2. Advent, 4.12.2022

Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft über die Berge und springt über die Hügel. Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch. Siehe, er steht hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter. Mein Freund antwortet und spricht zu mir:

Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin. Die Blumen sind hervorgekommen im Lande, der Lenz ist herbeigekommen, und die Turteltaube lässt sich hören in unserm Lande. Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften. Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her! (Hohelied 2,8-14)

Frühlingsgefühle im Winter, ein Maienlied im Dezember, blühende Blüten an den Blumen und reifende Früchte am Feigenbaum trotz Winterschlaf der Natur! Was ist da los?

Wenn ich jetzt aus meinem Fenster blicke, dann ist da zwar auch ein Feigenbaum, erstaunlich kräftig für unsere nördlichen Breiten, geschützt durch die Mauern des Hauses. Dieser prächtige Feigenbaum schläft aber gerade seinen Winterschlaf, nur noch wenige braune Blätter liegen am Boden, seine Äste und Zweige zeigen kahl in den grauen Winterhimmel und man kann sich kaum vorstellen, wie es wieder sein wird, im Frühling, wenn Blätter und Früchte austreiben – das tun die nämlich gleichzeitig bei einer Feige; und wenn sie im Sommer dann ein schützendes Dach bilden. Jetzt ist das nicht so.

Ich stelle mir vor, dass die Menschen früher noch viel unmittelbarer den Gang der Natur erlebten, ihr noch viel unmittelbarer ausgeliefert waren, es noch viel direkter gespürt haben, wenn es kalt und wenn es warm war; es hell war in langen Tagen oder dunkel der langen Nächte wegen. Klar kriegen wir das auch heutzutage noch mit; spätestens wenn es glatt wird auf den Straßen; wenn wir morgens im Dunkeln das Haus verlassen und es abends erst wieder im Dunkeln betreten; wenn uns der nasse Wind kalt um die Nase pfeift. Aber wenn nicht gerade Krieg und Krise herrschen, können wir uns ganz gut dagegen wappnen, die Winterreifen auflegen, die Heizung aufdrehen, die garstige Zeit abwarten und Tee trinken.

Dieses Jahr wird uns das voraussichtlich nicht ganz so gut gelingen, den Winter draußen vor der Tür zu halten. Stell dir vor, es wird kalt und du gehst nicht raus; dann kommt die Kälte zu dir. So eine Krise wirft uns zurück; wir fühlen uns ausgeliefert; gleich zweifach ausgeliefert: den Unbilden der Natur und dem Gang der Geschichte. Was soll nur werden?

Der merkwürde, schöne, aber offensichtlich unpassende Predigttext aus der Liebesgedichtsammlung des Alten Testaments – Stichwort Frühlingsgefühle! – in unseren Winter hinein stellt eine paradoxe Intervention dar; er passt eigentlich gar nicht, er liegt quer zu unserem Erleben und zu unseren Gefühlen:

der Winter ist vergangen – aber das ist er doch gar nicht, er fängt gerade erst an

der Regen ist vorbei und dahin – weit gefehlt, Regen und mehr noch Schnee werden uns noch eine Weile begleiten.

Die Blumen sind hervorgekommen im Lande – ganz im Gegenteil, alle Pflanzen verkriechen sich und sie tun gut daran.

Der Lenz ist herbeigekommen – wo denkst du hin?

Und auch die Turteltaube lässt sich nicht hören, der Feigenbaum lässt keine Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften schon lange nicht mehr und noch lange nicht wieder.

Alles das, wovon in unserem Predigttext die Rede ist, ist nicht – nicht mehr – noch nicht: Aber es wird wieder sein! Unterm Gegenteil verborgen regeneriert die Natur, ruht sich aus, sammelt Kraft für die Zeit, wenn sie sich wieder in aller Macht und Pracht zeigen wird. Dessen sollen wir auch beim Betrachten der winterlich ruhenden Natur gewiss sein. Das ist die eine Absicht dieser paradoxen Intervention – Naturbetrachtung als reine innere Vorstellung unter ihrem sichtbaren Gegenteil – vom Frühling reden unter einer Decke von Eis, Frost und Schnee.

Die andere Absicht unserer heutigen Botschaft geht viel weiter: Sie will, dass wir die Naturbetrachtung auf Grundsätzliches anwenden und verlängern. Sie will, dass wir unsere Welt und unser Leben grundsätzlich für veränderlich halten, veränderlich zum Besseren hin. Wo Unrecht ist, soll Gerechtigkeit werden. Wo uns die Krise lähmt, soll Wohlstand entstehen. Wo Hass wütet, soll Liebe sein. Wo Krieg herrscht, soll Frieden geschlossen werden. Und wo uns Kälte erzittern lässt, sollen wir gewärmt werden. Wir sollen den Frühling für möglich halten – mitten im Winter.

Mit dem zarten Liebesgeflüster aus dem Hohelied Salomos bekommen wir heute ein Zeichen des Friedens, das wir weitergeben sollen. Auf die berechtigte Frage, wie denn Frieden gestiftet werden kann, antwortet die Bibel mit den Bildern des Friedens. Und das Bild dessen, der unter seinem Feigenbaum sitzt; das Bild dessen der in seinem Weingarten aufatmet und Erholung sucht, solche Bilder gehören zu den überzeugendsten, wie sie die Propheten im Namen und Auftrag Gottes verkündeten, etwa so:

„Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.“ (Micha 4,3f.)

Die Bilder des Friedens sollen uns des Kriegs müde und der Kriegsführung unkundig machen, wie es heißt: „Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ (Jesaja 2,4)

Und diese Imaginationen des Friedens sollen wir nicht für uns behalten, sie sollen weitergegeben werden und auch für unsere Nachbarn gelten: „Zu derselben Zeit, spricht der Herr Zebaoth, wird einer den andern einladen unter den Weinstock und unter den Feigenbaum.“ (Sacharja 4,10)

So sprechend und ansprechend also der kurze Vers bukolisch-pastoraler Liebenslyrik aus dem Hohenlied schon ist – Der Feigenbaum lässt Früchte reifen, und die Weinstöcke blühen und duften – , ein duftender, freundlicher, wärmender Gruß aus dem Frühling, der kommt – hüpfend wie eine Gazelle und springend wie ein Hirsch – in unseren Winter hinein, soviel mehr ist doch damit gemeint: nämlich die im Bild zu uns gesprochene Ansage des Friedensreiches, des Schalom Gottes, der unsere unordentliche Verhältnisse in eine Ordnung bringen wird; die göttliche Friedensordnung, die unsere Irrungen und Wirrungen in Kälte und Dunkelheit verwanden wird in Wärme und Licht. Noch ist alles hineingetaucht in das Tohuwabohu des vorgeschöpflichen Chaos´, in Leere und Finsternis. Aber Gott spricht abermals in einem Akt neuer Schöpfung: Es werde Licht – und es wird Licht sein!

Steh auf, meine Freundin, und komm, meine Schöne, komm her!

Oder mit unserem Wochenspruch: „Steht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ (Lukas 21,28)

Amen.

Predigttext für den 1. Advent, 27. November 2022

Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts!, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß. Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest. Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße! Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir. Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! (Offenbarung 3,14-22)

Lauwarmer Laodizeer zu sein, das wäre doch schon was in diesen Zeiten!

Denn um es vorwegzunehmen, liebe Schwestern und Brüder, trotz der besten Vorsätze, die aber allesamt in der Hitze eines außergewöhnlich heißen Sommers getroffen wurden, gelingt es mir zunehmend weniger beim Duschen und Heizen zu sparen. Das sollen wir ja eigentlich, Energie sparen zuhause und anderswo, um einem blindwütigen Gewaltherrscher nicht auch noch die Kassen zu füllen; das scheint – noch! – ansatzweise zu gelingen, aber der Herbst war milde, auch jetzt ist es noch nicht richtig kalt geworden – was wird wohl sein, wenn der Winter so hart wird, wie der Sommer heiß war? – und mir gelingt es schon jetzt immer weniger nur mal schnell und kühl, geschweige denn kalt zu duschen und die Heizung runterzudrehen. Immer wenn Freunde und Kollegen ihre Heldengeschichten von der kalten Wohnung und der kalten Brause erzählen, erschauere ich, halte ganz still und denke bei mir: Wenigstens lauwarm sollte es doch sein.

Der Herr badet gern lau – dieser berühmte Satz, der übrigens passenderweise im Kontext einer Moskaureise einer deutschen Regierung fiel – lang ist es her (1973 mit Kanzler Willy Brandt), und so viel sagen sollte, als dass der damalige Kanzler ein Warmduscher sei, also einer, der die Härte und Kälte des politischen Lebens nicht gut aushält, es lieber bequem hat, den lauen Kompromiss wählt; und schon gar nicht die unbequeme Härte und Kälte des russischen Winters auszuhalten gewillt und in der Lage ist, und der – also ein russischer Winter – natürlich auch dieses Jahr nicht in unserer Gegend zu erwarten ist; in der von der an die Kälte gewohnten Russen überfallenen Ukraine aber schon. Darauf muss man erstmal kommen, den Gegner durch Kälte und Dunkelheit gefügig machen zu wollen. Die Verteidiger ihres Landes haben sich jedenfalls gegen den lauwarmen Weg der Bequemlichkeit entschieden und scheinen bereit zu sein, der Kälte des russischen Winters standzuhalten.

Dass es Situationen und Lebenslagen gibt, die uns Entscheidungen und also Entschiedenheit abverlangen; Entscheidungen, die uns ein lauwarmes Verharren verbieten, genau das meint der Seher Johannes mit seinem Wort an die Gemeinde in Laodizea, das wie sein ganzes Buch ein verschlüsselter Text in schwierigster Zeit und äußerster Bedrängnis ist. Sein: Wer Ohren hat, der höre zeigt an: Hier liegt ein Sinn unter der Oberfläche; hier ist was verschlüsselt; erschließt Euch den tieferen Sinn meiner Worte; denn ich kann jetzt nicht offen reden.

Noch werden die Christen im römischen Imperium verfolgt, Kaiser Nero – sein Name verbirgt sich wohl hinter dem berühmten und satanisch-berüchtigten 666 der Johannesoffenbarung – dieser Nero ist auf neronischen Umtrieben; Christen sehen sich Mordwellen ausgesetzt, angezündet, den Tieren im Colosseum zum Fraß vorgeworfen und also in den Untergrund verdrängt, in die berühmten Katakomben in Rom, Neapel und anderswo verdrängt; christlicher Gottesdienst ist nur unterirdisch, versteckt möglich, im Dunkeln der Grabanlagen; Seite an Seite mit den Toten – und siehe sie leben.

