Predigttext für den 14. Sonntag nach Trinitatis, 13. September 2020

1Und er – Jesus – ging nach Jericho hinein und zog hindurch. 2Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich. 3Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre, und konnte es nicht wegen der Menge; denn er war klein von Gestalt. 4Und er lief voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um ihn zu sehen; denn dort sollte er durchkommen. 5Und als Jesus an die Stelle kam, sah er auf und sprach zu ihm: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. 6Und er stieg eilend herunter und nahm ihn auf mit Freuden. 7Da sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt. 8Zachäus aber trat herzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.9Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams. 10Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

(Lukasevangelium 19,1-10)

Es gibt verschiedene Gründe auf einen Baum zu steigen:

Geeignete Bäume, Kletterbäume sind natürliche Spielgeräte für Kinder. Auf Bäume Klettern macht Spaß, nicht zuletzt wegen des gewissen Nervenkitzels, ob man auch heil wieder runter kommt; wobei der Spaß bei spielenden Kindern naturgemäß größer ist als bei der elterlichen Aufsicht, die sich wenig trösten lässt von der Einsicht: runter kommen sie immer:

Es kommt ja darauf an, in welchem Zustand. Eine repräsentative Umfrage unter unseren Konfirmanden hat ergeben, dass sie das – also auf Bäume klettern – eigentlich alle als Kinder gerne gemacht haben – und erfreulicherweise ohne jeden bleibenden Schaden.

Auch bei der Obsternte ist gelegentlich ein Baum zu erklimmen durch den Besitzer wie auch durch sein Gegenteil. Der Gemeindequittenbaum an der Richard-Wagner-Straße weckt jeden Herbst geradezu unbezwingbare Begehrlichkeiten. Nicht wenige Passanten halten die Früchte für Birnen, rupfen sie ab, beißen hinein – und schmeißen sie weg. Andere wissen besser Bescheid, und kommen mit Sack und Pack zur illegalen Ernte. Zu meinem großen Erstaunen musste ich vor ein paar Jahren in der Dämmerung beobachten, wie ein betagter aber offensichtlich rüstiger Senior aus der Nachbarschaft unseren Quittenbaum erklomm und sich eine reife Frucht nach der anderen in die mitgeführte Einkaufstüte sammelte. Als das Behältnis schon gut gefüllt war, verließ den alten Herrn das Gleichgewicht und das Jagdglück und er fiel – zu seinem wie auch zu meinem Schrecken – vom Baum und auf den Rücken, zappelte dortselbst ein paar Minuten mit den nach oben gereckten Beinen wie ein verunglückter Käfer und konnte sich dann durch eine kühne Drehung zuerst in Bauchlage, dann in den Sitz und schließlich in den noch etwas unsicheren Stand bewegen, um sich zwar ohne Reue aber mit den geklauten Früchten nach Hause zu begeben.

Bei der nächsten Begegnung sprach er davon, unglücklich gefallen zu sein, wohl wahr!

Andere Gelegenheit zum Erklimmen eines Baumes kann die Flucht vor einem wilden Tier sein – wobei man sicher sein sollte, dass dieses nicht besser klettern kann als man selbst: Wildgewordene Kühe sind ok – Bären und Großkatzen eher nicht – bei Hunden bin ich mir eben nicht sicher.

Außerdem wäre das Überwinden von Hindernissen wie Mauern oder Bächen zu nennen, das durch günstig gewachsene Bäume erleichtert oder erst ermöglicht wird. Aber auch hier lauert Gefahr: wie leicht landet man im Bach oder auf der Nase.

Heute und mit dieser Zachäusgeschichte können wir unserem kleinen Katalog der Klettergründe einen weiteren Grund für das Besteigen von Bäumen hinzufügen: der etwas kurz geratene Zachäus will sich Überblick und Zugang zu einem interessanten Ereignis verschaffen, einem Event wie man heute sagen würde, eine celebrity kommt ins sonst eher verschlafene Städtchen, Neugier und Hunger auf die Sensation treiben ihn, religiöse Bedürfnisse ausdrücklich nicht: Und er begehrte, Jesus zu sehen, wer er wäre.

Jesus, dem sein Ruf voraus geeilt ist, besucht Jericho, das Gedränge ist groß – undenkbar in unseren sozial distanzierten Zeiten gerade – und der zu spät gekommene und nicht gerade hünenhafte, sondern im Gegenteil kurz geratene Zachäus droht von dem Ereignis nur die Hinterköpfe und die Rücken der vor ihm Stehenden zu sehen.

Aber das Ereignis verspricht so interessant zu werden, dass Zachäus keine Mühe scheut, einen günstig stehenden Baum zu erklimmen – dabei auch das Risiko eines Sturzes in Kauf nehmend – um Jesu zu sehen und zu hören. Ganz ohne Komik – ich stelle ihn mir als kleinen, leicht übergewichtigen, sonst durchaus und jederzeit auf Autorität bedachten Finanzbeamten, nein Oberfinanzbeamten! vor, wie er umständlich und ungeübt den Baum erklimmt, dessen Äste unter der Last knacken und knirschen – ganz ohne Komik, ist das nicht. Eigentlich krabbeln gesetzte, wohlhabende Herren in Führungspositionen nicht auf Bäume.

So viel Interesse wecken nicht viele Prediger und auch Jesus, dem ja eigentlich durchweg die Leute zulaufen, nimmt den besonderen Eifer des Zachäus besonders wahr. Vielleicht fühlt er sich sogar ein bisschen geschmeichelt, dass da jemand diese Mühe auf sich nimmt, nur um ihm zu begegnen.

Jesus spricht den auf dem Baum Sitzenden an, macht ihn zum Gegenstand der Szene und der Geschichte und lädt sich bei ihm ein: Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muss heute in deinem Haus einkehren. Zachäus bleibt nicht Besucher und Beobachter – sondern wird zur Hauptfigur neben Jesus, zu seinem Gastgeber, mehr noch: zu seinem Stichwortgeber; er scheint sich von einer Sekunde auf die andere zum Musterfrommen, zum frommen Streber zu wandeln: Zachäus aber trat herzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück .

Jesus nutzt die Situation und zeigt an Zachäus, worum es ihm überhaupt geht: Alle dürfen zu Gott, niemand wird ausgeschlossen, auch die Sünder nicht, gerade die nicht. Jesus wendet sich in Gottes Namen den Diskriminierten zu – und eben auch denen, die sich selbst diskriminieren – die wie der Zöllner Zachäus durch Betrügen und Geld Zusammenraffen sich selbst diskriminieren: Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Aufmerksame Leser des Lukasevangeliums – und die sind wir ja – werden allerdings bemerken, dass sich unsere Zachäusgeschichte direkt auf die Gleichnisgeschichte vom Pharisäer und dem Zöllner aus dem Kapitel davor bezieht, über die wir vor ein paar Sonntagen nachgedacht haben und die es den Lesern viel weniger einfach macht sich zu identifizieren als zuerst vermutet. Auch unsere Geschichte ist viel weniger eindeutig als unsere Schulweisheit es will.

Zachäus, der reiche Oberzöllner, den wir uns als Betrüger an seinem Volk und als Kollaborateur der römischen Besatzer denken müssen, wendet sich – gut hörbar für die Umstehenden! – mit beinahe denselben Worten an Jesus; mit denselben Worten, die der streberhafte Pharisäer der anderen Geschichte zu Gott betet: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. Da geriert sich also jemand als Robin Hood von Jericho, der den betrügerischen Gewinn, sagen wir: seinen Zollraub, an die Armen verteilt.

Wahrscheinlich ist das nicht und das müssen wir ihm nicht glauben.

Das müssen wir ihm deshalb nicht glauben, weil er es ja – wie gesagt – gerade mit denselben streberhaften, prahlerischen und vermutlich heuchlerischen Worten sagt, mit denen der Pharisäer seine Qualitäten vor Gott und den Menschen anpreist, und die dort – nur ein Kapitel zuvor – ausdrücklich für diese Worte kritisiert werden.

Und das müssen wir auch deshalb nicht glauben, weil es nicht zum Fazit der Geschichte passen würde: Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. „Verloren“ zu nennen aus der Sicht Jesu, wäre ja der gerade nicht, der in solch vorbildlicher Weise Gerechtigkeit übt und sogar den Armen hilft – und dabei obendrein noch den römischen Herren ein Schnippchen schlägt; Zollbetrug als Akt des heimlichen Widerstands womöglich, statt Kollaboration Resistance – eher unwahrscheinlich!

Und das müssen wir schließlich schon gleich gar nicht glauben, weil es die Pointe der ganzen Geschichte moralisiert und damit kaputt macht: Der Gute wird gelobt, wie langweilig! Nein der Böse wird trotz allem angenommen. Die Gnade Gottes, die sich im Kommen des Menschensohns zeigt, ist doch viel größer und viel überraschender dann, wenn sie sich am ganz und gar unwürdigen Objekt zeigt; nicht am Musterknaben sondern am Bösewicht.

Aber vielleicht irre mich auch. Vielleicht mache ich uns die Geschichte komplizierter als sie ist. Oder schlimmer: vielleicht spricht auch nur der falsche Pharisäer aus mir und meiner Deutung, die dem Zöllner nichts zutraut, die ihn mit meinen Vorurteilen auf seine Sünde behaftet und über Gottes Gnade, die sich dem offensichtlichen Sündern zuwendet, murrt: Da sie das sahen, murrten sie alle und sprachen: Bei einem Sünder ist er eingekehrt.

