Gottesdienst zum Konfirmationsjubiläum

Bei strahlendem Frühlingswetter lud die Thomaskirchengemeinde am Sonntag, den 27. Mai 2018, zu einem festlichen Gottesdienst aus Anlass des diesjährigen Konfirmationsjubiläums ein. Insgesamt 23 Jubilarinnen und Jubilare fanden sich ein, darunter fünf Silber- und 16 Goldjubilare, die als junge Menschen 1968 oder 1993 in unserer Kirche konfirmiert wurden. Aus unserer Gemeinde feierte eine Dame ihr Diamantenes Konfirmationsjubiläum (60 Jahre) und ein Jubilar konnte das seltene Fest der 80jährigen Eichenkonfirmation begehen.

Für die musikalische Umrahmung sorgte neben unserer Organistin Gabriela Blaudow auch die Altistin Norina Mitter. Im Anschluss an den Gottesdienst konnten sich die Gäste und Besucher noch bei einem Glas Sekt austauschen und alte Zeiten Revue passieren lassen.

Konfirmation 1968 Thomasgemeinde
Konfirmation 1968 Thomasgemeinde
Konfirmationsjubiläum 2018
Konfirmationsjubiläum 2018

Bewegung

Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Wind und Regen gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann. (Paul Gerhardt, Evangelisches Gesangbuch 361)

Unsere Spaziergänge, unsere Wanderungen, unsere Ausflüge, unsere Reisen – da steht jetzt wieder einiges an – sind alle mehr, als was sie zunächst scheinen: Zerstreuung, Erholung, Entdeckung, Bildung bestimmt – aber darüber hinaus auch noch Sinnbild für unser Leben. Das ist in Bewegung. Noch das ruhigste, scheinbar gleichförmigste, stabilste, an ein und demselben Ort verbrachte, mönchischste Leben (die Mönche sprachen von der stabilitas loci) – noch ein solches Leben ist im eigentlichen Sinne bewegt zu nennen. Unser Heidelberger Frisör erzählte uns bei jedem Besuch, dass er niemals in seinem Leben aus dem Neckartal herausgekommen sei (ob das wirklich gestimmt hat?). Und er erzählte es mit einem gewissen Stolz, denn er meinte, dass es kaum irgendwo schöner sei und sein könnte und damit hat er ja recht. Noch sein ziemlich ruhiges Leben ist bewegt, denn es durchläuft ja wie jedes die Lebensalter, durcheilt die Lebensphasen, rast mit der Zeit, in der es gelebt wird. (Ob er – der Frisör – noch lebt?) Und deshalb sagt und zeichnet eine Reise etwas über unser Leben.

Ein Ziel ist nötig, ein Weg wird gesucht, Begleitung willkommen: Wohin, wie, mit wem will ich reisen: Berge oder Meer, Städte oder Strand, Übersee oder Ostsee, wo alle anderen sind oder wo niemand ist (das kann schwer werden), wo wir schon immer oder wo wir noch niemals waren. Reisen hat ja auch etwas Spielerisches, neue Reise, neues Glück, neues Ziel. Das Ziel kann verloren gehen. Wohin und zu welchem Zweck bin ich eigentlich unterwegs? Meistens dürfte die Rückkehr nach Hause, der Wiedereintritt in unser altes Leben das eigentliche Ziel sein. Aber mit  etwas Glück haben wir vorher auf der Reise erlebt, dass sich Wege gefunden und neue Ziele gezeigt haben. In den meisten Fällen werden wir das dann nicht dem zuschreiben, der Wolken, Wind und Regen Wege, Lauf und Bahn gibt. Wir scheinen da Möglichkeiten unseres Glaubens nicht zu nutzen.

Aber genau dazu lädt uns der Dichter Paul Gerhardt mit seinem Lied ein: Dass wir uns und unsere Wege dem Gott anvertrauen, der Himmel und Erde gemacht hat; wie ja schon der ursprüngliche Psalmvers: Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen (Psalm 37,5). Ohne unsere Probleme zu verniedlichen, setzt er sie heilsam zum großen Ganzen in Beziehung. Wenn uns einer helfen kann, dann ist es der, der Himmel und Erde gemacht hat und erhält und in Bewegung hält. Der wird auch uns weiterhelfen, wenn wir ins Stocken geraten, wenn wir auf der Stelle treten, oder wenn wir in die Irre geraten, nicht mehr weiterwissen.

Und auch das zweite, dass wir unsere Kränkungen, unsere Verletzungen des Herzens und der Seele vor Gott bringen, ist einen Versuch wert. Es ist ja vielleicht kein Zufall, dass Paul Gerhardt als Seelsorger die Suche nach dem Weg mit der Sorge um unsere Seele zusammenbringt. Wir wären nicht die ersten, denen es geholfen hat – auch seelisch geholfen hat, sich in Bewegung zu setzen. Gehend, wandernd, schreitend pflegen wir unsere Seele – ob im Wiesbadener Stadtwald oder an einem fernen Strand.

Ihr Klaus Neumann

Museumsführung: Gerhard Richter – Frühe Bilder

Das Museum Wiesbaden zeigt  in Kooperation mit dem Kunstmuseum Bonn und dem S.M.A.K. Gent, eine noch bis zum 17. Juni 2018 laufende Sonderausstellung zu Gerhard Richter mit dem Titel „Frühe Bilder“.

Anlässlich dieses kulturellen Highlights direkt vor unserer Haustür möchten wir Sie herzlich einladen zu einer Führung durch die Sonderausstellung am Dienstag, 22. Mai 2018, um 18.45 Uhr. Es führt uns Julia Rössel (M.A.). Die Veranstaltung dauert ca. 1 Stunde, das Museum ist bis 20.00 Uhr geöffnet.

Treffpunkt ist um 18.30 Uhr an der Museumskasse.

Der Eintritt inkl. Führung beträgt pro Person 10 Euro bzw. 7 Euro je nach Größe der Gruppe.

Wegen der begrenzten Teilnehmerzahl bitten wir Sie um Anmeldung bei A.S. Meine unter Tel. 0611.97 44 940.

 

 

Gottes Schöpfung ist sehr gut! (Gen 1,31) – Weltgebetstag am 2. März

Der diesjährige ökumenische Weltgebetstag am ersten Freitag im März widmet sich dem kleinsten Land Südamerikas: Surinam. Seine rd. 540.000 Einwohner haben u.a. afrikanische, indische, indigene, javanische, europäische und chinesische Wurzeln – ein ethnischer, kultureller und religiöser Schmelztiegel, in einer beeindruckenden Natur, mit einer bewegten Vergangenheit und großen aktuellen ökologischen und gesellschaftlichen Problemen. An der Liturgie des Weltgebetstags, der traditionellerweise von Frauen organisiert wird, haben Vertreterinnen der fünf verschiedenen christlichen Konfessionen in Surinam mitgewirkt. Neben der römisch-katholischen Kirche spielt dort v.a. die protestantisch geprägte Herrnhuter Brüdergemeine eine große Rolle. Allein in Deutschland verbinden sich am 2. März über 100.000 Kirchenbesucher in Gebet, Liedern und Gedanken mit Surinams Frauen und den Herausforderungen ihres Alltags. Mit Kollekten und Spenden fördert das deutsche Weltgebetstagskomitee das Engagement seiner weltweiten Projektpartnerinnen.

Die ökumenische Feier von St. Mauritius, der Thomasgemeinde und der Versöhnungsgemeinde findet am Freitag, 2. März, um 18.00 Uhr in der Krypta von St. Mauritius statt. Für die musikalische Begleitung sorgen die Glorifeen, der Chor der Versöhnungsgemeinde. Im Anschluss gibt es landestypische Speisen und Getränke und die Gelegenheit zum Austausch. Alle sind dazu sehr herzlich eingeladen!