Die Christen in Laodicea waren eine solche bedrängte Gemeinde, die sich Unentschiedenheit eigentlich nicht leisten konnten, wollten sie überleben; aber sie sind sich nach Ansicht unseres Briefautors ihrer misslichen Lage nicht bewusst. Vielleicht halten sie sich durch Randlage in großer Entfernung der Hauptstadt für hinreichend geschützt: was interessiert es den Kaiser von Rom wenn in Laodicea im fernen Phrygien ein Sack Oliven umfällt oder eben eine Handvoll Christen ihre Lieder singen? Vielleicht halten sie sich für reicher als sie tatsächlich sind, weil es ihnen bisher an nichts fehlte: Uns fehlt es an nichts, warum sollten wir etwas ändern? Vielleicht konnten sie sich bisher immer irgendwie durchwurschteln und wissen nicht, dass sie elend und jämmerlich sind, arm, blind und bloß. Wer Ohren hat, der höre!

Als Mithörender solcher verschlüsselten Worte in einer ganz anderen Zeit und unter ganz anderen Umständen fühle ich mich dennoch verstanden, mehr noch: erwischt! Denn auch wir heutigen Christen leben in einer Scheinwelt, machen uns Illusionen, halten uns für andere, Größere, Bessere als wir sind; unsere Kirchen und Gemeinden sind längst Denkmäler verfallener Größe; und wir bloße Scheinriesen, verzwergt in den viel zu großen Anzügen der Vergangenheit; und das sicherlich auch durch Unentschiedenheit: durch unsere Lauheit verzwergt; Religion ist nicht, nicht mehr, was uns unbedingt angeht; Glauben, nicht mehr das, was mich umtreibt und meinem Leben Sinn gibt; sondern bloße Garnierung und Accessoire, der Sahnekleks, wenn überhaupt, auf einem Dasein, dass die meiste Zeit auch ganz gut ohne Gott auskommt; wer braucht eigentlich noch die Weihnachtsgeschichte für Weihnachten? Religiös betrachtet und geistlich gesehen sind wir haargenau so wie die lauwarmen Laodizeer: elend und jämmerlich, arm, blind und bloß.

Aber der Autor macht den Laodizeern und damit uns ein Angebot, das wir kaum ablehnen können; ein Kaufangebot und damit passt es ja ganz gut in die Vorweihnachtszeit, wenn die wichtigste Botschaft die wöchentliche Mitteilung des Einzelhandelsverband ist, ob wir auch alle brav gekauft haben; da müsste doch die eine oder andere Erkenntnisse für unsere jetzt anstehenden Weihnachtseinkäufe drinstecken.

Kauft Gold, weiße Kleider und Augensalbe ruft unser Autor werbend zu; und trifft damit ganz gut die Kauf- und Schenkgewohnheiten, die noch heute zu Weihnachten gelten: Gold, Geld und Schmuck – Gewirktes, Gestricktes und Selbstgestricktes – freiverkäufliche Arzneien, Pülverchen und Tinkturen, streng ohne Rezept aber mit Empfehlung der Apothekenrundschau.

Natürlich hat sich der Autor unseres Briefes mit seinen Kaufempfehlungen was Symbolisches gedacht: das Gold, das er zu kaufen empfiehlt, soll besonders edel sein, besonders rein, im Feuer geprüft, kostbar, haltbar, belastbar, fähig zum Widerstand – anders als wir; und die weißen Kleider, so sauber und rein, so klar, so eindeutig, wie wir eben nicht sind, die wir uns höchstens aufs „Whitewashing“ verstehen, aber eben nicht wirklich ganz sauber sind; und die Augensalbe, mit der wir uns endlich die Augen heil und sauber reiben sollen, um zu sehen, wie es mit uns steht.

Im normalen Geschenkewesen sollte man sich solcher symbolisch-pädagogischer Geschenke lieber enthalten – also nicht nach dem hier zitierten Motto schenken: Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich; wobei an dieser Stelle das Wort züchtigen heutzutage zu scharf klingt; nach dem Original ist eher Erziehung gemeint, also welche ich lieb habe, weise ich zurecht und erziehe ich, was zugegebenermaßen aber auch nicht viel besser ist. Wer will schon als Lesemuffel mit einem Buch „erfreut“ und erinnert werden, dass er einer ist; und wer durch ein Stück Seife daran, dass man Mief und Gemüffel abwaschen kann? Andererseits leben natürlich gerade kostbare Schmuckgeschenke von ihrem Symbolgehalt: So viel bist du mir wert, und noch viel mehr! Aber Achtung: Wer hat schon die Mittel, seine Liebe wirklich in Gold aufzuwiegen? Und für die Liebe meines Lebens müsste es doch schon ein ganz ordentlicher Klunker sein: diamonds are forever! Ein Diamant ist unvergänglich – was schon eine ziemlich religiöse Aussage ist und sicherlich als solche gemeint war.

Mit einem Geschenk lässt sich durchaus Entschiedenheit einerseits ausdrücken oder es drückt sich in ihm bloße Unentschiedenheit, also Lauheit andrerseits aus. Das unpassende, gedankenlos gekaufte, geschmacklose Geschenk kann mehr Schaden anrichten als es ganz zu vergessen: Doppelt Geschenktes, weiter Verschenktes, das geizige Geschenk oder allzu praktische Geschenke kann man sich schenken. Das gelungene Geschenk hält hingegen die Balance zwischen Selbstlosigkeit, Liebeserklärung und Einfühlungsvermögen, was dem anderen eine Freude bereiten könnte. Und nur ein lauwarmer Laodizeer würde sich von solchen hohen Ansprüchen an das Schenken abschrecken lassen: Dieses Jahr schenken wir uns gar nichts, ok Schatz?

Ich glaube das ist der Punkt: Lauwarm heißt, Kosten und Mühen zu scheuen; lauwarm heißt, sich angesichts der Größe einer Entscheidung, sich nicht entscheiden zu wollen; lauwarm heißt, sich den letzten Schritt zu gehen einfach nicht getrauen; in der Liebe wie in der Religion, die sind sich ja sowieso in vielerlei Hinsicht ähnlich. Aber warum sollte ich mit einem Menschen leben wollen, den ich nicht über alles liebe; oder umgekehrt: warum sollte ich nicht mit dem Menschen leben wollen, den ich über alles liebe? Oder warum sollte ich einer Religion angehören, der ich nicht glaube; und abermals umgekehrt: Warum sollte ich ihr nicht angehören – ganz und gar – wenn ich ihr glaube? Es mag Dinge oder Verrichtungen geben, die ganz gut lauwarm zu genießen sind – Duschbäder könnten dazugehören -, aber die wirklich wichtigen erfordern eine Entscheidung.

Auf den alles entscheidenden Moment der Entscheidung kommt es an: Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen. Das wäre doch wirklich ärgerlich, einen solchen Moment zu verpassen. Und auf den warten wir im Advent.

Amen.

20. Sonntag nach Trinitatis, 30.10.2022

Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich. Ihre Glut ist feurig und eine gewaltige Flamme. Viele Wasser können die Liebe nicht auslöschen noch die Ströme sie ertränken. Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, würde man ihn verspotten. (Das Hohelied Salomos 8,6b-7)

Das letzte Mal, dass ich dieses Buch der Bibel – das Hohelied Salomos – aufgeschlagen habe, um darüber zu predigen, das war auf einer weißen Insel im blauen Mittelmeer dieses Jahr; auf einer Insel, was sag ich? – auf der Insel der Inseln – auf Capri! Schönheit, die man kaum aushalten und der auch die Masse der Besucher nichts anhaben kann; Hort der Sehnsucht und der Leidenschaft seit Menschengedenken.

Und dann auch noch in Sichtweite, aber in wohl sicherer Sichtweite des immer noch aktiven Vulkans, des gefährlichsten Vulkans Europas, der vor 78 Jahren sicher nicht zum letzten Mal Wut und Feuer gespuckt hat – Seine Glut ist feurig und eine gewaltige Flamme – , wie er es immer wieder getan hat, besonders gründlich und grausam im Jahre 79, was heute noch in Pompeji, dieser in Asche bedeckten Stadt, zu besichtigen ist: ein Ort wie das Totenreich. Ausgestreckt die von Glut, Feuer und Asche bedeckten Leiber, auch die ineinander verschlungenen Leiber von Liebenden, deren Umrisse in der Asche noch zweitausend Jahre nach ihrem Ende sichtbar sind, bzw. durch die berühmten Gipsabdrücke sichtbar gemacht wurden: Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich.

Für ihr Fest in Capri haben die beiden Liebenden – einer davon aus unserer Gemeinde, die andere aus Land und Gegend selbst – sich ein Wort aus dem Hohelied Salomos ausgesucht, nicht weniger schön und nicht weniger gefährlich als der Ort selbst: Steh auf, Nordwind, und komm, Südwind, und wehe durch meinen Garten, dass der Duft seiner Gewürze ströme! Mein Freund komme in seinen Garten und esse von seinen edlen Früchten. (Das Hohelied der Liebe 4,16) Sie können sich denken, welche Herausforderungen den Prediger über solche Verse treffen, damit er sein Thema nicht verfehlt, ohne unschicklich zu werden.

Ein Predigttext aus dem Hohelied Salomos gehört zu den seltenen Vergnügen von Prediger und Gemeinde und wenn nicht die Traupredigten wären, für die sich dann und wann ein Paar einen Vers aus diesem Buch aussuchte, müssten wir beinahe ganz darauf verzichten; aber beides – Seltenheit und Vergnüglichkeit – hat seinen Grund, und zwar ein und denselben; und man fragt sich, ob die beiden Glücklichen überhaupt wissen, was sie sich da aussuchen und wünschen: Ein Wort aus dem Hohelied der Liebe, einem Buch der Bibel zum rot werden auf jeder Seite, so deftig und saftig wird da von der Liebe gesprochen von einem der offensichtlich weiß, wovon er spricht; jeder erotisch relevante Körperteil – und welcher wäre das nicht? – wird in den glühendsten Bildern und Farben beschrieben – und dabei Gott kein einziges Mal erwähnt. Wer´s nicht glaubt, soll gerne selbst mal um unsere Verse im 8. Kapitel herumlesen; und wer sich dann nicht der erotischen Unverblümtheit, oder eher der eindeutigen Verblümtheit wunderte, dem wäre nicht zu helfen.