Das ist die neidvolle Haltung derer, die alles richtig zu machen meinen, ihre eigene Sünde verkennen – nämlich die des Hochmuts, der Selbstgerechtigkeit und der Heuchelei – und die darüber murren, wenn sie sich von Gott übergangen fühlen. Dann wären die – also wir – die wahren Verlorenen, die verlorenen Verlorenen, die genau das – also ihr eigenes Verlorensein – in solchen Geschichten erkennen sollen, um dann – irgendwann – nicht auf sich zu vertrauen, sondern auf Gott zu hoffen, um am Ende auch mitgemeint zu sein: Denn der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.

Oder vielleicht gibt es einfach nicht nur mindestens 4 Gründe auf einen Baum zu klettern sondern auch mehr als eine Art unsere Geschichte zu erklären. Vielleicht will uns ja Jesus – und wollen es seine Biographen wie Lukas – so in seine Geschichten hinziehen, involvieren, verwickeln und umhüllen, damit sie zu unseren werden, damit wir in ihnen leben und denken und sind; nicht um uns in ihnen zu verlieren sondern um in Ihnen von Gott gefunden zu werden. Amen.

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 13. Sonntag nach Trinitatis, 6. September 2020

In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen. Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Proselyten aus Antiochia. Diese stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf. Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam. (Apostelgeschichte 6, 1-7)

Das hört sich doch ganz vernünftig an: Ein Mangel wird festgestellt, Helfer werden beauftragt, die tägliche Versorgung von Bedürftigen, insbesondere von Witwen wird sichergestellt, ein Mangel wird behoben. Später wird man sie Diakone nennen. Und obendrein noch werden viele Priester dem Glauben gehorsam. Glaubensgehorsame Geistliche: was will man mehr? So weit, so gut. Darüber lässt sich reden. Darüber könnte man heute reden.

In den Auslegungen unserer Stelle heißt es, dass Lukas (der Autor der Apostelgeschichte und des nach ihm benannten Evangeliums) hier mit der Erwähnung der griechischstämmigen Gemeindeleiter (erkennbar an den griechischen und eben nicht hebräischen Namen) den unterschiedlichen Strömungen im frühen Christentum Rechnung trägt und auch die Konflikte unter ihnen zeigt; dass hier die „Griechen“ durch die apostolische Handauflegung aufgewertet und gleichzeitig durch ihre Bestellung zum bloßen „Tischdienst“ abgewertet werden, um dann im römischen System irgendwann als bloße „Diakone“ (da steckt das hier verwendete griechische Wort für Dienst drin) zu gelten – deutlich unterhalb der „Priester“; und dass sich hier schon der Konflikt zwischen dem Jerusalemer Petrus und dem mit der Heidenmission beauftragten Paulus abzeichnet (später zugespitzt im sogenannten „Antiochenischen Zwischenfall“: „Als aber Kephas [Petrus] nach Antiochia kam, widerstand ich ihm ins Angesicht, denn es war Grund zur Klage gegen ihn.“ [Galater 2,11] Paulus wirft Petrus nicht weniger als einen Verstoß gegen die „Wahrheit des Evangeliums“ vor. Von den Aposteln lernen, heißt streiten lernen.) So weit, so interessant. Auch darüber kann man predigen.

Mich interessiert heute etwas anderes: In weit größerem Maße als eine paradigmatische pragmatische Problemlösung oder eine historische Einordnung verdient ein anderes Thema des Textes unsere Aufmerksamkeit, nämlich der geradezu absurde Fall von Diskriminierung, der hier vorliegt und der so offensichtlich und dabei als so selbstverständlich geschildert wird, ohne ihn überhaupt anzusprechen, dass man ihn leicht „übersieht“ – wie die griechischen Witwen „übersehen“ werde. – Alltagsdiskriminierung könnte man dazu sagen in Anlehnung eines großartigen Buches der Journalistin Alice Hasters, das den alltäglichen Rassismus in unserer Gesellschaft beschreibt – und anklagt (Alice Hasters, Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten, München 2019).

Hasters schildert alltägliche Situationen, in denen Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe und damit aufgrund ihrer unterstellten möglichen anderen Herkunft und Kultur – ihrer „Rasse“ -diskriminiert werden. Allein schon die Frage an einen dunkelhäutigen oder asiatisch aussehenden Menschen nach seiner Herkunft – „Woher kommen Sie denn?“ – kann ausschließen, kann abwerten – insbesondere wenn sie eigentlich nichts zur Sache tut, wenn sie keinem erkennbaren Interesse an der anderen Person folgt, sondern einer bei einer ersten Begegnung unziemlichen Neugier entspringt, oder dem Gefühl, dass hier jemand ist, der da nicht hingehört. Hasters schildert Gelegenheiten, die wir – vermutlich alle von uns kennen – allerdings in der anderen Perspektive und Zielrichtung und also kaum als selbst Betroffene kennen und erlebt haben. Aber ich wette, die meisten kennen solche Szenen.

Ich erinnere mich an eine im Stadtbus hier in Wiesbaden von vor vielen Jahren, die sich mir eingeprägt hat, als Jugendlicher noch, als eine freundliche ältere Dame ein dunkelhäutiges Schulmädchen im Bus nach ihrer Herkunft fragte und das bestimmt nicht böse oder ablehnend sondern auf ihre Art freundlich meinte. Interesse an anderen ist ja eigentlich noch nichts Schlimmes: „Na, Wo kommst Du denn her?“ Das Mädchen verstand nicht gleich, worauf die Frage zielte, und nannte ihren Geburtsort irgendwo im Rhein-Main-Gebiet, worauf die Dame – nun schon etwas irritiert und dabei noch irritierender – nachfragte: „wo denn ursprünglich her“, und „woher die Eltern?“ Das war jetzt eindeutig unpassend – Was ging sie das an? Warum will sie das wissen? – auch für uns Mitfahrende unpassend, die das mitbekommen hatten, aber noch viel mehr für das Mädchen selbst, das trotz aller Irritation auch darauf antwortete und sagte, dass die Eltern auch aus diesem Ort kämen – und das glücklicherweise an der nächsten Haltestelle den Bus verlassen konnte. Auch dem Jugendlichen von vor 50 Jahren war klar, dass diese Szene improvisierter Ahnenforschung am „exotischen Objekt“ unangemessen war. Das gehört sich nicht. Aber geholfen, beigestanden haben wir anderen dem Mädchen auch nicht. Gar nicht so einfach – obwohl es doch eigentlich ganz einfach ist.

Diskriminierung – also wertende, abwertende Unterscheidung (die ursprüngliche Wortbedeutung „Diskriminierung=Unterscheidung“ hat erst im Alltagsgebrauch diese wertende und abwertende Bedeutung angenommen) aufgrund von äußerlichen Merkmalen ist ein Unrecht, das beide beschädigt: den der es begeht und den, der es erleidet. Deshalb können wir es auch nicht dem Lukas durchgehen lassen, der nichts dabei zu finden scheint, wenn griechischstämmige Witwen, wie er schreibt, „übersehen werden“ – also besonders verwundbare, ältere Menschen, Frauen, die der Hilfe bedürfen – diskriminiert und unterschiedlich behandelt, unterschiedlich bevorrechtet und benachteiligt werden – nur weil sie griechischer oder hebräischer Herkunft sind. Das ist ein Unrecht, das nicht einfach pragmatisch geregelt werden kann – sollen die Griechen doch für die Griechen sorgen! – oder historisch erklärt werden kann.

Zumal die christliche Gemeinde schon mal weiter war: Paulus – also etwa zwanzig Jahre vor Lukas – sagt ausdrücklich im schon erwähnten Brief an die Galater, dass unsere Unterschiede nicht relevant sind in der christlichen Gemeinschaft: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Galater 3,28) Wir wissen es besser, dass es sie gibt, immer noch – aber eigentlich kann und darf es Diskriminierung und Abwertung aufgrund von Herkunft, Geschlecht oder sozialem Stand in der Gemeinschaft von Christen nicht geben.

Jesus selbst ist noch viel weiter gegangen. Er predigt nicht nur das Evangelium von der Nicht-Diskriminierung, sondern geht selbst hin zu den Ausgestoßenen, den Abgewerteten, zu denen am Rand der Gesellschaft, „den Mühseligen und Beladenen“, zu den Diskriminierten. Und viele seiner Geschichten handeln davon, dass diskriminierende Barrieren überschritten werden – wenn es etwa ausgerechnet der in der Gesellschaft verachtete Samaritaner ist, der im Gegensatz ausgerechnet zu den angesehenen Geistlichen des eigenen Volkes zum Beispiel für Nächstenliebe wird: Ausgerechnet der hilft und erfüllt Gottes Gebot.

Genau das ist es aber: Gottes Gebot – und keineswegs eine Modeerscheinung oder politisch-korrekte Heuchelei, wenn wir uns gegenseitig erinnern, uns nicht gegenseitig abzuwerten aufgrund äußerer oder auch innerer Merkmale; uns nicht einfach so oder auch absichtsvoll zu „übersehen“, nur weil wir uns gegenseitig anders sind. Als „Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins“ (in der Wendung Eberhard Jüngels) ist nicht nur Gott zu denken sondern auch die von ihm gewollte Gemeinschaft unter Menschen: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Galater 3,28).

Das wir das noch nicht gut genug hinkriegen ist offensichtlich und schmerzhaft. Aber wir sollten es wenigstens wollen!

