wenden und sagen: „Herr, ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ (Markusevangelium 9,24)

Unsere Schwäche jedenfalls, auch unsere Glaubensschwäche, ist schon mal kein Argument für Gott gegen uns – und auch keins von uns gegen ihn. Amen.

6. Sonntag nach Trinitatis, 11. Juli 2021

Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. (Matthäusevangelium 28,16-20)

Noch bei den vertrautesten Texten wie diesem hier mit dem Taufbefehl erleben wir Überraschungen. So oft haben wir das als Gemeinde schon gehört und je nach Aufgabe im Gottesdienst gesprochen – bei jeder Taufe nämlich, also sicherlich ein paar 100 Mal pro Pfarrer in all den Dienstjahren; aber meistens ohne den einen Einleitungssatz, über den ich diesmal stolpere: einige aber zweifelten.

Zweifel? Wie kann das sein an dieser Stelle, die doch Gewissheit verlangt und Vertrauen fordert: von dem Täufling, der in der Taufe seinen Glauben bekennt; von denen die als Zeugen und Paten mit und für den Täufling ihren Glauben bekennen und seinen Glauben Versprechen; und natürlich vom Taufenden, der doch wissen muss, was er tut, und viel mehr noch, der dem glauben und vertrauen muss, auf dessen Namen er tauft: nämlich auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Einige aber zweifelten: Es mag Gelegenheiten geben, in denen der Zweifel – also das Wackeln in der Festigkeit des Glaubens erlaubt ist („Wackeln ist erlaubt“ wie unsere Online-Gymnastiktrainerin im Lockdown nicht müde wurde zu verkünden); das mag in Glaubensdingen sogar insgesamt erlaubt und unvermeidlich sein, weil es ja etwas betrifft, was man hofft und was man nicht sieht. Gerade wir in der Thomasgemeinde sind schon namenshalber Experten des Zweifels und berufen uns auf Thomas den Zweifler, der erst sozusagen auf dem zweiten Bildungsweg zum Glauben an der Auferstandenen gefunden hat. Gerade wir Evangelische erkennen mit Martin Luther den existentiellen Zweifel der Anfechtung, in der der Glaube erschüttert aber letztlich – durch die Anfechtung hindurch – gestärkt wird, so gestärkt wird, wie es ein bloß glückliches aber letztlich taubes Erleben nie könnte (so wie erst beim gymnastischen Wackeln die Tiefenmuskeln gestärkt werden: Zweifel stärken die Faszien des Glaubens!). Nur ein in seinen Überzeugungen einbetonierter Fundamentalist kannte keinen, kennt keinen und wird keinen Zweifel kennen.

Aber nun Zweifel ausgerechnet im Zusammenhang der Taufe, der Lehre, der Mission, des abschließenden Vermächtnisses Jesu, als beinahe letztes Wort über die Jünger: einen unpassenderen Ort für den Zweifel scheint es nicht zu geben; wann, wenn nicht hier, brauche ich Gewissheit, Überzeugung und Überzeugungskraft, die über alle Zweifel erhaben sind. Dennoch steht da: einige aber zweifelten. Und dabei ist diese Übersetzung des Theologen der Anfechtung, also Martin Luthers, noch zu milde, beinahe schönfärberisch, denn das griechische Original macht gar keine zahlenmäßige Einschränkung und Milderung. Statt einige aber zweifelten, was dann heißen könnte, nein heißen müsste, dass andere, sogar die Mehrheit der Jünger nicht zweifelte; stattdessen muss es wohl heißen: sie aber zweifelten. Der zweifelnde Thomas also nicht als Ausnahme sondern als Regel; die Jünger begegnen ihrem Jesus und hören ihn bei der letzten Gelegenheit und bei Entgegennahme des letzten Auftrags, dem Tauf- und Missionsbefehl insgesamt als – Zweifelnde, wie kann das sein?

Vielleicht so: Das Symbol des Wassers der Taufe kann uns einen Hinweis geben, zumal die einzige andere Stelle, an der Matthäus genau diese Vokabel „zweifeln“ verwendet, eine Wassergeschichte und zwar der berühmte missglückte Seewandel des Petrus ist; dieser kann zunächst seinem Meister Jesus über das Wasser nachgehen, aber als er daran zweifelt, versinkt er im Wasser. Petrus zweifelt und seine Zweifel lassen ihn im Wasser versinken, in demselben Wasser, das ihn vorher im Glauben getragen hat.