Vorbereitungstreffen für alle, die den Weltgebetsgottesdienst mitgestalten wollen: Mittwoch, 7. Februar, um 15.30 Uhr in der Versöhnungsgemeinde

Das bekannte Unbekannte: Bachs Weihnachtsoratorium

Wann hatte der Mann eigentlich Zeit zu schlafen? Wenn man sich Johann Sebastian Bachs Wochenpensum als Leipziger Thomaskantor einmal vor Augen führt, kann man nur staunen. Ab 5 Uhr früh erfüllte er – nicht immer ohne Murren und Anstrengung – seine Pflichten: Gruppen- und  Einzelunterricht der Thomaner, Aufsichtsdienste, Hochzeiten, Begräbnisse, Gottesdienste, Orgelgutachten, Proben, Komponieren zu weltlichen und kirchlichen Anlässen, in den ersten Jahren wöchentlich eine Kantate, dazu nebenan die 55 Internatsschüler, die nicht auf Rosen gebettet wurden, und der Alltag in einer ständig wachsenden Familie. Zu den großen Tragödien in Bachs Leben zählt, dass von seinen 20 Kindern nur die Hälfte das Kindesalter überlebten. So überweltlich seine Musik ist, Bach komponierte nicht in einem Elfenbeinturm, sondern als Mensch seiner Zeit, der nur zu genau wusste, was Freude und Trauer, Zweifel und Hoffnung, Geburt und Tod waren.

Das Weihnachtsoratorium scheint Bachs zugleich bekanntestes und verkanntestes Werk zu sein. Wer hört nicht die berühmten ersten Takte mit Pauken und Trompeten, trillernden Flöten und sirrenden Streichern wie eine Art universalen Weihnachtsjingle und meint nicht, gleich das ganze Werk zu kennen, weil ihm viele der Kirchenlieder darin vertraut sind? Und wer hat nicht schon die besondere barocke Sprache („zärtliche Triebe“, „Herzensstube“, „abfahren“, „gerochen“…) als recht altmodisch empfunden? Wer würde sich überhaupt noch die Zeit nehmen, sich nicht nur die ersten drei, sondern alle sechs Zyklusteile mit all den Chören, Chorälen, Rezitativen und Arien aufmerksam anzuhören? Bachs Weihnachtsoratorium ist alles andere als ein einfaches Krippenspiel. Es war auch nicht als reines Konzert gedacht. Der Zyklus wurden vom 25.12.1734 bis 6.1.1735 als eigens für die Liturgie komponierte Musik in den Leipziger Hauptkirchen, der Nicolaikirche und der Thomaskirche, mit einem Teil der Thomaner und Stadtmusikern aufgeführt. Auch wenn Bach, wie es zu der Zeit absolut üblich und gar nicht unrühmlich war, viele Passagen aus früheren Stücken parodiert, d.h. übernommen, überarbeitet und veredelt hat, ist das Oratorium von bemerkenswerter Geschlossenheit und Perfektion, wie ein großer Kirchenbau, in dem jeder einzelne Stein seinen exakten Platz hat. Zahlreiche Bezüge (thematisch, tonartlich,  instrumentatorisch, textlich) halten die Teile zusammen.

Es lohnt sich, das Weihnachtsoratorium (neu) zu entdecken. Zum Beispiel die enorme rhythmische Vielfalt und Vitalität der schnelleren Sätze innerlich „nachzutanzen“ oder die vertrackten Synkopen in der Begleitung der Bass-Arie „Großer Herr und starker König“ (I/5) zu „sortieren“. Ist es in der Sinfonia (II/10) nur die Ambivalenz der Dur-Moll-Wechsel, dass aus einer harmlosen Pastorale ein fast schmerzhaftes Sehnen herauszuhören ist? Im Hirtenchor „Lasset uns nun gehen“ (III,26) bemerkt man schmunzelnd, dass die Hirten so aufgeregt sind, dass sie alle auseinanderlaufen. Wo wurde Geborgenheit und Zuversicht je besser in Noten gefasst als in dem schwebenden Duo von Altstimme und Solovioline (III/31: „Schließe, mein Herze“)? Und wie hat nicht die verspielte Echo-Arie im 4. Teil die ehrwürdige Fachwelt mit ihren überzähligen Echos („ja! – ja!“, „nein! – nein!“) verdrossen! Auch das Terzett im 5. Teil scheint geradewegs von einer Opernbühne herabzusteigen. Und im Schlusschoral steckt ein veritables Trompetenkonzert. Bei jedem Hören findet man etwas Neues in diesem Wunderwerk.

Anne Sophie Meine

Was ist das Reformatorische an der Reformation? – Vortragstext

Im Nachgang zum Vortrag vom 24.10.2017 hat Frau Prof. Dingel sich freundlicherweise bereiterklärt, das Manuskript zum Nachlesen zur Verfügung zu stellen.

Was ist das Reformatorische an der Reformation?

(Irene Dingel ©)

Die Reformation war für die europäische Geschichte in jeder Hinsicht ein einschneidendes Ereignis. Denn sie veränderte nicht nur christliche Theologie und Frömmigkeit, sondern hatte auch Auswirkungen auf die gesellschaftlichen und politischen Strukturen in Europa. Zudem wurden ethische Auffassungen auf ein neues Fundament gestellt und rechtliche Normen neu definiert. Aber auch schon vor der Reformation hatte es im Spätmittelalter Erneuerungsbewegungen innerhalb der Kirche gegeben, ebenso wie Kritik an herrschenden Strukturen und Praktiken.

So hatten z.B. die Waldenser, die Anhänger des aus Lyon stammenden Kaufmanns Petrus Valdes (ca. 1140-ca. 1218), die Rückkehr der kirchlichen Amtsträger zu apostolischer Armut gefordert und einen starken Akzent auf Predigt und Bibelstudium gesetzt. Die Lektüre der Bibel sollte nicht nur dem Klerus vorbehalten, sondern auch für Laien gestattet sein. Heiligenverehrung, Fegefeuer und Ablass lehnten sie ab. Der lombardische Zweig der Waldenser stellte zudem die herrschende Sakramentenlehre und -praxis in Frage, sofern sie sich nicht durch das biblische Zeugnis legitimieren ließen. All dies brachte sie schnell in Häresieverdacht.

In England traten gegen Ende des 14. Jahrhunderts die Lollarden hervor, die sich auf das Wirken des Oxforder Theologieprofessors John Wyclif (1330–1384) zurückführten. Auch sie machten die Bibel, die unter ihnen in eigenen englischen Übersetzungen kursierte, zu Ausgangspunkt und Maßstab von Kirchenkritik und Reformforderungen. Wyclif verstand die Kirche als Gemeinschaft der Prädestinierten, weniger als eine hierarchisch strukturierte äußerliche Institution. Ebenso wie die Waldenser mahnten die Lollarden zu einer „vita apostolica“ der Amtsträger. Im Papst erkannten sie geradezu das Gegenbild des in Armut lebenden Christus und sahen in ihm den Antichrist schlechthin. Später äußerten sie auch Kritik an der Heiligenverehrung und der Transsubstantiationslehre, d.h. der Lehre von der Wandlung der Elemente Brot und Wein in Leib und Blut Christi beim Abendmahl. Dies spaltete die Bewegung allerdings, da nun ihr von der herrschenden Lehre abweichender, häretischer Charakter deutlich zu Tage trat. Die Lollarden verloren an Rückhalt und musste im 15. Jahrhundert schwere Verfolgungen erleiden. Wyclifs sterbliche Überreste wurden noch 45 Jahre nach seinem Tod verbrannt.