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 12. Sonntag nach Trinitatis, 30. August 2020

Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid Gottes Ackerfeld und Gottes Bau. Nach Gottes Gnade, die mir gegeben ist, habe ich den Grund gelegt als ein weiser Baumeister; ein anderer baut darauf. Ein jeder aber sehe zu, wie er darauf baut. Einen andern Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus. Wenn aber jemand auf den Grund baut Gold, Silber, Edelsteine, Holz, Heu, Stroh, so wird das Werk eines jeden offenbar werden. Der Tag des Gerichts wird es ans Licht bringen; denn mit Feuer wird er sich offenbaren. Und von welcher Art eines jeden Werk ist, wird das Feuer erweisen. Wird jemandes Werk bleiben, das er darauf gebaut hat, so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen, so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird gerettet werden, doch so wie durchs Feuer hindurch. Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn jemand den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören, denn der Tempel Gottes ist heilig – der seid ihr. (Brief des Paulus an die Korinther 3, 9-17)

Wer nach Fundamenten fragt ist noch kein Fundamentalist. Und wer von der reinigenden, prüfenden Kraft des Feuers spricht, ist noch kein Brandstifter.

Aber es sind doch missverständliche und bisweilen sogar gefährliche Redeweisen – insbesondere im Blick auf das, was wir am Wochenende erleben mussten: Fundamentalisten und Brandstifter proben den Aufstand. Über den Aufstand der Idioten könnte man lachen – und vielleicht lachen wir ja in ein paar Monaten darüber – aber das Lachen bleibt einem im Moment noch im Halse stecken. Zu gefährlich ist das, was sie tun – unmittelbar für sich selbst und für uns alle, die wir alle immer noch und für eine ganze Weile auf Schutzmaßnahmen angewiesen sind und sein werden. Und gefährlich ist es obendrein weil Rechtsradikale und Rechtsextreme sich von den Idiotenaufständen angezogen fühlen wie die Fliegen von der Scheiße. Unruhe stiften, Unruhe verbreiten, Unruhe nutzen – das ist genau ihre Strategie, damit man am Ende sagen kann: die lauwarmen Liberalen kriegen das nicht hin mit Recht und Ordnung, wir brauchen was Stärkeres.

Natürlich bezieht sich unser Paulustext nicht zuerst auf unsere gesellschaftliche Problemlage, sondern auf die christliche Gemeinde und auf religiöse Fragen. Die sind aber nicht unähnlich. Auch hier ist es nicht ungefährlich von Fundamenten und vom Feuer zu reden; man will ja nicht als Fundamentalist – also als einer mit den einzig richtigen Antworten auf alle Probleme – gehört werden, und auch nicht als Brandstifter, der mit Gewalt, der zumindest mit gewalttätiger Sprache stört und zerstört , was Generationen aufgebaut haben. Diese fundamentalistischen Zündler und Feuerköpfe gibt es auch in den Kirchen, sogar bei uns und nicht nur in Amerika, aber durchweg eher in freikirchlichen oder sogar sektenartigen Gemeinschaften – da sollen sie bleiben!

Aber: Trotzdem ist das eine berechtigte Frage, die nach den Grundlagen unserer Kirche; und es ist ein berechtigtes Anliegen, Einrichtungen der Kirche zu prüfen – das ist ja mit dem Bild des Feuers gemeint. Was hat Bestand? Was entspricht der ursprünglichen Idee und Stiftung unseres Glaubens? Was kann weg? Das sind im eigentlichen Sinne kirchenleitende Fragen und die Arbeit daran die wesentliche Aufgabe einer Kirchenleitung, zu der wir – als evangelische Christen – allesamt gehören.

Paulus selbst hat sich an diesen Fragen zeitlebens abgearbeitet: Eine seiner wichtigsten Antworten zur ursprünglichen Idee unseres Glaubens steht in einem anderen Brief von ihm, dem Römerbrief: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch Glauben.“ (Römer 3,28) Mit dieser Konzentration auf den Glauben erübrigt sich keineswegs die Frage nach unserem Handeln. Vielmehr nimmt er sie immer auf und auch die Pointe unseres heutigen Textes zielt darauf: Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn jemand den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören, denn der Tempel Gottes ist heilig – der seid ihr.

Jede und jede allein und alle gemeinsam sind wir Tempel Gottes, in denen der Geist Gottes wohnt. Was für ein großartiger Gedanke mit ganz weitreichenden Konsequenzen. Wie wir gemeinsam miteinander umgehen hat direkte Auswirkungen auf Gott – er wohnt ja in uns. Wie wir uns halten, pflegen und verhalten hat direkte Auswirkungen auf Gott – er wohnt ja in uns. Nicht wir sind die Autoren und Gesetzgeber unserer selbst – sondern Gott. Die Vorstellung von uns als Tempel Gottes verbietet Selbstzerstörung und Selbstverstümmelung.

Diese Glaubensvorstellung ist auch auf mein Gegenüber anzuwenden; sie beinhaltet nicht unbedingt eine Toleranz, die den anderen aufgibt, auch Selbstaufgabe sein erklärter Wunsch und Wille sein mag. Gerade weil diese Glaubensvorstellung im Gegner, also auch im politischen Gegner, Gottes Tempel wahrnimmt und anerkennt, lässt sie ihm nicht alles durchgehen. Der Spinner hat nicht jedes Recht auf Spinnerei, wenn er damit sich selbst und andere gefährdet. Aber jeder Spinner hat das Recht, als Gottes Tempel wahrgenommen und darauf angesprochen zu werden. Auch ihm wie uns gilt das Wort aus der Bibel:

„Ich danke dir – Gott – dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“ (Psalm 139,14)

Predigttext für den 23. August 2020, 11. Sonntag nach Trinitatis

Er sagte aber zu einigen, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. (Evangelium nach Lukas 18,9-14)

Streber nerven! Ob nun im Tempel oder in der Schule oder sonst wo, sogar im wirklichen Leben, in der Politik, im Kampf gegen das Virus: Streber nerven! Es ist nicht schön, sich hervorzutun gegenüber anderen; seinen Gott, seinen Lehrer, seinen Arbeitgeber, seine Wähler beeindrucken zu wollen mit den eigenen Höchstleistungen, dem eigenen Wohlverhalten, der persönlichen Exzellenz und dabei andere herabzusetzen. Exzellenzinitiativen in eigener Sache gehören sich nicht, insbesondere wenn sie Mitbewerber herabsetzen und sich selbst vergrößern.

Schüler entwickeln einen feinen Instinkt gegenüber Strebern, die zwar oft – allerdings längst nicht immer! – gute Noten aber dafür einen schlechten Stand in der Klasse haben. Die soziale Kontrolle funktioniert häufig ganz gut gegenüber denen, die sich selbst erhöhen, die anderen aber erniedrigen.

Manchmal schießt die Kontrolle natürlich auch über das Ziel hinaus, wenn bloßes Interesse am Schulstoff und gute Noten allein schon den Verdacht des Strebertums erregt aber die Wirklichkeit verfehlt. Dann ist der Vorwurf, ein Streber zu sein, ungerecht und kann verletzen. Das war vielleicht sogar die volle Absicht dieses Vorwurfs, den anderen, der gerade besser zurechtkommt, zu verletzten und ihm einen mitzugeben. Das ist dann wahrscheinlich, wenn der angebliche Streber seine Mitschüler gar nicht herabgesetzt, sondern ihnen vielleicht sogar geholfen hat. Den schlimmsten Stress in der Schule hatte ich mit einem Mitschüler, der mir nicht verzeihen wollte, dass ich ihn jahrelang die Hausaufgaben im Bus abschreiben ließ. Streber nerven – aber der unberechtigte Vorwurf ein Streber zu sein, ist auch nicht nett.

Auch unsere berühmte Jesusgeschichte heute verteilt nur oberflächlich eindeutig ihre Sympathien. In Wirklichkeit zieht sie uns hinein in ihre Problemstellung, lässt uns selbst prüfen, wer wir wohl wären in dieser Geschichte: der arrogante Pharisäer oder der fromme Zöllner. Beide sind hier mit ziemlich grobem Pinsel gezeichnet, eher Karikaturen ihrer selbst: weder waren die historischen Pharisäer alle und notwendigerweise selbstgerecht und arrogant, noch waren die historischen Zöllner im Normalfall solche Ausbünde an Frömmigkeit und Demut wie unser Prachtexemplar hier. In Wirklichkeit waren Pharisäer überaus gebildete Laientheologen, die sich um ein gottgefälliges Leben bemühten und dem Okkupationsregime der Römer distanziert gegenüber standen. Dagegen waren die Zöllner Kollaborateure der römischen Besatzer und Betrüger, geldgierig und jederzeit bereit für ihren Vorteil die eigenen Landsleute in die Pfanne zu hauen. Sympathisch geht anders.

Allerdings haben 2000 Jahre christliche Auslegungsgeschichte unseren Blick auf die historischen Typen verändert. Wenn wir etwas mit dem Pharisäer anfangen können, dann ist er uns der exemplarische Heuchler – der noch den Namen für ostfriesische Teespezialitäten hergeben muss, die den Schnaps unter der Sahne verbergen – lecker, aber falsch: Er verstellt sich, er tut so als ob, er hat etwas zu verbergen, er will uns betrügen.

Und der Zöllner ist uns zwar nicht wirklich sympathisch geworden über die Jahrhunderte doch wir sind geneigt, ihn im Licht finanzbeamteter Rechtschaffenheit zu sehen – allein, unser Herz gewinnt er nicht, er will ja unser Geld; freiwillig kriegt er das nicht.