Es gibt genug Theologen, die es für einen genialen Irrtum halten, dass dieses Buch fleischlicher Gesänge unter falscher Flagge, nämlich des Salomon, in den Hafen der Bibel gesegelt ist; aber es wären keine guten Theologen, die das Buch und solche Verse nicht getauft und nicht so gedeutet hätten, dass sie für sie am Ende von Gottes Liebe sprechen; eigentlich schade aber wahrer als man zuerst denkt.

Die religiöse Aneignung dieser und der anderen sinnlichen Verse aus dem Hohenlied der Liebe bestand in ihrer hemmungslosen Spiritualisierung; also dass die auf die körperliche Liebe abzielenden Metaphern nun als Bilder der geistigen, göttlichen Liebe gedeutet werden. – Wenn Gott zwar nie genannt wird, wird er wohl immer gemeint sein. – Das muss man nicht für platonisch-christliche Verklemmtheit halten (zumal sich diese Interpretation schon bei den jüdischen Gottesgelehrten findet), sondern das vollzieht nur in der Poesie nach, was Gott durch die Evolution in der Biologie ins Werk gesetzt hatte: das körperliche Begehren im Dienste höherer Zwecke, die erotische Liebe als Lehrerin der agapischen Liebe.

Die griechische Sprache macht hier einen deutlichen Unterschied, den die deutsche nicht kennt. Das deutsche Wort Liebe umschließt beides, die begehrende Liebe des Eros wie auch die empfangende Liebe der Agape, wobei, wie wir allein schon an der antiken Interpretation des Hohelieds Salome erkennen, die eine durchaus Metapher der anderen sein kann. Und vielleicht enthält ja gerade der vereinheitlichende und vermeintlich ungenauere deutsche Sprachgebrauch die tiefere Weisheit, dass Liebe im eigentlichen Sinne umfassend und ganzheitlich zu verstehen und auch zu praktizieren sei. Es fehlt der Liebe etwas, wenn ihr einer der eigentlich so unterschiedlichen Aspekte fehlt. Begehren und Empfangen, menschliche und göttliche Liebe, könnten enger zusammengehören als es die griechische Schulweisheit wissen wollte.

Was sie aber zusammen mit dem unter dem Namen des großen Liebhabers und Königs Salomo dichtenden hebräischen Dichter zu wissen glaubt und wir ihr darin gerne folgen, ist die unüberwindliche Stärke der Liebe, die selbst nicht vom Tod überwunden werden kann, sondern ihrerseits den Tod überwindet: Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich.

Paradoxerweise und tragischerweise zugleich erkennen – und erleben wir womöglich selbst – die Wahrheit dieses Wortes im Tod des geliebten Menschen, der der Liebe zu ihm kein Ende zu setzen vermag. Über den Tod hinweg verbinden uns unsere Gefühle mit dem Verstorbenen, hält uns unsere Liebe zusammen, hält, obwohl uns der Tod längst geschieden hat.

Auf einer ganz anderen Insel als der vorhin erwähnten, umflossen von Atlantik und Ärmelkanal, in Großbritannien natürlich, viel kälter die Wasser, schlechter das Wetter und angeblich viel gefühlskälter die Menschen, gibt es ein bewegendes – und bestimmt nicht nur dieses eine bewegende – Zeugnis und Denkmal der Liebe – nämlich das heute noch hoch aufragende Albert-Memorial im Hyde-Park in London, das die nicht eben für ihre feurige Liebe bekannte Königin Viktoria ihrem Prinzgemahl Albert nach dessen Tod gestiftet hat und damit ihre unerloschene und nie erlöschende Liebe zu ihm zeigen wollte.

Ähnlich unserer golden leuchtenden Griechischen Kapelle in Wiesbaden, die ja als Grabmal vor allem Denkmal der überschwänglichen Liebe eines hessischen Fürsten zu einer russischen Zarentochter ist. Nicht jeder von uns kann auf diese Weise seiner Liebe ein Denkmal bauen, aber nachvollziehen und fühlen, um was es hier geht, können wir schon; uns davon berühren lassen und in uns wiederfinden, doch auch. Unsere Fähigkeit um unsere Liebsten zu trauern, jede Träne um sie, ist ein Denkmal unserer Liebe.

Der christliche Glaube ist hier noch einen kühnen Schritt weiter gegangen, indem er im Tod selbst das unerfindbare Zeichen der Liebe Gottes zu uns Menschen gesehen und gefunden hat. Der, der nichts für sich selbst zu sein vermag, will uns alles sein. Seine Liebe überwindet den Tod, indem er ihn mit uns und für uns erleidet. Indem wir das erkennen und glauben, empfangen wir die Liebe Gottes, die den Tod überwunden hat.

Denn Liebe ist stark wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich.

Predigttext für den 17. Sonntag nach Trinitatis, 9. Oktober 2022

Hört mir zu, ihr Inseln, und ihr Völker in der Ferne, merkt auf! Der Herr hat mich berufen von Mutterleibe an; er hat meines Namens gedacht, als ich noch im Schoß der Mutter war. Er hat meinen Mund wie ein scharfes Schwert gemacht, mit dem Schatten seiner Hand hat er mich bedeckt. Er hat mich zum spitzen Pfeil gemacht und mich in seinem Köcher verwahrt. Und er sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will. Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Doch mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott. Und nun spricht der Herr, der mich von Mutterleib an zu seinem Knecht bereitet hat, dass ich Jakob zu ihm zurückbringen soll und Israel zu ihm gesammelt werde – und ich bin vor dem Herrn wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke –, er spricht: Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, die Stämme Jakobs aufzurichten und die Zerstreuten Israels wiederzubringen, sondern ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde. (Buch des Propheten Jesaja 49,1-6)

Inseln am Ende der Erde:

Gestern Abend ist unsere liebe Freundin, Sophie Meine – stellvertretende Vorsitzende unseres Kirchenvorstandes – mit ihrer Familie zu einer Insel, zu fernen Völkern am anderen Ende der Erde aufgebrochen, nach Neuseeland; sie sitzen wohl noch immer oder schon wieder Flugzeug, nach einem Stopover in Singapur, konnten dort ihre Füße vertreten, es ist nett dort, mehr als das, wunderschön und schön warm, dort hat meine Frau als Kind ein paar Jahre den schweizerischen Kindergarten besucht. Bis nach Neuseeland – oder Ao-tea-roa – ist es von da noch ein Stück. So klein ist die Welt; so groß ist die Welt!

Auf Inseln am Ende der Erde werden auch wir heute geführt; zumindest in Gedanken.

Mit unserem Predigttext aus dem Buch des Propheten Jesaja begegnen wir heute einem wegweisenden Dokument unserer Religion, also natürlich zuerst der Religion des alten Israel und insofern und deshalb auch unserer christlichen Religion; einem Dokument, das die universalistische Wende markiert, die Ausweitung des Blicks vom Heiligen Land und von Gottes Volk auf die ganze Welt und alle Völker – bis an die Enden der Erde. Gottes Wort und Gottes Recht gelten allen Menschen; „Kirche für andere“ – im weitesten Sinne des Wortes. Der Prophet, der Knecht Gottes, ein neuer Mose, soll seine Stimme an wirklich alle Menschen richten – und macht so erst die Botschaft Jesu an alle Völker und die Mission des Paulus bis an die Enden der Erde möglich; wobei es unerheblich ist, dass für Paulus sein Ende der Erde in Nordspanien lag, denn auch unser Prophet meint mit den fernen Inseln wohl die für ihn fernen Inseln der Ägäis – und nicht die fernen Archipele der Südsee: Ao-tea-roa!

Jesaja und die Propheten, die sein Buch unter seinem Namen fortgeschrieben haben, müssen wir uns nicht unterwegs beim Segeltörn denken und ob sie ein Sabbatical eingelegt haben wie unsere zweite KV-Vorsitzende, wissen wir auch nicht; sie sprechen jedenfalls zu uns Daheimgebliebenen und nehmen uns so mit in die Ferne. Sie erweitern unseren Horizont, befreien uns aus den Verengungen unserer kirchlichen Milieus, wollen uns davon überzeugen, dass das, was wir im Namen Gottes sagen – und vielleicht wieder einmal nur zu wenigen sagen können, – eigentlich allen Menschen und auf der ganzen Welt gesagt und zugesagt ist: Gottes Heil, Rettung – die Jesaja und Jesus in ihren Namen tragen – Frieden und Segen.

Mit dem heutigen Text werden wir Zeugen, mehr noch Adressaten, einer Grenzüberschreitung, die wie jede Grenzüberschreitung ihr eigenes Problem in sich trägt und im schlimmsten Fall ein Missbrauch von Gottes guter Botschaft in alle Welt sein kann. Das soll aber nicht sein und das ist also unsere Verantwortung, Grenzen zu überschreiten, ohne sie zu verletzen; wir sind aufgefordert, ohne Rückfall in koloniale Muster oder imperiale Interpretationen unseren Glauben global zu denken, weil er nämlich global gedacht und gemeint ist, wie wir ja heute nicht zum ersten und nicht zum einzigen Mal hören: „Also hat Gott die Welt geliebt, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.“.

Gerade in Perioden weltweiter Krisen – wie wir sie erleben – kann es nicht darum gehen, durch kulturelle – oder für uns Christen: religiöse Selbstabschließung – also durch Lockdown! – vermeintlich retten zu wollen, was zu retten ist; im Gegenteil: Religion braucht Luft zum Atmen, Freiräume des Glaubens, Erfahrungen, die wir noch nicht gemacht haben.

Es sollte sich aber ebenso verbieten, unsere eigene kulturelle Aneignung des christlichen Glaubens, anderen als Norm aufzuzwingen. Nicht weil bei uns – aber was ist eigentlich mit diesem „uns“ gemeint? – alles in bester Ordnung wäre – was es nicht ist! – soll es uns zu den anderen Menschen und an andere Orte ziehen und denen unsere Ordnungen auferlegen, sondern weil wir doch unübersehbar und unzweifelhaft im Glauben fortwährend scheitern: Deshalb sendet uns Gott auf die Inseln an die Enden der Erde. Nicht dort weit weg ist Exil, wo neue Chancen sich eröffnen, sondern hier ist unser Exil in der Gefangenschaft unserer Routinen und Frustrationen und verpassten Möglichkeiten, die heutige „babylonische Gefangenschaft der Kirche“. Deshalb meint Gott: Wenn wir es alleine nicht hinkriegen, dann vielleicht mit den anderen?