Anders als die Waldenser und die Lollarden konnten sich die ebenfalls kirchenkritischen Hussiten – so genannt nach Jan Hus (ca. 1370–1415) – in Böhmen und Mähren sogar als eine von Rom unabhängige Kirche etablieren. Sie praktizierten das Abendmahl „sub utraque specie“, d.h. unter beiderlei Gestalt, und beriefen sich dafür auf das Zugeständnis des Laienkelchs auf dem Basler Konzil von 1433. Man nannte sie auch „Utraquisten“. Ihnen gehörte sogar die Mehrheit der Bevölkerung in Böhmen an. Wie für Valdes und Wyclif stand auch für Hus die Heilige Schrift an erster Stelle. Gleicherweise fand sich die Armutsforderung an die Kirche bei ihm und seinen Anhängern sowie die Kritik an dem eingetretenen moralischen Verfall und an den päpstlichen Primatsvorstellungen. Kein Wunder, dass man Hus der Häresie bezichtigte. Im Juli 1415 wurde er während des Konstanzer Konzils auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Auch wenn sich die Reformation Martin Luthers nicht aus den hussitischen Strömungen herleitet, brachte der Reformator sich und seine Lehre auf der Leipziger Disputation von 1519 selbst mit Jan Hus in Verbindung. Es ist eine Äußerung Luthers aus dem Jahre 1531 überliefert, in der er folgendes bemerkt: „Johannes Hus hat von mir geweissagt, als er aus dem Gefängnis im Böhmerland schrieb, sie werden jetzt eine Gans braten (denn Hus heißt eine Gans. Aber in hundert Jahren werden sie einen Schwan singen hören, den müssen sie ertragen. Dabei soll es auch bleiben, so Gott will“.

Die Reformation hatte also manche Kritikpunkte und Erneuerungsansätze mit spätmittelalterlichen Reformbewegungen gemeinsam; auch Elemente persönlicher Frömmigkeit, wie sie die Mystik vorgeprägt hatte, setzen sich in der Reformation fort. Dennoch fußt die Reformation auf grundlegenden Neuansätzen. Sie wurden befördert durch einen veränderten Umgang mit der Heiligen Schrift, durch die Kritik an herrschenden Autoritätsstrukturen, durch die massenhafte Verbreitung reformatorischer Ideen mit Hilfe neuer Medien und eine wirkmächtige Rezeption in allen gesellschaftlichen Schichten. Dies löste solch tiefgreifende Veränderungen sowohl im öffentlichen als auch privaten Raum aus, dass man der Reformation im Rückblick zu Recht eine „epochale“ Bedeutung beimisst und mit ihr die Frühe Neuzeit beginnen sieht. Als ausschlaggebendes Datum dafür feiern wir das Jahr 1517, in dem Martin Luther seine 95 Thesen veröffentlichte. Denn sie setzten nicht nur das Nachdenken über zentrale theologische Fragen in Gang, sondern verstärkten vor allem den Ruf nach Erneuerung von Kirche und Gesellschaft, befördert durch die rasante Verbreitung, die der Inhalt der Thesen und nachfolgende Schriften des Reformators durch den Buchdruck erfuhren. Dem standen weitere reformatorische Ansätze in Europa zur Seite, die mit den Impulsen, die um 1517 von Wittenberg ausgingen, in Interaktion traten.

Ausschlaggebend für die Distanzierung von der überkommenen Tradition und charakteristisch für die Reformation war ihre konsequente Orientierung an vier Kriterien, die uns in den Schlagworten „sola scriptura“, „solus Christus“, „sola gratia“ und „sola fide“ bekannt sind. Selbst wenn es die Reformatoren – Luther ebenso wie Zwingli, Bucer oder Calvin – nicht explizit formulierten – so lagen diese Kriterien ihrer Lehre und ihrer Position im politischen und gesellschaftlichen Miteinander normgebend zugrunde. Dies hatte natürlich in erster Linie Auswirkungen auf die kirchliche Verkündigung und die individuelle Frömmigkeit. Aber auch die Strukturen und Verantwortungsbereiche von Gesellschaft und Politik waren von den reformatorischen Positionen betroffen, wie wir später noch sehen werden. Zugleich ging mit der Verbreitung der Reformation die vermeintliche religiöse Einheit Europas in der einen christlichen Kirche endgültig verloren. Langfristig entstanden die bis heute existierenden großen christlichen Konfessionen. Das war ein Prozess, der oft mit Staatsbildungsprozessen sowie mit gesellschaftlichen und kulturellen Transformation verbunden war.

Die Reformation war also ein insgesamt äußerst komplexes Geschehen, bei dem zahlreiche Faktoren zusammenwirkten; ein Geschehen, das seinerseits in viele Bereiche hineinwirkte. Wir wollen unsere Frage, was denn nun das eigentlich Reformatorische an der Reformation ist (und sie zu einem Umbruchsphänomen machte), auf drei Ebenen betrachten: zunächst mit Blick auf Kirche und Frömmigkeit, sodann hinsichtlich Gesellschaft und Familie und schließlich mit Bezug auf Recht und Politik.

I. Kirche und Frömmigkeit

Bis heute sind Kirche und Frömmigkeit im evangelischen Raum durch die Neuansätze der Reformation bestimmt. Ausschlaggebend war Luthers Betonung der Heiligen Schrift. Sie wurde für den Reformator zur ausschließlichen Autorität. Natürlich hatte für Luther auch zuvor die Bibel im Mittelpunkt seiner Beschäftigung gestanden. Als er z.B. im Jahre 1512 seinen Doktoreid ablegte, schwor er, die Heilige Schrift „treulich und lauter zu predigen und zu lehren“. Und er begann seine Lehrtätigkeit, die er fortan an der Universität Wittenberg, der Leucorea, versah, mit Vorlesungen über das Alte und das Neue Testament. Am Anfang stand 1513-1515 die Auslegung der Psalmen, gefolgt 1515/16 von der Römerbriefvorlesung. Vorerst blieb dabei das kirchliche Lehrsystem, das die Schrift unter Rückgriff auf die großen mittelalterlichen Kommentare auslegte und den sog. vierfachen Schriftsinn praktizierte, noch unangetastet. Aber Luthers neuer reformatorischer Zugang deutete sich bereits an. Vor allem seine Arbeit am Römerbrief des Paulus brachte ihn dazu, scholastische Auslegungsmuster endgültig abzustreifen und in erster Linie auf die biblische Terminologie, den eigentlichen Schriftsinn (sensus litteralis), zu hören. Dies war durch den Bibelhumanismus, den Luther während seiner Studienzeit in Erfurt kennengelernt hatte, vorbereitet. Denn der humanistische Ruf „zurück zu den Quellen“ bedeutete, dass man das Wort Gottes in den ältesten vorhandenen Überlieferungen wiederentdeckte und nicht mehr über die Kirchenväter und großen Exegeten des Mittelalters, sozusagen aus zweiter Hand, vermittelt bekommen wollte. Hinzu kam, dass Luther den Text mit Bezug zur eigenen Existenz las und verstand. Sein neues, befreiendes Verständnis von der Gerechtigkeit Gottes, das er an seiner intensiven Lektüre des Römerbriefs gewann, ist auf diese relational-existenzielle Bibelhermeneutik zurückzuführen. Fortan wurde die Lehre von der Rechtfertigung des Menschen allein aus der Gerechtigkeit schenkenden Gnade Gottes heraus zum Kernstück der Reformation generell. Und die Heilige Schrift wurde für Luther, wie für alle Reformatoren in Europa, zur obersten und einzigen Autorität. Auch in den 95 Thesen deutet sich dies bereits an. Zwar griffen die Thesen eigentlich weder Struktur noch Theologie der alten Kirche an, aber an einigen Stellen finden sich Aussagen, die auf die alleinige und höchste Autorität des Evangeliums verweisen. So heißt es z.B. in These 55: „Die Meinung des Papstes ist unbedingt die, daß, wenn der Ablaß, der ein denkbar geringes Gut ist, mit einer Glocke, mit einer Prozession und Gottesdienst gefeiert wird, das Evangelium, das das höchste Gut ist, mit hundert Glocken, mit hundert Prozessionen, mit hundert Gottesdiensten gefeiert werden soll.“ Oder in These 62: „Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes.“ Dieser Perspektivenwechsel weg von kirchlichen Autoritäten hin zur Autorität der Bibel war zugleich ein Normenwechsel. In letzter Konsequenz bedeutete dies, dass nicht mehr die kirchliche Ämterhierarchie mit dem Papst an ihrer Spitze darüber befand, was im Leben der Kirche und des Einzelnen gelten sollte, sondern eine historische Quelle, die Heilige Schrift, die man mit dem Wort Gottes, dem Evangelium, identifizierte.