Wenn auch das „Auf dem Wasser Wandeln“ eher eine Spezialdisziplin der Nachfolger Petri, also dann wohl der Kirchenleitung, sein mag und auch dort eher eine Randerscheinung geblieben sein soll, begegnet der Zusammenhang von Glauben, Zweifel und Wasser jedem, der Schwimmen lernen will. Denn was ist eigentlich der entscheidende Schritt vom Nichtschwimmen zum Schwimmen? Erst kürzlich in einem Radiofeature zum ausgefallenen Schwimmunterricht in Zeiten der Pandemie, konnte man hören und erfahren, dass der eigentliche Durchbruch im Schwimmunterricht nicht die Technik ist, die man lernt und auch nicht das Training der richtigen Muskeln, die man aufbaut, obwohl beide, Kraft und Technik, natürlich superwichtig und unerlässlich sind. Sondern das Entscheidende – so die bestimmt namhafte Schwimmforscherin im Radio, deren Namen ich leider vergessen habe – das Entscheidende ist die Überwindung meiner Wasserangst und die Erfahrung, dass das Wasser – das bekanntlich keine Balken hat – mich dennoch trägt.

Das alles Entscheidende beim Schwimmen ist also das Vertrauen in den Auftrieb des Wassers. Deshalb können Säuglinge von Geburt an Schwimmen, nämlich weil sie noch keine Wasserangst ausgebildet haben; für sie ist es ja eine Rückkehr ins vertraute, gerade erst verlassene Element. Ohne Praxis verlernen sie das Schwimmen bloß recht bald wieder, um es irgendwann neu und mühsam lernen zu müssen. Auch in späteren Phasen, etwa bei der Verfeinerung der Schwimmtechnik kommt es immer darauf an, den Auftrieb des Wassers – wie ein Fisch im Wasser – vertrauensvoll erst ganz bewusst, dann selbstverständlich und ohne darüber weiter nachzudenken, zu nutzen; die Schwimmzüge, die Atmung, die Wasserlage nach den Gesetzen von Verdrängung und Auftrieb aquadynamisch zu optimieren. Das Gegenteil dazu ist, wenn ich in Angst und Wasserzweifel gegen das Element ankämpfe, es wild trete und schlage und dann darin unweigerlich versinke.

Wir müssen nicht annehmen, dass Jesus und die Seinen über die Zusammenhänge des Schwimmerwerbs grübelten; aber das hindert uns nicht, solches Wasserwissen für den Glauben zu nutzen und dabei die feine Logik ausgerechnet des Zweifels im Zusammenhang mit der Taufe zu durchschauen. Mit dem Hinweis auf den Zweifel der hörenden Jünger – einige, besser: sie aber zweifelten – wird uns angezeigt, dass der Moment der Taufe nicht einen der felsenfesten Gewissheit markiert, sondern dass die Taufe den fließenden Übergang vom Zweifel zum Glauben in Szene setzt, ihn zeigt, darstellt, und darin feiert – also den Moment inszeniert, in dem wir – bildlich gesprochen – das Schwimmen lernen. Zum Glauben, den wir in der Taufe feiern, gehört keine einfache Zweifellosigkeit des Glaubenden und keine schlichte Unbezweifelbarkeit des Glaubensgegenstandes – wer hat denn mehr Zweifel auszuhalten als Gott selbst – sondern zum Glauben gehört die Überwindung des Zweifels und das Leben-Können mit dem wiederkehrenden Zweifel: Glauben ist eigentlich das immer wieder zum Glauben Kommen.

Getauft sein, heißt, ich habe gezeigt, ich habe es mir gezeigt, ich habe es mir durch Gott zeigen lassen, dass ich schwimmen, also dass ich glauben kann. Deshalb hat es Sinn, mich in Zeiten des Zweifels und der Anfechtung dieses Moments zu versichern, so wie Luther, der von Anfechtungen berichtet, in denen er sich vom Teufel bedroht sah und diesem ein trotzig gewisses „Ich bin getauft“ entgegengeschleuderte; ungefähr so wie man sich vor dem Sprung ins tiefe Wasser ein kräftiges „Ich kann schwimmen“ sagt.

Es spricht nur für unsere Analogie, dass sowohl bei der Taufe als auch beim Schwimmenlernen die Säuglinge eine gewisse Sonderrolle einnehmen; eigentlich können sie schon von Anfang an, was sie später wieder lernen müssen, was Unterricht auf der einen und Tauffeier auf der anderen Seite überflüssig erscheinen lassen. Ich erinnere mich an heiße Diskussionen mit unserem lieben Gemeindeglied und Kirchenvorsteher Hartmut Visbeck – Gott hab ihn selig – der vehement die Kindertaufe abgelehnt hat, nicht etwa wegen eines „noch nicht“ (wie bei den Baptisten, die sagen, dass Kinder noch nicht über ihren Glauben entscheiden können) sondern wegen eines „schon längst“ und eines „viel mehr“; seiner Meinung hatten Kleinkinder schon längst und viel mehr davon, was ihnen in der Taufe erst noch zugesprochen wird.