Und das ist doch die unwahrscheinlichste aller Pointen unseres Predigttextes: Der prophetische Knecht Gottes bekommt seinen neuen Auftrag, aber nun nicht weil er den bisherigen so gut gemacht hätte, sondern obwohl er ihn so schlecht gemacht hat (was wir als persönliches Wort Gottes an uns hören können): Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz. Der namenlose Prophet, der sich in der Nachfolge des Jesaja mit dessen Namen kleidet, trifft ziemlich genau die Stimmung und das Lebensgefühl von vielen Engagierten in unserer Kirche: Vergebliche Arbeit, verzehrte Kraft, das gut gemeinte Engagement: umsonst und unnütz.

Und da ist eben nicht nur der besinnungslose Taumel einer bald dreißigjährigen Reformtherapie unserer Landeskirche die eigentliche Ursache, die keine Probleme beseitigt sondern unaufhörlich neue schafft (mit Woody Allen gesprochen eine Therapie, die uns nach Jahren ihrer Anwendung nicht der Sabberlätzchen entwöhnt sondern sie uns immer wieder neu umbindet), sondern die eigentliche Ursache ist die erst in der Pandemie unmissverständlich offenbar gewordene Systemirrelevanz unserer Kirche in der postreligiösen Gesellschaft: umsonst und unnütz. Let´s face it!

Mein Großonkel hat mir als Kind einen wenig schmeichelhaften Namen angeheftet. Für ihn war ich der Unnütz (auch heute nennt mich noch mancher so). Für diesen Großonkel Karl, einen sein Leben lang als polnischer Exilant am Hochofen bei Krupp schuftenden Arbeiter war der kleine Schöngeist genau das: der Unnütz, von dem auch in Zukunft keine Nützlichkeit oder auch nur Leben aus eigener Kraft zu erwarten war, was sich weitgehend bewahrheitet hat, denn so kann ich heute als Pfarrer dieser Kirche sprechen: Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz.

Der prophetische Knecht Gottes lädt uns ein, es nicht bei einem solchen Unnützlichkeitsurteil über uns selbst zu belassen, wenn er seine Rede sogleich fortsetzt: Doch mein Recht ist bei dem Herrn und mein Lohn bei meinem Gott. Und ich bin vor dem Herrn wert geachtet und mein Gott ist meine Stärke.

Unsere eigene, nicht zu verbergende, noch nicht einmal vor uns selbst zu verbergende persönliche Schwäche ist nach Meinung des Propheten völlig irrelevant für den Auftrag Gottes. Der hat uns schon im Mutterleib erwählt und noch vorgeburtlich ausgestattet mit allem, was wir brauchen für unseren Dienst: die starken Waffen seines Wortes. Und Gott schenkt uns dazu das, was wir uns von Dienstherren und Vorgesetzten, auch der Kirchenleitung vor Ort, so sehr wünschen und so oft vermissen: eine echte und ehrliche Wertschätzung unserer Bemühungen, die uns sagen lässt: Ich bin vom Herrn wert geachtet.

In weiteren Texten im Buch des Propheten Jesaja, den anderen sogenannten Gottesknechtsliedern, ist unser Prophet noch deutlicher geworden, wenn er die dialektische Verschränkung von menschlicher Schwäche und göttlicher Kraft zur Vorlage des Evangeliums des Gekreuzigten macht: „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig“, Gottes Kraft ist in uns Schwachen mächtig: Unnütze, die wir sind, stellt er uns in seinen Dienst.

Das ist unsere letzte und einzige Hoffnung, und sie reicht weit – bis zu den fernen Inseln, wie wir heute gehört haben, wo unsere Freundin und Kirchenvorsteherin unserer Gemeinde nun für eine ganze Weile leben wird, am anderen Ende der Erde.

Predigttext für den 14. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2022

Zu der Zeit wirst du sagen:
Ich danke dir, Herr! Du bist zornig gewesen über mich.
Möge dein Zorn sich abkehren, dass du mich tröstest.
Siehe, Gott ist mein Heil,
ich bin sicher und fürchte mich nicht;
denn Gott der Herr ist meine Stärke und mein Psalm
und ist mein Heil.
Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen
aus den Brunnen des Heils.


Und ihr werdet sagen zu der Zeit:
Danket dem Herrn,
rufet an seinen Namen!
Machet kund unter den Völkern sein Tun,
verkündiget, wie sein Name so hoch ist!
Lobsinget dem Herrn, denn er hat sich herrlich bewiesen.
Solches sei kund in allen Landen!
Jauchze und rühme, die du wohnst auf Zion;
denn der Heilige Israels ist groß bei dir!
(Buch des Propheten Jesaja 12)

Das Danklied, das wir gerade gesungen haben („Nun danket alle Gott“ EG 321) und das durchaus als Echo auf Danklieder der Bibel nachklingt, war für viele Generationen evangelischer Christen berühmt als der „Choral von Leuthen“. Was haben sie damit gemeint?

Am Abend nach der Schlacht von Leuthen, am 5. Dezember 1757, sollen die 25.000 preußische Soldaten spontan dieses Lied angestimmt haben – als Lob und Dank für einen unwahrscheinlichen Sieg, den sie unter König Friedrich dem II. – dem Großen – gegen eine österreichische Übermacht errungen hatten. Von diesem Ereignis aus ist das zuvor schon überaus populäre Kirchenlied – die 25.000 werden keine Liedblätter gehabt haben und konnten es trotzdem mitsingen – zu einer nationalen Hymne des weitgehend evangelischen Preußen geworden, wobei weder der Wortlaut selbst, noch die Melodie konfessionell evangelisch und schon gar nicht preußisch militärisch gefärbt sind, wie wir uns eben im Gesang überzeugen konnten. Man muss diese Wirkungsgeschichte nicht mitsingen, meine ich, aber ganz ausblenden kann man sie doch auch nicht.

In Kriegszeiten, in denen wir leben, lässt sich der Umgang vergangener Generationen mit Krieg und Frieden noch viel weniger ausblenden. Meine Generation hatte sich daran gewöhnt, dass Krieg ein Ereignis der fernen Vergangenheit oder ferner Länder wäre, jedenfalls nichts, was uns nahekommen oder direkt angehen könnte. (Obwohl die Redeweise von der Friedenszeit nach dem 2. Weltkrieg nie gestimmt hat.)

Nun aber haben wir eine Außenministerin, die vor Kriegsmüdigkeit warnt. Kein Tag vergeht, an dem nicht über Waffenlieferungen und taktische Finessen berichtet wird. Nicht der Abbruch von Kampfhandlungen sondern nur der Sieg soll den Krieg beenden. Noch die schlimmsten Schäden erscheinen nicht als Grund, den Krieg zu beenden, sondern als Grund, den Krieg fortzusetzen. Wir waren doch – so lange ist das nicht her – darin übereingekommen, dass Krieg nicht – und noch nicht einmal für den Sieger – zu gewinnen wäre angesichts seiner Verluste und Zerstörungen, und auf einmal macht sich der verdächtig, der einen Frieden ohne Sieg dem Krieg vorzieht. Dass wir Krieg wieder für ein Mittel halten, Frieden herzustellen, muss uns bedrücken. Mich bedrückt es.

Und deshalb – weil die Zeiten so sind – erreicht mich auch der Trost unseres biblischen Danklieds nicht mit seiner ganzen Kraft; wie ihn vielleicht auch seine ersten Hörer nicht mit ganzer Kraft traf. Denn auch sie konnten noch nicht – mit den Worten unseres Liedes gesprochen – die Fülle des Heils ausschöpfen; ihre Brunnen waren versiegt oder vergiftet, sie lebten in Zeiten des Zorns und Gottes Herrlichkeit war alles andere als bewiesen. Das Volk Gottes lebte zu Lebzeiten des Propheten im Exil oder unterdrückt im eigenen Land. Stadt und Tempel waren zerstört, das Land verwüstet. Fremde Herren bestimmten das geringe Leben im Land.

Der Dank unseres Danklieds nimmt also etwas vorweg, das noch nicht zu erleben war, das noch nicht real war, das noch in der Zukunft lag: Zu der Zeit wirst du sagen; Und ihr werdet sagen zu der Zeit – meint eine Zeit, die noch kommt, die noch aussteht; eine Zeit nach Unterdrückung und Krieg; eine Zeit nach Zerstörung und Gewalt. Wenn das alles geschehen und vergangen ist, dann ist die Zeit dieses Lobs und dieses Danks.

Zu den besonderen Gaben des Propheten gehören zum einen das Verstehen und Ansagen der Zeit; Zu der Zeit – also noch nicht jetzt! – wirst du sagen, sagt der Prophet;

und zu seinen Gaben gehören zum anderen die „Imaginationen des Friedens“ wie es Professor Scherle vor kurzem hier in der Thomasgemeinde genannt hat. Der Prophet kann sich vorstellen, wie es nach dieser bösen Zeit zu dieser anderen Zeit aussieht. Er blickt durch das Grauen des Krieges hindurch auf das zukünftige Heil durch Frieden. Er malt sich das aus und er malt es uns aus. Gerade im Buch des Propheten Jesaja finden sich kühne Bilder des Friedens:

  • Die gemeinsame Wallfahrt der Völker zum Zion
  • Gefüllte Brunnen; also die sichere Versorgung mit Wasser im von Dürre bedrohten Land
  • Der Garten, in dem wir unter Wein und Feigen sitzen werden
  • Das Umschmieden der Schwerter zu Pflugscharen
  • Friede unter den Tieren als Spiegel und Metapher des Friedens unter den Menschen: „Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und die Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinander liegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind.“ – wie es ein paar Verse vor unserer Stelle heißt.

Die prophetische Überzeugung hält Frieden für möglich; Wandel durch Annäherung selbst von Carnivoren und Vegetariern; Leben ohne Gewalt und Waffen.

Dieser prophetische Überschwang soll sich zumindest im Lied auf die Gemeinde, auf die Sänger von Dank und Lob übertragen. Singend nehmen sie vorweg, was noch nicht sichtbar, noch nicht wirklich ist – aber vom Propheten für möglich gehalten wird.

Auch unser Kirchenlied „Nun danket alle Gott“ erscheint erstmals 1636, mitten im Dreißigjährigen Krieg, ein Frieden war da noch nicht in Sicht; zwölf unvorstellbar lange Jahre sollte die Verwüstung des Landes vor allem durch fremde Mächte da noch weiter betrieben werden, bis zur Erschöpfung und darüber hinaus. Erst allgemeine Kriegsmüdigkeit führte zum Frieden, der noch lange bloße Abwesenheit des Krieges und doch und deshalb schon willkommen war.

