Konfirmationsjubiläum 2019

Am Sonntag, 16.6.2018 feiern wir in einem Gottesdienst das Fest der Goldenen und Silbernen Konfirmation, in dem der Segen und der Zuspruch erneuert werden.

Die Konfirmandinnen und Konfirmanden, die in den Jahren 1969 oder 1994 (auch außerhalb der Thomaskirche) konfirmiert wurden, sind herzlich dazu eingeladen. Bitte melden Sie sich im Gemeindebüro an. Manche von Ihnen hat der Lebensweg von der evangelischen Kirche weggeführt; auch Sie sind zum Konfirmationsjubiläum eingeladen. Wir freuen uns auf Sie. Gerne können Sie sich mit Fragen oder Anregungen an uns wenden.

Wir verbinden diese Einladung mit der Bitte an unsere Gemeindemitglieder und Leser dieser Webseite, uns beim Auffinden auswärtiger Anschriften behilflich zu sein, damit wir unsere Einladungen auch an die, die unseren Aufruf nicht zur Kenntnis bekommen, verschicken können. Die Namensliste der Konfirmationsjubilare kann im Gemeindebüro eingesehen werden.

Ökumenische Pilgerwanderung am 25.5.2019

Auch in diesem Jahr wollen wir ökumenisch wandern und pilgern. Ziel ist dieses Mal der Kellerskopf, einer der Wiesbadener Hausberge. Wir treffen uns am 25.5. um 10.00 Uhr an der Feldkapelle im Tennelbachtal. Von dort führt uns der landschaftlich überaus reizvolle Weg über das Goldsteintal zum Trockenborn und weiter auf den Kellerskopf. Nach einer Rast dort oben geht es wieder bergab nach Rambach zum Stadtbus. Die Wanderung dauert etwa zweieinhalb Stunden, alpinistische Erfahrung ist nicht verlangt, aber es ist auch mehr als ein Spaziergang.

Zeige deine Wunde

Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich’s nicht glauben.(Johannesevangelium 20,25)

„Zeige deine Wunde“ heißt eine Installation des Künstlers Joseph Beuys aus den Jahren 1974-75, die zu ihrer Zeit große Unruhe geschaffen hat: zu irre, zu teuer, zu verstörend. Genau so muss Kunst sein! Die Installation zeigt Gegenstände aus Klinik und Pathologie und zwar jeweils paarweise. Sie verweist auf die Verletzlichkeit von uns Menschen, unsere Angewiesenheit auf jemanden, der uns liebt, und sie verweist auf die Geschichte, die den Namensgeber unserer Gemeinde bekannt gemacht hat.

Jesus zeigt dem zweifelnden Thomas seine Wunde. Dann und deshalb kann dieser an ihn glauben. Erst die Wunde, die Verletzung, die Verletzlichkeit des Menschen Jesus machen ihn glaubwürdig – für Thomas und damit für uns. Da ist einer wie wir, die wir verletzlich und verletzt leben. Die Wunde zeigt, dass Jesus nicht bloße Fiktion, nicht bloße Fantasie, keine Einbildung ist, sondern ein wirklicher Mensch, der wirkliche Mensch Jesus. So betrachtet erzählt Johannes nicht die Geschichte vom „ungläubigen Thomas“, sondern vom „wirklichen Jesus“.

Die Aufforderung des Thomas „Zeige deine Wunde“ hat seit jeher (nicht erst seit Beuys) dazu angeregt, das „Zeige deine Wunde“ zu zeigen, sozusagen als Intensiv- und Dringlichkeitsstufe der Passionsbetrachtung: Ich sehe im Thomasgeschehen nicht „nur“ den leidenden Jesus, sondern ich sehe, wie jemand den leidenden Jesus zu begreifen versucht, wie jemand deshalb mit seinen Händen in die Wunde greift, wie jemand seine Finger in die Wunde legt. Gerade die barocken Darstellungen kennen keine Scheu, uns mit dem Anblick der maximal invasiven Finger des Thomas in der Wunde des Jesus – faszinierend und erschreckend – zu verstören. So wie früher, wenn wir uns gegenseitig die blutenden Knie beim Spielen zeigten und dann – angezogen und abgeschreckt – hinschauen mussten, aber eigentlich nicht hinschauen konnten. Die Wunde zu zeigen, offenbart meine Verwundbarkeit als Mensch und weist mich damit als Mensch aus. Indem ich meine Wunde zeige, offenbare ich mich auch als Individuum, als dieser eine besondere Mensch mit dieser einen, eigenen und besonderen Wunde: Zeige deine Wunde! Worin besteht meine Verletzlichkeit, wo ist meine Schmerzgrenze, was ist meine Verwundung, die ich trage? Indem ich so frage und den anderen so fragen lasse, wird die Wunde zum Zugang zu meinem Innersten, zu dem, was mich ausmacht, zu meiner Seele. Nicht jeden geht das an, aber die, die es angeht, lernen mich kennen. Die Wunde zu zeigen, sich gegenseitig die Wunde zu zeigen, zeigen zu können, heißt Liebe, weil es das Vertrauen voraussetzt, dass dem eigenen Leiden ein Mitleiden entspricht.