Von unserer Schwimmanalogie könnte man nun entgegnen, dass gerade die Säuglingstaufe den besonderen Moment einer starken Ursprungsgewissheit – das Urvertrauen – nutzt, um uns im Rückblick und durch die Erinnerung umso besser gegen die unvermeidlichen Stürme und Fluten des Zweifels zu schützen, um also dem Teufel in allen seinen Verkleidungen entgegenzuschleudern: Ich bin getauft! Ich weiß Gott von Anfang an auf meiner Seite.

Dieses Bekenntnis: Ich bin getauft! ist die kurze Antwort auf ein langes – ein lange und weit reichendes – Versprechen: Siehe ich bin euch alle Tage bis an der Welt Ende. Amen.

5. Sonntag nach Trinitatis, 4. Juli 2021

Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft. Denn es steht geschrieben (Jes 29,14): »Ich will zunichtemachen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.« Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? Denn weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die da glauben. Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind. (1. Korinther 1,18-25)

„Fußball ist wie Schach, nur ohne Würfel.“ („Lukas Podolski“, aber eigentlich Jan Böhmermann als derselbe)
In diesen Tagen liegen, was Torheit und Weisheit angeht, Fußballweisheiten besonders nahe:
„Mal verliert man und manchmal gewinnen die anderen.“ (Otto Rehagel)
„Da hat man schon kein Glück und dann kommt noch Pech dazu.“ (Jürgen Wegmann)
„Fußball ist ein einfaches Spiel. 22 Leute jagen 90 Minuten einem Ball hinterher und am Ende gewinnen immer die Deutschen.“ (Gary Lineker)
Nicht immer bereitet es ein so großes Vergnügen, die Torheit von Weisheiten zu verspotten wie bei solchen Fußballweisheiten. Oft genug werden sie – das kann sie entschuldigen – wenige Minuten nach dem Schlusspfiff von denen geäußert, die vorher dem Ball hinterherrannten und die im günstigen Fall schussgewaltiger sind als wortgewaltig, passgenauer mit dem Ball als präzise mit ihren Worten. Beim Fußball liegt die Wahrheit schließlich auf dem Platz und nicht im Mikrophon. Und außerdem hätte jeder auch vor dem vergangenen Dienstag wissen können – wenn er vielleicht nicht gerade aus England kommt – dass deutsche Fußballer ganz prima verlieren können, auch hoch und auch deutlich. Eine Chronik krachender Fußballkatastrophen erspare ich uns, aber sie würde bestimmt nicht bei diesem Turnier beginnen und ganz sicher wird sie dort nicht enden.
Vermutlich gehört das sogar zu den größten Stärken von Sportlern und echten Champions, Schwäche auszuhalten und Niederlagen zu ertragen. Natürlich rennen, spielen, raufen wir, um zu gewinnen, aber je mehr Mitbewerber umso größer die Wahrscheinlichkeit, nicht zu gewinnen. Das weitaus wahrscheinlichste Ergebnis einer Europameisterschaft mit 24 Teilnehmern ist, einer von den 23 Verlierern zu sein und nicht der eine Europameister zu werden und weise ist folglich der, der mit seiner Niederlage rechnet und sie aushalten kann. Zum Tor aber macht sich der, der den anderen keine Tore zutraut.
Schwäche aushalten, Niederlagen ertragen, mit Verlusten rechnen – das wäre der nicht-religiöse Ertrag der christlichen Religion, der auch sportlich relevant ist, aber noch viel mehr als das. So wie der Fußball insgesamt Spiel und Spiegel des Lebens ist, so ist er es gerade in dieser Sache von Verlust und Niederlage: Jedes Leben endet mit einer Niederlage, in der Niederlage des Todes und es ist sinnvoll, sich darauf einzustellen. Nicht nur Hochbetagte müssen mit dem Tod rechnen (was uns in unglücklichen Grenzfällen bis auf den Fußballplatz verfolgt wie zu Beginn der EM: Spiel und Spiegel des Lebens!) und es macht immer ein wenig ratlos, wenn die Angehörige dieser Hochbetagten zum Ausdruck bringen, dass ihre 90-, oder 100jährigen Verwandten unerwartet gestorben sind. Womit hatten sie denn gerechnet? Was hatten sie denn erwartet?
„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“ (Evangelisches Gesangbuch 518) – und an seinem Rande noch viel mehr. Bewusstes Leben hat sich damit auseinanderzusetzen: „Herr lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Psalm 90,12). Die alten Griechen haben diesen Umstand zum Wesensmerkmal der Menschen gemacht und von uns Menschen als den Sterblichen gesprochen – im Gegensatz zu den Unsterblichen, nämlich den Göttern. Und auch der merkwürdige Gebrauch des Begriffs höherer oder niedriger Sterblichkeit durch die Wächter der Corona-Pandemie kann über den Umstand nicht hinwegtäuschen, dass die menschliche Sterblichkeit bei genau 100% liegt und – nach Ansicht der Griechen – die der Götter bei exakt 0%: Alle Menschen sterben, aber kein Gott.
