Predigttext für Christi Himmelfahrt, 21. Mai 2020

Christus spricht: Ich bitte aber nicht allein für sie [die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast. Verse 6-8], sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, dass sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast.Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, auf dass sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, auf dass sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst. Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast; denn du hast mich geliebt, ehe die Welt gegründet war. Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht; ich aber kenne dich, und diese haben erkannt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen. (Johannesevangelium 17, 20-24 [+ 6-8])

Der unvergleichliche Schauspieler und Komödiant Bjarne Mädel beschenkt uns auch in diesen witzlosen Zeiten mit seinem Witz: „Wenn alle immer nur meckern, können wir so was wie Corona nicht mehr machen“.

Damit ein Witz nicht verstanden wird, muss eine von drei Bedingungen erfüllt sein; wenn man sicher gehen will, besser alle drei: Der Witz muss schlecht sein, er muss schlecht erzählt werden und er muss auf einigermaßen begriffsstutzige Leute treffen. Umgekehrt erklärt sich, warum so wenig gelacht wird.

Ähnliches gilt für die Geschichten der Bibel, die zwar nicht durchweg aufs Lachen zielen (vgl. aber die Geschichte vom Ostermontag mit der Fisch-Gespenster-Probe, Lukas 24), die aber auch alle eine Pointe haben, die man kapieren muss – und die ähnlich wie ein Witz eine befreiende, eine reinigende, eine kathartische Wirkung auf den Geist haben wollen – und dabei allerdings genauso schief gehen können. Man muss sie nur hinreichend schlecht erzählen oder dem falschen Publikum (an der Bibel als Vorlage liegt es anders als bei vielen Witzen meistens nicht). Und damit wäre dann auch erklärt, wieso sich die Kirchen leeren, obwohl das ja im Moment andere Gründe hat.

Die Himmelfahrtsgeschichte lenkt von ihrer eigenen Pointe ab. Man kann sie gut missverstehen. (Die Fähigkeit Witze wie Bibelgeschichten misszuverstehen hängt nur uneigentlich – sozusagen logarithmisch – vom Bildungsgrad der Hörer und Leser ab; gerade ein hohes Maß theologischer Halbbildung verhindert zuverlässig das Textverständnis, während schlichte Gemüter verblüffend hohe Trefferquoten auf Sinn und Pointe einer guten Geschichte haben.) Anders als man denken könnte, geht es der Himmelfahrtsgeschichte nicht um die Sensation und nicht um das Spektakel, dass da ein Mensch in den Himmel gehoben wird. Das ist hier eher so wie bei den Gemälden der alten niederländischen Meister, die ihren Gegenstand häufig im Offensichtlichen verstecken – und zwar unter einer Fülle anderer, oft viel spektakulärerer Motive – wahrscheinlich um uns allererst zu interessieren, uns in die Geschichte hineinzuziehen, uns zu verwickeln in den Grund, auch den Hintergrund oder die Abgründe einer Geschichte.

Also an Himmelfahrt geht es schon mal nicht um eine Fahrt in den Himmel – es geht noch nicht einmal um den Himmel, oder nur sehr indirekt. (Das heißt ja nicht, dass man „Himmel“ nicht als Aufhänger und Sprungbrett seiner Himmelfahrtspredigt verwenden könnte mit allen Aktualisierungen, die einem dazu so einfallen: Raumfahrt, Mondlandung, Science Fiction von Perry Rhodan [Tausende, nein: sagenhafte 160.000! Seiten herrlichster Schund und reinster Eskapismus] über Captain Kirk zu Han Solo und Luke Skywalker, Luftverkehr, „Open Skies“, Fluglärm, Flugangst, Flughafen Rhein-Main, Reinhard May: Über den Wolken, um nur eine kleine Auswahl der selbst erprobten Aktualisierungen der letzten Jahre zu nennen – aber die einem über die Jahrzehnte des Pfarrdienstes irgendwann dann doch ausgehen oder nicht immer überzeugen.)

Es geht also weder um Himmel noch Himmelfahrt sondern vielmehr um die Bewältigung von Abwesenheit: „Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier.“ (Osterevangelium Markus 16,6); oder in Anlehnung an eine berühmte Definition von Religion: um Absenzbewältigung (ursprünglich spricht Niklas Luhmann von „Kontingenzbewältigung“). Damit ist seit der „Himmelfahrt“ nicht nur ein diffuses opakes Wegsein gemeint („er ist nicht hier“), sondern dem Wegsein wird ein präziser Ort zugewiesen: Der Himmel.

Es geht an Himmelfahrt um Bewältigung von Abwesenheit als Präzisierung von Abwesenheit: Ich sehe ihn nicht, aber ich weiß wenigstens, wo er ist (Das hat schon manche Eltern beruhigt, wenn die Kinder weg waren, aber man wusste wenigstens wo weg). Jesus Christus ist damit auf eine präzise, qualifizierte Art weg. (Also vielleicht die Inversion der „qualifizierten Anwesenheit“ von Schülern, die ich mir als Benotungskriterium für die Sorte Schüler ausgedacht habe, die zwar meistens nix sagen, aber immer – und durch gelegentliche Nachfragen überprüfbar – mitdenken. Nur der oberflächliche Pädagoge belohnt nicht das tiefgründige Schweigen!) Dazu findet (erfindet?) der Evangelist Lukas die Himmelfahrt, die anderen Autoren der Bibel folgen ihm nicht (noch nicht einmal die, die ihm chronologisch folgen, also etwa Johannes).

Aber Johannes beschäftigt sich mit demselben Problem und beantwortet es auf seine Weise. Er kleidet es wie auch sonst in eine feinsinnig komponierte Jesusgeschichte und an unserer Stelle in das sogenannte Hohepriesterliche Gebet. Er betet und bittet hier für die Seinen, zuerst für seine Jünger (vgl. die eckige Klammer als Ergänzung unseres Predigttextes) und dann für alle, die sein Wort hören und in seiner Liebe leben (also uns!) und darin mit ihm und dem Vater eins sind: die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast … ich in ihnen und du in mir, auf dass sie vollkommen eins seiendamit die Liebe, mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen.

Johannes verortet also ebenfalls wie Lukas den abwesenden Jesus, nun aber nicht in einem spektakulären Geschehen: der Himmelfahrt, und einem maximal entfernten Ort: dem Himmel, sondern in seinen Worten und in der Liebe, die von ihm ausgehend uns verbindet. Johannes leistet ebenfalls Absenzbewältigung, aber der Ort der präzisen Abwesenheit ist Jesu Wort und unsere Liebe.

Damit gelingt dem Johannes die Absenzbewältigung nicht äußerlich als Sensation aber theologisch umso spektakulärer: er nimmt „Entmythologisierung“ (Bultmann), Kritik der Religion (Barth) und „nichtreligiöse Interpretation“ (Bonhoeffer) ein paar Jahrhunderte (also zwanzig) vorweg. Der im „Himmel“ abwesende Jesus ist in seinem Wort und in unserer Liebe anwesend. Damit haben wir für Himmelfahrt unser Thema auf den Punkt gebracht. Die Worte Jesu sind weiterzutragen, immer wieder neu zu erzählen, den anderen zu kommunizieren und in unserem Handeln zu bezeugen: „Wie geht das mit dem gelingenden Leben?“ – „Eigentlich ganz einfach: Nicht nur an sich selbst denken. Den anderen berücksichtigen. Nichts für sich selbst zu sein zu vermögen. Den Nächsten lieben wie dich selbst. Wer ist dein Nächster? Der Dich braucht.“ Dann und darin ist der Abwesende anwesend: in unserer Liebe. „Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Johannes 4,16; Herbert Braun hat das in der theologischen Nachfolge der drei Meister noch einmal radikalisiert und umgekehrt: „Liebe ist Gott“. Dem konnten aber die wenigsten folgen.)

Die nichtmythologische Interpretation des Johannes von Himmelfahrt ist geeignet, sogar der Seuche standzuhalten. Sie bereitet uns auf das Ertragen von Abwesenheit vor: unsere eigene im von uns für normal gehaltenen Leben, die von unseren Nächsten in unserem sozialen Nahbereich, die von uns und den meisten in Kirche und Gemeindehaus – und trotzdem Nähe, das Miteinander, sogar das Ineinander zu wissen! Wir sollen das aushalten, ohne die religiöse Normalform auszukommen. Sie lehrt uns Absenzbewätigung, indem wir das unter Extrembedingungen gerade Mögliche uns genügen lassen: aus Gottes Wort den anderen lieben – sogar, wenn der gar nicht da ist, was für eine Pointe!

Ich in ihnen und du in mir, auf dass sie vollkommen eins seiendamit die Liebe, mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen.

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 17. Mai 2020, 5. Sonntag nach Ostern, Sonntag „Rogate“

Wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, um sich vor den Leuten zu zeigen. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten. Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet. Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel!Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme.Dein Wille geschehewie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brotgib uns heute.Und vergib uns unsere Schuld,wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.Und führe uns nicht in Versuchung,sondern erlöse uns von dem Bösen.Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben. (Matthäusevangelium 6, 5-14)

Zu den verrückteren Vorschlägen in dieser verrückten Zeit gehört, dass wir, um unsere Hände ausreichend lange zu waschen, dabei das Vaterunser sprechen sollen: Es habe dafür (genau: zum Händewaschen!) genau die richtige Länge. (Wir hören diesen Rat von einem Pfarrer und Liedermacher unserer Kirche, dem wir auch so zarte Blüten des Neuen Geistlichen Liedes verdanken wie „Wir wollen aufsteh´n, aufeinander zugeh´n, voneinander lernen, miteinander umzugeh´n“, das sich schon im Intro zu den unsterblichen Zeilen hinaufschwingt: „Dab dab da be du da dap/ dap dap da be du da/ dap dap da be du da dap/ dap dap da be du da“, was im besten Fall Glossolalie, die ja in diese pfingstliche Zeit passen würde, aber doch eigentlich bloß heidnisches Geplapper ist. [Wobei der unerbittlich bittende Bittlinger hier auch nur eine urdeutsche Traditionslinie aufnimmt, nämlich den stetig stabreimenden schnörkelig schwurbelnden schwellenden Wagnerschern Rheinwellengesang: Wagalaweia. Auweia!])

Verrückt und nur als Verrücktheit erwähnenswert ist dieser Rat nicht etwa, weil er uns das Händewaschen in ausreichender Dauer empfiehlt (wobei man sich wundern kann, dass ein Ratschlag, mit dem uns unserer Mütter durch die Kindheit verfolgten, solche Aufmerksamkeit verdient. Es versteht sich doch eigentlich von selbst, beim Nachhausekommen, vor und nach dem Essen [und dem Gegenteil, auf das wir noch zurückkommen, s.u.] gründlich die Hände zu waschen), sondern weil er das vielleicht schönste und prägnanteste und bekannteste Gebet der Religionsgeschichte als heidnisches Geplapper missbraucht – das zu vermeiden und dem zu entgegnen, Jesus ausdrücklich empfiehlt: Ihr sollt nicht viel plappern wie die Heiden!