Was allerdings gar nicht geht, ist die gewohnheitsmäßige Identifizierung des Pharisäers mit dem Juden überhaupt und des demütigen Frommen mit dem Christen an sich; denn kein Jude ist ein Heuchler weil er ein Jude ist und kein Christ ist automatisch fromm oder frömmer als andere, weil er ein Christ ist. Trotzdem war gerade diese Zuordnung über die Jahrhunderte wirksam und destruktiv wirksam – und hat bis heute die bösartige und falsche Karikatur des verschwörerischen, „weltverschwörerischen“ Juden hervorgebracht.

Unsere Geschichte spielt mit diesen Klischees, kontert unsere Erwartungen und lädt uns Leser und Hörer unwillkürlich dazu ein, sich zu identifizieren; aber mit wem eigentlich? Nach gesellschaftlichem Stand und sozialer Rolle doch am ehesten mit dem Pharisäer; aber wer sieht sich selbst gern als Streber und Heuchler? Und mit dem Zöllner wohl gar nicht, denn wer von uns dürfte sich allen Ernstes für einen kaum getarnten Ganoven halten, der dann – vielleicht aus sentimentaler, oder noch eher mit seinerseits heuchlerischer Neigung – seine Demut zur Schau stellt? Also dann doch eher wieder der Pharisäer, aber dann halt als einer, der zu Einsicht und Umkehr bereit ist. – Zumindest unsere Geschichte gibt dieser Identifikation den Vorzug, denn in ihrer Einleitung sind die Adressaten – einige, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die andern – eindeutig benannt. Die sollen sich ändern, wir sollen uns ändern. Aber wie?

Also schon einmal bestimmt nicht so, dass wir nun selbst Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, werden sollen oder auch wie dieser Zöllner werden sollen; und bestimmt auch nicht so, dass wir nicht mehr zweimal in der Woche fasten (wenn wir es denn je taten) und nicht mehr den Zehnten geben von allem, was wir einnehmen (was wir ja tun, wenn wir Steuern und Spenden berücksichtigen). Nicht dieses Verhalten wird von Jesus in dieser Geschichte kritisiert, sondern dass wir uns aufgrund solchen Verhaltens besser als andere dünken. Der Streber soll ja auch nicht faul und desinteressiert und schlecht in der Schule werden; er soll nur nicht mit seinen Noten hausieren gehen – noch dazu wenn er für diese Noten als Schlaufiffi, der er ist, weniger arbeiten musste, als der langsame Lerner, der sich jede drei hart erarbeitet. Das hat mir einmal das Herz gebrochen, als ich am Zeugnistag im Gespräch zweier Grundschüler mitbekam, wie der eine stolz und aufgeregt von seiner zwei sprach – es war die einzige unter vielen dreien – und der andere darauf abgeklärt und verständnislos erwiderte, dass er keine einzige hätte sondern eben durchweg besser sei.

Das sollen und müssen die Leistungsstarken, die Anerkannten, die Angesehenen und Etablierten begreifen, dass sie zwar jedes Recht haben, auf ihre Leistung stolz zu sein; dass sie aber ohne ihre Gaben, für die sie nichts können, nicht das erreicht hätten, was sie erreicht haben. Unser Erfolg in der Schule, und überhaupt im Leben, ist nur zu dem Teil unsere Leistung, zu dem wir unsere Gaben gebraucht haben. Für die Gaben selbst können wir nichts. Gerade Reiche und Erfolgreiche verlieren das manchmal aus dem Blick, wenn sie stolz auf das Erreichte blicken, ohne zu sehen, dass sie einfach so viel mehr hatten, aus dem sie etwas machen konnten.

Um diesen genaueren Blick und das ehrlichere Selbstverständnis geht es in unserer Gleichnisgeschichte. Was rein natürlich betrachtet schon stimmt – also dass unsere genetische Ausstattung unsere Leistungsfähigkeit und damit unsere Möglichkeiten des Erfolgs bestimmt – trifft auch religiös zu. Der Zöllner bringt es auf den Punkt: Gott, sei mir Sünder gnädig! Gottes Gnade macht den Unterschied. Auf die sollen wir uns besinnen, die sollen wir erbitten.

Nicht so werden, aber so bitten und beten wie der Zöllner, darum geht es. Alles von Gott erwarten. Ihn für den Grund, und für Sinn und Ziel meines Lebens halten – dabei ist unerheblich, ob der Zöllner das wirklich macht, was man bezweifeln kann – aber er findet die richtigen Worte, sich in Beziehung zu Gott zu setzen. Gott, sei mir Sünder gnädig! Amen.

Predigttext für den 10. Sonntag nach Trinitatis, 16. August 2020

Ich will euch, Brüder und Schwestern, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, bis die volle Zahl der Heiden hinzugekommen ist. Und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser; der wird abwenden alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« Nach dem Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber nach der Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr einst Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen«? (Jesaja 40,13) Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm zurückgeben müsste?« (Hiob 41,3) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

(Brief des Paulus an die Römer 11, 25-36)

Zwei Streithälse legen ihren Streitfall dem Meister vor. Nachdem der erste seine Sicht der Dinge geschildert hat, sagt der Meister: Du hast recht. Dann trägt der zweite seine ganz andere Sicht der Dinge vor, und bekommt dieselbe Auskunft: Du hast recht. Die Frau des Meisters bekommt das mit und stellt ihren Mann empört zur Rede, sie könnten ja nicht beide recht haben. Darauf der Meister: Da hast du auch recht. (Alter jüdischer Witz, wieder aufgeschnappt in der aktuellen Ausgabe der Kirchenzeitung, früher „Weg mit der Wahrheit!“, Pardon: „Weg und Wahrheit“) O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!

Liebe neue Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde,

jeder Gottesdienst hat einen Anlass – z. Beispiel Weihnachten oder Taufe oder Schulanfang oder einfach weil Sonntag ist – und manche Gottesdienste haben sogar mehr als bloß einen Anlass, dann ist es schwer allen gerecht zu werden, so wie heute, wenn wir 1. die neuen Konfirmanden begrüßen, 2. Israelsonntag begehen und 3. das Ganze in Zeiten einer uns alle einschüchternden und in Stress versetzenden Seuche feiern wollen. Jedes der Themen ist mehr als genug für einen Gottesdienst, alle drei zusammen sind eindeutig des Guten zu viel. Andererseits hängt doch sowieso alles mit allem zusammen und der Theologe Karl Barth hat zur Predigtaufgabe gesagt, dass immer alles gesagt werden und dafür vom Anfang anzufangen sei. Das kann sich dann auch auf die Länge der Predigt auswirken!

Ein Anfang des christlichen Glaubens liegt jedenfalls im jüdischen Glauben, so wie Jesus und seine Jünger und Apostel allesamt „geborene Juden“ waren. (Martin Luther, Dass Jesus ein geborener Jude sei 1523.) Es gehört zu den Tragödien der Christentumsgeschichte, dass Martin Luther seine reformatorischen Erkenntnisse und Errungenschaften nicht diesen entsprechend auf unsere jüdischen Geschwister angewandt hat, sondern zum geifernden Judenfeind (Martin Luther, Von den Juden und ihren Lügen 1543) wurde, dessen Tiraden unentschuldbar sind und noch heute Entsetzen auslösen. Dennoch ist es unhistorisch und ungerecht, ausgerechnet ihn zum exemplarischen Antisemiten seiner Zeit – oder gleich aller Zeiten – zu erklären; seiner Zeit, in der die meisten europäischen Herrscher ihre jüdischen Untertanen mit Gewalt vertrieben und die vorreformatorischen Theologen im Gegensatz zu Luther die jüdischen Wurzeln ihres Glaubens längst vergessen hatten. Für seine oben zitierte Schrift von 1523 wurde Luther von seinen katholischen Feinden als „Judenfreund“ bezeichnet, was als Beschimpfung gemeint war. Und der Humanist Erasmus von Rotterdam hat – ebenfalls im Unterschied zu Luther – einen rassistischen Antijudaismus gepflegt, der getauften Juden Feind blieb, weil sie als Juden geboren waren. Der rassistische Antisemitismus anderer Zeiten und unserer Zeiten – den der Teufel holen soll! – kann sich auf Luther jedenfalls nicht berufen, auch wenn das seine antijüdischen Tiraden nicht entschuldigt.

Wenn wir etwas über unsere Religion erfahren wollen, tun wir gut daran, etwas über den jüdischen Glauben als unsere Mutterreligion zu erfahren, und zwar nicht so, dass wir Christen uns für die neuen Juden und die Kirche für das wahre Israel hielten, die die alten Juden und das unwahre Israel – was es nicht ist – abgelöst hätten, sondern wie Paulus beide Religionen – die jüdische Mutter wie die christliche Tochter – zusammenzudenken: Du hast recht – du hast recht; wie der jüdische Meister, der Rabbi, das beiden Parteien sagt – und dann seiner klugen Frau zustimmen muss, dass sie auch recht hat – und damit das logische Problem keineswegs löst.

Wenn wir als Schüler und Konfirmanden über unsere Religion lernen, werden wir lernen, dass wir den größten Teil der Bibel, die Psalmen, die 10 Gebote, das Vaterunser, den Segen, sogar die kleinen, aber bedeutenden Wörtchen Halleluja – Lobet den Herrn! – und das Amen – So sei es! – der jüdischen Religion verdanken und mit ihr teilen. Zumindest Anerkennung und Respekt für dieses jüdische Erbe sind wir schuldig. Aber noch mehr. Vielmehr gehören Juden und Christen im Glauben zusammen – davon ist der Apostel Paulus überzeugt.

