Predigttext für den 2. Advent, 6. Dezember 2020

So seid nun geduldig, Brüder und Schwestern, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe. Seufzt nicht widereinander, damit ihr nicht gerichtet werdet. Siehe, der Richter steht vor der Tür. Nehmt zum Vorbild des Leidens und der Geduld die Propheten, die geredet haben in dem Namen des Herrn. Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben. Von der Geduld Hiobs habt ihr gehört und habt gesehen, zu welchem Ende es der Herr geführt hat; denn der Herr ist barmherzig und ein Erbarmer. (Brief des Jakobus 5, 7-11)

Ruhig – Geduldig. Das hört sich nicht nur so an wie der Slogan einer Fahrschule, sondern das war auch einer. Die alten Wiesbadener werden sich vielleicht daran erinnern; an diese leicht überdimensionierten Schilder auf dem Dach und auf den Seiten der Fahrzeuge: Ruhig – Geduldig: Manfred Hardel. In diesem Fahrinstitut habe ich meine automobilistische Matura erworben mit sehr viel Geduld auf beiden Seiten nach 32 Fahrstunden – das war einsamer Rekord, was unter anderem daran lag, das mein Papa – Gott hab ihn selig – das vorzeitige illegale Üben im Privat-PKW verweigert hat – auch mit dem Hinweis, als Jurist könne er das nicht verantworten und im übrigen sei ohnehin nicht zu erwarten, dass ich mit meinen natürlichen Anlagen zum Autofahren tauge.

Der Ruhe und der Geduld meines Fahrlehrers (und meiner eigenen) verdanke ich nicht nur den berühmten grauen Lappen, den heute noch das Bild des damals 19 Jährigen ziert, sondern auch die Merksätze des theoretischen Unterrichts, die den praktischen ergänzten; deren schönster mir heute noch in den Ohren klingt: „In der Fahrschule lernen Sie nicht fahren sondern bremsen“. Ruhig – geduldig!

Bremsen können und Geduld üben dürfte zu den Kernkompetenzen des heutigen Autofahrens gehören, nicht nur bei plötzlichen Wintereinbrüchen wie letzte Woche, sondern ganzjährig in Staus und verstopften Straßen, auch in unserer schönen Heimatstadt Wiesbaden – in der bekanntlich erst gerade ein kollektiver selbstquälerischer Impuls eine Verkehrsentlastung durch eine Straßenbahn ausgebremst hat. Das kann man konsequent und authentisch finden, wenn sich die Stadt des rückwärtsgewandten Historismus kraftvoll zurückwendet, muss man aber nicht – und bereuen werden es gerade wir Automobilisten bitter.

Wir, die Ausgebremsten: das könnte man ja überhaupt über dieses Jahr schreiben; Und Geduld üben, Geduld erstmal lernen – ist Jahresthema und Jahresaufgabe im Schatten der Seuche; hier in der Stadt und überall: urbi et orbi.

Ruhig – Geduldig: Das wissen Kranke und Leidende ja sowieso, müssen es als Ausgebremste ertragen, tragen es in ihrem Namen als Patienten: – der Geduldige und geduldig Leidende; der Wartende auf den Termin, im Wartezimmer auf die Behandlung, dann auf die Diagnose, dann mit etwas Glück auf Heilung oder doch zumindest Wiedereintritt in etwas, das man Alltag nennen kann.

Kranke haben eine deutlichen Mehrbedarf an Geduld. Eine Krankheit ist meistens auch eine Geduldsprobe; die Zeit erst heilt Wunden, viele zumindest; aber es braucht halt Zeit, nicht immer 100 Jahre, bis alles – Heile, Heile, Gänschen wieder – gut wird, aber eine gefühlte Ewigkeit eben doch – manchmal: bis das Treppensteigen geht, bis man wieder durchschnaufen kann, bis man seine Gliedmaßen wieder durchzählen und bewegen kann, bis ich wiederhergestellt bin, den Beruf ausüben, die Vergnügen pflegen, wieder Reisen kann, bis ich wieder hergestellt, belastbar und ganz gesund bin. Aber das ist keineswegs garantiert, das alles bin ich ja durchaus nicht immer nach einer Krankheit oder eben nicht ganz – und dann brauche ich wieder Geduld, neue Geduld, eine neue Art von Geduld, mich an meine Beschränkungen zu gewöhnen. Krankheit als Chance ist meistens eine dicke Lüge – aber Krankheit als Chance Geduld zu üben, nein als Zwang Geduld zu üben – da ist was dran.

Und gemeinsam Kranke, also wir im Schatten der Seuche brauchen allemal Geduld: Wir wünschen uns das alles weg und zwar möglichst schnell: Das Virus, die Krankheit, die Maßnahmen, die Einschränkungen – wer nicht gelernt hat seine Wünsche von der Wirklichkeit zu unterscheiden, setzt sich einen Aluhut auf den Kopf, reißt sich die Maske vom Gesicht und schimpft auf die Verantwortlichen: Magisches Denken. Demgegenüber ist mit dem großen Philosophen Bjarne Mädel festzuhalten: Wenn alle immer nur meckern, können wir sowas wie Corona eben nicht mehr machen (- das ist immer noch das beinahe Profundeste, was zur Seuche gesagt worden ist).

Geduld üben können setzt offensichtlich einen Reifeprozess voraus, der mich erkennen lässt, dass Seuchen ziemlich sicher mit der Zeit vorübergehen, aber auch so oder so vorübergehen, also ganz unterschiedlich erlitten werden können; dass sie viel Leid oder unermesslich viel Leid bringen; dass sie Naturkatastrophen sind, die auszuhalten sind, und eine Aufgabe für Menschen zugleich, die zu bewältigen ist.

Aushalten und Gestalten; damit haben wir den Kern einer vorläufigen Theorie der Geduld erreicht, den unser Predigttext durch zwei verschiedene Vokabeln abzubilden versucht: Der oft nicht sonderlich geschätzte Jakobusbrief – die stroherne Epistel wie Luther sagt – verwendet zwei unterschiedliche Wörter (das ist in der Übersetzung nicht erkennbar, die beide mit „Geduld“ übersetzt) und gibt uns damit eine Vorlage, zwei Aspekte der Geduld zu unterscheiden: Aushalten und Gestalten. Während die „Hypomonä“ das reine Aushalten, das bloße Geschehen lassen, das passive Leiden bezeichnet; könnte mit „Makrothymia“ – also eigentlich: „Langmut“ oder „Großmut“ – eine Annahme und Hinnahme, zwar durchaus Passivität, aber eher schöpferische Passivität gemeint sein, die die abgebremste Selbstbestimmung zumindest für eine selbstbestimmte Gestaltung der Zwangspause nutzen lässt.

Diese beiden unterschiedlichen Aspekte des Geduldig-Seins lassen sich ganz leicht veranschaulichen: Wenn etwa der Fahrschüler begreift, dass man die Lebensweisheiten des Fahrlehrers besser erträgt und kürzer ertragen muss, wenn man sich nicht nur berieseln lässt, sondern endlich fahren lernt. Oder wenn ich in der Schule den Schülern begreiflich zu machen versuche, dass sie die belästigende Zwangspause vom Leben, die für manche die Schule darstellt, paradoxerweise dadurch erträglicher mache, wenn ich mitmache: Plötzlich ist die Stunde rum. Und schon die Jüngsten – und ihre herausgeforderten Eltern – erleben beim Warten aufs Christkind: Je weniger ich am Tag des Heiligen Abends zu tun haben, desto größer ist die Langeweile, desto schwerer kann ich das Warten aushalten. Umgekehrt: Je vielfältiger mein Programm, desto schneller ist das Christkind da.

Wir warten auf das Christkind – ruhig – geduldig: Das war früher – also ziemlich lange früher – keine Geduldsprobe für Kinder, sondern das zentrale Problem des Frühchristentums: Parusiverzögerung – Verzögerung der Wiederkehr des Gottessohnes. Wo bleibt er nur, der Herr Jesus Christus? Wann kommt er wieder?

Statt darüber nachzugrübeln, was ihn aufhalten mag, empfiehlt Jakobus: So seid nun geduldig, Brüder und Schwestern, bis zum Kommen (Parusia) des Herrn. Das müssen wir jetzt aushalten, da müssen wir durch, aber wir können dieses Aushalten gestalten. Nicht nur rumsitzen und warten, sondern erwarten und tun.

Jakobus gibt uns im Zusammenhang seiner Geduldigkeitsrede gleich zwei wertvolle Tips zur schöpferisch passiven Gestaltung unserer Zeit der Geduld: Unmittelbar nach unserem Predigttext spricht Jakobus von der Kraft des Betens: Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.  Denn: Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist. (Jakobus 5,13-16) Beten hilft und hat eine Kraft, die nicht erst heutzutage unterschätzt wird. Das etwas betuliche deutsche Wörtchen „ernstlich“ verfehlt das, was hier eigentlich steht, worum es dem Jakobus eigentlich geht; er will sagen, dass das Gebet Energie hat, die größer ist als die Worte und größer ist als ihr Sprecher, weil das Gebet durch Gott selbst energetisiert wird: Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es voller göttlicher Energie ist. Beten hat Power!

Und unmittelbar vor unserem Predigttext zeigt Jakobus wozu diese Energie befähigt; in einem flammenden Aufruf zur Gerechtigkeit, gegen den übermäßigen Reichtum der wenigen, gegen die Plutokratie, gegen den Raubtierkapitalismus der Antike und aller Zeiten, gegen die Herrschaft des als Gott verehrten Geldes, wendet er sich an die Wohlhabenden, an die Zuviel Habenden; etwa an uns? Wohlan nun, ihr Reichen: Weint und heult über das Elend, das über euch kommen wird! Euer Reichtum ist verfault, eure Kleider sind von Motten zerfressen. Euer Gold und Silber ist verrostet und ihr Rost wird gegen euch Zeugnis geben und wird euer Fleisch fressen wie Feuer. Ihr habt euch Schätze gesammelt in den letzten Tagen! Siehe, der Lohn der Arbeiter, die euer Land abgeerntet haben, den ihr ihnen vorenthalten habt, der schreit, und das Rufen der Schnitter ist gekommen vor die Ohren des Herrn Zebaoth. Ihr habt geschlemmt auf Erden und geprasst und eure Herzen gemästet am Schlachttag. Wow, wieder mal eine prophetische Brandrede wie aus dem Windkanal, die im Wesentlichen darauf hinausläuft, dass auf dem Streben nach Reichtum kein Segen liegt; dass man nicht zwei Herren dienen kann – nicht Gott und dem Mammon; und dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel gelangt, wie Jesus schon treffend bemerkte. Ist uns eigentlich klar, was das für einer ist, auf den wir da warten?