Vor diesem Hintergrund geht Paulus davon aus – und vielleicht hat er auch welche in der griechischen Metropole Korinth so reden hören – dass den für ihre Liebe zur Weisheit berühmten Griechen das Wort vom Kreuz eine Torheit, also ein Quatsch, ein Blödsinn ist – und zwar gleich eine doppelte Torheit sein muss, da es den Tod des unsterblichen Gottes und die Auferstehung eines sterblichen, gestorbenen Menschen verkündet: Jesus Christus als gekreuzigter Gott und zum ewigen Leben auferweckter Mensch. Was für ein Quatsch, werden sie in der Mehrheit gesagt haben, was für ein Blödsinn, was für eine Torheit! Wie es sie für uns Heutige ja immer noch ist, weil sie allem, was wir für wahr halten zwischen Himmel und Erde widerspricht: Menschen leben nicht ewig und Götter – falls es sie geben sollte – sterben nicht.
Von der griechischen Reaktion ist die der jüdischen Landsleute des Paulus nur wenig unterschieden: sie halten die Rede von einem auferweckten Gekreuzigten für ein Ärgernis, für ein Skandal, wie es im Original heißt – also ebenfalls für einen Blödsinn, aber einen anstößigen Blödsinn, wohl weil er erkennbare jüdische Wurzeln hat und die jüdische Religion gleich zusammen mit der jüdischen Sekte – die die christliche Religion zu Zeiten des Paulus noch war – zu diskreditieren droht: Die Christen könnten von anderen, von Außenstehenden, für Juden gehalten werden – wurden das auch in jener Zeit – und dann mit solchen – wie sie es für sie waren – gotteslästerlichen Reden eines sterbenden Gottes und ewig lebenden Menschen identifiziert werden. Mehr als nur ärgerlich, ein Skandal! Was erlauben sich die Christen! (Der aufmerksame Fußballfreund darf hier das ferne Echo dieses Vorwurfs mithören: „Was erlaube Struuunz?!“ [Giovanni Trapatoni in seinem legendären Fernsehinterview])
Paulus wendet sich gegen solche möglichen und tatsächlichen Vorwürfe – und verzichtet dabei auffallend auf Erklärungen oder gar Rechtfertigungen, die ohnehin nicht verfangen würden: bei den Kritikern sowieso nicht und die Glaubenden brauchen sie nicht, da in ihnen das angeblich törichte und skandalöse Wort längst wirkt: als Gottes Kraft, die mehr und anderes als die ewige Fortsetzung unseres bisherigen Lebens bewirkt! Das Leben geht nicht einfach so weiter, oder doch?
„Lebbe geht weider“ ist als weises Wort des großen Frankfurter Fußballlehrers Stepi Stepanowitsch in die Herzen der Fans und die Weisheitslehren des schönen Spiels geschrieben: als Glaubenssatz nach schmerzlichen Niederlagen, als Trostwort verletzter Gemüter und als Aufmunterung zu neuen Anstrengungen. Wer könnte diesen Zuspruch gerade nötiger haben als die gekränkte deutsche Fußballseele: „Lebbe geht weider“, so haben es die verständigen Mütter und Väter ihren verstörten Kleinen am Dienstag erklärt.
Aber so sehr in diesem Wort eine Verheißung künftiger Auferstehung aus den Ruinen in Glanz und Gloria – vom Tod ins Leben – laut wird, so wenig trifft es die Aussageabsicht vom Wort vom Kreuz, das keine Verlängerung der irdischen Lebenszeit verspricht und keine Rückkehr ins alte Leben; sondern ein gänzlich neues und anderes Leben bei Gott – durch einen Gott, der den Tod auf sich nimmt, um uns dieses neue und andere Leben zu geben.
Für welche Torheit, für welche Weisheit entscheiden wir uns – oder eher: welche Torheit, welche Weisheit hat sich uns erwählt und lebt längst in uns? Oft genug muss man sich entscheiden – man kann nicht alles haben! – oft genug geht nur das eine oder das andere. Manchmal aber doch nicht. Als herrlichster Torheit der Welt, darf man sich am Fußball erfreuen, ohne der törichten Weisheit unseres Glaubens zu entsagen. Es könnte sogar sein, dass einem im Spiel die ernsten Dinge des Lebens klarer werden – und das umgekehrt der Glaube uns Schwächephasen und Niederlagen im Spiel erklären und ertragen hilft.
Spielen und Glauben können sogar Verbündete sein, wenn sie jeweils auf ihre Weise die Torheit falschen Ernstes und die Torheit falscher Gewissheit entlarven: Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind.
Und so wollen wir in dieser Sommer- und Urlaubszeit noch ein letztes Mal auf die weise Torheit eines unserer Fußballhelden hören, der in seiner aktiven Zeit immer wieder von sich reden gemacht hat. Es soll uns Weisung und Weisheit für Urlaub und Urlaubsziel sein:
„Mailand oder Madrid. Hauptsache Italien!“ (Andi Möller, der in seinen präzisen Analysen von seinem Trainer Stepanowitsch profitiert haben dürfte.)
Amen.

4. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juni 2021

Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte.Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen. (1. Buch Mose 50, 15-21)

Meine große Schwester erinnert sich an ihren Religionsunterricht in der Grundschule, dass sie dort jedes Jahr die Josephsgeschichte durchgenommen hätten und sie will damit nicht sagen, dass das besonders interessant gewesen wäre, war es nämlich nicht, und ich habe darin auch immer die Warnung an den kleinen Bruder mitgehört, diesem Beispiel nicht zu folgen.

Das mag zum Teil einer gewissen rückblicksbedingten Übertreibung geschuldet sein, aber wenn nun diese Erinnerung weder Begeisterung für das Fach noch Interesse an der Geschichte hinterlassen hätte, so wäre das schon auch bedauerlich; zuerst natürlich, weil Religion bekanntlich das schwierigste und zugleich das schönste Schulfach ist, weil es da nicht nur um etwas sondern um alles geht – aber auch weil gerade die Josephsgeschichte eine überaus spannende und lebensnahe Erzählung ist – eine Art Novelle, die die Verhältnisse und Konflikte unter Geschwistern darstellt und deutet, wie sie – behaupte ich – jeder Bruder und jede Schwester mit ihren und seinen Geschwistern erlebt: Vertrautheit und Entfremdung, Liebe und Gewalt, Eifersucht und Solidarität, leuchtendes Vorbild und abschreckendes Beispiel, Bevorzugung und Zurückweisung durch die Eltern, Trennung und Versöhnung, gemeinsame Erzählungen und abweichende Erinnerungen, sogar die Neufigurierung in Patchworkfamilien mit teils denselben und teils neuen Elternteilen: all das buchstabiert die Josephsgeschichte in ihrem Zeitkolorit durch – ganz wie im richtigen Leben unter Geschwistern. Genau das – also die Fülle der Identifikationsmöglichkeiten – dürfte der Grund ihrer religionspädagogischen Popularität sein wie auch ihre Anziehungskraft als Vorlage moderner Literatur: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ wie Thomas Mann seinen Josephsroman beginnt.

Mit unserem Predigttext blicken wir ganz am Ende der Erzählung in den tiefen Brunnen der Vergangenheit, sollen die Vorgeschichte der Szene mitdenken, wie wir sie im Gedächtnis haben – auch wenn wir sie nicht in der gleichen Gründlichkeit studiert haben sollten wie meine Schwester – und wir sollen – tun das natürlich auch ganz unwillkürlich – mit unseren Geschwistererfahrungen abgleichen, uns an das gemeinsame Glück erinnern und das gegenseitige Leid, die völlige Vertrautheit als Kind, die als Erinnerung immer noch da ist – wen kennen wir besser und mit wem haben wir mehr erlebt als mit unseren Geschwistern? Unseren Liebes- und Lebenspartner schonmal nicht, denn der ist ja erst irgendwann viel später in unser Leben gekommen – und dann das eigene, eigenständige und gegenseitig fremde Leben als Erwachsene – wer kann sich fremder werden als Bruder und Schwester? Beinahe fremder als getrennte und geschiedene Paare, weil der Riss noch tiefer geht, bis zur Wurzel meiner selbst.

Die Geschwisterdynamik der Jakobssöhne, die doch die gleiche Wurzel haben, gemeinsam aufgewachsen sind, sich mal gemocht, geliebt haben mussten, kennt das ganze Register von Überheblichkeit hochfahrender Träume bis Neid über ein Geschenk des Vaters, einen albernen roten Rock!, und Eifersucht über die Liebe der Eltern; sie weiß von Dominanzgebahren – „ich bin größer, stärker und klüger als Du“, von Verschwörung – „dem zeigen wir´s“ – bis zur Mordlust und dem Wunsch, dass der andere ganz weit weg sein möge, nach Ägypten hin und weg, damit man sich nie wieder sieht. Aber man sieht sich wieder, man begegnet sich wieder, man gerät in Abhängigkeit und dann liegt das Leben in der Hand dessen, dem man den Tod gewünscht hat. Dann doch lieber selbst das Weite suchen, wenn es denn ginge.