Darauf – auf diesem Hineinfühlen und Mitfühlen (analog dem Fassen und Greifen der Hände) – beruhen unsere Liebesverhältnisse – zu unseren Lieben, zu Gott. Zeige deine Wunde! ist also die Aufforderung sich lieben zu lassen, seine Verletzlichkeit einem anderen anzuvertrauen, seine Verletzung zur Öffnung zum Innersten seiner selbst zu machen, sich zu offenbaren. Deshalb zeigt Jesus seine Wunden und deshalb müssen wir in der Nachfolge Jesu unsere eigenen Wunden nicht verbergen.

Klaus Neumann, Thomasgemeinde

Johann Sebastian Bach: Johannespassion BWV 245

Wenn es nach Wilhelm Dilthey gegangen wäre, gäbe es Bachs „Johannespassion“ nur noch in einer stark gekürzten Fassung. So sehr den Kunst liebenden Philosophen aus dem 19. Jahrhundert diese Komposition von 1724 auch faszinierte, so sollte doch mit Rücksicht auf den gesamten „Bau“ die „zusammenhängende Erzählung“ nicht „dauernd unterbrochen werden“. (zit. n. Walter, S. 102, s.u.)
Zum Glück hatte Dilthey bei allem Kunstverstand in dieser Sache nicht Recht und auch keinen Einfluss auf die weitere Aufführungspraxis. Sonst würden Bachs monumentalem Werk, das dieser selbst sehr schätzte und das er von 1724 bis 1749 immer wieder veränderte und an einzelne Aufführungen bei den Leipziger Karfreitagsgottesdiensten anpasste, wichtige Abschnitte fehlen. Was Diltheys ästhetisches Empfinden störte, war tatsächlich Bachs selbstbewusster künstlerischer Wille. Gerade die Brüche, die Gegensätze, zusammengefügt zu einem großartigen Ganzen, machen die dialektische Spannung zwischen Tod und Erlösung geistig und sinnlich erfahrbar. Somit stellen die Teile dieser Oratorischen Passion unterschiedliche Zeiten (Vergangenheit / Bezug zur Gegenwart) und Perspektiven (der Blick auf die biblischen Akteure / der Blick nach innen: „ich“, „wir“) dar. Entsprechend reichhaltig ist das Spektrum der Affekte,
von Trauer, Verzweiflung, Schrecken und Demütigung bis hin zu Liebe und sogar Freude.

In diesem Werk gibt es vier kontrastierende „Bausteine“: der Bibeltext nach Johannes in den Rezitativen (z.B. Jesus: „Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.“ – Spricht Pilatus zu ihm: „Was ist Wahrheit?“), die hochdramatischen Chöre der Menge (z.B. „Wäre dieser nicht ein Übeltäter“, „Weg, weg mit dem, weg“, „Kreuzige, kreuzige“), verinnerlichende, von der italienischen Oper beeinflusste Arien (z.B. „Es ist vollbracht“, Zerfließe,
mein Herze“) sowie fast statische, vierstimmige Kirchenchoräle. Vor allem diese bringen den theologischen Gehalt des Vorangegangenen jeweils auf eine Formel (z.B. „Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn, muß uns die Freiheit kommen“) und gliedern und stützen das Werk, wie die Säulen in einer Kirche.