Genau umgekehrt wäre demnach zu empfehlen, ein Gebet, und gerade dieses so bekannte Gebet nur dann zu sprechen, wenn ich auf seine Worte hören kann und will. Alles andere ist gottvergessenes, gotteslästerliches Geplapper, das Gottes Namen entheiligt. Denn auf das gleichfalls berühmte 1. Gebot der Zehngebote „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes nicht unnützlich führen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht“ (2. Mose 20) bezieht sich das Vaterunser: Dein Name werde geheiligt!

Nicht viele Worte machen: „Fasse Dich kurz“ – das war (neben der mütterlichen Aufforderung die Hände zu waschen) der elterlich daherkommende Rat der Deutschen Bundespost (Gott hab´ sie selig!) an ihre Nutzer der gelben Telefonzellen (dito!). Andere sollten auch eine Chance haben zur fernmündlichen Kommunikation und billiger wäre es ja auch. Auf den Punkt kommen! Nicht den Faden verlieren! (Ein Rat an den Predigttexter!) Zwar alles sagen, aber nicht alles noch einmal (Karl Valentin!) oder noch einmal, und dann aber umständlicher (Hauck&Bauer)! Wobei ich nicht glaube, dass es Gott an Geduld fehlt mit unserem Gebet, anders als uns oder jedenfalls mir, der ich innerlich abschalte, wenn mich eine überumständliche Erklärung langweilt und dann auch den interessanteren Teil nicht mitbekomme, um den es geht und um den es mir dann leid tut. Wenn wir unsere Anliegen vor Gott bringen, ihn anrufen (!), also auf die ganz altmodische Weise fernmündlich kommunizieren: „Er ruft mich an, so will ich ihn erhören“ (Psalm 91,15) – das ist ja das Geheimnis und die Verheißung des Gebets von Gott her – dann interessiert er sich für uns. Das ist umso erstaunlicher, weil er unsere Anliegen ja kennen dürfte – und zwar noch bevor wir sie gekannt haben! Sich beim Gebet kurz zu fassen, nicht viele Worte zu machen, sich zu konzentrieren – das soll nicht etwa Gottes Geduld mit uns schonen, sondern vielmehr uns helfen, uns darauf richten, uns konzentrieren und orientieren auf das, was jetzt dringlich und was bleibend wichtig ist.

Und weil man am besten am guten Beispiel lernt, zeigt Jesus uns im Vaterunser in wenigen Worten, wie die großen, bleibend wichtigen Themen des Glaubens vor Gott gebracht werden: Schöpfung, Schuld und Sühne, das Böse und Erlösung davon. Darum geht es beim Beten (oder man lässt es gleich) und daran angelehnt kann ich meine Anliegen an Gott im jetzt Dringlichen konkretisieren:

Unser tägliches Brotgib uns heute: Formuliert meine geschöpfliche Abhängigkeit in der Bitte nach dem, was ich täglich brauche, also: „Alles was Not tut für Leib und Leben, wie Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromme Eheleute, fromme Kinder, fromme Gehilfen, fromme und treue Oberherren, gute Regierung, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und dergleichen.“ (Martin Luthers Kleiner Katechismus von 1529) Also auch: Medizin, Impfstoff, gute Pflege, Forschung, kluge und mitfühlende Ärztinnen – nicht nur in diesen Tagen.

Und vergib uns unsere Schuld,wie auch wir vergeben unsern Schuldigern: Weiß davon und rechnet damit, dass ich Schuld auf mich lade, unweigerlich; dass es oft nur zweitbeste Lösungen gibt; dass persönliche aber auch politische Entscheidungen nicht an der besten idealen sondern an der besten möglichen Lösung zu messen sind, solange wir eben bloß in der besten aller möglichen Welten leben. Das können wir deshalb getrost bitten, weil wir einen gnädigen Gott haben: „Er wolle es uns alles aus Gnaden geben, obwohl wir täglich viel sündigen und nichts als Strafe verdienen.“ Und das hat Folgen für uns Rechthaber, Streithammel, Wutbürger, Reizbare und Empörte: „So wollen wir wiederum auch herzlich vergeben und gerne wohltun denen, die sich an uns versündigen.“ (Luthers Kleiner Katechismus)

Und führe uns nicht in Versuchung,sondern erlöse uns von dem Bösen. Legt alles, auch die Schrecken, die uns treffen, in Gottes Hand. „Gott versucht zwar niemand; aber wir bitten in diesem Gebet, dass uns Gott behüte und erhalte, damit uns der Teufel, die Welt und unser Fleisch nicht betrüge und verführe in Missglauben, Verzweiflung und andere große Schande und Laster“ (Luthers Kleiner Katechismus).

In seiner Schrift „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“ (1527; zwei Jahre vor seinem Kleinen Katechismus; es kann durchaus gute Theologie in bösen Zeiten geben!) reagiert Luther auf die Seuche und die Schrecken seiner Zeit (nämlich die Pest). Er schreibt sie dem Wirken des Teufels zu, der für Luther gleichzeitig Gegenspieler und Werkzeug Gottes ist. Das sprengt zwar den Rahmen unserer modernen harmlosen Theologie (zusammengefasst in dem berühmten Wort des amerikanischen Theologen H. Richard Niebuhr: „A God without wrath brought men without sin into a Kingdom without judgment through the ministrations of a Christ without a Cross“) – so wie unsere verdammte Seuche jeden Denkrahmen sprengt und uns unser normales Leben um die Ohren fliegen lässt. Aber wenn man Luthers mittelalterlich-katholischen Teufel als Symbol des Bösen und dessen Verhältnis zu Gott weniger als reinen Widerspruch (als Geist, der stets – bloß – verneint) sondern dialektisch auffasst (also als Geist, der stets verneint und darin trotzdem nicht anders kann, als Gottes Willen ausführen) , verstehen wir uns und diese Zeit vielleicht besser als bisher. Irgendwie muss man das Böse auf den Begriff bringen, sonst schadet es uns umso mehr.

In der Seuche begegnet uns als weltweite Gemeinschaft eine alle betreffende – darin „allmächtige“ (also pseudo-göttliche!) – Destruktivität, die bislang nicht zu bekämpfen ist, schon gar nicht individuell oder regional oder national (und schon gar nicht durch „Krieg“, wie es die hilfloseste aller Metaphern will), sondern vor der man sich nur – gut mittelalterlich – zu verkriechen versuchen kann: Quarantäne, Kontaktbeschränkung, Lockdown. Das aber überfordert uns Menschen als soziale Wesen, die auf Gemeinschaft aus sind (noch der „Asoziale“ braucht die anderen zum Piesacken!) und es produziert Stressreaktionen, die – wie Luther erlebt hat und wir das nun erleben – typischerweise in zwei Richtungen losgehen (jedenfalls aber nach hinten; Luther war auch derb skatologischer Theologe und verortete den Teufel auf dem Abort! [Noch ein Grund fürs gründliche Händewaschen, s.o.]): „Aber wenn’s so zugeht, dass ein Teil allzu verzagt ist und seinen Nächsten in der Not flieht, der andere Teil allzu dummkühn und hilft nicht wehren, sondern mehren, da hat der Teufel gut machen und muss wohl das Sterben groß werden. Denn auf beiden Seiten wird Gott und Mensch höchlich beleidigt, hier mit Versuchen, dort mit Verzagen; so jagt denn der Teufel den, der da flieht, und behält gleichwohl den, der da bleibt, so dass ihm niemand entläuft.“ Ich persönlich finde die Dummkühnen, die die Gefahr leugnen und unter ihren Aluhüten Idiotien ausbrüten weitaus erschreckender als die, die sich zuhause und hinter ihrem Mundschutz verkriechen (was wohl zeigt das ich zur zweiten Gruppe der vom Teufel Gefangenen gehöre, der ja alle gefangen hält!).

Mindestens bis zur Wiederherstellung des ungefährdeten Lebens, wie wir modernen Menschen es von der Moderne erwarten (etwa durch einen Impfstoff) – aber in Wahrheit solange es Menschen gibt und geben wird, ist uns die Bitte um Erlösung geraten, erlöse uns von dem Bösen: „Wir bitten in diesem Gebet, dass uns der Vater im Himmel vom Bösen und allem Übel an Leib und Seele, Gut und Ehre erlöse und zuletzt, wenn unser Stündlein kommt, ein seliges Ende beschere und mit Gnaden von diesem Jammertal zu sich nehme in den Himmel.“ (Luthers Kleiner Katechismus)

Denn der hoffentlich kommende Impfstoff wird uns nur vor dieser Krankheit schützen, erlösen wird er uns nicht. Er wird keine Unsterblichkeitsmedizin sein (kein „Pharmakon Athanasias“, wie die Alten das Abendmahl nannten – und selbst das ist es nicht!). Das vergessen wir ja bisweilen – und auch daran erinnert uns Jesus, damit unser Gebet kein Geplapper wie bei den Heiden sei – dass wir Gott um ein gutes Leben und um einen guten Tod bitten mögen – in der durch keinen Teufel und durch keine Seuche überwindbaren Hoffnung, dass Gott sich am Ende durchsetzen werde: Dein Reich komme.Dein Wille geschehewie im Himmel so auf Erden.

Alles wird gut.

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 10. Mai 2020, 4. Sonntag nach Ostern, Sonntag „Kantate“

Da versammelte Salomo alle Ältesten Israels, alle Häupter der Stämme und die Fürsten der Sippen Israels in Jerusalem, damit sie die Lade des Bundes des HERRN hinaufbrächten aus der Stadt Davids, das ist Zion. Und es versammelten sich beim König alle Männer Israels zum Fest, das im siebenten Monat gefeiert wird. Und es kamen alle Ältesten Israels, und die Leviten hoben die Lade auf und brachten sie hinauf samt der Stiftshütte und allem heiligen Gerät, das in der Stiftshütte war; es brachten sie hinauf die Priester und Leviten. und alle Leviten, die Sänger waren, nämlich Asaf, Heman und Jedutun und ihre Söhne und Brüder, angetan mit feiner Leinwand, standen östlich vom Altar mit Zimbeln, Psaltern und Harfen und bei ihnen hundertundzwanzig Priester, die mit Trompeten bliesen. Und es war, als wäre es einer, der trompetete und sänge, als hörte man eine Stimme loben und danken dem HERRN. Und als sich die Stimme der Trompeten, Zimbeln und Saitenspiele erhob und man den HERRN lobte: »Er ist gütig, und seine Barmherzigkeit währt ewig«, da wurde das Haus des HERRN erfüllt mit einer Wolke, sodass die Priester nicht zum Dienst hinzutreten konnten wegen der Wolke; denn die Herrlichkeit des HERRN erfüllte das Haus Gottes. (2. Chronik 5,2-14)

Endlich mal was los im Tempel: alles voll, dazu 120 Bläser, jede Menge Zimbeln, Harfen und Saitenspiele. Singt dem Herrn ein neues Lied, jubelt ihm zu auf euren Instrumenten, erfüllt den Raum mit Musik und heiligem Lärm.