Beten und das Tun des Gerechten; das ist ein schönes Programm für die Zeit der Geduld, wenn schon die meisten Adventsvergnügen geschlossen sind; aber ein bisschen was fehlt doch noch, zum adventlichen Predigtglück, das uns der Jakobusbrief, diese stroherne Epistel nicht bietet, – der Text für den Nikolaustag, den wir heute ja auch feiern, aber sehr wohl: Der Prophet Jesaja blickt weit voraus in die Zeit, wenn Gott zu uns kommt, wie es dann sein wird. In aller Unbekümmertheit und Begeisterung ruft er es hinaus und erfindet dabei das schöne Wort von der guten Botschaft, das uns als das „Evangelium“ so wichtig und lieb ist:

Gott hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft (das Evangelium!) zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn und einen Tag der Rache unsres Gottes, zu trösten alle Trauernden. (Jesaja 61,1f.)

Das beziehen wir jetzt einfach mal auf unser nächstes Jahr, das ein gnädigeres Jahr werden möge als dieses und in dem es in Gottes Namen dem Virus so richtig an den Kragen geht, frei und ledig zu werden, zu trösten alle Kranken und Trauernden. Dann werden wir ein Fest feiern, das seinen Namen verdient und das wie jede echte Feier ein Vorgriff auf das große Fest sein wird, wenn Gott zu uns kommt. Dann werden wir mit Jesaja das besingen, was uns Jakobus mit Geduld zu erwarten rät:

Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt. Denn gleichwie Gewächs aus der Erde wächst und Same im Garten aufgeht, so lässt der Gott der Herr Gerechtigkeit aufgehen und Ruhm vor allen Völkern. (Jesaja, 61,10; vgl. Jakobus 5,7; s.o.)

Wir werden allen Grund haben uns im Herrn zu freuen! Amen.

Predigttext für den Ewigkeitssonntag, 22.11.2020

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.

Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.

Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiß!

Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.

Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn sein. (Offenbarung des Johannes 21,1-7)

Am Ende einen neuen Anfang erkennen. Im Tod das Leben sehen. In dieser Zeit Gottes Ewigkeit wahrnehmen.

In der Vision des Propheten Johannes, die wir heute als Predigttext zu bedenken haben, überwältigen die außerordentlich starken und lebendigen Bilder.

Die Welt vergeht und wird neu. Daß unsere Welt ein Ende haben wird, gehört ja zu den eher neueren Erkenntnissen der Naturwissenschaft. Hier wird sie in einer prophetischen Vision vorweggenommen – und gleichzeitig aufgehoben in Gottes Zusage und unsere Hoffnung, dass es eine neue, ganz andere Welt geben wird – durch Gott.

Die geheimnisvolle Wendung “Meer” bezieht sich übrigens auf die antike Vorstellung eines himmlischen Meeres, eines gläsernen Daches über der Erde, das Himmel und Erde voneinander trennt. Diese Trennung zwischen Himmel und Erde gibt es in Gottes Neuschöpfung nicht mehr.

Das Himmlische Jerusalem kommt auf die Erde. Die Heilige Stadt wird neu entstehen. Das war damals sicherlich historisch-politisch gemeint, da ja das Jerusalem der damaligen Zeit – also zu der Zeit des Propheten Johannes – nur mehr ein Ruinenhaufen war. Aber auch wir dürfen an die gegenwärtigen Zustände im Heiligen Land denken. Mit der Ewigkeit verknüpft sich die Hoffnung auf ein friedliches und schöpferisches Zusammenleben der Menschen, auf Heimat für alle.

Und außerdem steht Jerusalem als ideale Stadt für menschliche Kultur, für Bildung, für Kunst und Musik: „Jerusalem du hochgebaute Stadt, ich wollt ich wär´ in dir!“

Gott wird bei den Menschen wohnen. Die Trennung zwischen Himmel und Erde ist aufgehoben. Wir werden die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins erleben – wie es ein Freund des großen Theologen Schleiermacher formuliert hat. In allen visionären Beschreibungen von Gottes Ewigkeit für uns wird deutlich, dass das ewige Leben keine Verlängerung des irdischen Lebens ist. Wir gehen nicht irgendwohin, in kein Licht und keine Dunkelheit, wir werden nicht einfach verändert – sondern im Tod und durch den Tod hindurch, in dem wir ganz und gar vergehen, sind wir bewahrt bei Gott. Es ist keine menschliche Qualität, keine Eigenschaft in uns, auch keine unsterbliche Seele, wie die Griechen glaubten, die uns ewig leben ließe – sondern nur und ausschließlich Gott selbst. In ihm werden wir leben; die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins erleben. Das erste ist vergangen. Siehe ich mache alles neu, spricht Gott.

Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Das ist für mich das stärkste und tröstlichste aller Bilder des Johannes. In allem Weltgeschehen, in allem Weltvergehen und Neuschaffen, übersieht Gott unsere Tränen nicht. Wir weinen nicht umsonst. Wir bleiben nicht ungetröstet. Bei allem Großen, was Gott verrichtet, vergißt er die Kleinen nicht, nicht uns Menschen. Denn auch wenn wir an Gott glauben, auch wenn wir auf Gottes ewiges Leben hoffen, auch wenn wir unsere Verstorbenen bei Gott wissen – und wer könnte das so stark, und so fest und so unbeirrt, dass es da nicht auch Zeiten der Unsicherheit, der Anfechtung, des Zweifels geben würde:

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen – auch wenn wir also an Gottes ewiges Leben glauben und uns darauf – eigentlich – für uns selbst und unsere Lieben freuen können, auch dann bleibt der Schmerz über die Trennung, die Trauer über den Abschied, der Verlust von Gemeinsamkeit, auch dann bleiben unsere Tränen. Auch die, liebe Gemeinde, wird Gott abwischen.

Johannes, der Prophet, den wir uns als theologischen Freund des Evangelisten Johannes vorstellen können, hat in diesen und in einer Fülle von anderen Bildern der christlichen Hoffnung auf das ewige Leben bei Gott einen Ausdruck gegeben:

Der neue Himmel und die neue Erde,

Das neue Jerusalem,

Gottes Wohnung bei uns Menschen,

Sein liebevolles Abwischen unserer Tränen,

Mit diesen Bildern sollen wir unsere Vorstellungskraft bereichern, um uns das nicht Sichtbare, das nicht Erfahrbare und letztlich nicht Vorstellbare eben doch – annäherungsweise -vorstellen zu können.

Diese Bilder sind uns gegeben damit wir nicht bei dürren theologischen Begriffen bleiben müssen – und seien sie auch noch so gültig wie der von der unmittelbaren Gegenwart des ganzen, ungeteilten Daseins. Nicht jeder muß sich für solche Begriffe begeistern, aber wer würde nicht verstehen, worum es geht, wenn er das Bild – das mütterliche Bild – vor sich hat, dass unsere Tränen abgewischt werden.

Diese Bilder des Johannes sind wahr. Sicherlich in anderer Weise wahr als Erfahrungswissen und mathematische Formeln wahr sind.

Sie sind wahr, weil sie sich als gültiger Ausdruck unserer Hoffnung erwiesen haben.

Sie haben sich in der Konkurrenz der Bilder durchgesetzt – als lebensfreundlich und lebensfördernd. Es gibt ja – wie wir wissen auch ganz andere Vorstellungen vom Jenseits, die eher Lebensverachtung und Lebensfeindschaft verbildlichen, oder sogar Gewalt und Dominanz beinhalten.

Die Bilder des Johannes sind überdies auch wahr, insofern sie mit dem übereinstimmen, was wir sonst von Gott wissen dürfen, dem Gott des Lebens und der Liebe. So ist der liebende Gott, dass er unsere Tränen abwischt, uns ein neues Zuhause gibt uns niemals loslässt.

Eine endgültige Bewahrheitung dieser Bilder steht allerdings noch aus. Die werden wir – so Gott will – erleben. Schon jetzt dürfen wir darauf hoffen.

Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!

Am Ende einen neuen Anfang erkennen. Im Tod das Leben sehen. In dieser Zeit Gottes Ewigkeit wahrnehmen.

In ihm sei´s begonnen,/ der Monde und Sonnen/an blauen Gezelten/ des Himmels bewegt!

Du Vater, du rate,/ lenk du und wende!

Herr, Dir in die Hände/ sei Anfang und Ende,/ sei alles gelegt. (Eduard Mörike)

Amen.

Predigttext für Buß- und Bettag, 18. November 2020

Höret des HERRN Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unsres Gottes, du Volk von Gomorra! Was soll mir die Menge eurer Opfer? spricht der HERR. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von Mastkälbern und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke. Wenn ihr kommt, zu erscheinen vor mir – wer fordert denn von euch, daß ihr meinen Vorhof zertretet? Bringt nicht mehr dar so vergebliche Speisopfer! Das Räucherwerk ist mir ein Greuel! Neumonde und Sabbate, wenn ihr zusammenkommt, Frevel und Festversammlung mag ich nicht! Meine Seele ist feind euren Neumonden und Jahresfesten; sie sind mir eine Last, ich bin’s müde, sie zu tragen. Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut. Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen, laßt ab vom Bösen! Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schaffet den Waisen Recht, führet der Witwen Sache! (Buch des Propheten Jesaja 1,10-17)

Was für ein Text! Wie ein Herbststurm bläst und pustet er uns an, wie ein Faustschlag in unsere fromm tuenden Gesichter. Da bleibt einem erstmal die Luft und die Spucke weg. Rücksichtsvoll geht anders. Ein bisschen verblümter wäre schon schön. Aber nein: Der Prophet und sein Herr – unser Herr – reden Klartext, unüberhörbar. (Im englischen Fußball spricht man vom Hairdryer-Treatment, mit dem etwa der legendäre Sir Alex Ferguson seine Leute von Manchester United regelmäßig in der Kabine zusammenstauchte, wenn sie sich nicht richtig ins Zeug gelegt hatten. Wäre vielleicht auch etwas für den allzu lieben und selbstverliebten Jogi, um unsere Jungs wieder ans Laufen zu kriegen, aber lassen wir das.)