Paulus bemüht sich, den christlich-jüdischen Antagonismus zeitlich aufzulösen: die Christen haben nicht nur die jüdische Religion zu ihrem Ursprung sondern Juden und Christen haben ein gemeinsames Ziel in Gott: am Ende wird alles gut; am Ende werden Trennung und Streit überwunden sein; am Ende wird alles gut. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Das aber ist – nach Paulus – ein Geheimnis und zwar das Geheimnis der Welt. Paulus gehört zu denen, die ein Geheimnis nicht bewahren können oder wollen, und das ist gut so. Er weiß, dass ein Geheimnis ein Geheimnis bleibt, auch wenn es offenbart ist – ganz anders als ein Rätsel, das, einmal gelöst, nichts mehr verbirgt. Ein Geheimnis bleibt ein Geheimnis, es behält seine Kraft, seine Energie, sein Potential. Paulus teilt das Geheimnis mit uns und das besteht im Wesentlichen darin, dass sich Gott aller erbarmt. Die ganze Welt ist unter Gottes Erbarmen gestellt – auch wir, sogar wir. Und zwar weil wir alle – als fehlbare, sündhafte Menschen – auf dieses Erbarmen angewiesen sind. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Damit erledigt sich die an sich schon alberne Frage, welche Religion, welcher Glauben der Bessere sei. Wie sollte man das messen? Vielleicht nach Glückspunkten im Diesseits und Aufstiegsmöglichkeiten im Jenseits? Blödsinn. Nicht der Reichtum unserer Religion oder ihre besonders virtuose Ausübung sondern unser Mangel an Glauben erweckt Gottes Erbarmen, dass sich je und je zeigt, auch schon in diesem Leben; aber so richtig und in ganzer Pracht und Fülle zeigt sich sein Erbarmen erst am Ende. Am Ende ist alles gut und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.

Das wäre dann auch die Erkenntnis aus unserem Text für die Krise unserer Zeit. Ich glaube nicht, dass Corona als Strafe Gottes anzusehen ist, schon gar nicht als erzieherische Strafe, das wäre ja zynisch. Aber Corona ist auch nicht einfach glaubensneutral, oder umgekehrt ist auch unser Glauben nicht irrelevant für den Umgang mit der Plage. Vielmehr entspricht unser Erleben in diesen Wochen und Monaten ziemlich genau den von Paulus und den anderen Autoren der Bibel beschriebenen Vorrausetzungen unseres Glaubens: Als fehlbare Menschen in einer gefallenen Schöpfung sind wir auf das Erbarmen Gottes angewiesen. Und dieses Erbarmen ist nicht an Erfolg oder Misserfolg unseres Lebens ablesbar – Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! – sondern so lange Gegenstand des Glaubens bis Gott endlich alles in allem sei: Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.

Dass schlimme Dinge passieren – immer wieder und überall passieren – spricht nicht gegen Gott sondern entspricht der großen biblischen Erzählung, dem Narrativ der Bibel. Aber es bleibt nicht bei den schlimmen Dingen – sagt die Bibel – sondern das Gute setzt sich durch, Gott setzt sich durch. Das muss man nicht glauben – wie man glauben gar nicht muss – aber man kann.

Die Weltgeschichte geht gut aus. Das kann auch gar nicht anders sein, wenn Gott der Herr der Geschichte und das Geheimnis der Welt ist. So hat sich Gott seinem Volk offenbart.

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

Predigttext für den 9. Sonntag nach Trinitatis, 9. August 2020

Und des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen. (Buch des Propheten Jeremia 1,4-10)

Zumutung und Ermutigung

„Du, laß dich nicht verhärten
In dieser harten Zeit.
Die allzu hart sind, brechen,
Die allzu spitz sind, stechen
Und brechen ab sogleich.

Du, laß dich nicht erschrecken
In dieser Schreckenszeit. …“

Ermutigung von Wolf Biermann. So hat Wolf Biermann gesungen, von der Ermutigung gesungen; davon gesungen, sich nicht von Furcht bestimmen zu lassen, in dem festen Vertrauen darauf, nicht alleine zu sein; und darin eben auch seinen Teil zu leisten auszureißen und einzureißen, zu zerstören und verderben und zu bauen und pflanzen; wie Biermann es mit dem ihm eigenen und nicht unbegründeten Selbstbewusstsein 25 Jahre nach dem Mauerfall im Deutschen Bundestag gesagt hat, wenn er sich selbst eine nicht geringe Rolle beim Kampf gegen den totalitären „Drachen“ DDR zumaß, den er „zersungen“ habe.

Biermann hat nicht aus christlichem Glauben gehandelt, aber sein Glauben an Gerechtigkeit hatte für ihn eine religiöse Kraft, die unwiderstehlich war, also unwiderstehlich für ihn, dass er sich ihr hätte entziehen können, aber auch unwiderstehlich für seine Gegner, die pseudokommunistische Diktatur, die ihm – dem Sänger – und ihr – seiner Kraft – letztlich nichts Wirksames entgegenhalten konnten: nicht zwölfjährige Quarantäne mit Berufsverbot, nicht das volle Stasi-Programm und auch nicht das zwangsweise Exil der Ausbürgerung.

Wo nehmen diese Leute ihre Kraft her, diese Sänger und Propheten, was ist das für eine große Kraft, sich gegen die – ungerecht – Herrschenden und gegen die – falsche – herrschende Meinung zu stellen? Wobei uns ja klar ist, dass nicht jedes Dagegenstellen berechtigt oder sinnvoll ist, das hätten die Covidioten und Verschwörungstheoretiker gern, dass man sie für Propheten hielte. Sind sie aber nicht, höchstens falsche Propheten, vor denen Jeremia gelegentlich auch warnt: Hört nicht auf die Worte der [falschen] Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch: denn sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen. Und nicht aus dem Mund des Herrn. Sie sagen denen, die des Herrn Wort verachten: Es wird euch wohlgehen – und allen, die nach ihrem verstockten Herzen wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen. (Jeremia 23,16f.)

Das bloße Dagegenhalten-gegen-was-auch-immer ist es also nicht, das den Propheten auszeichnet; und andererseits auch nicht der bloße Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit; vielmehr eben beides zusammen: Weltverständnis und Mut, dieses Verständnis unter die Leute zu bringen.

Deshalb steht in der Bibel am Anfang der prophetischen Beauftragung, wie auch allgemeiner zu Beginn der Gottesbegegnung, die allerdings immer eine Beauftragung enthält, die Ermutigung des „Fürchte dich nicht!“. Sie ist nämlich auch eine Zumutung für den, der sie erlebt: Überwältigung, Erschütterung, Herausforderung, Verängstigung, Schrecken. „Was, so steht es um uns, um mich!? Und das soll ich jetzt auch noch weitersagen?! Wer wird mich hören, mir glauben?“

Als Zumutung erlebt Jeremia das, als Zumutung wird das erlebt, als ein Zu-nahe-treten, jemand tritt uns zu nahe, Gott kommt uns in seiner Begegnung und Beauftragung näher als wir uns selbst nahe sein können (wie Augustinus seine Gottesbegegnung beschreibt: deus interior intimo meo). Die von Gott ausgehende Erkenntnis der Wahrheit und die von ihm gestiftete Sehnsucht nach Gerechtigkeit sind größer und stärker als das, was ich bisher für richtig gehalten habe, und überwältigen mich. Ich kann mich nicht entziehen.

So stelle ich mir vor, was Jeremia erlebt hat und hier schildert; und so kann es auch für uns, die wir im Regelfall nicht Jeremia oder Biermann heißen und keine Propheten des Alten Testaments oder politische Sänger gegen die Diktatur sind, einen Aspekt unseres Glaubens erklären. Wenn unser Glauben mehr ist als der scheinbar fromme Überzug dessen, was wir sowieso schon immer gemeint haben, wird er dieses Moment der Überwältigung des uns nahetretenden Gottes enthalten – als Erschütterung, als Herausforderung und als Zumutung. Gott ist größer als ich selbst (Augustinus, Bekenntnisse: deus interior intimo meo et superior summo meo).

Und mit dieser Zumutung geschieht unmittelbar die Ermutigung des „Fürchte dich nicht“. Der, der mich erschreckt und erschüttert, versichert und bestätigt mich mehr als jeder andere und alles andere es könnte. Der Zumutung folgt die Ermutigung. Beide gehören zusammen, sind miteinander verschränkt.

In der Coronazeit ist ein Bibelwort besonders gehört worden: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Timotheus 1,7) Natürlich ist das alles zum Fürchten und wie sollte man nicht in dieser Zeit Angst haben – um sein Leben und das seiner Lieben. Und dennoch versichert uns Gott bei uns zu bleiben, zu uns stehen, für uns da zu sein.

Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR.

Amen.

Predigttext für den 8. Sonntag nach Trinitatis, 2. August Juli 2020

Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden und sprach zu ihm: Geh zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder. (Johannesevangelium 9,1-7)

Jesus Christus spricht: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben. (Johannes 8,12)

Wer unsere seltsame Heilungsgeschichte im Zusammenhang des Johannesevangeliums liest und hört, weiß schon einiges über den Streit von Licht und Finsternis, über das Licht, dass Jesus in die Welt bringt, und davon, dass Jesus unser Leben in ein neues Licht setzt. Denn davon ist ja die ganze Zeit die Rede. In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hats nicht ergriffen. (Johannes 1,4f.)