Oje, so kriegen wir das noch nicht einmal ohne Corona hin, wenn uns gerade keine Seuche in die Parade fährt und den Cheruben die Flügel stutzt. Eine volle Kirche mit jubelnder Musik und vollem Gesang gibt es in der Thomaskirche eigentlich nur zu Weihnachten und an der Konfirmation. Aber so wäre es schön gewesen, das Ende der Seuche und das Ende der Einschränkungen zu feiern. In meiner Naivität hatte ich mir im März das so vorgestellt, dass wir spätestens an Pfingsten aus dem Gröbsten raus sind und dann erstmal feiern: volle Hütte und jede Menge Musik, Orgel, Bläser, Saitenspiele, Sängerinnen und Sänger.

Jetzt müssen wir erstmal klein wieder anfangen. Ein erster tastender Schritt aus dem Schneckenhaus heraus ist gemacht, Sicherheitspläne ausgedacht, Hygienekonzepte konzipiert; hoffentlich tritt uns niemand auf die Fühler, dass wir wieder zurückmüssen wegen des großen Schreckens. Deshalb lieber behutsam und vorsichtig und schrittweise hinaus in das Leben, hinaus in die Welt und der Jugend – auch der verblichenen Jugend – eben noch nicht wieder umstandslos genossen (um es mit den Worten eines alten Studentenliedes zu sagen). Die ersten Unternehmungen sollen uns Tests sein; wie Noah seine Tauben nach der großen Flut hinaussandte und erst wenn die wieder allein zurechtkommen und wegbleiben, können wir aufatmen und die Schutzarche verlassen. (Allerdings ist das kein wirklicher Beweis und war es auch nicht zu Noahs Zeiten. Aus der bloßen Abwesenheit, ex negativo, lässt sich gar nichts beweisen. Denn es hätte der Taube ja auch etwas zustoßen können, Verletzung, Tod durch Erschöpfung, Beute eines Raubvogels, willkommene Speise – Taubenbraten! – eines anderen Noah, von dem die Welt und die Bibel nur nicht gehört hat. Dass es den nicht gegeben hat, schließen wir auch bloß ex negativo, also logisch zweifelhaft.) Die Gefahr aber wird vorerst bleiben – im besten Fall unsichtbar.

Dennoch: Ein bisschen was darf eben schon schon los sein. Wir können uns auf Orgel und Klavier und das Spiel unserer Gabriela Blaudow freuen und an einigen Sonntagen wird auch Lisa Rau für uns singen, wenn wir das selbst noch nicht dürfen, heute eben und auch an Pfingsten. Dass Gottesdienste nun eine Zeit lang ohne Gemeindegesang stattfinden müssen, wird uns noch viel deutlicher zeigen, wie sehr das gesungene Gotteslob dazu gehört, wie wichtig um nicht zu sagen „systemrelevant“ für das System Gottesdienst der gemeinsame Gesang ist. Noch nicht einmal der himmlische Gottesdienst kommt ohne Gesang aus (sagen die, die in den Himmel schauen konnten: Jesaja und Johannes), geschweige der Gottesdienst von uns Menschen – nicht nur wenn ein neuer Tempel eingeweiht wird: alle Leviten, die Sänger waren, nämlich Asaf, Heman und Jedutun und ihre Söhne und Brüder, angetan mit feiner Leinwand, standen östlich vom Altar mit Zimbeln, Psaltern und Harfen und bei ihnen hundertundzwanzig Priester, die mit Trompeten bliesen. Und es war, als wäre es einer, der trompetete und sänge, als hörte man eine Stimme loben und danken dem HERRN. Was für ein herrlicher Lärm muss das gewesen sein!

Und … Dann passiert etwas völlig Unerwartetes, etwas, das man leicht überlesen kann, weil es so unerwartet und überraschend kommt („and now for something completely different“): da wurde das Haus des HERRN erfüllt mit einer Wolke… die Herrlichkeit des HERRN erfüllte das Haus Gottes.

Gott selbst erscheint in seiner Wolke und erfüllt das Haus Gottes. Will er das Fest durch seine Anwesenheit ehren, hervorgelockt durch den lauten Klang? Oder will er für Ruhe sorgen, weil er sich gestört fühlt vom Lärm der Menschen? Dass Gott Stille bevorzugen könnte, ja lärmempfindlich sein könnte, wird an einigen Stellen in der Bibel angedeutet, etwa wenn Gott sich entscheidet, nicht in Lärm und Spektakel zu erscheinen, sondern im sanften Säuseln des Windes (vgl. die Eliageschichte, 1. Könige 19); oder wenn Gott sich aus seiner Wohnstatt, dem Himmel, herniederbeugt zum lautstarken Gebabbel derer, die den Turm zu Babylon errichten, und diesen zum Einsturz bringt und die lärmenden Menschen zerstreut (Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. … So zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. 1. Mose 11). Das wäre dann so eine Art hausmeisterlicher Impuls, den auch Pfarrer kennen, wenn die bösen Buben es zu laut auf dem Kirchenvorplatz treiben.

Aber vielleicht ist seine unerwartete Anwesenheit im Tempel doch eher im Gegenteil als Anerkennung zu verstehen, wie von jemandem, der ein Ständchen dargebracht bekommt und es sich nicht nehmen lässt, es leibhaftig und persönlich entgegenzunehmen. Gewaltiger Lärm entfaltet nicht nur gewaltige Wirkung (die Posaunen vor Jericho, die die älteste Stadt der Welt zerlegten, Buch Josua 6) sondern vermittelt ebenfalls gewaltige Ehre (hörbar, beinahe fühlbar im Schlusschor von Bachs Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“: „Lob und Ehre und Preis und Gewalt sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen. Alleluja.“ BWV 21; das ist steigerbar, vielleicht nicht in der musikalischen Qualität aber als Lärmerlebnis, z.B. in William Waltons „Belshazzar´s Feast“, das nur einen winzigen Schritt vor der musikalischen Körperverletzung Halt macht, und damit ein würdiger Vertreter des noch zu erfindenden „Church Metal“ auf dem Festival in Wacken wäre; ok, das ist jetzt übertrieben, aber nur ein bisschen.) Gerade die Orgel, als Kircheninstrument, das auch leise kann aber im Jubellärm seine Möglichkeiten erst ausschöpft, setzt auf musikalische Überwältigung. Man darf sich ein Orgelkonzert der französischen Romantik denken (Boellmann, Widor, Vierne; oder einen Zeitgenossen von uns aber in dieser Tradition: Olivier Messiaen: Apparition de l´église éternelle, das ich die ersten Male von einem Schulfreund an der Orgel in der Lutherkirche gespielt gehört habe und das einem musikalischen Erweckungserlebnis gleichkam), um sich den heiligen Lärm vorzustellen, der Gottes Erscheinung in unserer Szene präludiert und dann begleitet: Theophanie!

Und … Dabei passiert abermals etwas völlig Unerwartetes, eigentlich etwas noch viel „Unerwarteteres“ (vielleicht grammatikalisch unklug hier einen Komparativ zu wählen) etwas, das man leicht überlesen kann, weil es so unerwartet und überraschend kommt („and now for something – even more – completely different“, auch im Englischen kann man falsch steigern!): die Priester konnten nicht zum Dienst hinzutreten wegen der Wolke, denn die Herrlichkeit des HERRN erfüllte das Haus Gottes.

Gott verdrängt die Priester, die Geistlichen, die Kleriker. Wenn das keine Pointe ist! In Gottes Haus ist nicht genug Platz für Gott und seine Diener; wenn Gott da ist, braucht es die Menschen nicht mehr, die zuvor auf ihn verwiesen haben. Die wahre Realpräsenz ersetzt die erinnerte und erhoffte, die ersehnte und imaginierte Gegenwart Gottes. Das darf neben der Anregung über Musik als Medium religiöser Begeisterung und als Quelle religiöser Offenbarung nachzudenken (hier wäre noch so unendlich viel mehr zu bedenken und zu nennen als oben schon getan, je nach Geschmack: Motetten von Schütz und Schubertlieder, Mozartopern und wenigstens op. 111 von Beethoven; von der populären Musik ganz zu schweigen, die uns aber doch auch aufwühlen, mitreißen, in Bewegung setzen kann; jede Liste ist albern und willkürlich und dennoch berechtigt, denn wir können sie uns ja gegenseitig empfehlen. Was gehört für Dich dazu?) als eigentlicher Fund unseres Textes gelten: Das wir Geistliche, Kleriker, Priester eigentlich gar nicht brauchen, dass sie keinen Platz haben neben Gott. Und umgekehrt, dass deren Ego andererseits bisweilen keinen Plätz lässt für Gott.

Das haben wir doch schon so oft erlebt und bestimmt auch wieder in diesen verrückten Zeiten, die wir gerade erleben. Wenn nämlich – live gestreamt, per podcast oder wie auch immer – so viel von sich und so wenig von Gott gesendet wird. Da können wir es mit Händen greifen und mit unserem Predigttext nun auch benennen: Wenn die Herrlichkeit Gottes das Haus erfüllt, können die Priester nicht herzutreten, was ja im Umkehrschluss heiß: Wenn die Herrlichkeit der Priester das Haus erfüllt, tritt Gott nicht herzu.

Wie gut, dass jetzt allmählich wieder Gottesdienste mit Gemeinde stattfinden können, die wie ein Mobile Musik und Worte, Geistliche und Laien, Menschliches und Göttliches ausbalancieren, ausgleichen, oder doch zumindest auszugleichen versuchen. So geht Gottesdienst – oder gar nicht.

Klaus Neumann

Predigttext für den 3. Mai 2020, 3. Sonntag nach Ostern, Sonntag „Jubilate“

Jesus spricht: Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger. (Johannesevangelium 15,1-18)

Ein Gleichnis wie für uns gemacht, die wir beinahe im Rheingau wohnen, und mit dem Neroberg auch einen Weinberg mitten in der Stadt und einige Glückliche von uns sogar als Ausblick aus dem Fenster haben. Manchmal, wenn ich jemanden in der Händelstraße oder in der Rosselstraße besuche, muss ich mich erst ein paar Minuten ans Fenster stellen und den herrlichen Blick auf die Griechische Kapelle (ich weiß, dass sie eine russische Kirche ist!) und den Weinberg am Neroberg genießen (der mir aus zwanzig Kindheitsjahren von der anderen Seite des Nerotals so vertraut ist). Das kann leicht unhöflich wirken, ist aber nicht so gewollt und wird dann vielleicht durch das neidische Kompliment etwas gut gemacht, dass das nun wirklich ein herrlicher Ausblick sei (was beweist, dass Komplimente nicht lügen müssen).