Visionär und radikal lässt Bach seine Johannespassion beginnen mit einem außergewöhnlich langen und komplexen dreiteiligen Eingangschor von fast 9 Minuten. Anders als bisher üblich und dem johanneischen Christus-Bild folgend, wird Jesus hier nicht als Dulder, sondern als Herrscher über den Tod dargestellt. Die ersten 18 Takte sind rein instrumental und nichts weniger als der Beginn eines „sinfonischen“ Konzepts von Musik. Drei Ebenen – eine ostinate, also tonwiederholende Basslinie als Fundament,
ein sich in schmerzlichen Dissonanzen vorschiebendes Bläserduo und dazwischen die auf- und abwogenden Streicher – bilden die Dreieinigkeit ab: Gottvater, Sohn und der „wehende“ Heilige Geist. Und auch wenn man das alles nicht weiß: dem mächtigen, bittersüßen Sog dieses Beginns kann sich kaum jemand entziehen. In nächster Zeit gibt es in Wiesbaden mindestens eine Gelegenheit, Bachs erstaunliches Werk zu hören: am 13. April in der Marktkirche.

Anne Sophie Meine

Literaturtipp: Meinrad Walter: J.S. Bach. Johannespassion, Stuttgart 2011;
Martin Geck: Bach. Johannespassion, München 1991.
CD-Tipp: Einspielungen von M. Lutz, J.E. Gardiner, H. Rilling und R. Otto

Pilgerfahrt nach Israel

Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt Gott, ich wär’ in dir!

Alle, die ihre Jerusalem-Sehnsucht stillen möchten, laden wir – die Thomasgemeinde und die Versöhnungsgemeinde Wiesbaden – auf unsere Gemeindefahrt nach Jerusalem vom 6.-13.1.2019 ein.
Jerusalem ist seit alters das Pilgerziel schlechthin; für Juden, Christen und Muslime sowieso, aber auch schon vorher war und ist die hochgebaute Stadt Ziel von Gedanken und Sehnsüchten und – wenn es sich denn fügt – auch einer Reise. „Nächstes Jahr in Jerusalem“ lautet ein traditioneller jüdischer Gruß, der über die Jahrhunderte die Verbundenheit des exilierten Volks mit seinem Land bewahrte, ohne dass in den meisten Fällen der Wunsch Wirklichkeit werden konnte.

Zur besten Reisezeit für diese Gegend – nicht so heiß, nicht so voll – führt uns unsere Fahrt ins Heilige Land zu den wichtigsten Stätten der Bibel und vor allem in die Heilige Stadt selbst. Es
gehört zu den merkwürdigen und besonders berührenden Begebenheiten, die biblischen Ortsnamen auf einmal als Ortsschilder zu lesen, eine Hand in Jordanwasser zu tauchen oder an den Überresten des Tempels zu beten. Als Besucher in Israel begegnen wir auch manchem, was wir in den täglichen Nachrichten sehen und lesen. Jerusalem ist kein biblisches Museum, sondern neben allem anderen eine moderne Stadt und bekanntlich Brennpunkt eines Konflikts zwischen Völkern und Religionen. Die Reise macht aus uns Teilnehmern ganz bestimmt nicht Experten des Nahostkonflikts, aber sie wird unser Verständnis für die Lage der Menschen in Israel und Palästina vertiefen. Dass die Küche in Israel köstlich und exotisch, die Natur aufregend und wunderschön ist, sei ebenfalls nicht verschwiegen.

Also: Nächstes Jahr in Jerusalem? Bei Interesse wenden Sie sich bitte für Programm und Anmeldung an das Gemeindebüro.
Klaus Neumann, Pfarrer der Thomasgemeinde

Gottesdienst zum Konfirmationsjubiläum

Bei strahlendem Frühlingswetter lud die Thomaskirchengemeinde am Sonntag, den 27. Mai 2018, zu einem festlichen Gottesdienst aus Anlass des diesjährigen Konfirmationsjubiläums ein. Insgesamt 23 Jubilarinnen und Jubilare fanden sich ein, darunter fünf Silber- und 16 Goldjubilare, die als junge Menschen 1968 oder 1993 in unserer Kirche konfirmiert wurden. Aus unserer Gemeinde feierte eine Dame ihr Diamantenes Konfirmationsjubiläum (60 Jahre) und ein Jubilar konnte das seltene Fest der 80jährigen Eichenkonfirmation begehen.