Und dafür – also dafür, dass Jesus das Licht unseres Lebens ist – bietet unsere Wunderheilungsgeschichte ein Gleichnis: So wie der Blindgeborene wieder sehend wird durch Jesus, so öffnet auch uns Jesus die Augen für das Licht unseres Lebens, für die Wahrheit unseres Lebens – dass die Werke Gottes offenbar werden an ihm – und an uns.

Aber merkwürdig ist die Wundergeschichte eben schon; nicht umsonst ist sie der Anfang und Anlass längerer Diskussionen mit den Pharisäern, denen erfahrungsgemäß so schnell kein Licht aufgeht. Wird es uns besser ergehen? Wird uns ein Licht aufgehen?

Ein Heiler streicht Brei aus Speichel und Staub einem Blinden auf die Augen, der wäscht sich das Zeug wieder ab und: wird gesund, kann wieder sehen! Ein klassischer Fall alternativer Medizin, oder nicht?

Eher nicht, denn der Begriff „alternative Medizin“ setzt eine wissenschaftlich begründete, evidenzbasierte Medizin voraus. Die gab es aber zur Zeit Jesu noch nicht! Also können seine Heilungen auch keine Beispiele alternativer Medizin sein.

Dennoch trifft auch seine Heilung das berechtigte Misstrauen, mit dem wir vernünftigerweise der heutigen sogenannten Alternativmedizin begegnen – oder doch begegnen sollten: „Für viele alternativmedizinische Therapien [wie etwa der Homöopathie oder der anthroposophischen Medizin] konnte weder ein wissenschaftlich plausibler pharmakologischer Wirkmechanismus, noch eine pharmakologische Wirkung, die über einen Placeboeffekt hinausgeht, nachgewiesen werden. Einige Verfahren der Alternativmedizin lassen sich den Pseudowissenschaften zuordnen.“ (Wikipedia) Also Fake-Medizin.

In ruhigeren Zeiten könnte man die Sache auf sich beruhen lassen. Warum nicht bei harmlosen Malessen gelegentlich ein paar Zuckerkügelchen naschen, die zwar keine Wirkung haben, aber eben auch keine Nebenwirkungen, und – scheinbar! – keinen weiteren Schaden anrichten? Warum nicht? Vielleicht deshalb nicht:

„Als gravierende direkte Risiken wurden zum Beispiel Verletzungen, Immunreaktionen und Arzneimittel-Interaktionen dokumentiert. Indirekte Gesundheitsrisiken liegen im Versäumen notwendiger medizinischer Diagnostik und Therapie. Dies betrifft besonders lebensbedrohliche Erkrankungen, wie zum Beispiel Krebs. Infolge alternativmedizinischer Konzepte und Methoden sind sogar Todesfälle von Patienten dokumentiert. Etwa die Ablehnung von Impfungen kann darüber hinaus auch zu einer kollektiven Gefährdung der Gesellschaft führen (siehe Impfmüdigkeit).“ (Immer noch der Wikipedia-Artikel „Alternativmedizin“; mehr Information im Buch der Ärztin und Ex-Homöopathin Nathalie Grams, Was wirklich hilft, 2020)

Dabei ist ja die zitierte Impfmüdigkeit nur ein – allerdings ein besonders schädlicher und gefährlicher – Aspekt einer viel umfassender destruktiv wirkenden Wirkung „alternativer Medizin“, dessen Schädlichkeit und Gefährlichkeit aber gerade in der Corona-Krise unabweisbar und bedrängend deutlich wird: „Alternative Medizin“ schadet, wie überhaupt das Geschwafel von „Alternativen Fakten“ oder das Streuen von „Fake-News“, weil sie unser Urteilsvermögen beschädigen und letztlich unseren Sinn für Wahrheit und Lüge verwirren. (Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt hat dazu – lange vor Donald Trump! – den leider unübersetzbaren Begriff „bullshit“ analysiert, der im Unterschied zur vergleichsweise harmlosen Lüge, die totale Gleichgültigkeit gegenüber Wahrheit und Lüge bezeichnet; Harry G. Frankfurt, On Bullshit, 2005)

In der Licht-Dunkelheit-Metaphorik des Johannes gesprochen bemüht sich die „alternative Medizin“ und ihre ebenso hässlichen Schwestern „alternative Fakten“ und „Fake-News“ um einen Grauschleier, der die Unterscheidung des Lichts der Wahrheit von der Nacht der Unwahrheit verhindert – oder im religiösen Bereich die Grenze zwischen Glaube und finsterem Aberglaube verwischt – nach dem Motto: Wer an die Auferstehung glaubt, muss auch nicht an Globuli zweifeln.

Der christliche Glauben hat hier viel zu verlieren: Wenn nämlich – wie gesagt – die Grenze zwischen Glauben und Aberglauben verwischt und entweder jeder Humbug für möglich gehalten wird – oder mit dem Humbug zusammen auch der christliche Glaube entlarvt und abgelehnt wird. (Wie das die oben zitierte Ärztin und Autorin Grams leider tut.)

Noch einige Male – beinahe penetrant oft – nennt unsere Geschichte im Fortgang die merkwürdige Heilung mit dem Brei aus Staub und Spucke, der anschließend abgewaschen wird. Schon dem Evangelisten Johannes geht es darum, das Merkwürdige – eher das Absurde – dieses Vorgangs herauszustellen, der in keinem Verhältnis zu seiner Wirkung steht.

Er möchte hier nichts alternativmedizinisch plausibilisieren, sondern den riesigen Unterschied zwischen absurder Handlung und ihrem „Ergebnis“ verdeutlichen. Nicht die Handlung selbst sondern der Handelnde allein (solus Christus!) bewirkt die Heilung: Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Kein Brei aus Dreck heilt – sondern Jesus heilt.

Und sowenig die Handlung selbst zur Heilung führt sondern der Heilende allein, sowenig kann sie der Kranke verhindern. Damit sind wir auf einen zweiten großen Aberglauben rund um die Medizin gestoßen, dass nämlich Krankheit Strafe für unsere Sünden wäre, was aber klar zurückgewiesen wird: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern. Das spukt ja immer noch überall herum, dass es moralische Gründe für Krankheit und Seuche geben könnte, dass hier ein Fehlverhalten bestraft würde, dass jemand moralische Schuld für seine Krankheit oder die Seuche hätte.

Das ist gar nicht so leicht auszuhalten und auseinanderzuhalten, dass es einerseits sinnvoll ist nach Gründen für Krankheit und Plage zu forschen – und dann im günstigsten Fall die Ursachen festzustellen und zu beseitigen; und andererseits nicht diese Ursachen zu moralisieren, um dann die Krankheit für eine Strafe zu halten. Selbst gutgemeinte Gesundheitskampagnen können bewirken, dass Lungenkrebs, Leberzirrhose oder Fettleibigkeit moralisiert und dann irgendwann für die gerechten Strafen für Raucher, Trinker und Esser gehalten werden – was sie nicht sind. Auch Corona ist keine Strafe – schon gar keine Strafe Gottes – sondern eine Krankheit (bzw. ihr Erreger), wie sie zur Natur in der wir leben gehört, schon immer gehört hat und – so unangenehm die Aussicht auch ist – immer gehören wird.

Ein kluger Augenarzt in unserer Gemeinde (der in seiner Praxis ganz ohne Spuckebrei und Dreck auskommt) hat mir einmal damit die Augen geöffnet, dass er in Reaktion auf die Frage, warum es gerade diese oder jene mit einer schweren Krankheit getroffen habe, meinte, dass nicht die Krankheit die erklärungsbedürftige Abweichung – sondern Gesundheit und noch mehr: Heilung das bestaunenswerte Wunder sei. Dass wir krank werden ist das Normale, dass wir gesunden ist das Besondere. Dass wir leben; das Leben eben!

Und genau das dürfte die Pointe unseres Textes sein: dass die Werke Gottes offenbar werden an ihm: Leben und immer neues Leben zu schaffen. Dass wir unser Leben als Gottes Geschenk verstehen; aus Gott leben und nicht aus uns selbst.

Jesus Christus spricht: Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben. (Johannes 8,12)

Amen.

Predigttext für den 4. Sonntag nach Trinitatis, 5. Juli 2020

Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.
Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.
Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«
Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22).
Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.
(Brief des Apostel Paulus an die Römer 12, 17-21)

Der Apostel Paulus nimmt hier eine Idee von Jesus auf, ohne diesen wörtlich zu zitieren: „Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen.“ (Lukasevangelium 6, 27; wobei wir natürlich nicht wissen, wie wörtlich oder wie frei Lukas Jesus zitiert, da die Jesusworte bei Matthäus noch einmal anders klingen: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ´Du sollst deinen Nächsten lieben´ [3.Mose 19,18] und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Matthäusevangelium 5, 43-45)

„Liebt eure Feinde!“ Das klingt so absurd wie es ur-christlich zu sein scheint: Wenn ich meine Feinde liebe, dann sind sie es ja gar nicht mehr! Eben drum! Es geht nicht um die Einführung einer eigentlich unmöglichen spirituellen Spezialdisziplin verbunden mit den berühmt berüchtigten Kampf- und Laufsportarten: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.“ (Matthäus 5,39-41 par Lukas) Es geht keineswegs um den Spaß an einer scheinbar ganz verqueren ethischen Forderung, sondern mit Ernst um das Ende von Feindschaft und Gewalt.