Selbst in diesen irren und wirren Zeiten sind kurze Abstecher und lange Wanderungen – streng nach häuslichen Gemeinschaften isoliert, versteht sich – in den Rheingau, in die Weinberge möglich. Außer den Weingärtnern ist da jetzt kaum jemand, selbst an sonnigen Tagen ist es da gerade viel leerer als im – gleichfalls wunderbaren – Wiesbadener Stadtwald (also zur Erholung müssen wir uns jedenfalls nicht lange ins Auto oder gar in den Flieger setzen; so schön wie bei uns muss es anderswo erstmal sein). Man konnte in diesen Tagen den Buchen beim Grünen und den Weinstöcken beim Austreiben zuschauen. Und man bekommt bei den Arbeiten im Weinberg selbst als önologischer Laie (als solcher kann man ja trotzdem Amateur sein) einen Hauch von Ahnung und jede Menge Respekt vor der Kulturleistung, die der Weinbau darstellt, den uns bekanntlich die Römer vererbt haben. Manchmal – schon gegen den Mittelrhein zu, also ab Rüdesheim etwa – wird in geradezu abenteuerlichen Steillagen die Erde gepflügt, das Unkraut beseitigt, jeder einzelne Trieb gepflegt, keine Mühe gescheut, damit der Wein wächst und der Wein des Menschen Herzerfreue (Psalm 104).

Aber selbst im wunderbaren Geschenk des Weins zeigt sich die Ambivalenz, die alle Natur und die ganze Schöpfung regiert (wie ja auch die Überbringer dieses Geschenks, die Römer bekanntlich nicht nur Kultur und Weinkultur überbrachten sondern auch grausame Eroberer und Sklavenhalter waren). Aus dieser geschöpflichen Ambivalenz kommen wir nicht heraus: Der Wein, zu rechter Zeit und in rechtem Maß getrunken, erfreut Herz und Seele. Aber wenn man zu viel davon trinkt, bringt er Herzeleid. (Jesus Sirach 31) „Alkoholsensibel“ (für diese Vokabel verweise ich dankbar auf den Gesundheitsminister) ist nicht nur das Virus selbst, sondern auch wir als Träger, was wir als Jugendliche mit dem ersten Kater erleben und gar nicht wenige von uns in Krankheit und Sucht erleiden. In der kulturell tolerierten, was sage ich: In der unsere Kultur prägenden Droge Alkohol zeigt sich wie im Brennglas die Ambivalenz des Genusses, sein Segen und Fluch zugleich. Nicht von ungefähr waren die ersten Hotspots der Seuche auch Orte der alkoholgesteigerten Lebensfreude wie Karneval, Tanzclub und Apres-Ski. (Der in diesen Tagen hochbetagt gestorbene schwedische Dichter Per Olof Enquist hat seine alkoholischen Qualen und die Kämpfe gegen die Sucht – die er gewann! – aus der herzzerreißenden Innensicht beschrieben in seinem Buch „Ein anderes Leben“ – auch um andere „alkoholsensibel“ zu machen. Unbedingt (wieder)lesen!)

So hat der freimütige Umgang Jesu mit dem Wein (seine Gegner haben ihn als „Fresser und Weinsäufer“ beschimpft) seit jeher verwundert. Sein Umgang mit dem Wein als Bild des Heils muss irritieren (in den dazugehörigen Geschichten wird nicht etwa der übermäßige Alkoholkonsum: wenn sie betrunken sind, getadelt sondern auch noch Wasser in immer mehr Wein verwandelt! Johannesevangelium 2); ebenso der Weingenuss als Teil des Sakraments. So viel – zu viel? – Ehre für einen solch ambivalentes Geschöpf der ambivalenten Schöpfung wie den Wein. Warum? Vielleicht eben darum!

Wein verlangt uns Verantwortung ab, um Freiheit zu erleben; sein Genuss ist immer auch mit dem Risiko verbunden, daran zu scheitern. Wenn und solange wir aber diese Balance schaffen, kann unser Leben erhöht werden und viel Frucht bringen. Diese Idee liegt unserem Text zugrunde – glaube ich. Weder der vollständige Verzicht noch der übermäßige und darin destruktive Konsum sondern der verantwortliche genussvolle Gebrauch ist gemeint und bildet damit die schon (vielleicht ein bisschen zu oft) erwähnte Ambivalenz des geschöpflichen Daseins des Menschen ab. Und die wird erlebbar in der Gemeinschaft untereinander und mit Christus. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.Das Leben in Christus erhöht unser Leben.

Damit (in der Kulturbedeutung des Weins als Sinnbild unseres Lebens in und mit Christus) ist der Sinn unseres Textes sicherlich noch nicht erschöpft. Vielmehr beschreibt er bildlich, gleichnishaft die aus der eucharistischen (also Abendmahls-) Gemeinschaft hervorgehende mystische (d.h. verborgene) Verbindung mit Christus: Die Teilnehmer am Abendmahl werden Glieder am Leib Christi, am verborgenen, aber nichtsdestoweniger wirklichen und Wirklichkeit verändernden und am Ende sogar Wirklichkeit überwindenden Leib, – nämlich Glieder am die geschöpflichen Ambivalenzen zugunsten des Göttlichen Heils aufhebenden Leib Christi, damit Gott sei alles in allem (1. Brief des Paulus an die Korinther 15,28; worüber wir an Ostern nachgedacht haben). Während wir als wirkliche Menschen der wirklichen Welt am Abendmahl teilnehmen, werden wir – im Glauben! – schon zu Teilhabern einer noch verborgenen Wirklichkeit: Glieder am Leib Christi. Ich lebe, aber nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir (Brief des Paulus an die Galater 2,20; die „Mystik des Apostel Paulus“).

Jeder Teilnehmer am Abendmahl spürt (oder müsste eigentlich spüren), dass das Wesentliche verborgen ist; dass es jedenfalls nicht in den einzelnen Elementen besteht, auch nicht in der Gemeinschaft der zum Abendmahl Versammelten. Jeder Versuch, einzelne Elemente oder die Teilnehmer selbst als die Realität der Eucharistie zu präsentieren, muss scheitern (die aus evangelischer Sicht katholischen bzw. pfingstlichen Irrtümer der „Realpräsenz“), vielmehr bleibt Christus in, mit und unter der Feier (so die bleibende Formulierung Luthers) verborgen, aber als Verborgener ist er real präsent.

Die volle sichtbare Realität steht noch aus (allerdings als eine dem Glauben gewisse feste Zusage und nicht als vage Hoffnung auf einen Sankt-Nimmerleins-Tag), hat aber jetzt schon konkrete wirkliche Folgen: Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Früchte und Folgen können zusammengefasst werden im Begriff der Nächstenliebe, also der Fähigkeit, „nichts für sich selbst zu sein zu vermögen“ (nach der Wendung von Eberhard Jüngel). „Christus in mir“ bedeutet, dass ich nicht zur Selbstbehauptung gezwungen bin, dass ich mich nicht selbst verwirklichen muss, weil die für mich relevante Realität außer mir ist, eben in Christus. Und ich kann die freiwerdende Energie, die ich dann nicht mehr für mich verschwende, auf andere und anderes wenden: viel Frucht bringen! Anderen beistehen können wir auch ohne direkten Kontakt – nicht zuletzt, indem wir auf direkten Kontakt verzichten!

Und was bedeutet es, dass ich in diesen irren, wirren Zeiten keinen oder keinen gewohnten Gottesdienst und schon gar nicht mit Abendmahl feiern kann? Eigentlich weniger als befürchtet und weniger als beklagt. Mir fehlt sehr die Gemeinschaft mit den Geschwistern in Christus. Schmerzlich vermissen wir das sichtbare Zeichen, unter dem Christus konkret verborgen ist. Aber: der wäre und bliebe ja ohnehin verborgen, d.h. die Unmöglichkeit Abendmahlsgottesdienst zu feiern entzieht uns Christus nicht mehr, als dass er uns ohnehin entzogen ist (solange wir nicht dem katholischen oder dem pfingstlichen Irrtum über die Realpräsenz anhängen), zumal wir ja definitiv wissen, dass die Unmöglichkeit von Gottesdiensten zeitlich begrenzt ist. (Mit anderen Worten: Es ist schlimm, aber es gibt Schlimmeres in dieser Zeit, als auf den Gottesdienst zu verzichten!)

Wir bleiben Glieder am verborgenen Leib Christi – auch in der Phase, in der wir keine Gottesdienste in der gewohnten Form feiern können. (Manche evangelische Richtungen haben zu manchen Zeiten und Orten eine regelrechte „Abendmahlsscheu“ ausgebildet, so dass sogar ohne äußeren Zwang vielleicht nur einmal im Jahr die Eucharistie gefeiert wurde. Das muss man nicht wollen, aber es hat andererseits die solchermaßen abendmahlsscheuen Pietisten und etwa die Reformierten in Ostfriesland bestimmt nicht davon abgehalten, Glieder am Leib Christi zu sein.)

In dieser Phase ohne „normale“ Gottesdienste ist unsere Zuversicht gefragt auf ein Ende der Seuche („tutto andrá bene!“) und unsere Phantasie, Gott anders und auch zu Hause zu feiern: mit einem Vaterunser zum Glockenschlag am Mittag, mit einer Bibellesung, einem Hausabendmahl, mit den vielfältigen Angeboten im Fernsehen und im Internet. Wenn wir es glauben, bleiben wir Glieder am verborgenen Leib Christi. (Und ich werde auch mit meinen Lieben zu Hause einen guten Schluck Rheinwein trinken auf das Wohl der Lieben, die woanders sind – und dabei den Ambivalenzen meiner Geschöpflichkeit trotzen!)

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 26. April 2020, 2. Sonntag nach Ostern, Sonntag „Misericordias Domini“ (Hirtensonntag)

da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen; er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand; der, als er geschmäht wurde, die Schmähung nicht erwiderte, nicht drohte, als er litt, es aber dem anheimstellte, der gerecht richtet; der unsre Sünden selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden.Denn ihr wart wie irrende Schafe; aber ihr seid nun umgekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen. (1. Petrusbrief 2,21-25)

Der Herr ist mein Hirte: Der heutige „Hirtensonntag“ steht unter dem Leitbild des guten Hirten, eines besonders freundlichen und für viele von uns durch den 23. Psalm („Der Herr ist mein Hirte“) besonders vertrauten Gottesbildes. Wenn wir an Gott denken und ihn uns in unseren Gedanken abbilden, weil wir ihn ja nicht sehen und direkt erleben können, sollen wir an einen Hirten denken, der uns begleitet und führt, der für uns sorgt und uns beschützt.

Das Bild führt uns in eine pastorale Szenerie; gerade wir Stadtkinder sehen darin leicht ein ländliches Idyll ungetrübt vom Betrieb der Zivilisation, ein Leben im Einklang mit der Natur, in der der Hirte nicht der die natürliche Harmonie störende Eindringling Mensch ist (wie wir uns etwa in der Klimadiskussion wahrnehmen), sondern zum Bild des fürsorglichen und beschützenden Gottes wird, wie wir ihn uns wünschen.