Für die musikalische Umrahmung sorgte neben unserer Organistin Gabriela Blaudow auch die Altistin Norina Mitter. Im Anschluss an den Gottesdienst konnten sich die Gäste und Besucher noch bei einem Glas Sekt austauschen und alte Zeiten Revue passieren lassen.

Konfirmation 1968 Thomasgemeinde
Konfirmation 1968 Thomasgemeinde
Konfirmationsjubiläum 2018
Konfirmationsjubiläum 2018

Bewegung

Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Wind und Regen gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann. (Paul Gerhardt, Evangelisches Gesangbuch 361)

Unsere Spaziergänge, unsere Wanderungen, unsere Ausflüge, unsere Reisen – da steht jetzt wieder einiges an – sind alle mehr, als was sie zunächst scheinen: Zerstreuung, Erholung, Entdeckung, Bildung bestimmt – aber darüber hinaus auch noch Sinnbild für unser Leben. Das ist in Bewegung. Noch das ruhigste, scheinbar gleichförmigste, stabilste, an ein und demselben Ort verbrachte, mönchischste Leben (die Mönche sprachen von der stabilitas loci) – noch ein solches Leben ist im eigentlichen Sinne bewegt zu nennen. Unser Heidelberger Frisör erzählte uns bei jedem Besuch, dass er niemals in seinem Leben aus dem Neckartal herausgekommen sei (ob das wirklich gestimmt hat?). Und er erzählte es mit einem gewissen Stolz, denn er meinte, dass es kaum irgendwo schöner sei und sein könnte und damit hat er ja recht. Noch sein ziemlich ruhiges Leben ist bewegt, denn es durchläuft ja wie jedes die Lebensalter, durcheilt die Lebensphasen, rast mit der Zeit, in der es gelebt wird. (Ob er – der Frisör – noch lebt?) Und deshalb sagt und zeichnet eine Reise etwas über unser Leben.

Ein Ziel ist nötig, ein Weg wird gesucht, Begleitung willkommen: Wohin, wie, mit wem will ich reisen: Berge oder Meer, Städte oder Strand, Übersee oder Ostsee, wo alle anderen sind oder wo niemand ist (das kann schwer werden), wo wir schon immer oder wo wir noch niemals waren. Reisen hat ja auch etwas Spielerisches, neue Reise, neues Glück, neues Ziel. Das Ziel kann verloren gehen. Wohin und zu welchem Zweck bin ich eigentlich unterwegs? Meistens dürfte die Rückkehr nach Hause, der Wiedereintritt in unser altes Leben das eigentliche Ziel sein. Aber mit  etwas Glück haben wir vorher auf der Reise erlebt, dass sich Wege gefunden und neue Ziele gezeigt haben. In den meisten Fällen werden wir das dann nicht dem zuschreiben, der Wolken, Wind und Regen Wege, Lauf und Bahn gibt. Wir scheinen da Möglichkeiten unseres Glaubens nicht zu nutzen.

Aber genau dazu lädt uns der Dichter Paul Gerhardt mit seinem Lied ein: Dass wir uns und unsere Wege dem Gott anvertrauen, der Himmel und Erde gemacht hat; wie ja schon der ursprüngliche Psalmvers: Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen (Psalm 37,5). Ohne unsere Probleme zu verniedlichen, setzt er sie heilsam zum großen Ganzen in Beziehung. Wenn uns einer helfen kann, dann ist es der, der Himmel und Erde gemacht hat und erhält und in Bewegung hält. Der wird auch uns weiterhelfen, wenn wir ins Stocken geraten, wenn wir auf der Stelle treten, oder wenn wir in die Irre geraten, nicht mehr weiterwissen.

Und auch das zweite, dass wir unsere Kränkungen, unsere Verletzungen des Herzens und der Seele vor Gott bringen, ist einen Versuch wert. Es ist ja vielleicht kein Zufall, dass Paul Gerhardt als Seelsorger die Suche nach dem Weg mit der Sorge um unsere Seele zusammenbringt. Wir wären nicht die ersten, denen es geholfen hat – auch seelisch geholfen hat, sich in Bewegung zu setzen. Gehend, wandernd, schreitend pflegen wir unsere Seele – ob im Wiesbadener Stadtwald oder an einem fernen Strand.