Gerade der Tod der Eltern – wie hier der Tod des Stammvaters Jakob – führt Geschwister wieder zusammen oder zeigt ihnen wie sehr sie sich auseinandergelebt haben oder – und das nicht selten – beides zugleich: Der Tod der Eltern führt sie zusammen – als Fremde, als sich gegenseitig Fremdgewordene. Immer wieder erlebt man das als Seelsorger in Trauerangelegenheiten, dass Hinterbliebene es für erklärungsbedürftig halten, dass sie sich nicht mit ihren Geschwistern verstehen oder nicht einmal mehr miteinander sprechen; dabei stellt das beinahe den bedauerlichen, kaum tröstlichen Normalfall dar, statistisch gesehen jedenfalls scheint das viel häufiger vorzukommen als Bruder und Schwester, die sich über dem Grab ihrer Eltern die Hände reichen; auch das kommt vor, Gottseidank! – aber eben nicht als Selbstverständlichkeit.

Der Handschlag über die garstigen Gräben des gemeinsamen – und des ungemeinsamen – Lebens ist auch Josef und seinen Brüdern nicht selbstverständlich, fällt ihnen nicht leicht, auch wenn sie es noch so wollen. Keineswegs immer reicht der bloße Willen zur Versöhnung: „Es ist mir nicht gegeben, mich mit meinem Bruder zu versöhnen“ – klingt mir als Satz im Ohr aus einer Situation, in der der Sprecher sein ehrliches Bedauern und sein aufrichtiges Bemühen ausdrückt, ohne die versöhnende Hand reichen zu können: zu viel war geschehen, zu Großes lastete auf der Brust, zu tief war der Graben zwischen den Brüdern, zu sehr hatten sie – damals – Böses einander zu tun gedacht; wie bei Josef, dass er sich über seine Brüder stellte und die anderen, dass sie ihn töten wollten und schließlich in die Sklaverei verkauften. Manchmal – wie hier – ist das Problem zwischen Brüdern, zwischen Menschen größer, als dass es gelöst werden könnte – als dass es von Menschen gelöst werden könnte.

Und da kommt die Religion ins Spiel, eher ihr Gegenstand, Gott selbst, mit seinen unerschöpflichen Gaben der Gnade und der Barmherzigkeit, um uns zu versöhnen: Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen. Gott, der uns wie Josef und seinen Brüdern, Gelegenheiten gibt, immer wieder, immer neu, aufeinander zuzugehen, die Gräben zuzuschütten, vielleicht nicht gleich und auf einmal, aber irgendwann hoffentlich schon. Ein Notfall, eine Not könnte ein Anlass, eine Gelegenheit sein, wie bei den Josefsbrüdern die Hungersnot, die sie Hilfe suchen lässt, die ihnen ihr verstoßener Bruder gewährt; auch eine Krankheit ließe sich denken, die uns bewegen könnte, uns auf unsere Geschwister zuzubewegen; eine bevorstehende Operation mit ungewissem Ausgang. Da müsste man sich doch vorher mal wiedersehen, mal miteinander ins Reine kommen, damit es nachher nicht zu spät ist.

Allerdings bleibt der Ausgang wie in der Josefsgeschichte lange offen, bis zuletzt, aus Gründen. Denn die Geschichte, die die Geschwister eint und trennt ist ja keineswegs zufällig, auch wenn sie von allerlei Zufälligkeiten und Kontingenzen beeinflusst sein mag – einer Karawane, die gerade vorbeizieht; einem Ziel, dass die Reisenden haben; einer Hungersnot, die ausgerechnet zu dieser Zeit hereinbricht. Die Trennungsgeschichte ist dennoch keineswegs zufällig, sondern sie ist eine Ableitung, eine Funktion der Wesen, der Persönlichkeiten, der Charaktere der handelnden Personen – und insofern wie gesagt alles andere als zufällig.

Wenn auch unsere Lebensgeschichte zwar nicht durch unsere Person völlig vorherbestimmt ist, bestimmen wir aber doch in jedem Moment unseres Lebens in Aktion und Reaktion und Passion, wie es von uns aus weitergeht, gestaltend oder stillhaltend, aktiv oder passiv, als Autor unserer Lebensgeschichte oder als Blatt, dass beschrieben wird. Für unsere Konflikte und ihre Lösungen heißt das, dass der Mensch, mit dem ich mich versöhnen will, derselbe ist, mit dem ich mich gestritten habe – mit allen Wesenszügen, die zu diesem Zerwürfnis geführt haben, und der bleibenden, manchmal nagenden Frage, ob es mit diesem Menschen, so wie er ist, überhaupt Frieden geben kann (ob es mit mir überhaupt Frieden geben kann). So wie in der Josefsgeschichte bleibt die Versöhnung auch deshalb möglicherweise für lange Zeit ungewiss und gefährdet; und anders als die Josefsgeschichte muss unsere nicht gut ausgehen.

Aber immerhin sehen wir und lernen das an Josef und seinen Brüdern, dass eine Versöhnung selbst nach schwersten Verletzungen möglich ist und von Gott unbedingt gewünscht und gefördert wird.