Gott selbst stellt Feiertag und Gottesdienst lautstark in Frage, bezweifelt ihre Systemrelevanz, fordert den Lockdown. Also nicht erst fürsorgliche Regierungen unserer Zeit, die den Buß- und Bettag für die Pflegeversicherung opfern und Gottesdienste wie im Frühjahr unter Quarantäne stellen, – nicht nur die schließen die Gotteshäuser, sondern Gott selbst sagt: Ich hab es satt! Und er scheint es ernst zu meinen.

Meint er es ernst? Davon sollten wir ausgehen – und nicht zu schnell auf die Gnade des gnädigen Gottes spekulieren, der alles – und noch die größte Missetat – einfach so zudeckt. Das hat Dietrich Bonhoeffer gemeint, wenn er vor der billigen Gnade gewarnt hat.

Rhetorisch brillant zählt Jesaja alles auf, was die Herren von Sodom und Gomorra – also wir – gerne lassen können, das ganze fromme Getue, die gefalteten Hände, den demütigen Blick: Was soll das, wenn wir es ja doch nicht ernst meinen? Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut.

Bei diesem Wutausbruch belässt es Gott aber nicht. Sondern nutzt die Gelegenheit, um es uns mal wieder mitzuteilen, worum es ihm geht mit uns, nämlich: den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Wer ist mein Nächster: der Schwache, der meiner Hilfe bedarf. Im Grunde ist die ganze Bibel ein großes Plädoyer gegen das Recht der Stärke; gegen das Recht des Stärkeren, für die Rücksicht auf die Schwachen: Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schaffet den Waisen Recht, führet der Witwen Sache! Das Tun des Guten zeigt sich biblisch an der Hilfe für die Schwachen.

Und damit sind wir bei dem Thema, bei dem wir gegenwärtig sowieso immer sind. Auch in der Coronakrise muss unser Handeln – und soweit wir da mitreden dürfen, das Handeln in Staat und Gesellschaft – die Schwachen und Anfälligen im Blick behalten. Wir kommen nur so gut durch die Krise wie es unsere Schwächsten tun: die Alten, die Vorbelasteten, auch die Kinder, auch die Armen.

Misstrauen ist angebracht, wenn also zugunsten der „Wirtschaft“ – wer oder was das auch immer sei – die Alten in ihre Häuser und Heime weggesperrt und die Kinder in die Schule zusammengesperrt werden sollen. Abgesehen davon, dass sich kein Jüngerer sicher sein kann, von der Seuche nicht behelligt zu werden, dürfen die Alten nicht unserer Freiheit und unserem Lebensstil geopfert werden.

Ohne den Schutz der Schwächeren, für den wir uns einsetzen sollen, haben unsere Feiern des Glaubens und unsere Feste der Erbauung, unsere Gottesdienste keinen Sinn. Der, an den sie sich richten, hat sie satt: Frevel und Festversammlung mag ich nicht. Spricht Gott der Herr. Amen.

Predigttext für den Drittletzten Sonntag im Kirchenjahr, 8. November 2020

Von den Zeiten aber und Stunden, Brüder und Schwestern, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen: »Friede und Sicherheit«, dann überfällt sie schnell das Verderben wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entrinnen.

Ihr aber seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. Denn die da schlafen, die schlafen des Nachts, und die da betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil. Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, die Seligkeit zu besitzen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. Darum tröstet euch untereinander und erbaue einer den anderen, wie ihr auch tut. (1. Brief des Paulus an die Thessalonicher 5,1-11)

Wer meine Älteste fragt, was ihr die liebste Jahreszeit und der liebste Monat sei, dann antwortet sie im Frühling, dass es der Frühling ist – und im November dass es der November ist. Als unerschütterlich positiver Mensch – von mir Miesepeter hat sie das nicht – als Kind des Lichts kann sie die Zeiten nehmen und lieben, wie sie kommen – und natürlich hat sie recht damit, denn auch ein Spaziergang im herbstlichen Nebel, in dem sich die Bäume verflüchtigen, ist an sich und unvergleichlich schön – und in der tiefstehenden Novembersonne doch auch oder noch mehr; und wenn dann noch die Kraniche ziehen zu Tausenden über Stadtwald und Stadt hinweg mit ihrem weitdringenden Trompetenruf, ihrer perfekten Flugordnung, die sich auch auflösen kann in Treffen der verschiedenen Teilschwärme in wilden Kreisen und Begegnungen mit scheinbar noch lauteren und wilderen Rufen, tagelang, stundenlang wie in dieser Woche – dann lässt sich unsere Welt doch gar nicht anders als gute Schöpfung verstehen, in der die Natur und wir in ihr wohlgeordnet sind: Ordnung, „Friede und Sicherheit“. So kann es bleiben – aber so bleibt es oft nicht.

Der Zug der Kraniche ist seit alters als Zeichen gedeutet worden – als Glücksbringer im Frühling, als Winterboten im Herbst – in Ermangelung vermeintlich besserer Vorhersagen; aber auch das haben wir in dieser Woche gelernt, das Demoskopen mit ihren Prognosen danebenhauen können und den hohen Anspruch, den sie in ihren vornehmen Bezeichnungen hochtrabend gräzisieren – der Demoskop ein „Volksseher“, also so eine Art gesellschaftlicher Prophet und seine Prognose ein „Vorwissen“ – auch diesmal nicht einlösen. Dann doch lieber Kaffeesatzlesen oder der Flug der Kraniche.

„Sieh da, sieh da Timotheus, die Kraniche des Ibikus!“ Bei Friedrich Schiller – den man als Jugendlicher, der seine Ballade auswendig lernen sollte, nicht lieben musste – wird sehr schön deutlich, dass Schicksalzeichen, als welche die Kraniche gesehen werden, überaus vieldeutig sind: die Mörder entlarven sich selbst durch diesen Ruf und bekommen ihre Strafe, die Tat wird vergolten, und die Gesellschaft erlebt ihre Welt als moralisches Universum, in der Gerechtigkeit über den Tod hinaus regiert.

„Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ heißt es anderswo beim selben Schiller zum selben Thema und wir können davon ausgehen, dass Schiller seinen Paulus kannte, wie wir unseren Schiller kennen – also vielleicht nicht ganz textsicher, aber doch so, dass wir die Pointe drauf haben: „Zwei Blumen für den weisen Finder,/ Sie heißen Hoffnung und Genuß./ Wer dieser Blumen Eine brach, begehre/Die andre Schwester nicht./ Genieße, wer nicht glauben kann. Die Lehre/ Ist ewig wie die Welt. Wer glauben kann, entbehre./ Die Weltgeschichte ist das Weltgericht./ Du hast gehofft, dein Lohn ist abgetragen,/ Dein Glaube war dein zugewog´nes Glück./ Du konntest Deine Weisen fragen,/ Was man von der Minute ausgeschlagen,/ Gibt keine Ewigkeit zurück.“( Schiller, Resignation)

Nur dass Paulus nicht zwei Lebensentwürfe wie bei Schiller („Zwei Blumen“: das Leben in Hoffnung und Glauben und das Leben im diesseitigen Genuß) gleichwertig nebeneinanderstellt, sondern aufs Entschiedenste den ersten befürwortet: Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, um so den Tag des Herrn also das Weltgericht zu erwarten. Mit dieser eindeutigen Wertung, sagt Paulus auch, dass trotz aller ausgleichenden Gerechtigkeit, die auch schon in dieser Welt geschieht – vielleicht einfach so, dass sich manche Tragödien als Farce wiederholen und damit aufheben (wie wir es gerade in Amerika erleben) – diese weltliche Gerechtigkeit nicht reicht (auch in Amerika werden die tiefen Wunden, die ein böser und dummer Präsident geschlagen hat, nur in tiefen Narben verheilen) sondern erst Gott am Ende Gerechtigkeit schaffen wird. Nach Paulus ist die Weltgeschichte eben nicht schon das Weltgericht – das steht noch aus.

Und das entlastet uns übrigens auch von Fehlzuschreibungen und Missdeutungen, Tyrannen für göttliche Werkzeuge und Seuchen für göttliche Strafen zu halten. Wir sollen und brauchen nicht Gott in die Schuhe schieben, was durch die Bosheit der Menschen und den Gang der Natur ganz gut zu erklären ist. Genauso wenig wie wir im Weltgeschehen einzelnen Geschehen das Gericht Gottes zuschreiben können, sollen wir über Zeiten und Stunden spekulieren, wann es den anbricht: Denn der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht.

So ist mit dem heutigen Paulustext eine klare Wahlempfehlung zu machen: Lebt als Kinder des Lichts, Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, die Seligkeit zu besitzen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. Darum tröstet euch untereinander und erbaue einer den anderen, wie ihr auch tut.

Und dass das Leben als Kinder des Lichts auch ungemütlich sein kann, wusste Paulus, hat es ja selbst in einem bewegten Leben erlebt und verschweigt es uns auch hier nicht: Zieht euch warm an! (Nicht nur im November, nicht nur in der ungeheizten Kirche.) Legt euch an den Panzer des Glaubens und der Liebe und den Helm der Hoffnung auf das Heil! Tragt die Maske – würde er zweifellos heute sagen. Und sagt ja zu dem Leben, dass uns Gott gegeben hat – auch im traurigen Monat November, wenn die Kraniche nach Deutschland hinüberziehen. Amen.

Predigttext für den 21. Sonntag nach Trinitatis, 1. November 2020

Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte …

So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl. Denn so spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Lasst euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen! Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Ich habe sie nicht gesandt, spricht der HERR.

Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe. Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung. Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

(Buch des Propheten Jeremia 29,1-14*)

Suchet der Stadt Bestes! Das ist – liebe Schwestern und Brüder – seit langem der Schlüsselbeleg aus der Bibel für das gesellschaftliche Engagement der Christen, für ein politisches Christentum – und gegen den stillen Rückzug in die fromme Ecke. Uns wird folglich heute eine politische Predigt zugemutet – mir sie zu halten, Euch sie zu hören und zu ertragen.

Suchet der Stadt Bestes! Schon seit Jeremias Zeiten werden die Gläubigen dazu aufgerufen, nicht nur auf Erlösung und das Reich Gottes zu warten – das auch! – sondern die irdischen Reiche mitzubauen und mitzugestalten. Christen sind nicht neutral in gesellschaftlichen Fragen, keine Idioten im eigentlichen Sinne dieses schönen griechischen Wortes, das ursprünglich den politisch desinteressierten, unwissenden Menschen bezeichnet, der sich dem demokratischen Prozess und damit der Verantwortung für die gemeinsame Sache verweigert. (Insofern trifft übrigens die Wortschöpfung „Covidiot“ haargenau die, die sich der gesellschaftlichen Verantwortung verweigern, die sich aus der Corona-Seuche ergibt.)