Ohne solche religiöse Einbildungen wäre Glauben kaum möglich (ginge das überhaupt: bildlos glauben?). Aber selbst das so freundliche und vertraute Bild des Hirten teilt die Probleme aller Verbildlichungen Gottes. Ohne sie können wir zwar einerseits nicht glauben aber vor ihnen warnt andererseits schon die Bibel im Bilderverbot der 10 Gebote: Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnismachen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist:Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! (2. Buch Mose 20,4f.) Dieses Verbot hat verschiedene Gründe, letztlich aber will es unmissverständlich deutlich machen, dass kein irdisches, menschliches Bild auf Gott als den „ganz anderen“ zugreifen kann. Es geht um die Unverfügbarkeit Gottes. „Daher dürfen die Worte und Bilder, in denen der Glaube von Gott spricht, immer nur flüchtige Entwürfe … sein, welche die Wirklichkeit Gottes umkreisen, sie jedoch nicht definieren, wohl aber transparent werden lassen. Der Umgang mit ihnen gleicht dem Sprung von einer Eisscholle auf die andere; zu langes Verweilen führt zum Tod – nicht zum Tod Gottes, wohl aber des Gottesbildes.“ (So der seinerzeit populäre Theologe Heinz Zahrnt in einem Text von 1992)

Das soll uns eine Warnung sein, auch gegenüber diesem Gottesbild wachsam zu sein und seinen Gegenstand nicht für Gott selbst zu halten. Denn so wenig die Natur ein Idyll ist – zur Natur gehören die dunklen Täler, weiß schon der 23. Psalm; zur Natur gehören auch Wölfe, die Schafe reißen, sogar wieder bei uns, und die der Herde wie dem Hirten das Leben schwer machen; und zur Natur gehören auch Viren, die Menschen krank machen und eine Weltgesellschaft damit lahm legen – so wenig also die Natur ein Idyll ist, in der sich Schafe Hirten wünschen (vermutlich wünschen sie sich viel eher Freiheit auf einer grünen Aue am frischen Wasser), so wenig will ich mich als Mensch als Teil einer Herde sehen, die ihrem Hirten – teils willig, teils ängstlich – folgt. Ich bin doch kein Schaf! Soll ich mir dann wirklich Gott als einen Hirten vorstellen und wünschen?

Hinzu kommt: Die Sehnsucht nach einem guten Hirten macht ihn noch nicht zu einem – nämlich zu einem guten Hirten. Ich kann zwar davon ausgehen – und soweit stimmt das Bild – dass es ein Hirte gut meint, denn das Wohlergehen seiner Schäflein ist in seinem eigenen Interesse, aber ich muss auch davon ausgehen, dass es mehr und weniger kompetente Hirten und „Bischöfe“ (nach dem griechischen Wortsinn „Aufseher“, d.h. verantwortliche Leiter, also Regierende) gibt, wie sich etwa im Bereich der großen Politik in Zeiten der Krise wie in einem Brennglas oder wie in einem Labor überdeutlich zeigt. Es ist überhaupt nicht egal, sondern es kommt darauf an, wer als Hirte und „Bischof“ regiert und führt. Wir erleben gerade weltweit den großen Unterschied zwischen politischer Idiotie und vernünftig sachlicher Regierung und alle möglichen Schattierungen dazwischen und die jeweiligen Auswirkungen auf Leib und Leben der „Herden“; die sind gravierend, können das Leben kosten oder können ein gutes, auskömmliches Leben auf Jahre kosten. Wenn der Wolf kommt, wenn das Virus kommt, zeigt sich, wie gut der Hirte ist, den ich mir erwählt habe. Im Ausnahmezustand, wenn es darauf ankommt, zeigt sich auch der schlechte Hirte (der flieht vor der Gefahr in dummes Geschwätz, haltlose Schuldzuweisungen und absurde Maßnahmen), gegen den die Herde nicht immun ist (wie auch gegen das Virus noch lange nicht.)

Und damit kommen wir zu dem vielleicht schwierigsten und problematischsten Aspekt unseres heutigen Predigttextes aus dem Petrusbrief. Der Autor (der uns unbekannt und nach Auskunft der Wissenschaft nicht der Petrus aus den Evangelien ist) setzt seine Worte von der Nachfolge und das Bild vom guten Hirten in einen eigentlich unmöglichen Zusammenhang. Er erweist sich damit selbst kaum als guter Hirte und Bischof seiner Herde angesichts der überaus schwierigen, einen Grenz- und Ausnahmefall markierenden Frage, welche Auswirkungen die evangelische Freiheit auf die Situation der Sklaven haben soll. (Das große Rom, das herrliche Griechenland, das alte Israel waren bekanntlich allesamt Sklavenhaltergesellschaften, also Gesellschaften, in denen Menschen nicht nur in ungleichen Verhältnissen lebten wie immer noch bei uns, sondern in denen ihre Ungleichheit als Rechtlosigkeit gegenüber den Freien festgeschrieben war.) Unser Autor fordert die christlichen Sklaven (wenn es mal ein Oxymoron gibt, dann das „christliche Sklaven“, denn: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! Paulus im Brief an die Galater 5,5) auf, in der Sklaverei zu bleiben – und das auch noch wegen ihres Glaubens: Ihr Sklaven, ordnet euch in aller Furcht den Herren unter, nicht allein den gütigen und freundlichen, sondern auch den wunderlichen. Denn das ist Gnade, wenn jemand um des Gewissens willen vor Gott Übel erträgt und Unrecht leidet. Denn was ist das für ein Ruhm, wenn ihr für Missetaten Schläge erduldet? Aber wenn ihr leidet und duldet, weil ihr das Gute tut, ist dies Gnade bei Gott. Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch … (unmittelbar unseren heutigen Predigttext einleitend und begründend). „Sklaven sollen Sklaven bleiben“ (nicht weil das in diesem Moment weltgeschichtlich und politisch nicht anders geht, was man als nüchtern, lebensklugen Ratschlag angesichts der Machtverhältnisse im römischen Reich verstehen könnte, sondern – so sagt und meint es doch tatsächlich unser Autor) um Christus in Treue nachzufolgen und um braves Schaf eines guten Hirten zu sein. Das ist ein böser Ratschlag.

Unser diffuses Unbehagen hat sich konkretisiert. Was zu beweisen war, hat sich gezeigt: Unser freundliches und vertrautes Gottesbild (das schon als antikes Wandbild in den römischen Katakomben begegnet mit einem jugendlichen Christus, der über seinen Schultern ein Schäfchen trägt) lässt sich ganz offensichtlich missbrauchen zur theologischen Still- und Durchhalteparole. Die Bilderskeptiker haben recht. Aber: Wie lässt sich das Bild in einer Art „zweiten Naivität“ wiedergewinnen?

Mir hilft es – vielleicht ja auch anderen – mich durch die Worte und Bilder der Bibel so wie heute durchzuarbeiten, sie in allen ihren Aspekten und Schichten durchzukauen und regelrecht wiederzukäuen, um sie dann auch verdauen zu können (vom Schaf zum Rindvieh, das ist auch eine Karriere!). Dann weiß ich, dass sich menschliche Worte über Gott wie alle menschlichen Worte missverstehen lassen und missbrauchen lassen, dass aber auch das nur ein Aspekt unter anderen ist und dass sie trotz ihrer Anfälligkeit und Verletzlichkeit oder gerade darin ihre Wahrheit und ihre Zärtlichkeit haben: Der Herr ist mein Hirte. Dabei will ich bleiben.

Gerade in den Worten des 23. Psalms höre ich nämlich die unzähligen Male mit, die ich ihn gesprochen und gebetet oder für andere gebetet habe; und die Male, wenn die Konfirmanden ihn sich angeeignet und gegenseitig erklärt haben; und auch wenn ein vergangenes Leben mit seinen Worten erklärt und nacherzählt wird vor Gott und den Menschen (so wie das Leben der Mutter durch den guten Pastor Geißler von der Lutherkirche nacherzählt und erinnert wurde):

Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir

In diesen Worten vom guten Hirten ist Gott bei mir.

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 19. April 2020, Sonntag Quasimodogeniti, 1. Sonntag nach Ostern

Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden. (Buch des Propheten Jesaja 40, 26-31)

Neue Kraft kriegen, auffahren mit Flügeln wie Adler, laufen und nicht matt und müde werden – so soll es sein nach dieser bleiernen Zeit der Lähmung, der Unsicherheit, des vielfältigen Leidens, die wir jetzt erleben in der Corona-Quarantäne! – So wie das Volk Israel es zur Zeit des Propheten Jesaja gehört und erlebt hat nach Eroberung des Landes, Verschleppung der Bevölkerung, dem Verlust der Heimat, dem Exil und dann der ersten Ahnung eines Neuanfangs.

Mit dem 40. Kapitel beginnt im Buch des Propheten Jesaja etwas ganz Neues: Aus dem Unheilspropheten des ersten Teils wird der Heilsprophet eines Neuanfangs. Das ist ein so großer Bruch in Ton und Stimmung, dass die Forscher davon ausgehen, dass hier ein anderer (vielleicht ein Schüler) spricht unter dem Namen Jesaja, dem sie folglich den Kunstnamen „Deuterojesaja“ (griechisch für „der zweite Jesaja“, es gibt sogar noch einen dritten im selben Buch) gegeben haben. Dieser Neuanfang zeigt, dass religiöse Kommunikation, wie ja auch politische Kommunikation insbesondere in Krisenzeiten eine Frage des Timings ist: Angesichts einer nahen, möglicherweise durch geeignete Maßnahmen noch abzuwendenden Katastrophe ist ganz anders zu sprechen als mittendrin in Chaos und Verderben, und wieder anders, wenn sich schon ein Silberstreif zeigt („Silver Linings“: unbedingt [wieder]sehenswert in diesen Zeiten mit der überaus unvergleichlichen, das Leben trotz aller Widrigkeiten und Beschädigungen feiernden Jennifer Lawrence!).

Aber das ist natürlich auch die besondere Aufgabe des Propheten damals – wie der Experten und der politisch Verantwortlichen heute: Zeit und Zeichen richtig zu lesen („reading the signs“, ein Motiv in dem gerade genannten Film; wer Ohren hat zu hören, der höre! Weißt du nicht? Hast du nicht gehört?), damit einem die prognostizierte Wahrheit nicht auf die Füße fällt und über den Tag „schal“ wird (nach der hinreißenden Wendung Hegels: „Auf die Frage: was ist das Jetzt antworten wir also zum Beispiel: das Jetzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewißheit zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; ebensowenig dadurch, daß wir sie aufbewahren. Sehen wir jetzt, diesen Mittag, die aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen, daß sie schal geworden ist.“)

Also: Ist das jetzt wirklich schon der Silberstreif? Kann von einer „Beherrschbarkeit des Seuchengeschehens“ wirklich ausgegangen werden, wie es Experten und Minister in unserem Land (anderswo sieht es anscheinend immer noch viel, viel schlimmer aus) in dieser Woche – ziemlich mutig, hoffentlich nicht übermütig – formuliert haben? Können wir aus dem Exil der Kontaktbeschränkungen allmählich zurückkehren in die Heimat unseres normalen Lebens?