In der Schule gehen wir das regelmäßig durch. Da findet sich schnell Einigkeit über die Unmöglichkeit der Forderung und Entrüstung über das geforderte Handeln:

„Wenn ich dem Angreifer auf dem Schulhof oder in der Nacht in der Stadt nach einem Schlag auch noch die andere Backe hinhalte, verschlimmere ich doch die Situation (feurige Kohlen auf sein Haupt).“

„Immer nur nachgeben funktioniert nicht, dann komme ich nie zu meinem Recht.“

„Es gibt einfach Typen, mit denen man keinen Frieden halten kann.“

Stimmt alles, aber wie kann dann Gewalt begrenzt und beendet werden? Oft hilft es ja, sich der Gewalt einfach zu entziehen: man vermeidet brenzliche Situationen und schlimme Gegenden (die in Amerika-Reiseführern empfohlene Frage am Hoteltresen, in welchen Straßen man „safe“ ist, und ab wo es „unsafe“ wird, zielt darauf ab) , man wechselt die Straßenseite, man flieht (auch eine evolutionär sehr bewährte Laufdisziplin im Umgang mit Gewalttätern). Blöd nur, wenn der Angreifer schneller ist oder sich zwischendurch in andere Gegenden ausgebreitet hat. Dann brauche ich weiteren Schutz.

In modernen Gesellschaften ist der Schutz des einzelnen an Organe des Staates delegiert: Polizei und Justiz nach innen und Landesverteidung nach außen. Aber auch Polizisten und Soldaten sind fehlbare, irrtumsfähige Menschen und entwickeln darüber hinaus Eigenlogiken als waffentragende Gruppierungen. Jeder, der einigermaßen bei Trost ist, wird sofort die Notwendigkeit dieser Träger des staatlichen Gewaltmonopols einsehen. Andrerseits gehören sie wie jede staatliche Einrichtung gewissenhaft kontrolliert. Anzeigen gegen einzelne Polizisten, die sich etwas zu Schulden haben kommen lassen, sind eine Selbstverständlichkeit; Anklagen und Beschuldigungen gegen „die Polizei“ sind haltlos und falsch. Aber noch die beste Polizei bleibt eine Notlösung, indem sie zwar notwendig ist, die durch Ausbrüche von Gewalt hervorgerufene Not aber nur begrenzen und nicht beenden vermag. („Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“ Barmer Theologische Erklärung 5, 1934)

Christen und Kirchen haben in ihrer Geschichte durchweg und von wenigen Ausnahmen abgesehen Staat, Polizei und das Gewaltmonopol des Staates anerkannt und wollten doch auch auf die Bergpredigt hören und Jesus folgen. Es ging darum, beides zu vereinbaren: Gewaltverzicht und Feindesliebe auf der einen Seite, die Anerkennung der Bedrohung durch Gewalt und ihre Begrenzung durch staatliche Gegengewalt auf der anderen Seite. Nicht alle Vorschläge zu ihrer Vereinbarkeit können als gelungen angesehen werden, wenn etwa die Geltung der Bergpredigt zeitlich, räumlich oder personell so eng begrenzt wurde, dass sie eigentlich gar nicht mehr galt (also z.B. nur zur Zeit Jesu oder nur in den Klostermauern oder nur im Privaten). Eher gelungen scheinen die Auslegungen, die nach dem Sinn und dem Geist der Jesusgebote fragen.

Und hier kommt Paulus ins Spiel. Er zitiert Jesus nicht wörtlich, wiederholt das „Liebet eure Feinde!“ laut und vernehmlich nicht, aber er nimmt es erkennbar auf und befragt seinen Sinn. Anders als immer wieder behauptet, zeigt sich Paulus dabei überaus lebensnah.

Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Damit erkennt der Apostel Paulus und er erkennt es an, dass mein Friedenswillen notwendig aber keineswegs hinreichend für den Frieden ist: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.“ (Schiller, Wilhelm Tell IV,3) Umgekehrt muss ich natürlich der Versuchung widerstehen, das als bloße Ausrede zu verwenden, dass wenn´s kracht, immer der andere Schuld ist.

Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«

Es wird den jüdischen Talmud-Gelehrten Rabbi Paulus (ehemals Saulus) geschmerzt haben, dass Feindesliebe in solchen Gegensatz zu den Lehren des Alten Testaments gerückt wurde („Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ´Du sollst deinen Nächsten lieben´ [3.Mose 19,18] und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch …“ Matthäus 5,43), deshalb bemüht er sich hier und im Folgesatz um gleich zwei Schriftzitate, die zeigen, wie sehr Feindesliebe in der Fluchtlinie alttestamentlichen und jüdischen Denkens liegt: Nicht wir sollen (Gerechtigkeit wiederherstellende) Vergeltung anstreben, sondern das Gott überlassen. (Das sein Zitat vom „rächenden Gott“ seine eigenen Probleme hat, nimmt Paulus in Kauf.) Es gibt Feinde, aber Feindschaft soll nicht auch noch gepflegt und vergrößert werden.

Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). Auch das zweite Schriftzitat verankert die Feindesliebe im Alten Testament und benennt darüber hinaus eine psychische Ambivalenz des Gegengewaltverzichts: Der kann auch beschämen und provozieren und im ungünstigen Fall neue Gewalt erst anstacheln. (Die „glühenden Kohlen“ können bloße Folge aber auch volle Absicht des Gewaltverzichts sein – dann als passive Aggressivität. Damit verkehrte sich die Bergpredigt in ihr Gegenteil.)

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Darum geht es: Um die Überwindung der Strukturen des Bösen, das immer neues Böses aus sich heraussetzt, sich gegenseitig bedingt und steigert („Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses muss gebären.“ Schiller, Wallenstein – Die Piccolomini V,1; noch prägnanter: „Blood will have blood.“ Shakespeare, Macbeth III,4) Schon der – rechtmäßige und notwendige – Selbstschutz in Notwehr kann das anfängliche Böse steigern und muss daher unbedingt auf das Notwendigste begrenzt bleiben. Wer sich von seinem Gegner Gewalt als sein eigenes Handeln aufzwingen lässt, hat schon verloren. Wir müssen dem Feind die Feindschaft verweigern, da nicht mitmachen, wenn´s irgendwie geht.

Und dann ist unsere Phantasie zum Frieden gefragt. Wir brauchen Beispiele, Bilder, Geschichten des Friedens – und die müssen wir uns weitererzählen. Vielleicht hat es ja diese merkwürdigen Typen in merkwürdigen Situationen wirklich gegeben: Der eine, der sich nicht hauen wollte und deshalb auf eine Backpfeife die andere Backe hingehalten hat; die andere, der es zu blöd war, um einen Mantel zu streiten und ihn der Streitenden überlassen hat; oder die, die uns erst die Gemeinschaft aufgenötigt haben und die wir dann nicht allein gelassen haben. Vielleicht haben wir ja mal ähnliches erlebt – im Auto die Vorfahrt gewährt, die der andere gar nicht hatte; oder im Gespräch auf eine Belehrung verzichtet, die auf den zweiten Blick eh nicht nötig war.

Dem Feind die Feindschaft verweigern und aus dem Gegner – meinem „Fernsten“ – meinen Nächsten machen; das ist nicht leicht aber in meinem ganz eigenen Interesse. Verzicht auf Gegnerschaft ist ein Gewinn für mich selbst. Mir selbst geht es dann besser, wenn ich im Frieden leben kann. In den anderen den Menschen sehen, der ich auch bin; im anderen Gottes Kind erkennen; so wie Jesus das lehrt: „auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Matthäus 5,45) Mein Gegner ist auch nur ein Mensch – auch ein Mensch.

Klaus Neumann, Pfarrer

Predigttext für den 3. Sonntag nach Trinitatis, 28. Juni 2020

Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast. (Buch des Propheten Micha 7, 18-20)

Vorzeiten, also zur Zeit des Propheten Micha – vielleicht vor gut zweieinhalbtausend Jahren – konnte man davon ausgehen, dass etwas in die Tiefen des Meeres hineingeworfen verschwunden und dann für immer weg ist.

Wir Heutigen wissen, dass das nicht der Fall ist, denn wir haben es blödsinnigerweise ausprobiert und fahrlässig in Kauf genommen, dass wir unseren ganzen Müll ins Meer gekippt haben und noch immer hineinkippen. Weg ist der dann gerade nicht. Zigtonnenweise Plastik, Giftmüll, Dünnsäure, Öl, Schrott – der ganze Mist, den wir produzieren, landet zu großen Teilen im Meer. Weg ist der nicht.

Auf meiner Lieblingsinsel in der Ostsee wird immer mal wieder gefährliches Gift aus Waffenschrott, den wir Deutsche am Ende des Zweiten Weltkriegs ins Meer geschmissen haben, angespült. Ich habe zwar noch nie was davon gesehen, aber es ist ein unangenehmes Gefühl, dem Zeug begegnen zu können. Es soll echt ätzend sein.

Das passt nicht zusammen: Müll im Idyll, Meer und Strand und dann gefährlicher Abfall. Für uns Urlauber passt das nicht, aber für die, die dort im Meer wohnen schon gar nicht: für Fische und Wale und Meeresschildkröten und Robben und Krebse und Seepferdchen passt das nicht und immer wieder gehen sie daran zugrunde und werden angeschwemmt mit kiloweise Müll im Bauch – wobei bei einem Seepferdchen schon ein paar Mikrogramm Plastikmüll reichen. Weg ist der Müll nicht, wenn man ihn ins Meer schmeißt.

Und eigentlich hat man das auch schon in biblischer Zeit gewusst, dass Fische und andere Meerestiere, das, was ins Meer geworfen wird, aufschnappen und sogar an Land zurück bringen können. Jona hat davon profitiert, wurde im Bauch des Wals gerettet und von ihm ans Ufer gespuckt. Oder Petrus, der den Steuergroschen im Fischmaul findet. Das, was ins Meer geworfen wird, ist nicht weg.