Suchet der Stadt Bestes! Es lohnt sich – wie immer – auf den genauen Wortlaut dieser prophetischen Empfehlung zu achten: Da steht ja nicht: Suche dein Bestes! Was ja vielleicht im günstigsten Fall die liberale Illusion bezeichnen würde, dass, wenn alle ihr eigenes Glück anstreben (im berühmten „pursuit of happiness“), das gemeinsame Glück entsteht; eine Illusion ist das deshalb, weil natürlich die Starken ihre Vorstellung von Glück und Gut weit eher verwirklichen können als die Schwachen. Wenn alle in Freiheit ihrem Glück nachstreben, herrscht das Recht des Stärkeren. Deshalb fordert der Prophet eben nicht mein Bestes sondern das Beste der Stadt zu suchen: Gemeinwohl vor Eigennutz!

Dazu gibt es ein schönes aktuelles Beispiel: In einem Gesprächskreis lange vor Corona kamen wir auf die Wiesbadener Citybahn zu sprechen und ich musste zu meiner Verwunderung feststellen, dass man auch dagegen sein kann. Es mag Gründe für beide Meinungen geben, aber das in diesem Gespräch immer wieder geäußerte Argument „Ich brauche sie nicht“ ist – aus christlicher Sicht – keins, zumindest kein gutes. Denn es ist natürlich demokratisch legitim, in politischen Entscheidungen dem eigenen Nutzen zu folgen. Aber der christliche Glaube verlangt mehr, nämlich die Orientierung am Gemeinwohl: Suchet der Stadt Bestes! – Wobei natürlich zumindest theoretisch denkbar wäre, dass auch die Orientierung am Gemeinwohl gegen die Bahn spräche. Bevor wir das Kreuzchen heute machen, müssen wir das prüfen.

Übrigens meint das hebräische Original des Prophetenwortes noch etwas viel Besseres als bloß „das Beste für die Stadt“, indem es nämlich sagt, was das Beste ist: Dirschu et-Schalom ha-Ir! Heißt eigentlich: Sucht den Frieden, das Wohl, das Heil der Stadt. Der biblische „Schalom“ ist weit mehr als Abwesenheit von Gewalt und Krieg – das natürlich auch. Er meint den gelungenen Ausgleich der verschiedenen Kräfte und Interessen, das gemeinsame Wohl von Menschen und Tieren, Heil und Leben aller vor einem wohlwollenden Gott. Sucht das Wohl der Stadt!

Dabei hätte Jeremiah doch eigentlich allen Grund, eine andere Botschaft in die Stadt Nebukadnezars, des grausamen Feldherrn und Eroberers, zu senden; eine andere Botschaft in die Stadt Babylon, die noch uns Heutigen ein Symbol der Verkommenheit und des Verfalls ist: „Babylon Berlin“; eine Stadt, in die die Israeliten verschleppt wurden, deportiert, ihrer Heimat, ihres bisherigen Lebens beraubt.

Denkbar oder sogar naheliegend wären doch Botschaften des Zorns und der Selbstbehauptung, der Beschwörung der eigenen Identität (übrigens dieselbe sprachliche Wurzel wie Idiot!) in der fernen Fremde – wie es auch heutzutage gelegentlich die Präsidenten der Herkunftsländer von Migranten und Exilierten tun. Denkbar wäre doch zum bloßen Durchhalten aufzufordern, zum Abgrenzen, zum Abschotten und Desintegrieren, um Parallelgesellschaften zu bilden und dann bei der ersten, besten Gelegenheit wieder zurückzukehren. Was geht mich das Wohl der Stadt an?

Anders Jeremia, der ahnt, der weiß, dass das Exil lang sein wird – kein Sprint sondern ein Marathon, in den man sich einrichten muss. Von 70 Jahren ist die Rede. Auch in diesen siebzig Jahren in der Fremde soll – so sagt es der Prophet – gelebt und geliebt werden, sollen Familien gegründet, Häuser gebaut und Felder bestellt werden, soll das Leben gestaltet und das gemeinsame Wohl gesucht werden.

– So wie das Millionen Einwanderer, also Millionen unserer italienischen, spanischen, polnischen und türkischen – und so vieler anderer eingewanderter – Landsleute seit beinahe 70 Jahren in unseren Städten tun – im privaten und im gesellschaftlichen, im sportlichen, kulturellen und kulinarischen, im politischen Leben, auch in Forschung und Medizin: Die Virologin aus Hamburg und der Impfforscher aus Mainz sind ja nur die gerade jetzt besonders sichtbaren Beispiele von Medizinern und Forschern mit Migrationshintergrund. (Und es ist auf eine sehr dialektische Weise – passend zum Hegeljahr?! – tröstlich, dass einer der Autoren eines Spiegelcovidiotenbestsellers ursprünglich von sehr weit her kommt: Wer so was schreibt, und wenn das dann auch noch gelesen wird, der hat es in seiner neuen Heimat weit gebracht.)

Manchmal übersehen wir das alles, was doch überwiegend gelingt, beim Betrachten der Migrationsprobleme, die es auch gibt, wohl geben muss – und die uns in diesen Tagen im Blick auf Frankreich zutiefst verstören und quälen. Auch Babylonier und Israeliten werden sich bisweilen bekämpft haben. Dennoch sagt der Prophet: Suchet gemeinsam der Stadt Bestes! Was wäre denn die Alternative?

Spricht unser Prophet auch in unsere aktuelle besondere Zeit der Corona-Krise und der Seuchen-Angst? Na klar, wie denn nicht? Vor den Falschsagern und Leugnern wird ausdrücklich gewarnt: Lasst euch von den Wahrsagern nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen! Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Nein, das Virus geht nicht weg, wenn wir es leugnen.

Und morgen beginnt dann also wieder ein Monat des inneren Exils vom gewohnten Leben – auch kein Sprint sondern Marathon, aber – da lege ich mich fest – ganz bestimmt keine 70 Jahre. Auch in diesen Wochen und Monaten der neuerlichen Distanzierung, der Vereinzelung und Trennung, die vor uns liegen, sollen wir – so ermuntert und ermutigt uns der Prophet – leben und lieben, Familien gründen, Häuser bauen – wenn man durch Wiesbaden fährt, wenn’s denn mal weitergeht vor lauter Staus, hat man den Eindruck, dass noch nie so viel gebaut wurde wie gerade jetzt – Felder bestellen, lernen und forschen – gerne auch nach guter Medizin – und das Wohl der Stadt suchen: Suchet der Stadt Bestes!

Der Prophet – und das muss uns nun nicht wirklich überraschen – traut der Religion in dieser Sache besonders viel zu; sie ist nicht nur systemrelevant sondern mehr als das, denn sie soll ja das System tragen und erneuern (auch sich selbst reformieren, darüber wäre gestern zu reden gewesen): wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR. Wir sind als Gemeinden dankbar, dass wir anders als im Frühjahr weiterhin gemeinsam auf die Suche nach Gott gehen und Gottesdienste feiern können, in aller Verantwortung und bei aller Vorsicht, versteht sich.

Der Prophet endet mit einem geradezu überschwänglichen Wort der Hoffnung, das wir auch auf uns beziehen dürfen: Es wird alles gut, also zumindest so gut wie es vorher war, wie es in diesem Leben sein kann. Auch wir werden nach dem Corona-Exil in unser früheres Leben zurückkehren:

Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung… und ich will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

Amen.

Predigttext für den 20. Sonntag nach Trinitatis, 25. Oktober 2020

Und es begab sich, dass er am Sabbat durch die Kornfelder ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat. (Markusevangelium 2,23-28)

Desperate times call for desperate measures. Notzeiten erfordern Notmaßnahmen. Es kann nicht verwundern, dass diese Redensart im Zusammenhang von Krankheit und Heilung entstand und dem griechischen Arzt Hippokrates zugeordnet wird, genau! – dem mit dem Eid. Notzeiten erfordern Notmaßnahmen. Passt zur Pest; passt sehr in unsere Corona-Zeit.

Und der notwendige Streit um die hoffentlich notwendenden Maßnahmen geht immer auch um die Frage, ob und wie sehr wir uns in einer Notzeit befinden. Wer nicht einsieht, wer nicht einsehen kann, dass jetzt Notzeit ist, wird auch die Notwendigkeit besonderer Maßnahmen nicht einsehen können. Das lässt sich tagtäglich in Presse, Funk und Fernsehen vernehmen, wenn der sich seriös gebende journalistische Arm der Covidioten und Leugner das Recht von Partys, offenen Schulen und der nicht zu störenden Wirtschaft lautstark gegen die Wirklichkeit der Seuche auflehnt. Aber wer soll unterrichten, wenn die Lehrer krank sind? Und wer soll arbeiten und kaufen, wenn die Käufer und Arbeiter mit der Seuche im Bett oder im Grab liegen?

Wer Hunger nicht kennt, wird den Mundraub der Jünger am Sabbat nicht verstehen. („Die hätten ja wirklich mal einen Tag hungrig ins Bett gehen können.“ Oder: „Wer kein Brot hat, soll halt Kuchen essen!“) Und wer Corona für eine Art Grippe hält, wird im Leben nicht verstehen, dass anders als in Grippezeiten nun zumindest zeitweilig andere Regeln gelten müssen und also das öffentliche Leben abgeschlossen und ruhig gestellt werden muss unter Einschränkung gleich mehrerer Grund- und Menschenrechte; um der Menschen (und dieser Rechte!) willen. Denn Rechte und Gesetze sind um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um der Rechte und Gesetze willen – wie Jesus schon sehr richtig insistierte. Was hülfe es dem Menschen, seine Freiheit zu gewinnen aber sein Leben zu verlieren? (Wie Jesus nicht sagte – aber meinen könnte; vgl. Markus 8,36)

Kein Wunder, dass solche Berufung auf ein höheres Recht in einer Notsituation umstritten ist und insbesondere bei Juristen, den eigentlichen Hütern der Gesetze, umstritten ist – auch in dieser Situation, obwohl es ja ein Seuchenschutzgesetz gibt, das Eingriffe in Bürgerrechte zu Notzeiten vorsieht. Wobei ich es unglücklich finde – und beinahe einen Kategorienfehler, dass gerade mehr und mehr seuchenpolitische Maßnahmen vor Gerichten entschieden werden: also etwa die Mundschutzpflicht im Unterricht oder Quarantänebestimmungen für Hotspots mit offenkundig fragwürdigen Urteilen. Das sind doch politische Entscheidungen aufgrund von medizinischen Sachverhalten, die Juristen nicht und schon gar nicht besser beurteilen können (genauso wenig natürlich die Theologen).