Zumindest heutzutage werden keine Propheten oder Theologen zu diesen Themen gefragt oder ungefragt gehört. Das ist gut so, weil sich das prognostische Besteck in den vergangenen zweieinhalbtausend Jahren seit den Zeiten des Jesaja beträchtlich verfeinert hat, Mediziner und Ökonomen (Medizin hat zwangsläufig ökonomische Aspekte, denn sie muss bezahlt werden) haben das Wort. (Und wenn Leute wie Professor Christian Drosten das Wort führen, kann man sich beinahe für Virologie begeistern; übrigens nicht obwohl sondern weil auch er sich schon geirrt haben soll.)

Gleichzeitig betrübt mich die augenscheinliche Irrelevanz der Religion, wie sie sich in der beinahe vollständen Abschaltung des sichtbaren religiösen Lebens – und mehr noch in der klaglosen Hinnahme derselben durch uns Glaubende – zeigt, ausgerechnet in der österlichen Fest- und Jubelzeit! Diese Abschaltung ist für Kirchen und Gemeinden wie eine zwangsweise Einübung in das „religionslose Christentum“, von dem Dietrich Bonhoeffer aus seinem Exil der Gefängnishaft sprach (und dessen Gedenkjahr aus Anlass seines gewaltsamen Todes vor 75 Jahren am 9. April 1945 nun wegen der aktuellen Krise viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Das holen wir nach!). „Religionslos“ heißt heute in dieser Zeit, dass wir auf gemeinsame und öffentliche Äußerungen unseres Glaubens – auf Gottesdienste und auf den Besuch unserer Gottesdienststätten verzichten müssen. Dabei ist verständlich, dass unsere katholischen Geschwister darunter noch mehr leiden, da bei ihnen die Religion in diesem Sinne (also im Sinne ihrer sichtbaren gemeinschaftlichen Ausübung) eine größere Rolle spielt, als bei den Evangelischen, die wir auf viele – traditionell katholische oder als „katholisch“ empfundene – Formen des Religiösen bewusst verzichten – etwa auf geweihte Personen und Gebäude, viele Riten und Gebräuche, Wallfahrten oder Prozessionen.

Aber auch Evangelische leiden unter dem Entzug von Religionsfreiheit, wenn die Ausübung unseres Glaubens wie gegenwärtig aufs Private und Familiäre beschränkt ist; immerhin sind typisch evangelische Formen der Frömmigkeit wie die private Andacht über die Tageslosung oder die tägliche Bibellesung geradezu krisenfest und bestens geeignet für häuslich Isolierte. (Andererseits sollte die Kontaktsperre nicht zum Anlass genommen werden, „Gottesdienst“ oder gar „Abendmahl“ als Soloauftritt ohne Gemeinde zu spielen und ihr das per Videobotschaft vorzuführen, wie es leider selbst im evangelischen Bereich hier und da passiert.)

Die Regierung scheint davon auszugehen und wir folgen ihr stillschweigend, dass die Übung unseres Glaubens in gemeinschaftlichen religiösen Formen kein Lebensmittel sei und deshalb auch in Krisenzeiten nicht – noch nicht einmal in stark reduzierter und reglementierter Form – verfügbar sein müsse (geschweige denn, dass eine Öffnung von Fahrradläden bei gleichzeitiger Schließung der Kirchen zu rechtfertigen wäre). Darüber sollten wir murren und erinnern: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“ Auch und gerade in der Krise leben wir nicht nur darin, dass wir unsere natürlichen Lebensfunktionen erhalten, sondern aus dem, was unserem Leben Sinn gibt: Die Öffnung von Schulen, Bibliotheken, Museen, Theatern, Kinos und – ja auch von – Kirchen ist systemrelevant und – zwar nicht jedes Opfer aber – jede Anstrengung wert!

Deshalb wollen wir heute das prophetische Hebt eure Augen in die Höhe und seht! als eine Aufmunterung im Sinne eines kräftigen und zuversichtlichen „Kopf hoch! Alles wird gut“ hören, besonders aber als Verweis auf den Referenzpunkt unseres Lebens: auf Gott. Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Seine Macht und seine guten Mächte werden uns auch jetzt bergen, behüten und bewahren.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,/ erwarten wir getrost, was kommen mag./ Gott ist bei uns am Abend und am Morgen/ und ganz gewiß an jedem neuen Tag. (Dietrich Bonhoeffer 1944, aus der Gefangenschaft; Evangelisches Gesangbuch 65)

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 13. April 2020, Ostermontag

Als sie aber davon redeten, trat er selbst mitten unter sie und sprach zu ihnen: Friede sei mit euch! Sie erschraken aber und fürchteten sich und meinten, sie sähen einen Geist. Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so erschrocken, und warum kommen solche Gedanken in euer Herz? Seht meine Hände und meine Füße, ich bin’s selber. Fasst mich an und seht; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Knochen, wie ihr seht, dass ich sie habe. Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen seine Hände und Füße. Da sie es aber noch nicht glauben konnten vor Freude und sich verwunderten, sprach er zu ihnen: Habt ihr hier etwas zu essen? Und sie legten ihm ein Stück gebratenen Fisch vor. Und er nahm’s und aß vor ihnen. Er sprach aber zu ihnen: Das sind meine Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch bei euch war: Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht im Gesetz des Mose und in den Propheten und Psalmen. Da öffnete er ihnen das Verständnis, dass sie die Schrift verstanden. (Lukasevangelium 24, 36-45)

Gespenster essen keinen Fisch, diese reichlich okkulte Lehre scheint unsere Geschichte vorauszusetzen. Wer herausfinden will, ob er es mit einem Gespenst zu tun hat, sollte ihm Fisch anbieten. Wer das isst, ist kein Gespenst. Umgekehrt – glaube ich – funktioniert das nicht, denn es könnte ja sein, dass die Ablehnung des Fischgenusses auf Abneigung gegen diese Speise beruht und nicht auf mein Sein als Geist. Das wäre dann ein Fehler, einen richtigen Menschen für ein Gespenst zu halten, nur weil er lieber Fleisch als Fisch isst, oder sich vielleicht vegan ernährt. Das kommt ja jetzt häufiger vor. Etwas anderes kommt hinzu: Zumindest am vergangenen Donnerstag hätte die Gespensterprobe beinahe nicht stattfinden können, denn es ist mir echt schwer gefallen den Fisch für Karfreitag zu bekommen. In zwei Supermärkten war er schon ausverkauft und woanders wollte ich nicht einkaufen gehen in diesen Zeiten. Ich habe mich mit gefrorenem Fisch beholfen, der schmeckt zwar nicht so gut, aber um Geister auf die Probe zu stellen, hätte es vermutlich gereicht. Man sieht – so richtig ernst kann man diese Episode: Jesus, ein Gespenst? Mach den Fischtest! nicht nehmen. Sie ist bestimmt humorvoll gemeint (Das Osterlachen ist berühmt und soll Wunder wirken!), auch wenn sie sich der ernsten und kritischen Nachfrage verdankt, ob das mit der Auferstehung denn überhaupt sein kann und ob die Jünger sich vielleicht irrten, als sie meinten, den Auferstandenen gesehen zu haben.

Diese merkwürdigen Zweifel an unserer Wahrnehmung erleben auch wir in diesen Tagen gelegentlich, wenn wir uns als Corona-Gespenster begegnen, denen die vier Wochen im kontaktgesperrten, sozial distanzierten Ausnahmezustand schon reichlich zugesetzt haben – mit unseren verstruwwelten, ausgewachsenen Haaren zumal oder den nicht immer korrekt rasierten Gesichtern: Kann dass sein, dass der das war; der sah früher irgendwie anders, ordentlicher und gepflegter aus, doch er ist es! Das finden wir meistens heraus, auch ohne ihm gebratenen Fisch vorzusetzen (was wir ja sowieso nicht dürften), wenn wir ihn nämlich (selbstverständlich über die gebotene Sicherheitsdistanz hinweg) ansprechen und sehr schnell in den vertrauten Ton fallen, ja, er ist es!.

Natürlich lassen es die Evangelisten nicht bei den allzu realistischen und darin merkwürdig komischen Auferstehungstests bewenden, sondern das eigentliche Erkennen erfolgt durch Ansprache und Gespräch, durch die Erinnerung an die Worte, die Jesus zu seinen Lebzeiten gesprochen hat, durch seine Bibelauslegungen – eben das, was ihn für seine Vertrauten zu dem machte, der er war.

So auch hier in unserer Geschichte: Durch die Worte, die ich zu euch gesagt habe, als ich noch bei euch war; dadurch (!) öffnete er ihnen das Verständnis, dass sie die Schrift verstanden. Aus der Schrift, also der Bibel, erklärt der Auferstandene seinen Jüngern – und uns – wer er ist und was mit ihm geschehen ist: So steht’s geschrieben, dass der Christus leiden wird und auferstehen von den Toten am dritten Tage; und dass gepredigt wird in seinem Namen Buße zur Vergebung der Sünden unter allen Völkern.(V. 46-47 im direkten Anschluss an unseren Predigttext) Die verwirrenden, aufwühlenden Geschehnisse der letzten Tage (also der Tage von Jesu Tod und Auferstehung) sind kein Zufall und keine Katastrophe, sondern in ihnen findet sich Gottes Handeln und Gottes Plan. Sie haben einen tieferen Sinn, aus dem können wir leben, wenn wir „Buße“ tun, „umkehren“, also unsere Lebensweise in Frage stellen lassen und unser Leben auf sein Ziel ausrichten – und nicht bloß auf sein Ende.

Noch verbietet es sich für unsere gegenwärtige Krise Sinn und Bedeutung zu formulieren, wir sind ja noch mittendrin. Und natürlich wäre es theologischer Unsinn darin eine Strafe Gottes zu behaupten. Aber dass mit ihr unsere Lebensweise und unser Wirtschaftssystem in Frage gestellt wird, zeichnet sich ab. Und dass selbst das beste Gesundheitssystem niemanden unsterblich machen würde, müssen wir ebenfalls begreifen.

Was bleibt also von unserer schönen, für einen zweiten Feiertag so typischen Bibelgeschichte, die ja wie immer zu „zweiten Gedanken“ einladen soll?

1. Es darf gelacht werden, auch in der Bibel findet sich Humor. Das Osterlachen soll das gesündeste sein (das gleiche gilt für den Kirchenschlaf).

2. Wir sind nicht allein mit unseren Zweifeln. Wenn schon die heiligen Apostel Bedenken hatten und äußerten, dürfen wir komischen Heiligen das auch. Auferstehung ist jedenfalls nicht erklärbar und verrechenbar nach unseren Maßstäben und soll das auch nicht sein: Wenn ich Auferstehung erklären könnte, hätte ich mich schon geirrt. Sie liegt quer zum Denken. Ich muss es glauben – oder eben nicht (weil wir nichts glauben müssen). Sie will und kann nicht verstanden werden (und das kann dann durchaus ein Problem sein, wenn die Evangelisten und Apostel, der große Paulus zumal, zu viel erklären wollen).

