Erster Sonntag nach Weihnachten, 29. Dezember 2024

Als sie (die Weisen aus dem Morgenland) aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.

Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, auf dass erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht Hos 11,1: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.«

Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Knaben in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte. Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht (Jer 31,15): »In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.«

Als aber Herodes gestorben war, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum in Ägypten und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und zieh hin in das Land Israel; sie sind gestorben, die dem Kindlein nach dem Leben getrachtet haben.

Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich und kam in das Land Israel. Als er aber hörte, dass Archelaus in Judäa König war anstatt seines Vaters Herodes, fürchtete er sich, dorthin zu gehen. Und im Traum empfing er einen Befehl und zog ins galiläische Land und kam und wohnte in einer Stadt mit Namen Nazareth, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazoräer heißen. (Matthäus 2,13-23)

Was ist das für eine schlimme Geschichte! Von Flucht und Mord an Weihnachten, will man sowas hören? Vom Mörderkönig Herodes, der auch in der wirklichen Geschichte Kinder, Thronfolger, Ehefrauen ermorden ließ. Von der Flucht der Heiligen Familie über Wüsten und Meere hinweg. Aber wir hören doch ständig solche schlimmen Geschichten von Gewalt an Kindern, Flucht und Mord, von Krieg und Gewalt gegen die Kleinsten und Schwächsten, die Kinder: in der Ukraine, in Israel, in Gaza, im Sudan, in Syrien – wer weiß nicht wo.

„Was ist das für eine Geschichte!“ Ruft Mutter Gertrud aus in der Märchenoper Hänsel und Gretel, die uns wie alle Jahre wieder als das zweite, das andere Weihnachtsoratorium in der Weihnachtszeit begleitet. Was ist das für eine Geschichte! Ruft die Mutter aus über den Tumult, den sie zu Hause vorfindet, ruft und singt sich in Wut, in Rage, solange, bis sie die beiden hinauswirft aus dem ärmlich, kärglichen Haus am Wald, hinaustreibt in den finsteren Wald hinter dem Haus, um dort Essen zu holen, um Beeren zu sammeln, aber eigentlich, so sagt es die Musik, die die Wut der Mutter orchestriert, vertreibt sie ihre Kinder, um sie vor sich selbst zu schützen, um sie vor ihrer eigenen Wut und Gewalt zu schützen. Die Kinder sollen fliehen, um sich zu schützen.

Dass Kinder fliehen müssen vor der Gewalt Erwachsener, ist der Skandal unserer schlimmen Geschichte heute. Bis nach Ägypten müssen Joseph, Maria und ihr Baby fliehen, durch die Wüste zurück in das Land der Gefangenschaft des Mose und der Israeliten. Zurück in die Ägyptische Finsternis. Die Heilsgeschichte wird – vorübergehend, wie wir in der Geschichte da noch nicht wissen, aber hoffen! – damit umgekehrt, rückgängig gemacht, aufgehoben, zurückgespült durch die Wellen des Schilfmeers, zurückgebracht in die Sklaverei. Weil es nötig ist, notwendig, um noch schlimmere, um schlimmste Not zu wenden.

Schlimmste Not ist dann, wenn Kinder leiden; wenn ihre Schwäche und Arglosigkeit ausgenutzt werden, wenn sie missbraucht werden. Pfui Teufel über die, die das tun – zu jeder Zeit, überall auf der Welt, gerade auch in der Kirche. Gewalt gegen Kinder, Kindermord ist der Gipfel des teuflischen Wütens; vom Teufel selbst kommt solche Gewalt – selbst unser postmythologisches Zeitalter kommt nicht ohne diese Symbolfigur des absoluten Bösen aus, wenn wir versuchen, uns einen Begriff davon zu machen.

„Eine Hex im Wald, vom Teufel selbst hat sie Gewalt“ – ausgerechnet dahin zu ihr, der Hexe, fliehen die Kinder Hänsel und Gretel, zum Knusperhaus mit seinen Verliesen und Höhlen, seinem Ofen, grausamer Vernichtungsort.

Der Hexe wird – anders als in der Märchenvorlage, aber einer anderen Wahrheit folgend – vom Operndichter eine ganze Mordfabrik angedichtet; ihre Lebkuchenfabrik in Wahrheit eine Lebkuchenkindermordfabrik!

Oft genug – und verständlicherweise, weil man die jugendlichen Theaterbesucher schützen zu müssen meint, und doch sehr zu Unrecht! – oft genug, wird die Hexe zur Witzfigur herunterinszeniert. Aber dann passt ihr böses Ende nicht, passen die Texte nicht, die sie singt; und passt nicht die Musik. Denn wie schon im Märchen ist diese Hexe böse, ihre Texte sind böse, ihre Musik ist böse. Rosina Leckermaul ist keine Bibi Blocksberg – und diese Märchenoper vielleicht doch nichts für Kinder. Denn ihre Gewalt ist wirklich böse – und sie verhüllt, verkleidet und offenbart sich zugleich als sexualisierte Gewalt – übrigens schon in der Märchenvorlage, in der die Hexe ihre Mordabsichten ebenfalls sexualisiert. Nur wenn wir die abgrundtiefe Bosheit der schlechthin „Bösen“ verstehen, können wir ihre Strafe und ihr grausames Ende billigen.

Ganz wie im richtigen Leben, in der richtigen Welt, an ihren dunkelschwarzen Orten, wenn etwa eine Mörderbande Babys und Kleinkinder in ihre Höhlen verschleppt und dort versteckt, immer noch nach 14 Monaten versteckt vor der befreienden und doch zerstörerischen Gewalt ihrer Eltern; kein Chanukka für Kfir und Ariel Bibas und die anderen immer noch über Hundert Geiseln der Hamas. Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen. Manchmal ist die Wirklichkeit viel schlimmer als Bibel und Oper. Was für eine schlimme Geschichte!

Auf der Bühne geht sie gut aus (aber unter welchen Opfern, welchen Kosten!). Hänsel und Gretel werden von Opfern zu Rächern in eigener Sache, und dann auch noch zu Befreiern der Kinderopfer: „Erlöst, befreit für alle Zeit“; so singt es der Kinderchor am Ende der schaurig schönen Oper; zeigt, was zu zeigen war: „Wenn die Not aufs höchste steigt, Gott der Herr die Hand euch reicht“, musikalisch, textlich und dramaturgisch der Kern der ganzen Sache.

„Erlöst, befreit für alle Zeit“ – das ist in einem noch viel umfassenderen Sinn der Sinn unserer Weihnachtsgeschichte aus der Bibel heute – wie auch übrigens des jüdischen festes Chanukka, dessen 5. von 8 Tagen heute gefeiert wird: Freude über geschehene Erlösung, Hoffnung auf zukünftige Erlösung. Selbst die größte Not vermag Gott zu wenden, den Befreier unserer Seelen und Erlöser der Welt zu erlösen und zu befreien. „Erlöst, befreit für alle Zeit“