Dies rückte fortan die Predigt in den Mittelpunkt des Gottesdienstes, der bis dahin als lateinische Messe mit Schwerpunkt auf der Eucharistie gefeiert wurde. Diese Aufwertung des gesprochenen Worts ging einher mit einer Abwertung der Riten und Zeremonien. Sie galten der Reformation, gegenüber der zentralen Verkündigung des Evangeliums, als Äußerlichkeiten, mit denen ein freier Umgang gestattet sei. Zwar erstellte Luther mit seiner Deutschen Messe relativ spät (1525/26) eine liturgische Neuordnung des evangelischen Gottesdienstes, aber die volkssprachliche Predigt hatte sich bis dahin bereits zu einem reformatorischen Kommunikationsmedium ersten Ranges entwickelt. Während Luther und seine Gesinnungsgenossen an der kirchlich überlieferten Perikopenordnung festhielten, löste sich Zwingli in Zürich auch davon. Er führte die sogenannte „lectio continua“, d.h. die fortlaufende Auslegung der biblischen Bücher in den Gottesdienst ein, was man später auch in Genf praktizierte.

Die Reformation hatte also einen Perspektiven- und Autoritätenwechsel vollzogen. Nicht das Papsttum, sondern die Heilige Schrift galt als oberste Norm. Dass sich dies auch auf die kirchlichen Strukturen auswirkte, wurde vor allem durch die Leipziger Disputation von 1519 öffentlich. Eigentlich hatte die Disputation zwischen dem Ingolstädter Professor Johannes Eck und dem Wittenberger Professor Andreas Bodenstein von Karlstadt stattfinden sollen. Aber da sich die von Eck für die Disputation aufgestellten Thesen „contra novam doctrinam“, d.h. gegen die neue Lehre, richteten und damit auf die reformatorische Theologie Luthers zielten, meldete sich dieser natürlich zu Wort. Zur Debatte stand zunächst der päpstliche Primat, den Eck auf göttliches Recht zurückführte. Für Luther dagegen, der auf Christus als das Haupt der Kirche verwies, ließen sich aber weder das Papsttum noch die beanspruchte Vorrangstellung auf ein „ius divinum“, ein göttliches Recht, das ja in der Heiligen Schrift verbürgt sein müßte, zurückführen. Für ihn galten sie als Produkte lediglich des menschlichen Rechts. Diese Auffassung hatte weitreichende Konsequenzen. Denn damit wurde zugleich der verpflichtende bzw. heilsrelevante Charakter zweifelhaft, den man bisher kirchlichen Geboten oder dem Gehorsam dem Papst gegenüber beigemessen hatte. Außerdem stellte dies die hierarchische Ämterstruktur der Kirche in Frage, zumal Luther auch die aus göttlichem Recht hergeleitete Höherstellung des Episkopats bestritt. Selbst der von Eck postulierten Irrtumslosigkeit der Konzilien widersprach Luther. Für ihn stand fest, dass keine kirchliche Instanz etwas für heilsnotwendig erklären könne, wofür eine biblische Begründung fehlte. Luther hatte also die Autorität von Papst, Episkopat und Konzilien in Zweifel gezogen und ihnen den Primat der Heiligen Schrift entgegengehalten. Die wahre Kirche, d.h. die Gemeinschaft der Heiligen unter dem alleinigen Haupt Christus, war in den Augen Luthers unter diesen Strukturen regelrecht in Gefangenschaft geraten.

Diese Gefangenschaft betraf in erster Linie die Sakramente, mit Hilfe derer die Kirche bzw. ihre Amtsträger – nach altem Verständnis – Heil vermittelten. Die Reformation aber verlangte, auch das Sakramentsverständnis an der Heiligen Schrift zu überprüfen. Luther tat dies zunächst nur vor dem Forum der Gelehrten, nämlich in einer lateinischen Schrift, die später zu den reformatorischen Hauptschriften gerechnet werden sollte: „De captivitate Babylonica ecclesiae. Praeludium“ von 1520. Schon Augustinus hatte das Sakrament als ein Zusammenkommen von Zeichenhandlung und Verheißungswort definiert, dem die Kirche im Laufe der Zeit eine Wirksamkeit aus dem bloßen Vollzug heraus beigemessen hatte. Dass Luther diese Komponenten nun an der Heiligen Schrift abprüfte, führte dazu, dass er nur noch jene Handlungen der Kirche als Sakramente gelten ließ, die von der Bibel her belegbar waren, und auf eine von Christus selbst gestiftete Zeichenhandlung und ein damit verbundenes Verheißungswort zurückgeführt werden konnten. Nicht der menschliche Vollzug dieses Ritus, sondern der von Gott im Menschen gewirkte Glaube machte – so Luther – das Sakrament wirksam. Diese Neudefinition und der damit verbundene Wechsel von einer rituellen Feier zu einem vorwiegend geistlichen Geschehen veränderten das Leben der Kirche und die Frömmigkeit des Einzelnen grundlegend. Denn von den traditionellen sieben Sakramenten blieben nur noch zwei übrig: Taufe und Abendmahl. Die Reformation hatte damit begonnen, die Fundamente des traditionellen kirchlichen Heilsverständnisses in Frage zu stellen und von der Heiligen Schrift her neu zu bestimmen. Während sich am Taufritus rein äußerlich nichts änderte – die lutherische Reformation behielt sogar den schon altkirchlich bezeugten Exorzismus bei, die Reformierten dagegen schafften ihn ab – gewann die Feier des Abendmahls eine neue Gestalt. Die Verweigerung des Laienkelchs wies Luther als unbiblisch zurück. Zwar drängte er nicht auf sofortige Einführung der Kommunion mit Brot und Wein, da er die Heilsgabe des Abendmahls nicht in Abhängigkeit von der Austeilung des Kelchs sah, aber der Schriftbefund sprach eindeutig für eine Kommunion ‚unter beiderlei Gestalt’. Auch für die Wandlungslehre und alle damit verbundenen magischen Vorstellungen fand Luther in der Heiligen Schrift keine Anhaltspunkte. Sie wurde von allen Reformatoren abgelehnt. Allerdings entwickelte man innerevangelisch durchaus unterschiedliche Abendmahlsverständnisse und -praktiken. Zwingli und Luther stritten sich bekanntlich später über ein möglicherweise nur noch symbolisch zu verstehendes Geschehen. In reformierten Gegenden führte man zudem das Brotbrechen ein und schafften auch die im Luthertum beibehaltene Oblate ab. Gesamtreformatorisch lehnte man zudem das traditionelle Verständnis der Messe als Opferhandlung ab, was dieses Sakrament selbst zu einem guten Werk machte. Nach traditioneller Auffassung nämlich brachte der Priester mit den gewandelten Elementen auf dem Altar Leib und Blut Christi aufs Neue vor Gott als Opfer für die Sünden der Menschen dar, was im Spätmittelalter zu zahlreichen Messstiftungen auch für bereits Verstorbene geführt hatte, um über ein solches gutes Werk zu erwartende Sündenstrafen im Fegfeuer auszugleichen. Oft wurden dafür eigene Altäre errichtet und Messpriester angestellt. Das neue Sakramentsverständnis der Reformation und die daraus hervorgehende Kritik an der Messpraxis hatte daher nicht nur theologische Konsequenzen und spürbare Auswirkungen auf die Frömmigkeit und ihre rituellen Äußerungen, sondern sie hatte auch ganz konkrete Folgen für eben jenen Priesterstand, der durch dieses Stiftungswesen finanziert wurde und darin seine Existenzberechtigung hatte. Die Existenz der zahlreichen Messpriester stand jetzt auf dem Spiel.