Wenn wir Gott danken und loben, haben wir allen Grund dazu, sichtbaren und spürbaren Grund; aber nicht allein und nicht vor allem deshalb sollen heute unser Dank, unser Lob erklingen; sondern um dieser Zeit willen, die Gott herbeiführen wird, wenn alle Furcht und aller Zorn vergangen sind:

Und ihr werdet sagen zu der Zeit:
Danket dem Herrn,
rufet an seinen Namen!
Amen.

Predigttext für den zweiten Sonntag nach Trinitatis, 26. Juni 2022

Und es geschah das Wort des Herrn zum zweiten Mal zu Jona: Mach dich auf, geh in die große Stadt Ninive und predige ihr, was ich dir sage! Da machte sich Jona auf und ging hin nach Ninive, wie der Herr gesagt hatte. Ninive aber war eine große Stadt vor Gott, drei Tagereisen groß. Und als Jona anfing, in die Stadt hineinzugehen, und eine Tagereise weit gekommen war, predigte er und sprach: Es sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen. Da glaubten die Leute von Ninive an Gott und riefen ein Fasten aus und zogen alle, Groß und Klein, den Sack zur Buße an.Und als das vor den König von Ninive kam, stand er auf von seinem Thron und legte seinen Purpur ab und hüllte sich in den Sack und setzte sich in die Asche und ließ ausrufen und sagen in Ninive als Befehl des Königs und seiner Gewaltigen: Es sollen weder Mensch noch Vieh, weder Rinder noch Schafe etwas zu sich nehmen, und man soll sie nicht weiden noch Wasser trinken lassen; und sie sollen sich in den Sack hüllen, Menschen und Vieh, und heftig zu Gott rufen. Und ein jeder kehre um von seinem bösen Wege und vom Frevel seiner Hände! Wer weiß, ob Gott nicht umkehrt und es ihn reut und er sich abwendet von seinem grimmigen Zorn, dass wir nicht verderben. Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht. (Buch des Propheten Jona 3,1-10)

„Das glaube ich nicht!“, ruft eine meiner Schülerinnen aus der 6. Klasse laut in den Unterricht bei vielen passenden und bei noch viel mehr unpassenden Gelegenheiten. Das nervt manchmal, weil der Reliunterricht in der Schule ja nun gerade kein Glaubensbekenntnis erfordert, sondern eigentlich Kenntnisse über die Religion vermitteln soll, unabhängig vom eigenen Glauben. Unterricht – auch Reliunterricht – ist kein Gottesdienst. Auch in Mathe muss niemand an die binomischen Formeln glauben oder sie verehren – sondern sie kennen. Andererseits erleichtert einem natürlich der eigene Sinn und Geschmack fürs Unendliche den Zugang zum Thema; man hat dann schonmal eine Ahnung, worum es geht und wieso das interessant sein könnte: Gott und die Welt und der ganze Rest; übrigens auch die Welt der Zahlen als Abbild der Schöpfung aus Gottes grenzenloser Barmherzigkeit.

Hier bei unserer Geschichte könnte uns auch so ein Ausruf „Das glaube ich nicht“ herausrutschen: Kommt einer nach Gottes Auftrag in eine Großstadt, stellt sich hin vor die Leute, sagt ihren Untergang voraus, und die Zuhörer – schon dass er welche findet im Getümmel der Stadt, klingt reichlich unglaubwürdig – also die Zuhörer glauben ihm nicht nur, sondern ändern ihr Verhalten – und zwar allesamt, die ganze Stadt, sogar der König – sie fasten und kleiden sich in Sack und Asche zum Zeichen der Buße, kehren um: komplett unglaubwürdig! „Das glaube ich nicht!“

Stellen sie sich unseren Propheten in einer Großstadt vor, durchaus mit Ausblick auf Symbole einer möglichen Katastrophe, die ja Warnung sein könnten – vielleicht im Frankfurt der Bankentürme, oder in Neapel im Angesicht des Vesuvs, oder jede beliebige Metropole im Februar des Jahres 2020, also kurz vor dem weltweiten Ausbruch der Pandemie: Ist es da überhaupt denkbar, dass mehr als nur eine Handvoll Zuhörer dem Unheilspropheten folgte und das Verhalten änderte, die Gefahrenzone verließe und Sicherheitsmaßnahmen befolgte – und zwar bevor der ganze Schlamassel losgeht? Keine Chance; ganz im Gegenteil, noch während oder kurz nach einer katastrophalen Krise kehren wir garantiert zurück in den alten Trott, auf die alten morschen Holzwege, in die Sackgassen neuer Krisen und Katastrophen. Ehrliche Reue, wirkliche Umkehr, nachhaltige Veränderungen – unglaublich! Meiner Schülerin ist in dieser Sache zuzustimmen: „Das glaube ich nicht!“

Und doch verklingt, verweht die Stimme des Propheten nicht; und doch lesen wir das Buch und die Worte des unbekannten Autors bis heute; erfreulicherweise etwas häufiger bei uns nach der letzten Lesereform der evangelischen Kirche (nicht alle Kirchenreformen sind Pfusch!); aber noch nicht ganz so regelmäßig und häufig wie unsere jüdischen Schwestern und Brüder, die das Buch Jona jährlich im Herbst am Jom Kippur, dem großen Versöhnungstag, dem höchsten jüdischen Feiertag, als gottesdienstliche Festtagslesung lesen und hören.

Stellen Sie sich den Neujahrsmorgen und Karfreitag zusammen vor, alles ist still, kein Geschäft ist geöffnet, kein Mensch geht seinen Geschäften an, das normale Leben ist unterbrochen – so begehen Juden in ihren Gemeinwesen diesen Feiertag; man bleibt Zuhause; geht nicht herum, geht nur in die Synagoge: spricht nicht, isst nicht, wäscht sich noch nicht einmal, verzichtet sogar aufs Deo, von anderen noch privateren Verrichtungen zu schweigen; ein gesteigerter Sabbat, Schabbat Schabbaton wird er genannt, der Sabbat der Sabbate.

In der Schule – der Lehrplan sieht in der sechsten Klasse gerade das Judentum als Thema vor – haben wir versucht, den Charakter dieses Tages nachzuvollziehen. Wir sind natürlich schnell auf die Erfahrung des ersten Lockdowns vor zwei Jahren gekommen, der ja auch unser normales Leben zum Erliegen gebracht hat, der uns weitgehend Zuhause gehalten hat, der uns auf uns selbst geworfen hat. Bei allen solchen Ähnlichkeiten sind aber die Unähnlichkeiten zum religiösen Ruhetag noch viel größer: der Jom Kippur unterbricht das normale Leben präzise nur für diesen einen Tag; man weiß genau, wann er endet und dass anderntags, am nächsten Morgen das Leben – aber hoffentlich nicht einfach nur das alte Leben – wieder weitergeht; und das Thema dieses geplanten und genau terminierten religiösen Lockdowns ist nicht die Angst vor einer unheimlichen Krankheit und der Schutz vor ihr; wenn auch der Versöhnungstag durchaus die Sorge um das Leben, aber eben weniger die Sorge um den Leib sondern um die Seele thematisiert: es geht um mein Verhältnis zu Gott.

Am Jom Kippur treten Juden vor Gott – indem sie von ihrem eigenen Leben einen Moment zurücktreten. Die Zeit, die sie durch Nichtstun gewinnen, widmen sie ihrer Gottesbeziehung. Um sich ganz und gar unabgelenkt vor Gott zu stellen und damit nichts anderes ihre Gedanken beschäftigt, sind Juden gehalten, in der Zeit vor diesem Feiertag ihre Verhältnisse zu ordnen, ihre Schulden zu begleichen, nicht nur die finanziellen, die auch, aber vor allem die sozialen und emotionalen Schulden, begangenes Unrecht gutzumachen, sich mit seinen Gegnern zu versöhnen: erst mit den Mitmenschen ins Reine zu kommen, um mit Gott ins Reine zu kommen. Und dann, indem die Juden am Versöhnungstag Versöhnung mit Gott für möglich halten, wird sie wirklich. Versöhnungsbereit erleben sie den versöhnenden Gott.

Denn das war ja das Unglaublichste unserer Jonageschichte; noch nicht die erstaunliche Aufmerksamkeit einer Stadtgesellschaft für ihre, also für unsere Lebensprobleme, noch nicht die Einmütigkeit der Reaktion und auch noch nicht die Bereitschaft der Menschen zur Umkehr, sondern – eigentlich und viel mehr – die Umkehr Gottes. Gott kehrt um (auch die hebräische Bibel verwendet dieselbe Vokabel für den Sinneswandel von Mensch und Gott gleichermaßen); Gott reut sein Tun; Gott verändert sich im und durch das Verhältnis zu den Menschen. Gott ist veränderlich. Darf Gott so sein? Und darf ich das von Gott denken?

Also Jona meint bekanntlich erstmal: nein! Das wäre ja noch schöner, wenn Gott sich nicht nach unseren Regeln und Erwartungen verhielte, Jona setzt sich hin und schmollt erstmal. Er braucht ein paar Tage in Hitze und Sonnenlicht bis ihm ein Licht aufgeht und die Geschichte – wie die meisten Märchen – auch für ihn gut ausgeht.

Für uns Leser und Hörer bleibt die Erkenntnis, dass Gott immer größer ist als unser Denken über ihn, und dass auch seine Bereitschaft zur Barmherzigkeit keine Grenzen kennt. Und in dieser Erkenntnis liegt das Geheimnis begründet, dass der jüdische Tag der Gottesbegegnung als Versöhnungstag, Jom Kippur gefeiert wird. Wer sich in aller Ehrlichkeit Gott öffnet, kann mit Versöhnung rechnen. Indem wir Versöhnung mit Gott für möglich halten, wird sie wirklich. Gott für wahr zu halten, heißt, ihn als Versöhner für wahr zu halten; heißt, ihn für meinen Versöhner zu halten.

Können wir das glauben? Meine ungläubige Sechstklässlerin jedenfalls würde sich zu Jona in die Ecke setzen, eine Runde mitschmollen und alsbald und unaufgefordert ihr trotziges „Das kann ich nicht glauben!“ in die Runde geben.

Aber das muss ja nicht das letzte Wort bleiben. Amen.

Pfingsten, 5. Juni 2022

So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind.Denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Christus Jesus, hat dich frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.

Denn was dem Gesetz unmöglich war, weil es durch das Fleisch geschwächt war, das tat Gott: Er sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündigen Fleisches und um der Sünde willen und verdammte die Sünde im Fleisch, damit die Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, in uns erfüllt werde, die wir nun nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist.Denn die da fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnt; die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnt. Denn fleischlich gesinnt sein ist der Tod, doch geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede. Denn fleischlich gesinnt sein ist Feindschaft gegen Gott, weil das Fleisch sich dem Gesetz Gottes nicht unterwirft; denn es vermag’s auch nicht. Die aber fleischlich sind, können Gott nicht gefallen. Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, da ja Gottes Geist in euch wohnt. Wer aber Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein.

Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen. Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.

(Brief des Paulus an die Römer 8,1-11)

Wenn Menschen ihre Angehörigen im Sterben begleiten, berichten sie oft von diesem besonderen Moment des Übergangs vom Leben zum Tod, den alle Sterblichen, den alles Lebendige zu gehen hat, auch wir zu gehen haben, die wir unter dem Gesetz des Todes leben.

Bei aller Mühe, die uns das Sterben bereitet, ist das dann eher eine Erlösung, wenn der letzte Atemzug gemacht wird und endlich gemacht ist. Sein Leben aushauchen – oft hört man diesen letzten Atemzug ganz deutlich und er bleibt in Erinnerung als etwas Bedeutsames, wie denn auch nicht?

Meine große Schwester hat davon berichtet, keineswegs sentimental, was nicht ihre Art wäre, aber doch sehr eindrücklich, wie nach eher qualvollen Stunden der letzten Nacht – vor Jahren war das – meine Mutter und ihr Atem allmählich ruhiger wurde und dieser irgendwann aufhörte, der letzte Atemzug getan war. Als ich sie dann am nächsten Morgen wiedertraf waren beide verändert, offensichtlich meine Mutter, die das – also sie selbst – nicht mehr war ohne Atem und Leben; aber auch meine Schwester hat trotz ihrer nüchternen, in diesen Lebenssituationen besonders hilfreichen Art eine Weile gebraucht wieder für sich ins Leben zu finden.

In diesem Moment des Sterbens trennt sich der Geist von unserem Fleisch; in den alten Sprachen ist das oft dasselbe Wort: Atem und Geist. Es ist ja nicht nur der Atem der endet, sondern auch der Geist – das Denken und Fühlen kommt zu einem Ende. Der leblose Körper ist nach einem kurzen Moment unserer Orientierungslosigkeit kein Mensch mehr, sondern nur seine sterbliche Hülle, die sterblichen Überreste, die – wie es die Pietät gegenüber dem Verstorbenen und die Solidarität mit den Lebenden verlangt – möglichst würdig zu beseitigen sind. Erde zu Erde.

Wie die Bibel erinnert, beginnt menschliches Leben, das mit dem letzten Atemzug endet, auch mit einem Atemzug, und zwar dem Hauch Gottes, der als Geist Gottes dem Menschen – nichts anderes heißt Adam – das Leben einhaucht. Ganz am Anfang des Lebens heißt es am Anfang der Bibel: „Da machte Gott der Herr den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.“ (1. Mose 2,7)

Was die Bibel mythologisch erzählt, aber doch auch für uns Heutige nachvollziehbar und bis heute gültig erzählt, lässt sich biologisch nur schwer bestimmen: Wann beginnt das menschliche Leben? Wann erfüllt uns der Geist, den wir dann irgendwann als Gottes Geist begreifen lernen? Sicherlich nicht erst mit unserem ersten eigenen Atemzug, dem bis heute auf grobe Weise handgreiflich nachgeholfen wird – was hoffentlich mittlerweile der einzige Klaps auf den Hintern eines Kindes bleibt.

Aber mit dem ersten höchstpersönlichen Atemzug beginnt nicht erst das Leben, denn schon lange vor der Geburt atmet die Mutter für uns mit, gelangt Sauerstoff durch die Nabelschnur in das sich bildende Körperchen und beginnt neben allem anderen auch unseren Geist zu bilden und unsere Seele zu formen. Die vorgeburtlichen Erfahrungen gehören genauso zu unserem Seelenkostüm wie alles, was danach passiert. Dennoch bleibt natürlich unsere Geburt das entscheidende Ereignis unseres Lebens: Ein Mensch, mit Geist, mit Seele kommt auf die Welt, den gab es vorher nicht.

Der Apostel Paulus setzt diese Weltsicht des Menschen aus Fleisch und Geist voraus, die man keineswegs als die Lehre vom „Gespenst in der Maschine verunglimpfen“ oder schlichtweg für veraltet halten muss; denn sie knüpft an Menschheitserfahrungen an und verarbeitet Beobachtungen des Alltäglichen und sie ist nur dann falsch, wenn sie sich gegen neue Beobachtungen und Erkenntnisse verschließt.

Der Apostel Paulus zeichnet sie jedenfalls in sein Verständnis der christlichen Erlösungsbotschaft hinein. Er spekuliert nicht über die Erneuerung des Fleisches und den Widereintritt in unser altes Leben nach dem Tod, sondern er erkennt im Geistbegriff einen Anknüpfungspunkt für die Bedingung der Möglichkeit unserer Auferstehung. Und zwar allein der Glaube – nichts anderes ist damit gemeint, dass Christus in uns ist – bewirkt, dass wir mit Christus leben, selbst wenn wir sterben.

Der absoluten Trostlosigkeit der Fleischlichkeit – wir würden heute von Materialismus sprechen – also der absoluten Trostlosigkeit des Materialismus, setzt er die geistige Existenz des an Christus Glaubenden gegenüber. Nur der Glaube bewahrt uns vor der Verdammnis, die wir im Verfall unseres Fleisches als Gleichnis erkennen. Um es mit dem Heidelberger Katechismus zu sagen: Jesus Christus ist mein einziger Trost im Leben und im Sterben – ohne ihn ist alles Tod und Finsternis.

Nun ist es aber so, dass selbst der frommste und fröhlichste Mensch nicht aus eigener Kraft stets und ständig einen solchen Glauben, der sich an Christus hängt, in sich findet und aus sich selbst produzieren kann. So viel – zu viel! – spricht dagegen, gegen diesen Trost des Glaubens – und so viel für die Stärke der Schwachheit des Fleisches im persönlichen Bereich aber auch im Öffentlichen: unsere eigene Todesverfallenheit – (ohne Sie beleidigen zu wollen) wenn der Blick in den Spiegel nicht reicht, schaut euch die Briefe mit den Befunden eurer Ärzte an! – und die Todessehnsucht ganzer Gesellschaften, die wir gerade wieder im Kriegskult eines Volkes erleben – mit der Verherrlichung militärischer Stärke und der Verklärung der Menschenopfer: fleischlich gesinnt sein ist Feindschaft gegen Gott.

Und so wichtig es ist, die militärische Selbstverteidigung eines Landes zu unterstützen, so viel wichtiger ist es, Erfahrungen des Friedens und des Lebens zu schaffen, um die Logik des Krieges zu bekämpfen.

Und hier kommt der Heilige Geist mit seinem Hochfest der Pfingsten ins Spiel. Dieser Geist hilft unserer Schwachheit auf, wie es die Chöre nach Bachs Noten in diesen Tagen singen. Dieser Geist stupst und stößt und drängt uns auf die Erfahrungen des Friedens und des Lebens, die uns vielleicht sonst entgangen wären – und sei es bei einem Schwimmbadbesuch, wenn wir hier ukrainische Kleinkinder mit ihren Zuflucht suchenden Müttern planschen sehen, uns daran freuen, dass es ihnen wenigstens in diesem Moment bei uns offensichtlich gut geht, und darüber erschrecken, dass ihre Papas womöglich im Krieg sind und – das möge Gott verhüten – schon nicht mehr leben.

Geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede: Der Heilige Geist schafft Atempausen in den Konflikten des Lebens. Er reißt uns aus dem Tod ins Leben, zeigt uns das Leben neu. Er entgiftet uns vom Hauch des Todes, belebt uns mit dem Atem des Lebens.

Davon will Paulus, selbst ein Getriebener des Geistes, uns überzeugen: Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt. Amen.

Konfirmation am 29. Mai 2022

Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss es nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit. (Psalm 103,1-4)

Aus reinem Überschwang singen, voller Begeisterung – voller Übertreibung ja auch – das Herz voll und der Mund überfließend – so singt der Vers hier vom Dank und von der Freude über Gott.

So geradezu ekstatisch nach außen gekehrt kennen wir das kaum aus unseren Gottesdiensten, die ja meistens an eine langweilige Schulstunde erinnern, sondern wir kennen es eher aus dem Fußballstadion, wenn uns die Choreographie und der Gesang mitreißen und in ganz seltenen Fällen – so ungefähr alle vierzig Jahre – auch das mitreißende Spiel selbst, wie neulich mal wieder im Waldstadion nicht weit von hier; oder eben vor 42 Jahren am selben Ort, was die Dichter nicht ruhen und ihre Helden in Hymnen damals besingen ließ:

„Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,
Die den großen Gedanken vermochte, den
Knaben zu träumen, zu denken – und dann auch zu
Bilden mit den schnellen, beseelten, jauchzenden
Füßen des Jünglings: Flink, flitzend,
Flirrend und flackernd – nicht lange fackelnd,
Doch feuernd und feiernd; den fühlenden Herzen
Frankfurts zur Freude.
Bum Kun Cha! Freund aus dem Osten! Fremdling bist
Du nicht länger – nicht bitt’res Los ist Exil
Dir! Heimat, die zweite, du fandst sie. …“ (hier nach Wikipedia)

10 solche Verse lang besingt der Dichter Eckhardt Henscheid den Star jener Mannschaft; denkt euch Kostic in seinen besten Momenten und legt dann noch ne Schippe drauf, dann habt ihr einen Eindruck vom Spiel dessen, der da besungen wird. Genug davon.

Denn nicht von Fußballgöttern singt unser Psalm, sondern von Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde. Gibt es Momente, in denen wir solche Begeisterung für Gott empfinden, so dass wir singen und loben wollen und danken, dass es ihn gibt und dass es uns gibt durch ihn?

Vielleicht dieser: Vor ein paar Jahren habe ich mich nach einer kniffligen Operation im Krankenzimmer wiedergefunden, überall voller Schläuche – gut vernetzt könnte man sagen; noch mit schwerer Zunge – aber keiner lustigen Tränke wegen; zwar ohne Schmerzen, aber ziemlich unbeweglich, auch noch unsicher, wie gut es gegangen ist, aber doch schon froh, dass es gutgegangen ist. Laut singen hätte ich da noch nicht können, aber innerlich habe ich da gesungen, gelobt und gedankt; meinem Gott zuerst, der mein Gebrechen geheilt und mich vom Verderben erlöst hat; aber auch dem Halbgott in Weiß, den er mir geschickt hat, mit seinen geschickten Händen – ein von Gott begnadeter Handwerker wie ein Chirurg verdeutscht heißt – mein Innerstes auseinander- und dann wieder zusammenzuflicken sich getraut hat. Das war ein solcher Moment der überschwänglichen Begeisterung, dass es mich gibt – noch gibt aus reiner Gnade und Barmherzigkeit.