Dieses juristische Vorgehen dürfte dem Verlangen folgen, möglichst keine rechtsfreien Räume oder rechtlich unbestimmte Situationen zuzulassen. Das zeigt sich etwa im Widerstand gegen ein „Widerstandsrecht“ gegen Maßnahmen des Staates oder in der Abschaffung des Mundraubparagraphen im Strafgesetzbuch vor nicht allzu langer Zeit. Beides – ein „Widerstandsrecht“, das es juristisch nicht gibt, wie auch die Idee eines „Mundraubs“, den es zumindest mal gab – hat nicht zufällig eine gewisse Relevanz in kirchlichen oder auch nur christlich inspirierten Diskussionen – wenn wir an Kirchenasyl für Flüchtlinge, an Waldbesetzungen wie aktuell im Dannenröder Forst oder an das Containern, also das Verwerten von weggeworfenen Lebensmitteln in Müllcontainern vor Supermärkten denken, die allesamt – juristisch – strafbewehrte Vergehen sind, und andererseits – theologisch – gleichsam prophetische Zeichenhandlungen sein können, die sich auf eine höhere Gerechtigkeit berufen: nämlich Menschenwürde und Menschrechte, Bewahrung der Schöpfung und Nachhaltigkeit im Umgang mit natürlichen Ressourcen. Es scheint da eine prinzipielle Spannung zwischen rechtlichen und religiösen Argumenten zu geben. (Unsere rechtskundigen Ausbilder im Fach Kirchenrecht ließen keine Gelegenheit aus, um unsere Begriffsstutzigkeit in juristischen Fragen herauszustellen, während wir Theologen uns immer noch mit dem bösen Spott trösten, dass noch nie ein Jurist vom Paulusplatz einen Rechtstreit für sich entscheiden konnte – was vermutlich nicht stimmt.)

Auch die Pharisäer in unserer Geschichte treten nicht nur oder nicht zuerst als religiöse Konkurrenten auf sondern als rechtskundige Schriftgelehrte, die eine Befolgung des 3. der 10 Gebote fordern: „Du sollst den Feiertag heiligen!“ – unter Verkennung der Notsituation, auf die Jesus in seiner Replik ausdrücklich abhebt: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte? Es gibt also einen Präzedenzfall im Alten Testament: Der berühmte König David hat auch in einer Notsituation als ihn hungerte gegen Gottes Gebot verstoßen.

Jesus verweist interessanterweise auf David und nicht auf die allgemeine Erlaubnis zum Mundraub aus Not, die sich ebenfalls im Alten Testament findet: „Wenn du in deines Nächsten Weinberg gehst, so darfst du Trauben essen nach deinem Wunsch, bis du satt bist, aber du sollst nichts in dein Gefäß tun. Wenn du in das Kornfeld deines Nächsten gehst, so darfst du mit der Hand Ähren abrupfen, aber mit der Sichel sollst du nicht dreinfahren.“ (5. Mose 23,23f. Man kann es bedauern, dass der Mundraubparagraph aus dem Strafgesetzbuch getilgt wurde. Es ging in diesem Bezug zur Bibel nicht so sehr um die Beschwichtigung eines Bagatelldelikts – auch Mundraub wurde bestraft aber geringer als Diebstahl – sondern um das Eingeständnis, dass das Eigentumsrecht der einen nicht in jedem Fall über der Not der anderen steht. Das dreiste Mitgehenlassen z.B. von Trauben im reifen Rheingauer Weinberg oder die heimliche Ernte von fremder Leute Quitten war damit eh nie gemeint; aber vielleicht das übriggebliebene, schon angewelkte und heimlich aufgefutterte Käsebrötchen, das mittlerweile den Job kosten kann.)

Es geht in unserer Jesusgeschichte nicht einfach um Mundraub aus Not sondern um Mundraub aus Not am Sabbat – also an dem Tag der Woche, an dem sich die Glaubenden an Gottes Schöpfung erinnern sollen, als noch alles gut und kein Mangel war: „Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.“ (2. Mose 20,11) Wie an den Heilungen am Sabbat, die ähnliche Konflikte mit den Pharisäern als Hütern des Rechts provozieren (über die Frage: Darf man am Sabbath medizinische Dienstleistungen erbringen? – Nein! [was sich Gottseidank geändert hat] Darf Jesus am Sabbath heilen, um das Heil Gottes zu zeigen? – Ja!), so stellt Jesus zeichenhaft prophetisch in seinen Reden und Wundern dar, wie Gott seine Schöpfung gemeint hat und wie sein Reich sein wird. In seinen Handlungen stellt Jesus die Schöpfungsordnung dar – und wieder her!

Zum Sinn der Schöpfung gehört nach Meinung der Bibel der Mensch und seine besondere Würde und Stellung: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. Der Mensch ist also nicht Mittel sondern Zweck, nicht Objekt sondern Subjekt. Darin liegt seine Würde.

Wenn Notzeiten besondere Notmaßnahmen erfordern, was sie tun! – wir erinnern uns: desperate times call for desperate measures – dann aber nicht in der Weise, dass vom Goldstandard religiösen und juristischen Redens vom Menschen abgewichen würde: der Menschenwürde.

Das Schreckliche an der Corona-Seuche ist nicht, dass Menschen erkranken, leiden und sterben – das tun sie, also wir, alle Tage (schrecklich genug!). Sondern das Schreckliche ist, dass Menschen in dieser Notsituation ihrer Würde beraubt werden – während der Frühjahrsausbrüche in Sterbehallen ohne Versorgung oder Begleitung selektioniert nach Wahrscheinlichkeit ihres Überlebens wie in Norditalien, in Spanien oder New York; oder wenn die schwachen Alten in Scharen aufgegeben werden ohne auch nur den Versuch der Behandlung wie im Corona-Wunderland Schweden (Meine Schwester, die dort lebt, kann sich aufregen über die Politik dort und die Berichterstattung darüber hier.)

Und das Skandalöse an den Corona-Debatten (also an denen, die sich seriös geben; die anderen sind ohnehin indiskutabel) ist das Werten und Abwerten von Menschenleben: Wie viele 90jährige Leben wiegen meinen Partyspaß auf? Auf wie viele Menschenleben meine ich verzichten zu können, um vorübergehende Schließungen des öffentlichen Lebens zu vermeiden, damit die Wirtschaft brummt? Welches Risiko kann ich Schülern und Lehrern zumuten, um die Schulen offen zu halten?

Den Vogel hat neulich der Chef der Süddeutschen Zeitung abgeschossen, als er die ohnehin gebeutelten Kirchen und ihre Vertreter für ihre Coronareaktion verächtlich gemacht hat und sie wegen der Kirchenschließungen über Ostern der Feigheit bezichtigt hat, ohne das Offensichtliche zu erkennen und zu nennen: nämlich dass sie – also wir – mit den Schließungen unsere Mitglieder und Besucher beschützt haben. Sonntag und Gottesdienst stehen nicht über Schutz und Würde des Menschen – meint jedenfalls Jesus:

Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat. Amen.

Predigttext für den 19. Sonntag nach Trinitatis, 18. Oktober 2020

Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.

Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind. Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen und gebt nicht Raum dem Teufel. Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann. Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Gnade bringe denen, die es hören. Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung. Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit. Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus. (Brief an die Epheser 4,22-32)

Gibt es ein Menschenrecht auf Party? Eher nicht – andererseits steht in einem der wichtigsten Texte zum Thema in christlich-aufklärerischem Geist das „Streben nach Glück“ ausdrücklich neben und nach „Leben“ und „Freiheit“ als den unveräußerlichen Rechten eines jeden Menschen („We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776).

Man konnte beinahe – liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde – beinahe den Eindruck bekommen, als sei das wichtigste Thema in dieser Zeit und das höchste Recht des Menschen, insbesondere des jungen Menschen – aber fühlen wir uns nicht alle jung, zumindest jünger als wir sind – als sei es das wichtigste Thema und Menschenrecht, dass der Mensch Spaß habe und feiere. Selbst gemeinhin seriöse Zeitschriften ließen ihre Edelfedern spitzen, um das Recht auf Party der feiernden Jugend gegen das Recht auf Leben von 90jährigen abzuwägen; ja es wurde vor einem neuen Biedermeier gewarnt, wenn nun womöglich für ein paar Wochen das lustige Treiben in Parks und Clubs der Hauptstadt und anderswo coronahalber einzuschränken wäre. Geht’s noch? Selbst dem Feierwütigsten müsste doch bei vorübergehender Nüchternheit einleuchten, dass Lebensrecht vor Feierrecht geht und Lebensschutz vor Partyschutz – sagt einer, der selbst der 90 deutlich näher als der zwanzig ist, also doppelt: aus Befangenheit und aus Betroffenheit. Zudem geht es ja nicht um das Ende der Party sondern nur um ihre Unterbrechung bis zum Ende der Seuche.

Allerdings könnte man doch auch schon fragen, was das eigentlich soll, was für eine Idee des Feierns (und also des Glücks, bzw. des Strebens nach Glück) diese Partykultur steuert, die sich nicht unterbrechen lassen will und nicht unterbrechen lassen kann. Aber vielleicht ist da gar keine Idee sondern bloß Lustprinzip und Spaßbefehl, reiner triebgesteuerter Hedonismus, den auch der Autor unseres Briefes meint und vor dem er warnt, wenn er von zugrunde richtenden, trügerischen Begierden spricht, oder in den Zeilen davor mahnt, nicht wie die Heiden zu leben „in der Nichtigkeit ihres Sinnes. Ihr Verstand ist verfinstert, und sie sind entfremdet dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, die in ihnen ist, und durch die Verstockung ihres Herzens. Sie sind abgestumpft und haben sich der Ausschweifung ergeben, um allerlei unreine Dinge zu treiben.“ (Epheser 4,17-19) Verfinstert, entfremdet, verstockt, abgestumpft – zugedröhnt, würde man heute sagen – , der Ausschweifung ergeben – hier drückt jemand ordentlich auf die Spaßbremse.

Man nimmt an, dass Paulus und seine Schüler hier nicht nur einem spießig biedermeierlichen Ressentiment folgen, sondern auch auf Verdächtigungen der heidnischen Umwelt gegen die christliche Gemeinde reagieren, galt doch der Kultstifter Jesus als „Fresser und Weinsäufer“ (Matthäus 11,19) und der Geburtstag der Kirche konnte von Außenstehenden als Trinkgelage missverstanden werden („Sie sind voll des süßen Weins“ Apostelgeschichte 2,13).