2. Gesellschaft und Familie

Allein schon an diesem Beispiel wird deutlich, dass sich die Lehre der Reformation nicht auf den Bereich von Kirche und Frömmigkeit beschränkte, sondern deren Grenzen überschritt und in die Struktur der Gesellschaft hineinwirkte. Diese war im Spätmittelalter dadurch gekennzeichnet, dass man einen geistlichen Stand von einem weltlichen unterschied, wobei man den geistlichen als höherwertig einstufte. Denn immerhin konnten die Geistlichen, z.B. in einem Kloster oder einem Konvent, unter Bedingungen leben, die ihnen ermöglichten, in Verrichtung gottesdienstlicher Übungen wirklich fromm zu sein, gute Werke zu tun und Gnade zu erwerben. Sie konnten Gott näher sein als der in seinen vielfältigen weltlichen Bezügen den Versuchungen der Sünde zwangsläufig permanent ausgesetzte Mensch. Ja, der weltliche Stand war deshalb sogar in gewisser Weise auf den geistlichen angewiesen, der den angesammelten Gnadenschatz der Kirche verwaltete und diesen fürbittend für die Sünder vor Gott in Anschlag brachte. Auch hier setzte mit der Reformation ein Umdenken ein. Schon 1520 hatte Luther in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ seine Überzeugung von dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen bzw. aller Getauften entfaltet und so nicht nur die Zweiteilung der Gesellschaft, sondern auch das „Prestigegefälle“ zwischen geistlichem und weltlichem Stand in Zweifel gezogen. Luther betonte, dass alle Christen durch Taufe, Evangelium und Glauben gleichermaßen Glieder eines wahrhaft geistlichen Standes seien. Sie alle nämlich seien – nach dem Apostel Paulus – in gleicher Weise Glieder des Leibes Christi. Daher – so führte Luther aus – komme auch allen getauften, d.h. allen gläubigen Menschen priesterliche Vollmacht zu. Wenn es dennoch in den nun entstehenden evangelischen Gemeinden um der öffentlichen Ordnung willen ein mit bestimmten Funktionen versehenes, kirchliches Amt gab, dann weil die Gemeinde einen geeigneten Christen mit der öffentlichen Ausübung dieses Amts betraute und ihm eine Vollmacht übertrug, die – nach reformatorischem Denken – im Prinzip allen Gläubigen gemeinsam zukam. Damit stand die kirchliche Ämterhierarchie erneut zur Debatte, und zusätzlich war bereits der Bereich des sich entwickelnden reformatorischen Kirchenrechts angesprochen, das wir aber an dieser Stelle nicht weiter verfolgen wollen.

Was uns hier interessiert, ist vielmehr die Aufwertung der weltlichen Bezüge des menschlichen Lebens, die sich durch die reformatorische Überwindung der Trennung der Gesellschaft in einen geistlichen und einen weltlichen Stand ergab. In seiner Schrift „De votis monasticis iudicium“ (Ein Ratschlag über die Klostergelübde) von 1521 brachte Luther diese Hochschätzung des weltlichen Lebens deutlicher als je zuvor zum Ausdruck. Äußerer Anlass für die Abfassung der Schrift war eine Debatte, die im Herbst 1521 von Andreas Bodenstein von Karlstadt und Philipp Melanchthon in Wittenberg über die Gültigkeit der Gelübde von Pfarrgeistlichen sowie von Mönchen und Nonnen geführt worden war. Ehelosigkeit, Armut und Gehorsam waren die drei Klostergelübde, die man als ewige Gelübde ansah und deren Geltung nun in Frage stand. Luther führte fünf Hauptargumente gegen die Verbindlichkeit von ewigen Gelübden ins Feld, von denen vor allem das vierte eindrücklich auf den Ort des Menschen in der Welt abzielte. Er konstatierte nämlich, dass die Gelübde im Grunde die Gebote Gottes missachteten und vor allem das Liebesgebot verletzten. Denn Gelübde nähmen den Mönchen und Nonnen im Kloster die Möglichkeit, ihre Pflichten z.B. gegenüber ihren Eltern und gegenüber ihren Mitmenschen überhaupt zu erfüllen. Luther sah in den Klostergelübden einen eigenmächtigen Entzug aus gottgewollten Bindungen, d.h. aus all jenen Aufgaben und Verantwortlichkeiten, in die Gott jeden Menschen ja gerade hineingestellt habe. Zwar wollte Luther das Mönchtum nicht grundsätzlich aufheben, aber was er gewahrt wissen wollte, war die Freiheit im Umgang mit dieser Lebensform. Wichtig war ihm, dass das Klosterleben nicht als privilegierter Weg zum Heil galt. Das Leben in einer christlichen Kommunität war in der Einschätzung aller Reformatoren nicht mehr wert als der Gottesdienst eines jeden anderen Christen im weltlichen Alltag. Diese Überlegungen zum Klosterwesen, die die Reformatoren ebenfalls biblisch begründeten, betraf besonders die bisherige Hochschätzung der Ehelosigkeit. Sie wich der Wertschätzung des Lebens in alltäglichen Bezügen. Das Leben als Hausmutter oder Hausvater in der Familie, in der Sorge um Kinder, Gesinde und eigene Eltern, der Einsatz für das Wohl derjenigen, für die man im weltlichen Beruf Verantwortung trug, gewannen an Bedeutung und galten als gottgewollt und gottwohlgefällig. Die Reformation entwickelte ein Berufsverständnis, das diese Dimension der Verantwortlichkeit und Weltgestaltung in den Mittelpunkt rückte. Dadurch ergab sich zugleich – sozusagen umgekehrt zur Abwertung des Zölibats – eine Art Sakralisierung von Ehe und Familie. Das spätere Luthertum sah in der Familie eine Gemeinde Gottes „en miniature“. Tileman Heshusius sprach einmal von der „gemeine Gottes / so in denn heusern / durch die Haußuetter solle versamlet werden“. Tatsächlich hatte Luther den Kleinen Katechismus für die Unterweisung und das Lernen im Familienkreis konzipiert, die auf diese Weise zur Keimzelle nicht nur des christlichen Gemeinwesens, sondern auch der christlichen Gemeinde wurde. Denn der Katechismus galt ihm als „Laienbibel“ und Zusammenfassung des Inhalts der Heiligen Schrift. Wer ihn nicht kenne, könne nicht als Christ gelten. „Und yhr Eltern“, so mahnte er, „seid schuldig, ut liberi vestri ista discant. Similiter vos, heri, date operam, ut familia etc. qui ignorat ista, indignus est, ut edat panem.“ [übers.: … seid schuldig, darauf zu achten, dass eure Kinder ihn lernen. Ebenso ihr, nach getaner Arbeit; denn eine Familie, die ihn vernachlässigt, ist nicht würdig ihr Brot zu essen].