Und dann gleich der zweite Moment dieser Art; denn Gott hatte mir auch noch einen Zimmernachbarn geschickt, einen komischen Kauz, dem es schon etwas besser ging als mir, der mir ungefragt seine Lebensgeschichte anvertraute und seine Philosophie gleich dazu, die er durch mancherlei wunderliche Rituale mit Leben füllte – und hoffentlich immer noch füllt. Eins davon war sein Morgengruß, den er Gottseidank nur in abgemilderter Form im Krankenhaus durchführte, nämlich sonst eigentlich unbekleidet – also hier: schicklichkeitshalber leicht bekleidet – sich ans geöffnete Fenster zu stellen, die Arme auszustrecken und ein paar Minuten tief einzuatmen; dabei den ganzen Kosmos – den Weltengott nach seiner Lehre – zu spüren und ihm zu danken und zu loben: Lobe den Herrn, meine Seele! Konvertiert bin ich nicht zu seiner Religion, aber mich an seinem Glauben gefreut, das habe ich.

Und dann auch noch den dritten und viele weitere Momente, nämlich immer wenn meine Liebsten zu Besuch kamen, ihren Kummer über mein kümmerliches Äußere verbargen und mir allein durch ihre Anwesenheit ihre Liebe zeigten und mich meines neugewonnenen Lebens freuen ließen.

Die Liebe zu unseren Nächsten kann uns immer wieder mit Begeisterung, mit Lob und Dank erfüllen, auch wenn sie uns viel zu selten tatsächlich singen lässt, warum eigentlich nicht? Welcher Moment in einem Menschenleben wäre denn noch mehr ein Lied wert, als wenn wir unserem Kind das erste Mal begegnen: verschrumpelt, erschöpft, schreiend – aber nun da, nach unserem Abbild und in unserer Verantwortung. Sehr zu Recht feiern wir diesen Moment in einem Leben als das wichtigste Fest gleich neben Weihnachten, Halloween und dem Gewinn des Europapokals: Wie schön dass du geboren bist, wir hätten dich sonst sehr vermisst! Noch im spätmodernen Geburtstagslied klingt das uralte Danklied nach: Lobe den Herrn, meine Seele!

Wenn wir heute als Eltern unsere Kinder zur Konfirmation begleiten, dann denken wir jenen ersten uranfänglichen und viele weitere Momente mit; so viel haben wir mit euch schon erlebt, so viel habt ihr schon erlebt; und so viel mehr wird da noch kommen. Und ihr habt es schon erfahren, dass uns keineswegs immer zum Singen zu Mute ist und sein wird; wenn wir Leid spüren und Verluste hinnehmen müssen; wenn wir an anderen schuldig werden; wenn wir Unrecht erleiden oder wenn uns etwas Wichtiges misslingt – und damit meine ich bestimmt nicht die 5 in Mathe, die wir zugleich überbewerten, denn sie sagt ja nun mal nichts über unsere Persönlichkeit; andererseits aber auch unterbewerten, denn immerhin spiegelt die Mathematik die Ordnung und damit die Schönheit der von Gott geschaffenen Welt: die alten Griechen haben es passenderweise bei dem einen Wort für alles drei belassen: Kosmos als Ordnung, als Schönheit, als Welt. Lobe den Herrn, meine Seele, der Himmel und Erde geschaffen hat!

Mit der Konfirmation feiern wir das Leben, das uns Gott gegeben hat und – trotz allem – erhält; und wir schaffen mit ihr einen weiteren Moment, an den wir uns erinnern können; einen Tag wie diesen für die Unendlichkeit in unserem endlichen, begrenzten Leben.

Der Volksdichter Campino hat das für die Freunde der lauten und schnellen Musik so verdichtet:

„Ich wart‘ seit Wochen
Auf diesen Tag
Und tanz‘ vor Freude, über den Asphalt
Als wär’s ein Rhythmus
Als gäb’s ein Lied
Dass mich immer weiter durch die Straßen zieht

Durch das Gedränge
Der Menschenmenge
Bahnen wir uns den altbekannten Weg
Entlang der Gassen
Zu den einen Terrassen
Über die Brücken, bis hin zu der Musik

An Tagen wie diesen
Wünscht man sich Unendlichkeit
An Tagen wie diesen
Haben wir noch ewig Zeit. …“ (hier nach Wikipedia)


Wir müssen nicht denken, dass hier die Konfirmation besungen wird, aber wenn wir sie darin wiedererkennen, umso besser. Auch der Volksdichter und -sänger kommt nicht ohne Übertreibungen aus, wo doch seine Musik eine einzige maßlose Übertreibung an Lärm und Tempo darstellt; aber anders als er richten wir mit dem Psalmvers unseren Überschwang und unsere Übertreibungen an Gott; wir halten Gott für den, der uns Lebenszeit schenkt und in ihr die Momente der Ewigkeit dazu; diese kostbaren, krönenden Momente voller Gnade und Barmherzigkeit.

Wir feiern heute, dass wir nicht aus uns selbst leben; wir sind keine autonomen Monaden, die nur um uns selbst kreisen und für sich selbst da sind; sondern wir leben unser Leben von Gott her und zu Gott hin: Lobe den Herrn, meine Seele. Amen.

Sonntag Rogate, 22. Mai 2022

Und es begab sich, dass er an einem Ort war und betete. Als er aufgehört hatte, sprach einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht:

Vater!
Dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Gib uns unser täglich Brot Tag für Tag
und vergib uns unsre Sünden;
denn auch wir vergeben jedem, der an uns schuldig wird.
Und führe uns nicht in Versuchung.

Und er sprach zu ihnen: Wer unter euch hat einen Freund und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote; denn mein Freund ist zu mir gekommen auf der Reise, und ich habe nichts, was ich ihm vorsetzen kann, und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Die Tür ist schon zugeschlossen und meine Kinder und ich liegen schon zu Bett; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen und ihm geben, so viel er bedarf.

Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.  Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan. Wo bittet unter euch ein Sohn den Vater um einen Fisch, und der gibt ihm statt des Fisches eine Schlange? Oder gibt ihm, wenn er um ein Ei bittet, einen Skorpion? Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten! (Lukasevangelium 11,1-13)

Beten heißt: über seine Sorgen und Freuden sprechen.
Beten heißt: einem anderen so sehr zu vertrauen, dass man ihm sein Innerstes anvertraut.
Beten heißt: nicht von sich selbst alles erwarten.
Beten heißt: Gott für einen Ansprechpartner zu halten und ihn zu seinem Ansprechpartner zu machen.

Das sind ganz schön viele Bedingungen für das Beten, kein Wunder, dass es vom Aussterben bedroht ist. Wer betet denn noch in diesen Zeiten des allgemeinen Gelabers, des gegenseitigen Misstrauens, der quasi religiös verklärten Autonomie und außerdem gefühlte Jahrhunderte nach der Verkündigung des Todes Gottes? Uns scheinen die Voraussetzungen, die Möglichkeiten, die Fähigkeit und der Gegenstand des Betens abhandengekommen zu sein. Wir sind dem Gebet abhandengekommen; es liegt nicht in der Luft, es bietet sich nicht an, es verweigert sich unseren geplagten Seelen.

Und da wirkt es nur wie ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn ein ganzer Kirchenvorstand in seiner Klausur über die Psalmen meditiert oder ein Konfirmandenkurs im frommen Eichsfeld das Beten buchstabiert. Was wir übrigens mit viel Freude in den letzten Wochen getan haben, beides, und beides hoffentlich mit dem Gewinn, dass uns unsere Sprachlosigkeit vor Gott zumindest zeitweise gelindert wird. Wie nachhaltig, muss sich zeigen.

Unser Predigttext klärt uns darüber auf, dass es schon zur Zeit Jesu eine Not des Betens gab, einen Mangel an richtigen Worten, die Not des Beters in Worte zu fassen. Die hier geschilderte Episode verdankt sich ja der Aufforderung der Jünger, dass Jesus sie beten lehren möge, worauf dieser ihnen das – oder besser gesagt ein – Vaterunser vorspricht, denn die Version bei Lukas ist zwar deutlich als Vaterunser erkennbar, aber doch anders als die uns vertraute Fassung bei Matthäus. Hier bei Lukas klingt das Gebet konzentrierter und etwas kantiger; aber ich würde mich nicht darauf festlegen, was jetzt die ursprünglichere Fassung sei, die längere, die gekürzt, oder die kürzere, die verlängert worden wäre. In einer Kultur, die viel stärker als unsere durch Sprechen als durch Lesen geprägt war, ist auch denkbar, dass beide Fassungen Spielarten eines Grundmusters sind und mal so und mal so geklungen haben, wer kann das schon wissen?

In beiden überlieferten Formen folgt jedenfalls nach der Heiligung des Gottesnamens, die wir der jüdischen Gebetstradition verdanken: Dein Name werde geheiligt, und nach der Bitte um das Kommen des Gottesreiches: Dein Reich komme; eine dreifache Bitte, mit der im Grunde alle denkbaren, möglichen Gebetsbitten zusammengefasst und doch voneinander unterschieden werden:

  • Erhaltung der geschöpflichen Lebensgrundlagen; also nicht nur Brot sondern überhaupt Nahrung, Luft, Kleidung, Obdach usw; Gib uns unser täglich Brot Tag für Tag
  • Wiederherstellung der Gerechtigkeit durch Vergebung; also dass Gerechtigkeit nicht allein durch die Identifizierung der Schuld sondern erst durch ihre Vergebung wiederhergestellt werden kann: und vergib uns unsre Sünden; denn auch wir vergeben jedem, der an uns schuldig wird.
  • Rettung vor dem Bösen innerhalb und außerhalb meiner selbst: Und führe uns nicht in Versuchung.

Damit gibt das Gebet Jesu nicht nur den Wortlaut eines Gebets vor, der ja, wie wir sahen, durchaus auch variieren kann, sondern darüber hinaus einen inhaltlichen Leitfaden für die eigenen Gebete, um je nach Lebenslage unterschiedliche Schwerpunkte zu setzen, ohne aber die anderen Aspekte zu vergessen. Das leisten die 150 Psalmen in ihrer ganzen Fülle als Gebet- und Liederbuch des alten Israel auf ihre Weise ja auch. Ein Dankgebet an einem Frühsommermorgen – „Herr, deine Güte reicht so weit der Himmel ist“ (mit Psalm 36) wird anders klingen als die angstvolle Klage aus dem Schutzbunker „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ (mit Psalm 130) – im Vaterunser aber ist das alles jeweils mitgedacht: ziemlich viel Gebet in wenig Worten.