Der in der Antike berühmt berüchtigte Bacchanalienskandal lag zwar einige Generationen zurück aber lastete dennoch auf dem kollektiven Gedächtnis. Damals (also 186 vor Christus) wurden die Bacchanalien, Feste zu Ehren des Gottes Bacchus, verboten und unterdrückt, wilde nächtliche drogengeschwängerte und alkoholgetränkte, auch sexuelle Ausschweifungen von Frauen und Männern in Parks und Gärten, die nach Meinung der Obrigkeit Sicherheit und Ordnung gefährdeten. Auch nach dem Verbot hat es sie weiterhin – aber möglichst reglementiert – gegeben (und sie leben bis heute als uralte heidnische Wurzeln in unseren Karnevalsfeiern fort). Sicherlich hat es sie auch in der Nachbarschaft der Christen gegeben – aber damit wollte Paulus nichts zu tun haben. Er grenzt sich und die Seinen mit geradezu protestantischer Schärfe und Klarheit davon ab.

Er grenzt sich ab, und zwar weder aus Ressentiment noch zuerst aus Furcht vor einer Kultverwechslung, sondern aus Gründen des Glaubens: Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.

Die Gegenüberstellung von altem und neuem Menschen ist eine berühmte Denkfigur des Apostel Paulus, die – wie die ähnliche Redeweise von äußerem und inneren Menschen – die zunächst nicht sichtbare aber alles verändernde neue Wirklichkeit der Auferstehung im alten Leben bezeichnet: Alles ist anders – auch wenn alles so aussieht wie vorher; alles ist neu – auch wenn oberflächlich alles beim Alten bleibt: äußerlich Sünder – in Wahrheit gerecht, gerecht gesprochen durch Gott: „simul justus et peccator“ in der berühmten Wendung Luthers (Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/16).

Dieser Rechtfertigung aus Glauben als innerem Geschehen entsprechen die menschlichen Versuche der Heiligung des Lebens nach außen, die hier der Apostelschüler in Anlehnung an 10 Gebote und Bergpredigt mit Beispielen beschreibt: Nicht Lügen, keine – auch keine verbale Gewalt (Die Anregung, lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen, hat schon manche Ehe gerettet.), nicht Stehlen! Besonders zeitgemäß klingt die Warnung vor faulem Geschwätz, vor Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung und aller Bosheit. (Hier kann jeder mit seinen Gedanken eintragen, was ihm an Beschimpfungen durch andere Verkehrsteilnehmer, an Pöbeleien wenig liebenswerter Zeitgenossen, an Gelegenheiten, wenn man mal wieder für dumm verkauft werden sollte, so einfällt – vorausgesetzt man gedenkt der eigenen Liebenswürdigkeiten, mit denen man andere bedacht hat, gleich mit.) Weg mit dem faulen Geschwätz!

Es kann ja eigentlich gar nicht anders sein, als dass das neue Wesen des Menschen von innen nach außen drängt; andererseits bleibt es draußen bis auf einige wenige Zeichen und Wunder als Vorzeichen der endgültigen Gottesherrschaft vorerst beim Alten; das heißt, die menschlichen Bemühungen um ein besseres, heiliges Leben sind insgesamt zum Scheitern verurteilt und auf Vergebung angewiesen: vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus. Das wäre nur dann ein überflüssiger Rat, wenn unsere Bemühungen der Heiligung nachhaltig wären, sind sie aber nicht! Und deshalb ist der Rat zu Vergebung hier wie so oft Fluchtpunkt und Pointe des heiliggemäßen Lebens: vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.

Was bleibt aber von den unveräußerlichen Rechten auf „Leben, Freiheit und Streben nach Glück“, zu dem selbstverständlich auch Fest, Feier und Party gehören – zu ihrer Zeit, die eben jetzt nicht in Zeiten der Seuche ist. Wir würden ja als Einzelne genauso wenig fiebrig und krank feiern gehen – also auch nicht, wenn die Gesellschaft insgesamt fiebert und krankt. Es werden auch wieder andere Zeiten kommen.

Von einem Zeitfaktor spricht auch unser Bibeltext: betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung. Als Tag der Erlösung wird uns das Ende der Seuche sicherlich vorkommen; auch wenn hier im Bibeltext Erlösung natürlich in einem viel umfassenderen Sinn gemeint ist. Keine Feier kann uns von den Leiden des Lebens erlösen – und wahrscheinlich ist genau das das Problem mit uns und unseren Partys: dass wir sie missverstehen, dass wir sie nicht zur Feier unseres Lebens sondern als Flucht aus dem Leben missbrauchen, dass sie uns darin trügerische Begierden werden und zugrunde richten.

Deswegen und dagegen ruft uns der Apostelschüler zur Ordnung: Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Amen.

Predigttext für den 17. Sonntag nach Trinitatis, 4. Oktober 2020

Und Jesus ging weg von dort und entwich in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach, Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt. Er aber antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Lass sie doch gehen, denn sie schreit uns nach. Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr; aber doch essen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde. (Matthäusevangelium 15,21-28)

Manchmal kann ich Jesus nicht so gut verstehen – und seine Biografen, die Evangelisten, die ihn doch in gutem Licht zeichnen sollten, auch nicht. Schroff, geradezu ruppig kann Jesus in manchen Situationen reagieren wie hier, wenn er die verzweifelte Mutter eines kranken Töchterchens abweist und sie mit einem Hund zu vergleichen scheint. Oder wenn er bei anderer Gelegenheit sogar seine eigene Mutter barsch zurückweist, er kenne sie nicht.

D.h. verstehen kann man diese Ruppigkeit eigentlich schon, weil man sie ja von sich selbst kennt, nur von Jesus hätte man es anders erwartet und anders gewünscht; ruhiger, geduldiger, souveräner, Guru-hafter; als einer, den nichts aus der Ruhe bringen kann. Aber nein, er scheint bisweilen regelrecht genervt zu sein, oder erschöpft, mit der Situation überfordert; vielleicht ausgebrannt, wenn er sich nach dramatischen Szenen – umstrittenen Heilungen, aufgeregten Streitgesprächen, religiösen Tumulten – wie übereinstimmend berichtet wird, immer mal zurückzieht, um alleine zu sein und sich selbst wiederzufinden. So ja auch hier, wenn er aus seiner gewohnten Umgebung Galiläa nach Norden, nach Nordwesten hin ausweicht, ziemlich weit; Tyrus und Sidon liegen schon im Libanon. Und sich einen Moment der Ruhe gönnt – den bekommt er nicht.

Wahrscheinlich verstehen wir Jesus nur, wenn wir uns seine Tätigkeit als Wanderprediger und Wunderheiler als anstrengend, als stressig, als Herausforderung vorstellen. Das war kein leichtes Leben: ohne feste Wohnung, ohne Einkommen, ohne Besitz, der einem Sicherheit geben könnte, und ohne die sichere Aussicht auf regelmäßige Mahlzeiten; angewiesen auf das Wohlwollen der Mitmenschen, die Bereitschaft seiner Unterstützer ihn zu versorgen, herausgefordert von vielen, die seinen Anspruch, Gottes Reich anzusagen und in Heilungen und anderen Wundern anzuzeigen, bestreiten; und dabei genau diesen Anspruch zu vertreten im Glauben, dass Gott ihm nahe ist – auch wenn die äußeren Umstände seines Lebens – und um wieviel mehr noch seines Sterbens! – ganz anderes nahelegten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“; „gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ und anscheinend, scheinbar selber eins, ein verlorenes Schaf, von Gott verlassen. So musste es doch für viele aussehen.

Andere – die selber Verlorenen – wird gerade das angezogen haben. Sie haben – ganz im Gegenteil – seine Menschenferne als Gottesnähe verstanden – und gerade deshalb seine Nähe gesucht; und meistens auch gefunden. Denn das entsprach ja seiner Sendung, wie er sie selbst verstand, die Verlorenen zu finden und sich von den Verlorenen finden zu lassen.

Aber halt nicht immer; nicht in der Auszeit, wenn man sich zurückgezogen hatte, weggegangen war, entwichen nach Norden, nach Nordwesten in die Gegend von Tyrus und Sidon, in den Libanon, um sich zu sammeln, zu erholen, zur Ruhe zu kommen, sich selbst wiederzufinden; wie Jesus das getan hatte.

Und wie das die meisten von uns und gerade Seelsorger und Ärzte immer noch brauchen und tun: sich zurückziehen, sich regenerieren, sich erholen – und dennoch regelmäßig, wie sie berichten, auch am Wochenende, auch in der Freizeit, sogar im Urlaub auf ihren Beruf angesprochen werden, und um Rat und Heilung gebeten werden. Das kann anstrengen und da kann man schon mal gereizt reagieren. Wer angestrengt wird, kann auch mal anstrengend werden.

Es muss ja nicht ganz so aussehen und ganz so enden, wie in der hinreißenden und schreiend komischen und sehr sehenswerten Filmkomödie „What about Bob? – Was ist mit Bob?“, in der Bill Murray (der uns schon so oft durch sein Spiel und seinen Humor geheilt hat!) als neurotischer Patient seinem Psychiater in dessen Ferienhaus im Urlaub auf die Pelle rückt und diesen in den Wahnsinn treibt, während er dabei selbst von seiner Zwangsstörung geheilt wird. Sie tauschen, was sie prägt: Krankheit und Gesundheit – vom einen zum anderen. Sie wechseln ihre Rollen.

Ein – wie gesagt – schreiend komischer Wechsel, der hier stattfindet, aber nicht ganz das, was Luther den „fröhlichen Wechsel“ genannt hat, oder vielleicht doch?