3. Der Auferstandene lässt sich in seinen Worten finden. Wenn unser „Herz brennt“, sind wir ihm begegnet. Unsere Geschichte schließt an die Emmaus-Geschichte an, dort heißt es: Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete? (Lukas 24,32)

4. Umkehr! Lasst uns umkehren, unsere Lebensweise überprüfen, wenn nötig ändern.

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 12. April 2020, Ostern

Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen. Nun aber ist Christus auferweckt von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden. Ein jeder aber in der für ihn bestimmten Ordnung: als Erstling Christus; danach die Christus angehören, wenn er kommen wird; danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergeben wird, nachdem er vernichtet hat alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt. Denn er muss herrschen, bis Gott »alle Feinde unter seine Füße gelegt hat« (Psalm 110,1). Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. Denn »alles hat er unter seine Füße getan« (Psalm 8,7). Wenn es aber heißt, alles sei ihm unterworfen, so ist offenbar, dass der ausgenommen ist, der ihm alles unterworfen hat. Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, auf dass Gott sei alles in allem. (1. Korintherbrief 15, 19-28)

Es war ein wunderlicher Krieg, da Tod und Leben rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen. (Evangelisches Gesangbuch 101)

Mit allen Mitteln wird gegen die Seuche gekämpft, und wenn die medizinischen nicht ausreichen und noch keine Wirkung erzielen, andere aber nicht zur Verfügung stehen, schon gar keine militärischen, dann soll das Virus eben mit rhetorischen Mitteln bekriegt werden: Krieg der Worte gegen das Virus! Die üblichen Verdächtigen in solchen Fällen, aber auch der doch ganz zivil wirkende Präsident der französischen Republik ziehen gegen das Virus in den Krieg – zumindest mit ihren Worten! Auch die Boulevardpresse kürt Helden der Krise, den Arzt im Ruhestand, der im Seniorenheim hilft, oder die Schwimmtrainerin, die Proben von Corona-Patienten nimmt. Das vermittelt zwar durchaus den Ernst der Lage, aber eben auch die Verzweiflung darüber, mit den Maßnahmen nicht – noch nicht – die erwünschten Erfolge zu erzielen. Die Kriegsdrohungen scheinen den Erreger jedenfalls nicht sonderlich zu beeindrucken. Es bleibt offen, wann ein Sieg über die Seuche verkündet werden kann und welche Sprache dann angemessen erscheinen wird.

Nicht wenige Auferstehungstexte und Osterlieder singen und sagen in kriegerischen Worten vom Sieg des Lebens. Der eingangs zitierte Luther noch mittelalterlich gefärbt und rau, aber auch Paul Gerhardt in seiner farbig barocken geschliffenen Sprache ein Jahrhundert später: Eh er´s (der Feind) vermeint und denket, ist Christus wieder frei und ruft Viktoria, schwingt fröhlich hier und da sein Fähnlein als ein Held, der Feld und Mut behält. (EG 112) Damit nimmt er die Sprache der Bilder seiner Zeit auf, die den Auferstandenen mit Siegesfahne abbilden.

Die österlichen Krieg- und Siegmetaphern können sich auf Paulus berufen, wie wir am heutigen Predigttext sehen. Der Tod als letzter Feind wird an Ostern besiegt, vorher geht es anderen lebens- und menschenfeindlichen Herrschaften, Mächten und Gewalten an den Kragen. Am Ende wird Gott alles Widergöttliche unterworfen haben, auf dass Gott sei alles in allem. Am Ende wird alles gut, tutto andrá bene! (Wie wir von unseren italiensichen Freunden in diesen schlimmen Zeiten gelernt haben.)

Und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende. Der Apostel Paulus setzt sich – nach allem was wir wissen – in seinen Korintherbriefen mit anderen Christen auseinander, die das durch Ostern eingeleitete Ende alles Widergöttlichen und den Sieg Gottes in der Auferstehung seines Sohnes für schon eingetreten gehalten haben und nicht wie er für erst den Anfang des noch kommenden, noch ausstehenden Gottesreiches. Er setzt sich mit denen auseinander, die den Sieg Gottes über den Tod schon für vollständig halten – und die die anderen Apostel wie Paulus, die diesen Sieg erst in der Zukunft erwarten, für ungläubig halten. (Das wird den Paulus gekränkt haben, wie wir gekränkt sind, wenn uns von anderen der Glaube abgesprochen wird, so wie kürzlich als mir auf den Osterbrief unserer Gemeinde hin ohne weiteren Kommentar der Vorwurf des Unglaubens gemacht wurde. Das wäre doch zu begründen und zu besprechen!)

Deshalb entwirft Paulus hier einen Zeitplan für die endzeitliche Erlösung, die jedem gilt, jedem aber anders, jeder aber in der für ihn bestimmten Ordnung, und zwar in der für ihn bestimmten zeitlichen Ordnung;Christus zuerst und vorneweg, dann die, die zu ihm gehören und an ihn glauben, darauf erst das allgemeine Ende. Das kann er natürlich gar nicht gewusst haben, aber das ist unerheblich, denn ihm geht es darum, den zeitlichen Unterschied zwischen Auferstehung Jesu und allgemeiner Auferstehung, also den kategorialen Unterschied zwischen Ankündigung, Anfang und Ende des Endes zu verdeutlichen.

Wir feiern Ostern gewöhnlich als jährlich (na gut, also angesichts des diesjährigen Osterausfalls beinahe jährlich) wiederkehrende Frühlingsfest als Fest des neuen Lebens aus Gott – und es ist nicht unfromm, das auch in der Kirche zu feiern und zu besingen! (Jetzt grünet, was nur grünen kann, Halleluja, die Bäum zu blühen fangen an, Halleluja. Es singen jetzt die Vögel all, Halleluja, jetzt singt und klingt die Nachtigall, Halleluja. Der Sonnenschein jetzt kommt herein, Halleluja, und gibt der Welt ein´ neuen Schein, Halleluja. EG 110)

Und wir glauben Ostern als Ereignis der Vergangenheit, als Gott seinen Jesus Christus auferweckt hat und dem Leben damit den alles verändernden und unumkehrbaren Sieg gegen den Tod verschafft hat.

Mit unserem Paulustext heute richtet sich der Blick aber vor allem in die Zukunft nach vorne! Ostern steht in seiner ganzen Fülle noch aus. Ostern ist laut Paulus erst der Anfang vom besten aller möglichen Enden: auf dass Gott sei alles in allem!

Das soll über die österlichen Defizite – nicht nur in diesem Jahr – hinweghelfen. Wenn wir Ostern in diesem Jahr nicht gemeinsam und auf die gewohnte Art feiern können, ist das überaus bedauerlich, aber es könnte uns doch auch die Augen dafür öffnen, dass es seit zweitausend Jahren immer Menschen gab, die aus persönlichen Umständen Ostern nicht oder nur ganz eingeschränkt feiern konnten, etwa aus Trauer um ihre Lieben oder wegen schwerer Krankheit oder auch bloß wegen eines Klinikaufenthalts (wie es mir im vergangenen Jahr in der Reha gegangen ist, in der kein Gottesdienst gefeiert wurde und ich noch zu klapperig war, einen außerhalb zu besuchen); oder dass ganze Landstriche und Länder wegen Krieg oder Seuchen oder anderer Katastrophen Ostern nicht feiern konnten – manchmal über viele Jahre nicht feiern konnten. Ausgefallene Ostern hat es für einzelne oder für viele schon immer gegeben.

Auch das erste Ostern ist ja eher durch ein Fehlen, einen Mangel – das leere Grab! – und Furcht und Zittern – „Entsetzt euch nicht! Er ist nicht hier“ (wie es im Osterevangelium heißt) – gekennzeichnet. Und nur ganz allmählich hat sich die Botschaft von Kreuz und Auferstehung in der antiken Welt verbreitet, in der sie mehrheitlich für Ärgernis oder Torheit gehalten wurde, ohne dass sie bis heute auch nur annäherungsweise alle Menschen erreicht hätte. Es spricht einfach ziemlich viel (auch ohne Corona) gegen Ostern und den österlichen Sieg gegen den Tod – wenn man nicht mit Paulus die Zukunftsdimension von Ostern betrachtet.

Anders als zukünftig ist der österliche Sieg über den Tod nicht für wahr zu halten. Das kann uns frustrieren – wie es die Korinther frustriert hat: ein bisschen gegenwärtiger und erfahrbarer hätten wir die Auferstehung schon gern! (Und Gott könnte sich selbst und uns doch eine Menge Mühe ersparen, wenn er uns gleich jetzt schon Leiden und Tod und dazu diese verdammte Seuche erlassen würde.)

Das kann uns aber auch zu einem Osterglauben wie bei Paulus führen, der nach vorne blickt, der die Gegenwart für veränderbar hält (Es wird ein Mittel gegen diese Seuche geben! Und das ist jetzt nicht zuerst eine Glaubensaussage sondern eine Zusage der medizinischen Wissenschaft.) und der alles von Gott erwartet – von dem nämlich, der seinen Sohn vom Tode auferweckt hat. Eine stärkere Versicherung unseres Glaubens und unserer Hoffnung gibt es nicht: Weil Christus vom Tod erstanden ist, werde ich im Grab nicht bleiben.

In dieser Hoffnung wollen wir es uns auch in diesem Jahr dann eben auf diesem Wege sagen lassen und dann auch weitersagen: Er ist auferstanden – Er ist wahrhaftig auferstanden!

Und es singen! Christ ist erstanden von der Marter alle; des solln wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein. Kyrieleis.(EG 99)

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 10. April 2020, Karfreitag

Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nunBotschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt. (2. Korinther 5,19-21)

Der Blick auf das Kreuz Jesu soll unseren Blick auf unser Leben und unser Sterben verändern, zum Besseren. Das ist paradox. Denn der natürliche Reflex angesichts menschlichen Leides ist ja wohl eher, die Augen zu schließen, um das Leid auszublenden (damit blende ich nun allerdings die Sensationsgier aus, die sich am Leid gaffend ergötzt, die es wohl auch im religiösen Bereich gibt, sichtbar etwa an den spätmittelalterlichen Marterbildern der Heiligen). Und es ist eine Zumutung: dass wir uns dem Leiden und Sterben Jesus aussetzen sollen, die Augen eben nicht verschließen, sondern uns das genau ansehen sollen, wie es etwa die Passionsfrömmigkeit früherer Zeiten gefordert hat:

O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt, zum Spott gebunden mit einer Dornenkron, o Haupt sonst schön gezieret mit höchster Ehr und Zier, jetzt aber hoch schimpfieret: gegrüßest seist du mir! (Evangelisches Gesangbuch 85)

Wie könnte ich das begrüßen, das leidende Haupt, oder auch nur ansehen, dem brechenden Blick des sterbenden Jesus standhalten.