Im Anschluss an das Vaterunser, an dem wir Wortlaut und Inhalt eines Gebetes lernen, geht es dann um die Haltung von uns Betern, die der Text in ziemlich drastischen Beispielen als „unverschämtes Drängen“ vor Gott nun nicht etwa verurteilt, sondern fordert: Maximale Impertinenz ist gefragt!

Die alltägliche Bitte des Nachbarn an seinen Nachbarn um das, was er gerade nicht hat aber braucht – eine Prise Salz zum Kochen, ein Ei zum Backen, was weiß ich noch; hier halt Brote für einen unverhofften Gast – wird beinahe ins Absurde gesteigert, zumindest so weit, dass es uns wehtäte: Nächtens, nach dem zu Bett gehen, die Kinder haben längst die Zähne geputzt, ihre Geschichte gehört und gebetet; und man selbst dämmert so langsam in den Schlaf – da klopft und klingelt es und der bis eben noch sehr geschätzte, beinahe befreundete Nachbar steht vor der Tür und fordert nicht ein, nicht zwei, nein, gleich drei Brote für seinen Gast. Der hätte doch eher die eine oder andere Freundlichkeit ins Gesicht verdient oder zumindest den guten Rat, dass jetzt eben bis zum Morgen mal Intervallfasten angesagt ist. Und dann kriegt er halt doch seine Brote, aber nicht weil ich ihn noch mag, sondern weil dann endlich Ruhe ist und wir alle weiterschlafen können.

Soll heißen: Wenn unsere harten Herzen sich schon erweichen lassen, dann ist unserem Gott, der es offensichtlich nicht so eng mit der Nachtruhe sieht („Der Herr schläft und schlummert nicht“ Psalm 121), schonmal gleich gar keine Bitte zu groß und keine Stunde zu spät, dass wir ihm nicht unser Anliegen vorbringen könnten.

Zurückhaltung ist nicht die Haltung des Betens, Bescheidenheit ziert das Gebet nicht, sondern wir sollen uns wünschen, was wir brauchen, und darauf vertrauen , dass es Gott unbedingt gut mit uns meint: Nicht Schlangen und Skorpione bietet er uns an – wobei ich mich nicht verbürgen würde, dass es nicht auch Weltgegenden gibt, in denen so etwas nicht nur für nahrhaft sondern für delikat gehalten wird – sondern Fisch und Ei – und die, die sich auch dafür nicht erwärmen können, dürfen sich hier ihre Lieblingsspeise hineindenken – von der baskischen Fischsuppe, die mir neulich ganz ordentlich gelungen ist, zu den obligaten Fritten an roter Soße aus der Plasteflasche, warum denn nicht?

Unser Evangelist Lukas spricht übrigens nicht davon, dass wir uns Gott als willfährigen Oberkellner zu denken hätten, der umgehend um die Ecke kommt und das von uns gewünschte Menü auftischt – sondern: er gibt uns den heiligen Geist: wie viel mehr wird der Vater im Himmel den Heiligen Geist geben denen, die ihn bitten! Wir bekommen so viel mehr, als das, worum wir Gott bitten.

Wenn wir am Anfang die Not des Betens betrachtet haben, können wir am Ende sagen, dass diese Not nur durch Beten gelindert werden kann; ein Zirkelschluss aber kein Teufelskreis, denn wir können ihn durchbrechen; heute haben wir die Anleitung dazu bekommen.

Predigttext Misericordias Domini, 01. Mai 2022

Da sie nun das Mahl gehalten hatten, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr, als mich diese lieb haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Lämmer! Spricht er zum zweiten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Spricht er zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Schafe! Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst. Das sagte er aber, um anzuzeigen, mit welchem Tod er Gott preisen würde. Und als er das gesagt hatte, spricht er zu ihm: Folge mir nach! (Johannesevangelium 21,15-19)

und führen, wohin du nicht willst – so hat der seinerzeit weit bekannte Theologe Helmut Gollwitzer den Bericht seiner Erlebnisse in Krieg und Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion 1945-49 überschrieben. Trotz seiner – in der Gegenwart wieder schrecklich aktuellen – Erfahrungen als Gegner und Gefangener einer russischen Armee und eines russischen Machthabers hat er sich zeitlebens für die Aussöhnung mit dem einstigen Feind, für den Frieden über Feindesgrenzen hinweg und insbesondere gegen die Atombewaffnung eingesetzt und ist so zu einem Wortführer und Symbol eines pazifistischen Protestantismus geworden, dessen Wahrheit nun spätestens seit zwei Monaten schal geworden zu sein scheint. Ist sie das wirklich?

und führen, wohin du nicht willst – bringt für Gollwitzer den Verlust von Autonomie in Gefangenschaft und Verschleppung zum Ausdruck, aber auch schon den Verlust von Autonomie durch Teilnahme an einem ungerechten Krieg und der Beteiligung an den Verbrechen seines Volkes. Für Gollwitzer stellt der weitgehende Verlust der Selbstbestimmung in Krieg und Kriegsgefangenschaft aber keinen Grund dar, die Verantwortung für das eigene Leben und das eigene Handeln abzuweisen. Denn genau darum geht es ihm: die Möglichkeiten des richtigen Lebens im ganz und gar falschen Leben aufzuzeichnen. Noch im Gulag – falscheres, schlimmeres, fremdbestimmteres Leben lässt sich kaum denken – findet sich Leben.

Auch die Quelle seines Buchtitels, und führen, wohin du nicht willst, die wir heute als Predigttext besichtigen, meint den Verlust von Autonomie – nämlich des Petrus – in einer späteren Lebensphase. Man könnte das Jesuswort für eine allgemeingültige Beschreibung des fremdbestimmten Lebens im Alter halten und ihm darin zustimmen: Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt bist, wirst du deine Hände ausstrecken und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst. So ist es ja und jeder kann sich das jetzt schon anschauen im Seniorenheim, in das die wenigsten von uns geführt werden wollen, lange bevor es einen selbst treffen mag. Und natürlich wird hier zuerst ein altersbedingter Mangel beschrieben, der den Alltag beschwerlich macht; noch beschwerlicher allerdings für den, der niemanden hat, zu dem er seine Hände ausstrecken kann, der ihn gürtet und führt.

Aber sicherlich ist hier an unserer Bibelstelle konkreter der fremdbestimmt-selbstbestimmte Märtyrertod des Petrus gemeint, von dem der Autor des Johannesevangeliums dann wohl schon gewusst hat: Das sagte er aber, um anzuzeigen, mit welchem Tod er Gott preisen würde. Auch wenn – oder gerade weil! – hier etwas vorhergesagt wird, was schon eingetreten ist, wird man aber am Martyrium des Petrus in Rom – anderes als frühere Generationen – historisch nicht zweifeln müssen. Dieses römische Martyrium hat zu seiner besonderen Wertschätzung in der Erinnerung der frühen Christen beigetragen und natürlich zum Anspruch des römischen Bischofs als seines Nachfolgers.

Dabei sind die Erinnerungen an Petrus überaus ambivalent. Dreimal verleugnet Petrus seinen Heiland, lässt darüber einen Hahn heiser werden, und wohl deshalb fragt ihn Jesus diesmal dreimal, ob er ihn liebe. Sicher kann er sich dessen nicht mehr sein; wer einmal lügt, dem glaubt man nicht; und wer einmal die Solidarität verweigert, hat schnell sein Ansehen verspielt. Der Kummer des Petrus über die wiederholte, vergewissernde Frage Jesu – Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und sprach zu ihm: Herr, du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich lieb habe. – ist einerseits verständlich – wer wird schon gerne an sein Versagen erinnert? – aber durchaus unberechtigt, denn Jesus möchte eben ganz genau wissen, auf was für einen wackeligen Felsen er seine Kirche baut.

Immerhin gibt Jesus ihn nicht auf, sondern fragt und beauftragt ihn nun eben dreimal – für jedes Leugnen eine Frage – seine Lämmer, seine Schafe zu weiden; also Hirte, Pastor seiner Kirche zu werden. Ob Petrus in Zukunft verlässlich sein wird, bleibt offen, ob sich Jesus auf ihn verlässt, nicht. Der Verlassene verlässt ihn nicht. Trotz seiner Fehler, die unsere Fehler sind, wird Petrus in die Verantwortung berufen; trotz unserer Verkrümmungen sollen wir für uns und andere geradestehen.

Helmut Gollwitzer bringt diese Bestimmung des Menschen durch Gott in einem anderen seiner vielgelesenen Werke auf den Punkt: „Krummes Holz – Aufrechter Gang“ lautet der sprechende Titel. Es mag sein, wie ein ehemaliger Kirchenvorsteher immer mal wieder bei passender Gelegenheit bemerkte, dass man aus einem Ochs kein Rindfleisch machen kann, aber Gott wenigstens will uns trotz unserer Verkrümmungen mit aufrechtem Gang durchs Leben gehen sehen; noch der feige, unsolidarische und leugnende Petrus soll sich wieder aufrichten, bekommt eine zweite Chance, eine geöffnete Tür, eine Brücke in ein Leben der Verantwortung für sich selbst und andere: „Krummes Holz – Aufrechter Gang“

Auch Helmut Gollwitzer und die von ihm zeitlebens geforderte Aussöhnung unter Feinden verdient eine relecture, eine zweite Chance. Es ist unbedingt richtig, den angegriffenen Menschen im überfallenen Land mit allen verantwortbaren Mitteln in ihrer Selbstverteidigung zu helfen. Vielleicht geht da noch mehr, „um dem Rad in die Speichen zu fallen“, also – in einer Wendung Dietrich Bonhoeffers – auch militärisch Widerstand zu leisten. Aber es erscheint mir nicht richtig – bitte korrigieren sie mich – mit dem Angreifer ein ganzes Volk, seine Kultur zu dämonisieren und seine Bekämpfung zu rechtfertigen. Auch mit Feinden wird Frieden zu schließen sein, angesichts der Zerstörungen und des Leids besser heute als morgen.

„Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ sagt Jesus an anderer Stelle und begründet damit den christlichen Pazifismus, der nun über Nacht falsch geworden sein soll, wo doch eigentlich nur die Mittel, Frieden zu sichern, sich als untauglich erwiesen haben. Bleibt zu hoffen und alles daran zu setzen, bessere Mittel zu finden, den Frieden zu stiften und dann zu erhalten, denn Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.