(“Hier hebt nun der fröhliche Wechsel und Austausch an: Da ja Christus Gott und Mensch ist, der niemals gesündigt hat und dessen Gerechtigkeit unüberwindlich, ewig und allmächtig ist, wenn der die Sünde der gläubigen Seele durch ihren Brautring, den Glauben, sich zu eigen macht und sich nicht anders verhält, als hätte er sie getan, dann müssen die Sünden in ihm verschlungen und ertränkt werden, denn seine unüberwindliche Gerechtigkeit ist allen Sünden zu stark. So wird die Seele von allen ihren Sünden allein durch ihre Mitgift, also um des Glaubens willen, los und frei und mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams Christus beschenkt. Ist das nun nicht eine fröhliche Hochzeit, wo der reiche, edle, gerechte Bräutigam Christus das arme, verachtete, unansehnliche Mädchen heiratet und sie von allem Übel befreit, mit allen Gütern ziert?“ Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen 1520, Kap.12. Luther bezieht sich mit seiner Redefigur vom „fröhlichen Wechsel“ auf Paulus und eine lange mittelalterliche Tradition: „Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden.“ 2. Korinther 5,21; „Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine Armut reich zu machen.“ 2. Korinther 8,9)

Bob aus dem Film und die Kanaanäische Frau verbindet nicht nur ihre reichlich impertinente Art, den Ruhe und Erholung suchenden Heiler selbst am abgeschiedenen Ort mit ihrer Not zu belästigen, sondern auch und vielmehr der unerschütterliche Glauben, dass sie von diesem und nur von diesem Arzt geheilt werden können. (Die Analogie von Filmgeschichte und Jesusgeschichte lässt sich sogar noch weiter führen: Beider Heilung kostet die Heiler nicht weniger als ihr Leben in Wahnsinn und Kreuz – und nur die gattungsdifferente, also jeweils gattungsgerecht unterschiedliche Auferstehung – also das Wunder schlechthin – sorgt in der Komödie für ein happy end und bei Jesus für die Rückkehr zu Gott als Gottessohn.)

Wie in so vielen Wundergeschichten lenkt das sichtbare Wunder – also hier die Wunderheilung – vom eigentlichen Wunder und Grund der Heilung – also dem Glauben – eher ab: Frau, dein Glaube ist groß. Es ist dieser Glaube, der uns heilt, bzw. mittels dessen wir uns so an Christus und damit Gott binden, dass wir heil werden, „von allem Übel befreit“, wie Luther den Effekt des „fröhlichen Wechsels“ beschreibt (s.o): Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.

Wundergeschichten sind Glaubensgeschichten. Sie illustrieren das eigentlich rätselhafte und nicht aus sich selbst wahre Wort Jesu: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt“ (Markus 9,23) Stimmt das überhaupt? Noch werde ich allemal auch als Glaubender mir unweigerlich eine blutige Nase holen, wenn ich mit dem Kopf durch Wand will. Die Wirklichkeit ist stärker als unser Glaube – noch.

Aber: Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt, weil uns dieser Berge versetzende Glaube durch Jesus Christus so mit Gott verbindet, dass er uns heil und ganz macht. So zeigt es Jesus in seinen Wundermomenten, aber ja nur momenthaft, am Einzelfall, keineswegs generell und flächendeckend! Die meisten Kranken, denen Jesus begegnet sind krank geblieben (vgl. die besonders prekäre Situation am Teich von Bethesda mit seinen fünf Hallen voller Kranker, Blinder, Lahmer und Ausgezehrter, die im Moment des Wunders ins Wasser stürzen, aber nur der erste hat Chancen auf Heilung, und nur einer wird von Jesus geheilt, Johannes 5, 1-9).

Nur für einen Moment und um uns damit etwas zu zeigen, nimmt Jesus bei bestimmten Gelegenheiten die Zustände des Reiches Gottes vorweg, also wenn Gott alles in allem sein wird, und „die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins“ aufscheint (so der Schleiermacherfreund Henrik Steffens, zitiert nach Eberhard Jüngel, Ganz werden S. IX): „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt.“ (Matthäus 11,5) So ist es noch nicht – aber so wird es sein.

Als Heilung und Heil Suchende können wir auch den ruhebedürftigen und ruhesuchenden Heiler mit unserer Not belästigen; müssen zwar durchaus mit einer übelgelaunten Abfuhr rechnen, für die wir angesichts seiner Lebenssituation Verständnis haben sollten; dürfen aber darauf hoffen, nach allerlei Quengelei gehört und geheilt zu werden. Um dann schließlich einzusehen, dass Heilung hier als Glaubenssache gemeint ist, als Hinweis auf den am Ende alles gut machenden Gott („andrá tutto bene!“), als Angeld auf Gottes Reich, als Antizipation der „unmittelbaren Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins“ (s.o.), als Vorschein des alles erleuchtenden göttlichen Lichtes; wenn Gott alles in allem ist und auch uns in sein Erbarmen und in seine Gnade umschließt. Von dieser Hoffnung lebt die Bitte: Herr, erbarme dich meiner! Amen.

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 16. Sonntag n. Trinitatis, 27. September 2020, Konfirmation

Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Schwestern und Brüder, liebe Konfirmationsgemeinde,

es wird euch freuen zu hören, dass es nicht nur einen Predigttext für den heutigen 16. Sonntag nach Trinitatis, sondern dass es auch ein Gedicht für den heutigen Tag im Jahr gibt, den 27. September. Das will ich Euch natürlich nicht vorenthalten:

Der schöne 27. September, von Thomas Brasch

Ich habe keine Zeitung gelesen. … (Gedicht wird vorgetragen)


Der Dichter Thomas Brasch singt das stille Lied vom Nicht-tun, das einen eigenen Wert neben und manchmal vor dem Tun hat; Glücklich die Menschen, die ein eigenes Wort dafür haben, das süße Nichtstun, das dolce far niente: süß ist´s, nichts zu tun; als Pause, als Stille, als Enthaltsamkeit und als Verzicht, auch bekannt als Abhängen, Relaxen, Chillen.

Das Nicht-tun kann einen Vorrang vor dem Tun haben – manchmal sind im Fußball die Tore, die spektakulär nicht geschossen werden, bleibender in der Erinnerung als die, die im Netz landen. In der Ruhe liegt die Kraft – man sollte sich halt im Strafraum nicht unbedingt wundliegen.

Nicht-tun ist wie die Ruhe vor dem Sturm – oder die Ruhe der Welt nach ihrer Erschaffung durch Gott, die wir in der Feiertagsruhe nacherleben sollen, Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. … Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage; wer tut das noch: „ruhen“ und die Ruhe heiligen – wenn er es nicht gerade muss und er in einem Lockdown eingeschlossen ist.

Vielleicht könnte das doch ein Sinn, etwas Bleibendes aus dieser merkwürdigen Zeit sein, die wir erlebt haben und noch erleben – dass wir zur Ruhe kommen; unfreiwillig, ja – aber nicht nur zu unserem Schaden. Wie es uns der große Philosoph und kleine Bär Winnie the Pooh vorlebt: Sometimes I sits and thinks; and sometimes I just sits; wobei man staunen kann, dass er die ohnehin nicht gerade schweißtreibende Aktivität des Sitzens und Denkens noch weiter auf das bloße Sitzen reduzieren kann.

Das kann helfen, wenn es uns Durststrecken in Schulstunden, in Gottesdiensten oder langweilige Sitzungen überstehen lässt: Sometimes I just sits. Ich mach das so – und einige von Euch auch, wie ich feststellen konnte. Das ist ok.

Für ein ganzes Leben reicht diese Strategie nicht, manchmal muss man seinen Hintern hochkriegen – auch in Zeiten wie diesen im Schatten der Seuche. Die schüchtert uns ein, lähmt uns bisweilen – durch die Angst, die wir spüren und durch manche Maßnahmen, die uns beschränken. Dann müssen wir uns gegenseitig aufmuntern: an die guten Zeiten erinnern, die wir erlebt haben – als Konfigruppe auf Konficamp im rauen Westerwald und auf Konfikurs im öden Berghessen und auch sonst – und von den noch besseren Zeiten träumen, die noch kommen: als Rot-, Blau- oder Oberkappe beim Achim, auf Gemeindefesten wie heute Nachmittag und was weiß ich wann. Ihr wisst, wo ihr uns findet.

Und da kommt unser Predigttext ins Spiel, der uns aufmuntern und ermutigen will und dessen punchline in der Coronazeit oft gesagt und bedacht wurde: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.

Was, so was Tolles steht in der Bibel, da könnte man doch genauer nachlesen; im Zusammenhang heißt es dort: („Paulus“ schreibt an Timotheus)

Ich erinnere mich an den ungefärbten Glauben in dir, der zuvor schon gewohnt hat in deiner Großmutter Lois und in deiner Mutter Eunike; ich bin aber gewiss auch in dir. Aus diesem Grund erinnere ich dich daran, dass du erweckest die Gabe, die in dir ist durch die Auflegung meiner Hände. Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit für das Evangelium in der Kraft Gottes. Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt, jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium, für das ich eingesetzt bin als Prediger und Apostel und Lehrer.

Heiliger Ruf, Handauflegen, Geistesgabe – damit sind doch schon ziemlich genau die äußeren Merkmale der Konfirmation benannt. Der Ritus der Konfirmation ist eigentlich eine Berufung: eine Berufung zum Leben mit Christus.

Und mit Großmutter Lois und Mutter Eunike sind Personen genannt, die bis heute Religion weitergeben, tradieren; wenn die es nicht tun, bricht die Tradition ab, da hilft auch nicht der beste Reli- oder Konfiunterricht – also zumindest der beste, den wir Euch geben konnten. Mein verehrter Heidelberger Lehrer – Gott hab ihn selig! – hat uns bei kniffligen theologischen Fragen immer an unsere Großmutter verwiesen: Was würde die dazu sagen?

Aber vor allen Dingen informiert uns unser Text über Sinn und Bedeutung der Konfirmation; Bestätigung der Taufe und des Glaubens ist noch nicht alles; hier wird deutlich, dass es um Bestärkung und Festigung unseres – Eures – Selbst als Person geht; um eine Übung in Resilienz, wie wir heute sagen; um uns – um Euch – fit zu machen gegen die Unbilden des Lebens, die Macht und die Mächte des Todes.

Insofern ist Konfirmation auch ein Mittel gegen Corona – kein pharmazeutisches natürlich, auf das wir alle warten, das uns – nebenbei gesagt – auch nicht unsterblich machen wird; sondern Konfirmation ist ein geistliches Mittel gegen Corona, um uns mit einem festen und starken Geist zu segnen, der uns Mut macht, dieser und der garantiert folgenden Krise zu begegnen, damit sie keine Macht haben über uns, weil Christus Jesus dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.

Da ist einer, der für uns eintritt: der uns stärkt, wenn wir müde sind, und der uns beruhigt, wenn wir vor lauter Aufregung keinen Plan haben; und der uns auf seine – auf göttliche – Weise liebt, so wie wir sind:

Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Amen.