Nichts Menschliches ist der Bibel fremd – keine Gräueltat, kein Unrecht, keine Gewalt; die Menschen der Bibel schonen sich als Handelnde und uns als Lesende nicht – und man mag sich bisweilen fragen, ob die Bibel in allen Zügen schulkindgerecht erzählt. Aber neben dem Menschlichen, Allzumenschlichem und dann eben auch menschlich Unzulänglichem weiß die Bibel mit ihren Geschichten vom Göttlichen: vom unbedingten Versöhnungswillen Gottes: das ist der Zielpunkt unserer Geschichte heute. Und das darf dann auch gelegentlich wiederholt werden, bis es sitzt.

Gott wird wie bei Josef und seinen Brüdern keine Ruhe geben, bevor sich die Geschwister versöhnt haben. Damit lässt Gott weder los noch locker. Gott möchte uns Menschen, mit sich und seinesgleichen versöhnen: Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen. Amen.

Dritter Sonntag nach Trinitatis, 20. Juni 2021

Es nahten sich ihm – Jesus – aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.

Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet?

Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.

(Lukasevangelium 15, 1-10)

Viele – vielleicht alle Familien kennen Geschichten des Verlorengehens – unsere geht so: Ein kleines Mädchen geht am Strand spazieren. In den vergangenen Tagen hat es diesen Ort für sich entdeckt, mit ihren Geschwistern und Eltern: das Meer, den Sand, Strandhafer, Muscheln, Wind, Weite Sonne.

Nun will sie etwas weiter gehen, den neuen Ort erkunden, nicht unbedingt allein, aber gerne selbständig, mal hierhin, mal dorthin, ohne Richtung, aber mit Neugier und dem Ziel, noch mehr zu sehen und noch mehr kennenzulernen. Und so läuft sie – nun doch immer in derselben Richtung, ein paar Dutzend, ein paar Hundert Meter weit, immer weiter. Es sieht genauso aus, wie an der Stelle ihres Aufbruchs, aber doch ganz anders. Sie dreht sich ein paar Mal um, geht weiter, immer weiter, sieht die Geschwister und die Eltern nicht, die müssten eigentlich da sein, sind sie aber nicht.

Die haben dafür auch gemerkt, dass die Jüngste fehlt. Ein Schrecken durchfährt sie. Wo ist sie hin? Sie kennt sich ja nicht aus. Sie ist ja noch so klein. Ist was passiert? Sie suchen nach allen Richtungen, fragen die anderen Strandbesucher, am Meeressaum rechts und links, in den Dünen, im Strandwäldchen, auf den kleinen Wegen zu den Sommerhäuschen – ein großes Gelände, uneinsehbar, unübersichlich, deshalb ist es ja so schön – aber auf einmal hat sich die Schönheit in Schrecken verwandelt. Der zur Panik neigende Elternteil fällt in Panik – was kann nicht alles passiert sein? – steckt den vernünftigeren an. Es sind ja bisher gut zehn, bald gut zwanzig, bald dreißig Minuten her. Wann und wo und wie werden wir sie finden?

Natürlich suchen wir weiter, manche Ecken an denen schon einer war, immer wieder. Und dann entdecken wir sie – nach unendlichen, vielleicht vierzig Minuten – doch; folgen einem Hinweis: eine Zweijährige? ganz alleine? die ist in diese Richtung gelaufen.

Wir glauben sie zu erkennen, ganz am anderen Ende der weiten Bucht, ein paar Hundert Meter entfernt, ein Pünktchen in den Farben ihrer Kleidung zwischen anderen Pünktchen, aber vielleicht ist sie es gar nicht, vielleicht aber doch. Und wir rennen los – ein panisches Wettrennen, ein paar Minuten dauert es dann noch, der große Bruder gewinnt, nimmt sie in die Arme, große Freude.

Auch die Kleine, wiedergefundene Verlorene war in Angst, verzweifelt über ihr Verlorensein, in Tränen aufgelöst, und erst allmählich das Glück der Gefundenen fassend, so wie wir anderen auch.

Zurückgekehrt an unseren Strandplatz begrüßt uns die zurückgelassene, nur etwas größere Schwester, auch freudig, dass wieder alle da sind, dabei ganz gelassen; wozu die Aufregung? Ihr war klar, dass die andere wiedergefunden würde, anderes konnte und musste sie noch nicht denken.

Viele – vielleicht alle Familien kennen Geschichten des Verlorengehens, des Suchens, des Wiederfindens – besonders der Angst und Verzweiflung über jenes und der Freude und des Glücks über dieses. Wenn ich die Geschichtensammlung des Lukas im 15. Kapitel von der Freude über das widergefundene Verlorene lese – diese Sammlung von Geschichten sich steigernder Freude von Schaf und Groschen und Sohn, dann kann ich nicht anders als an jenes Erlebnis am Strand vor mittlerweile ganz paar Jahren denken, das mich nicht mehr aufwühlt, aber immer noch bewegt: Das verlorene, wiedergefundene Töchterchen.