Die Berufung der Reformation auf die Heilige Schrift als oberste Autorität, die Neuentdeckung des Evangeliums, die damit in Zusammenhang stehende Einebnung von geistlichem und weltlichem Stand und der Gedanke des Priestertums aller Gläubigen – all dies ging Hand in Hand mit der Neuentdeckung der Bildung. Denn der Zugang zur Heiligen Schrift, die Lektüre des Wortes Gottes und die philologisch und hermeneutisch angemessene Auslegung von Texten, um die es der Reformation in erster Linie ging, konnten nun nicht länger nur bestimmten Amtsträgern vorbehalten bleiben. Jeder sollte Zugang zur Schrift haben und die Möglichkeit, in ihr zu forschen. Denn der einzelne Mensch – so sahen es die Reformatoren – stand in einem unmittelbaren Verhältnis zu Gott. Auf eine Heilsvermittlung durch dritte Instanzen, wie z.B. durch die Heiligen oder die Mutter Gottes, war er nicht angewiesen. Das bedeutete aber auch, dass ein jeder selbst in den Stand versetzt werden musste, sich die Heilige Schrift lesend und verstehend zu erschließen. Bildung sollte also jedem und jeder zugänglich sein. Dies war prinzipiell nichts Neues. Denn auch schon in vorreformatorischer Zeit galten Bildung und Erziehung als ein erstrebenswertes Gut und konnten auf eine lange mittelalterliche Tradition zurückblicken. Aber die Reformation füllte die alten Strukturen mit neuen Inhalten und sorgte dafür, dass Bildung nicht mehr nur wenigen, vornehmlich den Geistlichen, vorbehalten blieb, sondern allgemein erreichbar wurde. Das Schulwesen wurde neu geordnet. Neue Schulen für Jungen und Mädchen wurden gegründet. Auch die Universitäten wurden – sofern sie sich der Reformation anschlossen – einem von Melanchthon schon bei seiner Antrittsrede in Wittenberg 1518 angestoßenen Reformprogramm unterzogen. Die Bindung an päpstliche Autorisierungen wurde gelöst, der Fächerkanon erweitert und die Lehrinhalte verändert. Bildung sollte nicht nur der Vermittlung von Wissen dienen, sondern auch Verantwortungsbewusstsein schulen, sowohl im Blick auf das eigene Leben im Verhältnis zu Gott als auch in verantwortlichem Handeln als Glied des gesellschaftlichen und politischen Gemeinwesens. Auch diesen Bildungsimpuls konnten die Reformatoren aus der Heiligen Schrift, sogar aus den Geboten Gottes selbst, ableiten. Luther z.B. legte das vierte Gebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“ in seinem Großen Katechismus nicht nur dahingehend aus, dass Kinder ihren Eltern mit Ehrfurcht und Respekt zu begegnen hätten, sondern er betonte auch, dass eine funktionierende Eltern-Kind-Beziehung auf Gegenseitigkeit zu beruhen habe. Eltern seien verpflichtet, ihren Kindern eine angemessene Erziehung zukommen zu lassen. Auch der Heidelberger Katechismus von 1563 leitet die Pflicht auf Gewährleistung von Bildung und Erziehung aus dem Dekalog ab. In seiner Erklärung zum Gebot der Feiertagsheiligung – nach reformierter Zählung übrigens ebenfalls das vierte – führt der Heidelberger Katechismus an: „Gott will erstlich, daß das Predigamt und Schu(o)len erhalten werden“. Aber auch dem Aufkommen bildungsfeindlicher Tendenzen an den Rändern der Reformation galt es entgegenzutreten. So hatten antiklerikale Strömungen das Recht des „gemeinen Mannes“ eingefordert, die Lehre der alten Kirche am Inhalt der Heiligen Schrift zu überprüfen, die sich ja auch dem einfachen Verständnis erschließen würde. Auch Luthers ehemaliger Kollege an der Universität Wittenberg, Andreas Bodenstein aus Karlstadt, stellte die Nützlichkeit von Hochschulstudien für das Schriftverständnis in Frage, legte seinen nach altem Recht erworbenen Doktortitel ab und zog sich als Bruder Andres auf eine kleine Pfarre nach Orlamünde zurück. Die Reformatoren bezogen demgegenüber eine andere Position und traten zugleich der sich neu etablierenden Volksmeinung entgegen, dass die Abschaffung eines höherwertigen geistlichen Standes auch die Sinnhaftigkeit von Bildung in Frage stelle. Dass diese Meinung aber existierte wissen wir aus Luthers Schrift „An die Ratsherren aller Städte deutschen Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ aus dem Jahr 1524. Denn er begann mit einer Art Bestandsaufnahme: „Ja weyl der fleyschliche hauffe sihet“, so Luther, „das sie yhre so(e)ne, to(e)chter und freunde nicht mehr sollen odder mu(e)gen ynn klo(e)ster und stifft verstossen und aus dem hause und gutt weysen und auff frembde gu(e)tter setzen, will niemand meher lassen kinder leren noch studiern. ‘Ja, sagen sie, Was soll man lernen lassen, so nicht Pfaffen, Mu(e)nich und Nonnen werden sollen? Man las sie so mehr leren, da mit sie sich erneren.’“ Dieser pragmatisch-resignativen Einstellung trat der Wittenberger energisch entgegen und verwies auf die gerade bestehenden, überaus günstigen Bedingungen für Bildung und Erziehung. Darin, dass gegenwärtig zahlreiche junge, sprachlich versierte Gelehrte bereit stünden, um die Jugend zu unterweisen, sah er einen deutlichen Erweis göttlicher Gnade, zumal Gott sein Evangelium, auch wenn er es täglich aufs Neue den Menschen durch den Heiligen Geist offenbare, doch einzig und allein im Mittel der Sprache erschließe. Sprache und ihre angemessene Handhabung wurden von allen Reformatoren als kostbare Träger von Wissen, Inhalten und Erkenntnissen angesehen, die nicht nur die weltliche, sondern auch die geistliche Existenz des Menschen betreffen. Das Erlernen von Sprachen – und Luther denkt dabei natürlich in erster Linie an das Hebräische, Griechische und Lateinische, aber auch an die rechte Beherrschung der Volkssprache, d.h. des Deutschen – galt also als unerlässlich, denn „wo wyrs versehen, das wyr (da Gott fur sey) die sprachen faren lassen, so werden wyr nicht alleyn das Euangelion verlieren, sondern wird auch endlich dahyn geratten, das wir weder lateinisch noch deutsch recht reden odder schreyben ku(e)nden … Und bey nahend auch die natu(e)rliche vernunfft verloren haben“.

Bildung diente also einem existenziellen Ziel, nämlich dem verstehenden Zugang zum Wort Gottes. Aber sie diente auch – so sah es die Reformation – dem Erhalt einer „guten Ordnung“, d.h. einer von Gott für das Zusammenleben der Menschen gestifteten Ordnung. Luther sah sie, ebenso wie seine Mitreformatoren, in den drei Bereichen von Kirche (ecclesia), weltlicher Obrigkeit (politia) sowie Haus und Familie (oikonomia) verankert, wobei jedoch der in der „ecclesia“ beheimatete geistliche Stand seinen den anderen Lebensbereichen qualitativ übergeordneten Rang verloren hatte. Das weltliche Regiment, wie es sich im Amt einer territorialen oder städtischen Obrigkeit oder in dem Amt des Hausvaters oder der Hausmutter realisierte, galt der Reformation ebenso als „go(e)ttlich ordnung und stand“ wie das geistliche Regiment mit seinen Aufgaben und Ämtern. Wenn die Repräsentanten dieser Stände in den ihnen jeweils anvertrauten Aufgaben „gelert und geschickt“ agierten, entsprach dies dem Willen Gottes, der sie – gemäß der Berufslehre Luthers – in diese Lebensbereiche hineingestellt hatte. Diesen Aspekt der Bildung, der auf weltliche Fertigkeiten zielte, betonte Luther ausdrücklich. Und so argumentierte er, dass selbst wenn die Ausrichtung des Unterrichts auf die Vermittlung des notwendigen Handwerkszeugs zur Erschließung der Heiligen Schrift und des Handelns Gottes irrelevant wäre, so wäre allein dieser weltliche Aspekt – nämlich die gelehrte und geschickte Leitung des jeweiligen Verantwortungsbereichs – Grund genug, um „die aller besten schulen beyde fur knaben und meydlin an allen ortten auff zu richten, das die wellt, auch yhren welltlichen stand eusserlich zu halten, doch bedarff feiner geschickter menner und frawen, Das die menner wol regirn ku(e)nden land und leutt, Die frawen wol zihen und hallten ku(e)nden haus, kinder und gesinde. Nu soliche menner mu(e)ssen aus knaben werden, und soliche frawen mu(e)ssen aus meydlin werden. Darumb ists zu thun, das man kneblin und meydlin dazu recht lere und auff zihe“.