So wie ja auch das große Kruzifix in der Thomaskirche eine Zumutung ist, der nicht alle standhalten wollen oder können. Es ist der verständliche, der richtige Instinkt, der uns zusammenzucken und entsetzen lässt bei diesem Anblick; wie etwa die muslimische Besuchergruppe bei uns vor einigen Jahren – hab schon oft von diesem Erlebnis erzählt – wirklich entsetzt und in ihren religiösen Gefühlen verletzt auf unser Kreuz reagiert hat; oder wie die Kunstexpertin noch unlängst unser Kreuz für unerträglich in einem Kirchenraum erklärt hat und vorschlug, es samt Bretterwand (einem bevorzugten Stilelement unseres Kirchenarchitekten Rainer Schell) zu entfernen, um durch ein schön gestaltetes Fenster den heiteren Blick auf Gottes freundliche Welt zu ermöglichen…

Aber da stocken wir schon und brauchen eigentlich keine akute Seuche um das Missverständnis über unsere Welt zu durchschauen. Unsere Welt ist heiter und freundlich und ein gutes Zuhause – aber eben nicht nur das. Wir missverstehen die Natur, wenn wir sie als Idyll deuten, sie ist auch Schauplatz von Katastrophen, von Leid, von Gewalt, von Seuchen, auch Krankheitserreger sind Teil der Natur. Sterben ist Teil der Natur, so wie das Leben. Mit dieser Ambivalenz der Welt haben wir zu leben. Damit erkennen wir an, dass wir nicht im Paradies und nicht im Himmel leben; und damit beugen wir letztlich einer Verwechslung von Gott und Welt vor: allein gut ist nur Gott, alles andere, auch der Mensch, braucht die Nähe Gottes, um das zu erfahren.

Letztes Zeichen dieser ambivalenten Verhältnisse auf der Erde ist der Tod: auch das Schöne muss sterben, auch das Gute, das Gerechte, das Wahre, das Liebste; alles ist „eitel“, sagt der Prediger Salomo, also vergänglich und wird auch vergehen; „das Universum expandiert“ (sagt der kleine Alvy Singer in Woody Allens Anny Hall und stellt deshalb die Fertigung seiner Hausaufgaben ein, auch wenn seine wenig sensible Mutter erwidert, dass aber Brooklyn, wo sie leben, nicht expandiere, womit sie im übrigen nicht recht hat). Menschen sind sterblich und sterben, alle.

Es ist dieser Horizont unserer Sterblichkeit, vor dem das Kreuz Jesu aufgerichtet ist, den es einerseits spiegelt, den es andererseits überragt und überstrahlt. Denn hier leidet und stirbt ein Mensch, aber in diesem Menschen war Gott: Gott war in Christus. Der unsterbliche Gott wird sterblicher Mensch – Weihnachten – und stirbt: Karfreitag. Das ist das Thema, die Idee und der eigentliche Skandal dieses Tages: Der Tod Gottes. Was wir für eine atheistische Erfindung halten, wird in die Mitte unseres Glaubens gerückt, kaum auszuhalten. Und es wird auch kaum ausgehalten, wenn beispielweise das Karfreitagslied „O Traurigkeit, o Herzeleid“ (EG 80, das wir heute auch nicht zusammen singen können; und das ist beinahe das Bedauerlichste in diesem Seuchenjahr, dass wir nicht gemeinsam diese Lieder singen können, die viel eindringlicher als Predigt oder Predigttext den Karfreitag erklären) die originale Textzeile „O große Not! Gott selbst liegt tot“ in die (vermeintlich) weniger anstößige Fassung „O große Not! Gott´s Sohn liegt tot“ verändert und damit abmildern will. Wir begehen heute am Karfreitag die Identifikation Gottes mit dem Menschen Jesus – bis in die letzte Konsequenz, bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Gott selbst gibt sich in den Tod, Gott selbst gibt sich hin.

Das ist für mich die aufregendste, aber auch die verstörendste Aussage des christlichen Glaubens über Gott; sie ist darin auch unerfindbar (so würde man sich seinen Gott nicht erfinden, geschweige denn glauben) und nimmt wie gesagt im Kern den modernen Atheismus vorweg: Gott stirbt. Gott stirbt den Tod des Menschen – um ihn zu überwinden. Gott teilt das Geschick seiner Menschen, identifiziert sich, solidarisiert sich – und überwindet so den Tod des Menschen Jesus, wie auch die Macht des Todes überhaupt. (Im Leitbild unserer Zeit gesprochen, könnte man vielleicht sagen, aber eigentlich nur ganz tastend und vorläufig: Gott infiziert sich mit dem Virus des Todes, um mit uns die Krankheit zu tragen – und sie zu überwinden!)

Die Bibel – und eben auch unser Text heute – nennt das: Gottes Versöhnung der Welt: nicht so, dass ein zorniger Gott wegen unserer Verfehlungen, unserer Sünden mit uns versöhnt werden müsste; sondern so, dass ein über alle Maßen liebender Gott die von ihm durch Sünde und Tod getrennten Menschen mit sich versöhnt. Gott teilt alles mit uns, auch unsere Sterblichkeit; Gott erträgt unseren Tod – und darin überwindet er ihn. Wir sollen das verstehen und dürfen es mit ganzem Herzen glauben, dass Gott auch den menschlichen Tod mit uns teilt, uns auch in die tiefste Finsternis begleitet, im Sterben nicht allein lässt. So wie uns in unserem Sterben ein lieber Mensch begleiten soll (Und bei so vielen in dieser schrecklichen Seuche, wo sie besonders wütet, ist genau das nicht der Fall. Das ist für mich das Schlimmste daran, dass so viele einsam und ungetröstet sterben müssen.), so will Gott auch dann bei uns sein; auch das haben die Liederdichter wie Paul Gerhardt gewusst und besungen:

Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür; wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein.
Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meiner Not, und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot. Da will ich nach dir Blicken, da will ich glaubensvoll dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl. (EG 85)

Der Blick auf das Kreuz Jesu soll unseren Blick auf unser Leben und unser Sterben verändern, dass wir versöhnt leben und getrost sterben können.

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 5. April 2020, Palmsonntag, 6. Sonntag in der Passionszeit

Und als er in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt. Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an. Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat. (Markusevangelium 14,3-9)

Wie gelähmt sitzen wir unter der Quarantäne, die ganze Welt steht still, das Leben ist unterbrochen; aber nicht heilsam unterbrochen, wenn Fest und Feier, auch gottesdienstliche Feiern unseren Alltag heilsam unterbrechen; sondern lähmend, erstarrend, erstarrt: Stillstand, Lockdown. Nur die Seuche rast, das Virus rast um die Welt; bringt alles in Unordnung, heillose Unordnung, zerbricht Ordnungen und Gewissheiten, bringt Großmächte ins Wanken, scheint die Welt in das voranfängliche Chaos zurückzustürzen. In den Erfahrungsberichten der italienischen Ärzte ist von Danteschen Szenen die Rede, vom Inferno; und wir können das irgendwie nachvollziehen, wenn wir die Bilder aus Bergamo, aus Madrid, aus New York sehen. Wir erleben live in Amerika wie politische Idiotie Menschen, eine Gesellschaft ins Unglück stürzt, leiden da mit, denn die betroffenen Orte gehören als Urlaubsziele, als Studienorte und Arbeitsplätze längst zur Lebenswelt von so vielen von uns; wir leiden da mit und hoffen doch, dass vernünftige Regierung bei uns und anderswo dazu beitragen möge, das Schlimmste zu verhindern. Vieles zerbricht heillos, wird es Heilung geben?

Unter der ungeheuren Wucht der Eindrücke könnte sogar der Bibeltext zerdrückt werden, zerbrechen, auch unserer heute. Es könnte sein, dass wir in ihm keine Deutung unserer Situation finden, allein schon deshalb, weil wir eine Deutung nicht suchen; etwa weil wir Religion für ein Hobby und einen Zeitvertreib hielten, nix Ernstes eben, so dass sie zu schweigen hätte in einer richtig ernsten Situation wie dieser, was unsere Kirche merkwürdigerweise auch von sich aus weitgehend tut, nämlich schweigen (man kann ja auch laut und schrill schweigen via Internet oder durchs Fernsehen), anstatt auch dieser extremen Situation eine Deutung aus der Bibel zu geben. (Das muss keineswegs die Deutung sein, die dieser Prediger, bzw. in diesen Zeiten der „Predigttexter“ gefunden hat! Auch und gerade in der Auseinandersetzung und im Streit mit der angebotenen Deutung lässt sich eine eigene finden.)

Auch in unserem Text zerbricht etwas; in heilloser Weise für die Jünger, heilvoll, sinnstiftend dagegen nach den Worten Jesu. Das zerbrochene Gefäß, das verschüttete Öl sollen mit Jesus nicht als Verschwendung und Verlust gedeutet werden, sondern als Zeichen von etwas Neuem von Gott her. In einigen Tagen, am Karfreitag, wird genau das unser Thema sein: Wie kann im gebrochenen, zerbrochenen Leben Jesu Sinn zu sehen und Heil zu finden sein? Dieser Frage setzen wir uns mindestens jährlich und spätestens in der heute beginnenden Karwoche aus, aber eigentlich ja immer. Als sterbliche Menschen haben wir unsere Sterblichkeit zu bewältigen – und nicht nur dann, wenn sie uns religiös in der Karwoche beschäftigt oder in diesen Wochen durch eine Seuche hart bedrängt.

Wie soll das gehen: Sterblichkeit bewältigen oder im Tod Jesu einen Sinn sehen? Etwas vereinfacht gesagt bietet der christliche Glaube dafür an, unser Leben als von Gott gegeben zu verstehen. Dieses Leben wird auch wieder von Gott zurückgenommen: „Leben oder Sterben wir, so sind wir des Herrn“ sagt der Apostel Paulus. Das zerbrechende und dennoch von Gott gehaltene Leben Jesu soll uns zeigen, dass auch wir zerbrechliche Menschen von Gott gehalten sind und gehalten werden. Wir sind das Gott wert.

In unserer Geschichte heute liegt die Pointe auf dem unkalkulierbaren Wert und der absoluten Kostbarkeit des Lebens des Menschen Jesus wie jedes Menschenlebens. Selbst das schönste Gefäß, das teuerste Öl steht in keinem Verhältnis zum Wert eines Menschenlebens, nicht obwohl dieses Leben zerbrechlich ist, sondern weil es zerbrechen wird, allzu bald: mich aber habt ihr nicht allezeit. Ein Berechnen menschlichen Werts wird zurückgewiesen und damit das ökonomische Paradigma der Weltdeutung, nach dem angeblich alles einen berechenbaren und dann eben auch verrechenbaren Wert hätte, auch menschliches Leben.

Damit erweist sich die Bibel erneut als aussagefähig für unsere Situation: Ein Abwägen menschlichen Werts ist zurückzuweisen, gerade wenn es etwas kostet, selbst in der größten Not. Jedes Leben verdient den zu seiner Erhaltung nötigen Einsatz (wohl wissend das jedes Leben zu seiner Zeit zu Ende geht). Im übrigen gilt das andere: Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun. Solidarität mit den Schwächeren ist die menschliche Antwort darauf, dass Gott jedes Leben für kostbar und wertvoll erachtet und uns jedes Menschenleben für kostbar und wertvoll zu erachten nahelegt. Wir können das zeigen, was wir glauben, indem wir uns gegenseitig helfen und ganz besonders denen, die sich nicht selbst helfen können.

Klaus Neumann, Pfarrer