Und an solche Begebenheiten – des Verlorengehens und der Verlorenheit einerseits und der Freude über das Wiederfinden andererseits – sollen wir denken, wenn wir über Gott und uns nachdenken. In ihnen sollen wir begreifen, wie sich Gott um uns bemüht, wie Gott keine Mühe scheut uns zu suchen und zu finden – und dabei fühlt wie wir: den tiefen Schmerz über die Verlorenen, Hoffnung und Zweifel während der Suche und die große Freude über die Gefundenen: Gott gibt die Verlorenen nicht verloren; das Suchen und Finden der Verlorenen sind ihm Passion und Profession und seine Freude über die Gefundenen, die viel größer ist als die über die, die sich schon haben finden lassen: So groß ist Gottes Gnade.

Damit wäre beinahe schon alles gesagt – wären da nicht die nicht zu überlesenden Bemerkungen über den auffällig unterschiedenen Grad der Freude, über Unterschied und Steigerung der Freude über das wiedergefundene Verlorene; die Steigerung besteht vor allem im Verlustquotienten: 1/100 der Schafe – 1/10 der Groschen – ½ der Söhne (und unausgesprochen!: 1/1 der Zuhörer, also die Zuhörer im Ganzen) waren verloren und werden wiedergefunden: der Finder des einen Schafs freut sich über dieses mehr als über neunundneunzig andere, oder die Finderin des einen Groschens mehr als über die neun anderen – oder der Vater des einen Sohn mehr noch als über einen anderen – wie beim verlorenen Sohn, über den wir in der Lesung gehört haben, und dessen eifersüchtigen, neidischen Bruder, der so ganz anderes reagiert als das weise Töchterchen in der Familiengeschichte; die hat sich gefreut, wieder gemeinsam spielen zu können; der andere – der in der Gleichnisgeschichte – wurde zornig und wollte nicht mitfeiern, heißt es, und macht seinem Vater stattdessen Vorhaltungen über dessen vermeintliche Ungerechtigkeit: Du hast mir nie einen Bock gegeben. Schön ist das nicht, so zu reagieren, aber verstehen kann man ihn ja in seiner Kränkung und gefühlten Zurückweisung. Nicht jeder erhält sich die Weisheit der Freude einer 4jährigen.

Übertreibt es hier vielleicht doch einer, also Gott – der ja gemeint ist – mit seiner Freude über seinen Fund – und untertreibt er, hintertreibt er damit nicht seine Gerechtigkeit? Übertreibt es Gott hier nicht mit seiner Gnade zulasten der Gerechtigkeit. Ist Gott mit seiner Gnade im Unrecht?

Merkwürde Frage! Ungerecht kann Gott hier doch nur derjenige finden, der seine eigene Gerechtigkeitserwartungen über die Möglichkeiten Gottes stellt und dessen Fähigkeiten der Gnade unterschätzt. Gottes Gnade aber ist größer als unsere Gerechtigkeitsvorstellung – und manchmal übertrifft sich Gott sogar selbst. Auch das liegt ja in unseren Geschichten des verlorenen Wiedergefundenen, dieses Moment der Ungewissheit und der Überraschung; und sei es ein erweiterter Gerechtigkeitsbegriff, der jedem nicht nur das als das seine zukommen lässt, was er verdient, sondern was er braucht: Gott ist mit seiner Gnade im Recht!

Mit diesem Fund über die unerschöpfliche Gnade Gottes ist unser Gleichnis aber noch keineswegs ausgeschöpft. Wie mit allen seinen Geschichten lädt uns Jesus und laden uns seine Biografen, die Evangelisten, ein, sich selbst in den verschiedenen Rollen und Figuren auszuprobieren und wiederzufinden; und immer wieder wird es da zu überraschenden Perspektivwechseln kommen mit Aha-Erlebnissen unterschiedlicher Intensität:

Das bin ja ich, der Sucher; nein, ich, der Gefundene; nein, ich, der ich immer da war; nein, ich über den größere oder ich über den die kleinere, oder ich über den keine Freude herrscht bei Gott. Wie in einem Vexierspiegel dreht und verändert sich der Sinn, der sich gerade für mich und gerade jetzt erschließt:

Was wäre, wenn gar nicht nur das Verlorene verloren und von Gott zu finden wäre? Was wäre, wenn die durch Jesus Angesprochenen – also wir – die Verlorenen wären, die von Gott gesucht würden und darauf hoffen dürfen, gefunden zu werden? Was wäre, wenn Gott gerade durch solche Geschichten uns suchen und zu finden versuchen würde? Was wäre, wenn wir dann – endlich, endlich – unsere Verlorenheit einsehen und zu Gott zurückkehren würden? Was wäre wenn wir uns ganz dem Glück des Gefundenen hingeben könnten? Also das wäre eine richtig gute Nachricht für uns Verlorene – und große Freude im Himmel! Amen.