3. Recht und Politik

Auch im Raum von Recht und Politik ergaben sich durch die Reformation bedeutende Umwälzungen. Als sich am Morgen des Montags, 10. Dezember 1520, vor dem Elstertor Luther, Melanchthon und Studenten der Universität Wittenberg trafen, um außer einem Druckexemplar der Bannandrohungsbulle und einigen scholastisch-theologischen Schriften auch eine Ausgabe des Corpus Iuris Canonici zu verbrennen, demonstrierten sie damit öffentlich ihre Opposition nicht nur gegen die herrschende Theologie, sondern auch gegen das geltende kanonische Recht. Tatsächlich hatte das kanonische Recht, das man seit dem 12. Jahrhundert an den Universitäten lehrte, im kirchlichen, gesellschaftlichen und politischen Leben einen hohen Stellenwert. Viele bedeutende Päpste waren aus diesem juristischen Umfeld gekommen. In der Kirche war die Entwicklung allerdings so weit vorangeschritten, dass man selbst sakramentale Vollzüge ganz selbstverständlich in den rechtlichen Horizont hineinstellte und auch von daher begriff. Das Bußsakrament, dessen Ausgestaltung im Ablasswesen Luther in seinen 95 Thesen angegriffen hatte, ist ein herausragendes Beispiel dafür. Man verstand die Buße als das Abgelten einer Schuld. Dies war dann vollzogen, wenn ein entsprechendes, in Relation zur Schuld stehendes, göttlich bzw. kirchlich auferlegtes Strafmaß abgegolten und das lösende Absolutionswort gesprochen war. Luther betonte dagegen die Buße als lebenslange existenzielle Umkehr. Diese Durchdringung der Theologie durch das Kanonische Recht, die das gesamte vorreformatorische kirchliche und geistliche Leben bestimmte, wurde durch die Reformation aufgelöst, die nun freilich ihrerseits neue Ordnungsmodelle schaffen musste.

Besonders augenfällig wurde der neue Umgang mit dem kanonischen Recht im Blick auf die Ehe. Die Reformation schaffte die unzähligen Regelungen über die für eine Eheschließung verbotenen Verwandtschaftsgrade ab, die das kanonische Recht aus dem Alten Testament abgeleitet hatte und die weit über blutsmäßige Verwandtschaften hinausgingen. Dadurch, dass zudem die Ehe den Reformatoren nicht mehr als Sakrament gelten konnte – denn ein biblisch eingesetztes Verheißungswort und eine ebenso legitimierte Zeichenhandlung ja fehlten – wurde die Ehe zu einem „weltlichen Ding“. Rechtliche Fragen, die das Zusammenleben von Mann und Frau betrafen, wurden in der Reformation deshalb auch nicht mehr in der kirchlichen Rechtsprechung verhandelt, sondern vor reformatorischen Konsistorien oder sogenannten Ehegerichten, in denen nicht nur Theologen, sondern auch Juristen vertreten waren. Der Straßburger Reformator Martin Bucer verfasste Gutachten für die Stadträte von Bern, Augsburg und Ulm, die zu Meilensteinen im evangelischen Eherecht wurden, das schon damals – allerdings nur unter bestimmten Bedingungen – Scheidung und Wiederverheiratung zuließ. Manche Bestimmungen übernahm die Reformation allerdings auch aus dem Kanonischen Recht, sofern sie mit ihren Prämissen in Einklang zu bringen waren. Als Richtschnur für die Behandlung von Eherechtsfragen wurden nun die Heilige Schrift zusammen mit dem römischen Recht herangezogen, das man – da es maßgeblich durch den christlichen Kaiser Justinian geprägt war – als mit der Heiligen Schrift übereinstimmend wertete. Außerdem spielte dabei die reformatorische Definition der Ehe als geheiligter Stand mit gesellschaftstragender Bedeutung eine Rolle. In der Schöpfungsordnung Gottes angelegt, sollten in Ehe und Familie jene Strukturen und Bezüge sozusagen im Kleinen eingeübt werden, die für den Bestand einer christlichen Gesellschaft generell als unabdingbar galten: ein Leben im Bewusstsein des ständigen Angewiesenseins auf die Gnade Gottes und im Dienst am Nächsten.

Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich dafür anführen, wie die Reformation juristische Wirklichkeiten veränderte und Lebensräume rechtlich neu konturierte. Eines der wichtigsten Bereiche war ohne Zweifel das, was wir heute „Kirchenverfassungsrecht“ nennen würden, das in den evangelischen Kirchenordnungen auf der Grundlage eines reformatorischen Kirchenbegriffs neu geschaffen wurde. An dieser Stelle kommt auch der politische Bereich mit ins Spiel. Denn es waren die weltlichen Obrigkeiten, die die reformatorischen Kirchenordnungen erließen und so in ihrem Gebiet rechtskräftig machten. Dass sich die Obrigkeiten für geistliche Angelegenheiten verantwortlich sahen, ist nicht etwa nur aus machtpolitischen Interessen heraus zu erklären, die es freilich auch gegeben hat. Vielmehr gab es durchaus theologische Begründungen. Voraussetzung dafür war die Vorstellung, dass das politische Gemeinwesen mit dem Corpus Christianum identisch sei. So hatte Luther schon in seiner Schrift „An den christlichen Adel“ aus dem Jahre 1520 vor dem Hintergrund des allgemeinen Priestertums der Gläubigen auch von der weltlichen Obrigkeit als „Mitchristen“ und „Mitpriester“ gesprochen. Sie seien „mitgeistlich, mitmächtig in allen Dingen“. Angesichts der Reformunwilligkeit der kirchlichen Autoritäten und des Zerbrechens der alten Strukturen hatte er an die Obrigkeiten als „Notbischöfe“ appelliert. Hinzu kam, dass der Speyerer Reichstag von 1526 die Durchführung der Reformation in das Ermessen der jeweiligen Obrigkeiten gestellt hatte, jedenfalls interpretierten die evangelischen Stände den Reichstagsabschied auf dieser Weise. Auch Melanchthon sah die christliche Obrigkeit in Verantwortung nicht nur für das weltliche Zusammenleben der Menschen, sondern auch für deren geistliches Wohl. Er sprach (1534) von der „custodia utriusque tabulae“, d.h. dem Wächteramt der Obrigkeit über beide Tafeln der Zehn Gebote. Als „praecipuum membrum ecclesiae“ (vornehmstes Glied der Kirche) komme der Obrigkeit die „cura religionis“ zu. Das bedeutete, dass die Reformation daran appellierte, dass Landesherren und reichsstädtische Räte in ihrem Herrscheramt und zugleich als Glied der „communio sanctorum“ in ihre christlichen Pflichten einträten, allerdings ohne ihnen zusätzliche Rechte in der Kirche zuzugestehen. Und so verweisen die Kirchenordnungen oft auf diese Pflicht der christlichen Obrigkeit, für den Schutz des Predigtamts, die Aufrichtung rechter Zeremonien, den Erhalt der Zucht, d.h. eines ordentlichen Lebens, usw. zu sorgen. Im Sinne einer solchen „cura religionis“ wurde im Kurfürstentum Sachsen schon 1527/28 von landesherrlicher Seite eine große Visitation angeordnet, die zum Vorbild und Ausgangspunkt für die Entwicklung einer neuen kirchlichen Verwaltungsorganisation wurde. Dennoch waren es erst der Passauer Vertrag von 1552 und der Augsburger Religionsfrieden von 1555, die die rechtliche Grundlage für das Entstehen eines landesherrlichen Kirchenregiments legten. Denn hier wurde in reformatorischen Gebieten die geistliche Jurisdiktion den Obrigkeiten übertragen, so dass sie sich von da an nicht mehr nur auf göttliches Gebot, sondern zusätzlich auf das Reichsrecht berufen konnten. Damit waren die weltlichen Obrigkeiten fortan die Träger des „ius episcopale“ in ihren Territorien (bis 1918), übertrugen dies aber im allgemeinen den von ihnen eingerichteten Konsistorien oder Kirchenräten.

Diese Verschränkung von juristischen Komponenten und politischen Konstellationen war allerdings nur auf der Ebene der Strukturen des damaligen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation mit seinen vielen nach Autonomie strebenden und der Reformation positiv gegenüberstehenden Territorien überhaupt möglich. Für die unter obrigkeitlicher Verfolgung stehenden calvinistischen Kirchen Westeuropas war dieser rechtlich-politische Weg kaum möglich. Dennoch ergab sich z.B. in Frankreich eine deutliche Politisierung des Protestantismus, und zwar in dem Moment in dem der Hochadel sich einerseits durchaus aus Gewissensgründen der Reformation anschloss, sie aber andererseits auch im Sinne ihres Autonomiestrebens gegenüber einem König nutzte, der sein Land immer mehr zentralisierte. Allein an diesem Beispiel sehen wir, wie vielfältig die Auswirkungen der Reformation auf den rechtlichen und den politischen Bereich sein konnten, und zu welch unterschiedlichen Ordnungsmodellen dies in Europa führte.