Predigttext für den 15. Sonntag nach Trinitatis, 20. September 2020

Es war zu der Zeit, da Gott der HERR Erde und Himmel machte. 5Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen. Denn Gott der HERR hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; 6aber ein Strom stieg aus der Erde empor und tränkte das ganze Land. 7Da machte Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.8Und Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. 9Und Gott der HERR ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. (…)

15Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. 16Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, 17aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben.18Und Gott der HERR sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. 19Und Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. 20Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen wurde keine Hilfe gefunden, die ihm entsprach.

21Da ließ Gott der HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. 22Und Gott der HERR baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. 23Da sprach der Mensch: Die ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist. 24Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch.25 Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht. (1. Mose 2,4b-25)

Verbotene Früchte von verbotenen Bäumen sind die verlockendsten. Wer´s nicht glaubt, soll gelegentlich beim Gemeindegarten vorbeikommen, jetzt im goldenen Herbst, wenn die Quitten durch die Blätter leuchten und langsam in der Septembersonne reifen. Unwiderstehlich für nicht wenige, die sie dann abrupfen. Zur Rede gestellt, warum sie sie denn nicht fertig reifen lassen und nicht mal fragen, ob sie sich welche nehmen können – sie sind nämlich wie jedes Jahr schon den Nachbarn und Bekannten versprochen – stellen sie sich meistens frech und dumm: „Die paar Früchte“ – „Die gehören doch keinem“ – „Die fallen doch sonst runter und verfaulen“ – „Jetzt haben sie sich mal nicht so, ich dachte sie sind von der Kirche“ Jeder Spruch ein Juwel in der Tradition von Adam und Eva, die sich in Unverschämtheiten und Ausflüchten üben, aber die Verantwortung für ihr Tun verweigern.

Aber warum eigentlich solche Regeln schon im Paradies; da ist doch kein Mangel, der verwaltet werden müsste; keine Konkurrenz, der die Früchte schon versprochen wären. Warum werden schon im Paradies Grenzen gezogen durch Regeln. Wird hier nicht die urzuständliche herrliche Freiheit der Kinder Gottes sinnwidrig beschränkt und begrenzt. Besteht nicht der eigentliche und erste Sündenfall darin, die uranfängliche Autonomie des Menschen heteronom zu untergraben.

Die Autoren unserer Geschichte dachten: nein. Vielleicht weil sie eine Ahnung davon hatten und weitergeben wollten, dass alles Leben, auch alles menschliche Leben von Anfang an begrenzt ist: räumlich, durch einen Körper, der nicht gleichzeitig hier und dort sein kann – und zeitlich, durch meine Lebenszeit, gerahmt von Geburt und Tod; und durch natürliche Bedingungen begrenzt wie Klima und Geographie und Nahrungsangebot; wie auch durch Regeln und Gesetze begrenzt: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Apfel, Birne oder Quitte!

Menschliches Leben ist vielfältig begrenzt, bedingt und abhängig; zuletzt und von Anfang an abhängig von unserem Schöpfergott, dem wir das anerkennen wenn wir glauben – also in und hinter den Erscheinungen der Welt nach dem Sinn fragen. Glauben sei das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ hat der Theologe Schleiermacher gesagt und damit gemeint, dass wir im Glauben die Voraussetzungen unseres Lebens anerkennen, die wir uns selbst nicht schaffen können. Über diesen Glauben kommuniziert die Bibel – auch mit uns, wenn wir sie lesen.

Die Schöpfungserzählung der Bibel ist unausschöpflich. Darin entspricht sie ihrem Gegenstand, der Schöpfung, die ist auch unausschöpflich (ganz zu schweigen vom Schöpfer selbst, der ist noch viel unerschöpflicher – schlechthin unausschöpflich) – mehr und größer als Menschen denken und forschen können. Dennoch – oder gerade deswegen – ist die Schöpfung seit jeher Gegenstand unseres Forschens und Fragens. Jede Menscheitsgeneration stellt ihre Fragen nach der Natur der Dinge auf ihre Weise und erhält die ihrer Zeit gemäßen Antworten. Die werden sich – wie die Fragen, wie die Methoden der Forschung – ändern und damit widersprechen – wenn nicht, würden wir uns ja nicht entwickeln sondern in unserem Wissen stagnieren. Es wäre schon seltsam, wenn diese Schöpfungserzählung – es gibt ja noch eine weitere, wahrscheinlich jüngere, die noch einmal ganz andere Vorstellung unterbreitet – es wäre schon seltsam, wenn diese Schöpfungserzählung von vor zweieinhalbtausend Jahren unserem heutigen Naturwissenschaftsstand entspräche; dann wären die Alten unfassbar klug oder wir unfassbar zurückgeblieben oder beides zugleich. Die Widersprüche – auch die scheinbaren Widersprüche! – der biblischen Erzählungen von der Schöpfung zu unseren modernen Erkenntnissen verstehen sich eigentlich von selbst. Das aber heißt nicht, dass nicht auch die alten Fragen und Antworten für uns interessant und erhellend sein können, und manchmal sogar – sie müssen ja nur lange genug vergessen sein – überraschen und für neu gehalten werden.

Überraschen muss, dass seit jeher Menschen ihre Geschlechterverhältnisse verhandeln – von Anfang an auch in der Bibel, auf diesen ersten Seiten schon. Beide Schöpfungserzählungen vertreten ganz unterschiedliche Modelle des Zusammenlebens. Während die erste und jüngere wie selbstverständlich und mit der Erklärung, dass Gott den Menschen zu seinem Bilde schuf, ein Modell der Gleichheit und Gleichberechtigung von Mann und Frau vertritt –„Gott schuf den Menschen als Mann und Frau“ – , erklärt die zweite und ältere, also unser heutiger Predigttext, mythologisch-phantasievoll Unterschied und Unterordnung der Frau unter den Mann als später und aus dem Mann heraus gebildetes Wesen – „Gott nahm (dem schlafenden Adam) eine Rippe und schloss die Stelle mit Fleisch. Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.“ Die Frau als sekundär und abgeleitet vom Mann, wie sie diese Geschichte im Gegensatz zur anderen sieht, klingt auch im hübschen Wortspiel „Mann-Männin“ an, mit dem Luther das eigentlich unübersetzbare hebräische Wortpaar „isch – ischah“/“Mann – Frau“ übersetzt: man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist.

Diese und weitere Unterschiede, Varianten und unzählige Widersprüche in der Bibel selbst laden zum weiterdenken und natürlich auch zum Aushalten von Widersprüchen ein. Wenn die Autoren der Bibel das schon aushalten, sich gegenseitig zu widersprechen – und zwar absichtsvoll und keineswegs aus Versehen – sollten wir es auch aushalten – und zwar so, dass wir den anderen trotzdem gelten lassen. Das wäre doch schon echter Fortschritt in den Fragen der Geschlechterverhältnisse unserer Zeit, in den Gender-Debatten, also Widerspruch zuzulassen, in beide Richtungen zuzulassen; ins Gespräch kommen, ohne den eigenen Standpunkt zu absolutieren, ihn dennoch zu vertreten – aber den anderen auch wahrnehmen.

Die Bibel überrascht mit der Vielfalt der Positionen, die sie aushält (die sie durchaus nicht immer aushält, es gibt auch Unduldsamkeit in der Bibel, der aber oft ebenfalls innerbiblisch widersprochen wird). Das ist der theologische Ertrag historischer Kritik an der Bibel: der Glauben ist vielfältig und verändert sich und bleibt sich in den Veränderungen treu. Umso mehr schmerzt es, dass die Bibel von einigen trotzdem als fundamentalistische Rechthaberfibel gelesen wird. Gerade die Schöpfungserzählungen werden zum Kampfplatz der eigenen Allwissenheitsfantasien; dabei taugen die dafür am wenigsten, wenn nämlich Pointe und punchline der Schöpfungsgeschichte ausgerechnet – wie wir heute lesen – die menschliche Nacktheit ist: Vor Gott sind wir nackt. Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht.

(So rechtfertige ich einen meiner Lieblingskalauer, nämlich über die „Nacht der Kirchen“, die ich als Aktion immer zu aktionistisch und dabei banal fand und daraus im Spaß „Nackt in der Kirche“ gemacht habe, um das Blöde an ihr zu entblößen. Wenn schon Quatsch dann richtig. Und wenn ernsthaft Nacht der Kirche, dann doch wohl die Osternacht oder der Heilige Abend! Das ändert aber nichts daran, dass wir im vergangenen Jahr eine sehr schöne Nacht der Kirche auch in der Thomaskirche gefeiert haben – und nach dem Corona-Spuk auch wieder feiern werden.)

Vor Gott sind wir nackt: Damit ergeht keine Aufforderung Speckröllchen und Falten in naturistischen Paradiesgärtlein auszuführen, sondern Nacktheit zeigt Verletzlichkeit und Zartheit des menschlichen Körpers und damit zeichenhaft Abhängigkeit und Freiheit des Menschen. „Die Nacktheit als Motiv der Begegnung von Gott und Mensch symbolisiert ein sich Öffnen, ohne etwas von sich zurückzuhalten. Sie stellt die unüberbietbare Unmittelbarkeit und eine vorbehaltlose Offenheit der Beziehung von Gott und Mensch heraus.“ (Johanna Rahner, Ein nackter Gott? 2008)

Nackt sind wir, wie Gott uns schuf (zumindest galt das, solange es keine Schönheitsoperationen und Tattoostudios gab – aber das ist ein anderes Thema, vielleicht aber auch nicht.) Als Nackte kehren wir zum Schöpfungsmoment zurück und werden unserer Geschöpflichkeit gewahr, genauer als geistlich Nackte: Selig sind die geistlich Nackten, wie Jesus bekanntlich nicht sagte.

Damit könnte gemeint sein, sich aller Hüllen und Masken zu entledigen (außer der einen Maske natürlich, mit der wir in dieser Zeit unseren Nächsten lieben, indem wir ihn vor uns schützen und damit uns selbst); damit könnte gemeint sein, sich aller Hüllen und Masken zu entledigen, mit denen wir uns verkleiden und verstellen; alle Hüllen zu beseitigen, in denen wir uns sehen wollen – und eben nicht mehr wirklich sehen; damit wir uns so sehen, wie wir sind und wie wir gemeint sind – von Gott, unserem Schöpfer.

Und damit könnte ebenfalls gemeint sein, dass wir als Nackte unterschiedslos – also bis auf den kleinen, aber überschätzten Unterschied – gleiche und gleichberechtigte Menschen sind. All men are created equal; alle Menschen sind gleich – als Gleiche – geschaffen: Nackt in eine freundliche Welt hinein geschaffen.

Amen.