Ihr Klaus Neumann

Das bekannte Unbekannte: Bachs Weihnachtsoratorium

Wann hatte der Mann eigentlich Zeit zu schlafen? Wenn man sich Johann Sebastian Bachs Wochenpensum als Leipziger Thomaskantor einmal vor Augen führt, kann man nur staunen. Ab 5 Uhr früh erfüllte er – nicht immer ohne Murren und Anstrengung – seine Pflichten: Gruppen- und  Einzelunterricht der Thomaner, Aufsichtsdienste, Hochzeiten, Begräbnisse, Gottesdienste, Orgelgutachten, Proben, Komponieren zu weltlichen und kirchlichen Anlässen, in den ersten Jahren wöchentlich eine Kantate, dazu nebenan die 55 Internatsschüler, die nicht auf Rosen gebettet wurden, und der Alltag in einer ständig wachsenden Familie. Zu den großen Tragödien in Bachs Leben zählt, dass von seinen 20 Kindern nur die Hälfte das Kindesalter überlebten. So überweltlich seine Musik ist, Bach komponierte nicht in einem Elfenbeinturm, sondern als Mensch seiner Zeit, der nur zu genau wusste, was Freude und Trauer, Zweifel und Hoffnung, Geburt und Tod waren.

Das Weihnachtsoratorium scheint Bachs zugleich bekanntestes und verkanntestes Werk zu sein. Wer hört nicht die berühmten ersten Takte mit Pauken und Trompeten, trillernden Flöten und sirrenden Streichern wie eine Art universalen Weihnachtsjingle und meint nicht, gleich das ganze Werk zu kennen, weil ihm viele der Kirchenlieder darin vertraut sind? Und wer hat nicht schon die besondere barocke Sprache („zärtliche Triebe“, „Herzensstube“, „abfahren“, „gerochen“…) als recht altmodisch empfunden? Wer würde sich überhaupt noch die Zeit nehmen, sich nicht nur die ersten drei, sondern alle sechs Zyklusteile mit all den Chören, Chorälen, Rezitativen und Arien aufmerksam anzuhören? Bachs Weihnachtsoratorium ist alles andere als ein einfaches Krippenspiel. Es war auch nicht als reines Konzert gedacht. Der Zyklus wurden vom 25.12.1734 bis 6.1.1735 als eigens für die Liturgie komponierte Musik in den Leipziger Hauptkirchen, der Nicolaikirche und der Thomaskirche, mit einem Teil der Thomaner und Stadtmusikern aufgeführt. Auch wenn Bach, wie es zu der Zeit absolut üblich und gar nicht unrühmlich war, viele Passagen aus früheren Stücken parodiert, d.h. übernommen, überarbeitet und veredelt hat, ist das Oratorium von bemerkenswerter Geschlossenheit und Perfektion, wie ein großer Kirchenbau, in dem jeder einzelne Stein seinen exakten Platz hat. Zahlreiche Bezüge (thematisch, tonartlich,  instrumentatorisch, textlich) halten die Teile zusammen.

Es lohnt sich, das Weihnachtsoratorium (neu) zu entdecken. Zum Beispiel die enorme rhythmische Vielfalt und Vitalität der schnelleren Sätze innerlich „nachzutanzen“ oder die vertrackten Synkopen in der Begleitung der Bass-Arie „Großer Herr und starker König“ (I/5) zu „sortieren“. Ist es in der Sinfonia (II/10) nur die Ambivalenz der Dur-Moll-Wechsel, dass aus einer harmlosen Pastorale ein fast schmerzhaftes Sehnen herauszuhören ist? Im Hirtenchor „Lasset uns nun gehen“ (III,26) bemerkt man schmunzelnd, dass die Hirten so aufgeregt sind, dass sie alle auseinanderlaufen. Wo wurde Geborgenheit und Zuversicht je besser in Noten gefasst als in dem schwebenden Duo von Altstimme und Solovioline (III/31: „Schließe, mein Herze“)? Und wie hat nicht die verspielte Echo-Arie im 4. Teil die ehrwürdige Fachwelt mit ihren überzähligen Echos („ja! – ja!“, „nein! – nein!“) verdrossen! Auch das Terzett im 5. Teil scheint geradewegs von einer Opernbühne herabzusteigen. Und im Schlusschoral steckt ein veritables Trompetenkonzert. Bei jedem Hören findet man etwas Neues in diesem Wunderwerk.

Anne Sophie Meine