4. Conclusio

Was ist denn nun das Reformatorische an der Reformation? Die Reformation war nicht eine „schlichte“ Erneuerungsbewegung, die Kritik anmeldete und Verbesserungen durchführte. Nein, sie ging bei weitem darüber hinaus. Das lag daran, dass sie damit begann, Kirche und Frömmigkeit, Gesellschaft und Familie, Recht und Politik, d.h. schlichtweg alle Lebensbereiche der Menschen, neu zu ordnen. Im Hintergrund dafür stand etwas Grundlegendes und Grundsätzliches, nämlich ein tiefgreifender Autoritäten- und Normenwandel. Als allein maßgebliche Autorität für kirchliches und weltliches Leben und als letzte Norm für ein funktionierendes, gottwohlgefälliges Zusammenleben auf rechtlicher und politischer Ebene sollte die Bibel bzw. ihre Werte maßgeblich sein. Dies artikulierte Luther bereits 1521 vor Kaiser und Reich als er sich auf sein an die Heilige Schrift gebundenes Gewissen berief und somit Freiheit des Gewissens einforderte. Dies artikulierten auch die protestierenden Stände 1529 in Speyer als sie mit Berufung auf ihren Glauben ein Minderheitenrecht gegen Beschlüsse der Mehrheit geltend machten. Und dies predigten alle Reformatoren, wenn sie die Menschen auf den gnädigen, gerechtmachenden und Glauben schenkenden Gott hinwiesen. Die drei bzw. vier „sola“ – „Sola scriptura“, „solus Christus“ „sola gratia“ und „sola fide“ – waren dafür die Kriterien. Es war der davon ausgehende theologische Impuls, der die Welt veränderte.

Von drauß‘, vom Walde komm ich her …

Zu den schönsten Weihnachtserinnerungen aus meiner Kindheit gehört die jährliche Feier der Waldweihnacht mit den Pfadfindern. Ein kleines Häuflein zieht in der Dämmerung in den Wald Richtung Platte, heißen Tee und Weihnachtsgebäck im Rucksack. Nach einem ordentlichen Weg durch den dunklen Wald findet sich ein geschützter Platz unter Tannen, Laternen werden angezündet, Lieder gesungen, Geschichten vorgelesen, gemeinsam gebetet. Dann gibt’s Tee und Kekse und noch mehr Lieder und Geschichten. Irgendwann ist allen kalt genug, dass man sich wieder aufmacht zurück nach Hause. Da ist es noch viel schöner, wenn man von draußen wieder ins Warme, Helle kommt. Ich bin froh, dass wir in unserer Gemeinde auch Waldweih- nacht feiern, anders als damals, in größerer Runde meistens, aber doch auch draußen, am Waldrand an der Feldkapelle oben im Tennelbachtal, auch im Dunkeln und im Kalten, mit Liedern, Geschichten und Keksen. Die Kapelle ist weniger ein Unterschlupf als ein Wegzeichen. Das Kreuz am Waldrand nur schemenhaft unterm Nachthimmel zu erkennen. Zeichen dafür, dass wir Gott in die Natur tragen und in der Natur suchen. Das machen wir ja im Jahresverlauf häufiger – und seit es die Feldkapelle gibt, meist dort als Station oder Ziel. Wir werden von ihr in die Natur, in den Wald gelockt, um auch dort Gott zu finden. Im Sommer habe ich eine andere Feldkapelle besucht, vor ein paar Jahren vom großen schweizerischen Architekten Peter Zumthor errichtet und dessen Landsmann Nikolaus von Flüe gewidmet, dem Bruder Klaus, wie er volkstümlich genannt und noch heute in seiner Heimat sehr verehrt wird. Dieser andere Nikolaus war ein echter alpenländischer Waldschrat, ein Eremit, der sein Haus verlassen und eine Behausung im Wald gesucht hat, um dort Gott zu finden. Hat er uns was zu sagen? Vielleicht, dass die Behausung, die uns Gott gibt, mehr ist als das Haus, in dem wir wohnen. Dass wir bisweilen anders auf unser Leben, auch unser Haus, blicken sollten – von draußen sozusagen – um es neu wertzuschätzen. Dass wir an Weihnachten eingeladen sind, auf das Urbild jeder Feldkapelle – die Krippe im Feld! – zu schauen und von dort zurück auf uns, auf unser Leben, in dem nun Gott wohnen will. Dass wir – gerade an Weihnachten – einen Blick für das Wesentliche bekommen.

Mein Herr und mein Gott, nimm alles von mir, was mich hindert zu dir.
Mein Herr und mein Gott, gib alles mir, was mich führet zu dir.
Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir.

Nikolaus von Flüe (1417-1487)

Eine gesegnete Weihnachtszeit!

Ihr Klaus Neumann

Nachlese zum Lutherjahr 2017

„Es ist zwar schon alles gesagt, aber noch nicht von allen“ – mit Karl Valentin kann man sich nicht nur durch kirchliche Sitzungen retten, sondern er passt auch gut am Ende des Reformationsjubiläums. Mit den Feiern rund um den 31. Oktober ist es zu Ende gegangen, mit einem schönen Fest hier in Wiesbaden in der Lutherkirche mit viel Musik (und – ganz evangelisch – wenig Essen und Trinken). Auch in der Thomasgemeinde haben wir das Jubiläum begangen mit unzähligen Gesprächsabenden und Gottesdiensten, mit der Einführung der „neuen“ Lutherbibel und einem neuen Gesangbuch als Ergänzung zum gewohnten, mit den beiden großen Gemeindefahrten nach Wittenberg (2015) und Rom (2017), mit einem

Tintenfasswurf nachher

„experimentellen Tintenfasswurf“ (Actionpainting, Exorzismus und Rorschachtest zugleich und in einem!) und einem brillanten und in jeder Weise „irenischen“ Vortrag von Professorin Dingel aus Mainz über „Das Reformatorische an der Reformation“ und vielem mehr. Für mich ist „Reformation“ nicht nur ein fernes Geschehen von vor 500 Jahren, sondern ein wichtiges Merkmal der Kirche: Erneuerung aus Gottes Wort. Es geht um die Erneuerung der eigenen (!) Kirche an „Haupt und Gliedern“, um die Kritik der kirchlichen Organisation im Geist des Evangeliums. Keins der damaligen Themen ist wirklich abgearbeitet und erledigt: Finanzen, hierarchische Organisation, Bildung – so viel liegt noch oder wieder im Argen, so dass mehr als genug bleibt für die folgenden 500 Jahre; oder in Abwandlung von Karl Valentin: „Religion ist schön, macht aber viel Arbeit“.

Klaus Neumann

Was ist das Reformatorische an der Reformation? – Update

Zum Ende des Reformationsjubiläums lädt die Thomasgemeinde
zu einem Vortrag ein:

Irene Dingel (Mainz):
Was ist das Reformatorische an der Reformation?
Dienstag, 24.10.2017, 19:30 Uhr
Gemeindehaus der Thomasgemeinde
Richard-Wagner-Straße 88, 65193 Wiesbaden

Professorin Dr. Irene Dingel, Kirchenhistorikerin an der Universität Mainz, Direktorin des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte und Autorin bedeutender Werke zur Reformation, zum Gegenstand ihres Vortrags:

In vielerlei Hinsicht konnte die Reformation an Reformansätze anknüpfen, die auch schon im Spätmittelalter thematisiert wurden. Dennoch ging sie weit darüber hinaus. Die von Wittenberg und anderen Zentren der Reformation im frühen 16. Jahrhundert ausgehenden reformatorischen Impulse veränderten Kirche und Frömmigkeit, Familie und Gesellschaft sowie die rechtlichen und politischen Dimensionen der damaligen Lebenswelt. Manches ist bis heute prägend. Der Vortrag stellt jene Entwicklungen in den Mittelpunkt, an denen das typisch Reformatorische und die langfristig wirkenden Veränderungen deutlich werden.

Hier geht es zum Vortragstext…