Und so könnte man auch fragen, ob unsere Sünden, die Gott in die Tiefen des Meeres wirft, wirklich weg sind. Mehr noch: Man kann fragen, ob man sie sich weg wünschen soll. Denn böse Taten haben ja folgen, wir haben da was angerichtet, anderen weh getan, die Natur geschädigt, uns selbst damit auch. Da kann man ja nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen; ab ins Meer und Augen zu und womöglich weiter so wie bisher. Wer kann sich das wünschen? Wahrscheinlich ist doch eher, dass das irgendwann wieder an Land gespült oder an den Strand gespuckt wird: unsere Verfehlungen und Versäumnisse, unsere Vergehen und unsere Verbrechen. Verdrängtes kehrt wieder. Und dass es sich dann rächt, dass wir da nichts aufgearbeitet und aktiv wieder gut gemacht haben, so gut es eben geht.

Vielleicht meint es Gott zu gut mit uns hier, oder der Prophet Micha meint bloß, dass es Gott so gut mit uns meint. Könnte er sich mit seiner Idee der alles zudeckenden Gnade irren? (Micha natürlich, Gott irrt sich nicht, oder doch? Kann Gott sich irren? „Da reute es den Herrn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden“ leitet die Sintflutgeschichte ein, als Gott alles und wirklich alles – Sünde mitsamt den Sündern – ins Meer versenkt [1. Mose 6,6] und nach überstandener Katastrophe abermals sein Handeln bereut: „Ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe.“ [1. Mose 8,21] Von Gottes Reue ist öfter die Rede. Irrt wer reut? Und ist das überhaupt anders denkbar, wenn Menschen echte Freiheit haben, dass sie dann so handeln, dass auch Gott als irrtumsfähig aber auch als fähig, sich selbst zu korrigieren, gedacht werden muss? Erarre divinum est?! Wäre dann Gottes Weisheit und Allwissenheit als gerade die Fähigkeit zu verstehen, einen Irrtum einzusehen und sich selbst zu korrigieren? Könnten wir ihn uns dann nicht für unser Handeln zum Vorbild nehmen?) Auch der Prophet Micha rechnet im Wesentlichen mit einem strafenden Gott (vgl. die Kapitel 1-6 seines Buches) und hofft dennoch, dass am Ende nicht Fluch sondern Segen das entscheidende Handeln Gottes sei, nicht Strafe sondern Gnade. Welche Gnade?

Der Prophet einer anderen Situation, Dietrich Bonhoeffer (dessen 75. Todesjahr in dieser Corona-Zeit viel zu wenig gewürdigt wird und unterzugehen droht), unterscheidet billige und teure Gnade. Billige Gnade, also die vom theologischen Grabbeltisch oder vom Glaubens-Discounter sozusagen, ist zu billig, weil sie uns nicht verändert, weil sie uns eigentlich in unseren Sünden lässt. Was nichts kostet, ist auch nichts wert. Das könnte auch für Gottes Gnade gelten, wenn wir sie falsch verstehen. („Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. Unser Kampf heute geht um die teure Gnade. Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament; Gnade als unerschöpfliche Vorratskammer der Kirche, aus der mit leichtfertigen Händen bedenkenlos und grenzenlos ausgeschüttet wird; Gnade ohne Preis, ohne Kosten. Das sei ja gerade das Wesen der Gnade, daß die Rechnung im voraus für alle Zeit beglichen ist. Auf die gezahlte Rechnung hin ist alles umsonst zu haben. Unendlich groß sind die aufgebrachten Kosten, unendlich groß daher auch die Möglichkeiten des Gebrauchs und der Verschwendung. Was wäre auch Gnade, die nicht billige Gnade ist? Billige Gnade heißt Gnade als Lehre, als Prinzip, als System; heißt Sündenvergebung als allgemeine Wahrheit, heißt Liebe Gottes als christliche Gottesidee. Wer sie bejaht, der hat schon Vergebung seiner Sünden. Die Kirche dieser Gnadenlehre ist durch sie schon der Gnade teilhaftig. In dieser Kirche findet die Welt billige Bedeckung ihrer Sünden, die sie nicht bereut und von denen frei zu werden sie erst recht nicht wünscht. Billige Gnade ist darum Leugnung des lebendigen Wortes Gottes, Leugnung der Menschwerdung des Wortes Gottes. Billige Gnade heißt Rechtfertigung der Sünde und nicht des Sünders.“ Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge 1937)

Man muss dem Propheten Micha nicht unterstellen, dass er uns Gottes Gnade zu billig verkaufen will, sondern wir selbst müssen uns hüten, den Preis für Gottes Gnade zu drücken. Wenn etwas zu billig wird, verlieren wir den Respekt davor. Was nichts kostet, ist auch nichts wert. Es gibt einen fairen Preis für die meisten Dinge. Das gilt auch für die Gnade Gottes (wie übrigens für Schweinefleisch. Geiz ist nicht geil, sondern garstig und grausam, grausam gegenüber Tier und Mensch. Das hätten wir schon längst wissen können [vgl. Upton Sinclair, The Jungle von 1906 über die Zustände in den Schlachtbetrieben in Chicago] und jetzt muss es jeder wissen. Wir sollten jedenfalls nicht damit rechnen, dass Gottes Gnade unsere Verantwortung für die Misshandlung von Mensch und Tier in der Fleischindustrie zudeckt und in die Tiefen des Meeres wirft.)

Aber widerspricht das nicht dem Begriff der Gnade, wenn ich sie mir durch mein Tun verdienen muss? Irgendwie schon. Umgekehrt verhöhnt es Gott, wenn ich seiner Gnade nicht durch meine Umkehr begegne. Ich schlage Gottes Gnade ja aus, wenn ich zwar seine Wohltat entgegennehme aber seinen Willen missachte. Gnade lebt davon, angenommen zu werden.

Am Beispiel der Corona-Krise lässt sich das verdeutlichen: Wir hier werden in der überwiegenden Mehrheit relativ und einigermaßen unbehelligt aus der Krise herauskommen. Diese Gnade, die die weitaus meisten erleben und erleben werden, sollten wir aber nicht als unser Recht und schon gar nicht als unser Verdienst ansehen (und schon überhaupt gar nicht als Beleg dafür, dass „die Virus-Gefahr überschätzt wurde“ wie die Blöd-Zeitung in unüberbietbarer Idiotie diese Woche titelt). Weder können wir hier etwas für das Glück zu überleben, noch können die Menschen in Bergamo, in Madrid, in New York und jetzt in Brasilien etwas dafür, die massenhaft sterben. Aber wir können und sollen danach sehen, was wir verändern müssen, um solche Seuchen zu verhindern oder zumindest ihre katastrophalen Folgen für so viele zu verhindern. (Und selbstverständlich gilt dasselbe – vielleicht noch dringlicher – für die drohende Klimakatastrophe!) Wir sollen und müssen in dem Geschehen den prophetischen Ruf zur Umkehr hören: Kehrt um! Wie es der Täufer Johannes, den wir in der vergangenen Woche gefeiert haben, in Tradition der Propheten wie Micha uns zuruft. Kehrt um! Prüft euer Handeln! Ändert euer Leben!

Gottes Gnade bezeichnet kein: Weiter so! sondern eine zweite Chance (oder eine dritte, vierte, siebte oder von mir aus siebenundsiebzigste – nein siebenmahl siebzigste – Chance, Matthäus 18,22), unser Leben so zu ändern, einzurichten, dass es der Gnade Gottes entspricht: Dass ich das zeige, an meinem Leben zeige, dass mir das Leben von Gott geschenkt ist; Dass ich zeige, an meinem Leben zeige und damit anerkenne, dass mich Gott wunderbar gemacht hat – und alle anderen auch, und alles andere auch; Dass Gott nicht einfach meine Sünde bedeckt oder in den Tiefen des Meeres versenkt, sondern mir tragen hilft; Dass er mir hilft, mein Leben zu verändern.

Wenn es nicht so katholisch klingen würde, könnte man sagen, dass die Gnade Gottes Hilfe zur Selbsthilfe ist. Trotzdem stimmt das. (Auch Katholiken irren nicht immer! Und Recht-haben-wollen ist nicht der edelste Charakterzug der Evangelischen – selbst wenn sie mal recht haben sollten!) Nur dass die Selbsthilfe – also die Umkehr zum gottgefälligen Leben – immer und in jedem Moment aus Gnade geschieht, das wäre festzuhalten! Sie – die Gnade – ist gleichzeitig Treibstoff und Kompass unserer Umkehr ins Leben.

Aber gehen müssen wir schon selbst. Amen.

Predigttext für den 2. Sonntag nach Trinitatis, 21. Juni 2020

Zu der Zeit fing Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies Weisen und Klugen verborgen hast und hast es Unmündigen offenbart. Ja, Vater; denn so hat es dir wohlgefallen. Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.

Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht. (Matthäusevangelium 11, 25-30)

In diesen Tagen, den längsten des Jahres, „wenn der Sommer nicht mehr weit ist“, wenn wir Johannis oder Mitsommer feiern, feiern wir darin das Leben in all seiner Fülle. Wie Konstantin Wecker singt:

„Wenn der Sommer nicht mehr weit ist/ Und der Himmel violett,/ Weiß ich, daß das meine Zeit ist,/ Weil die Welt dann wieder breit ist,/ Satt und ungeheuer fett.

Wenn der Sommer nicht mehr weit ist/ Und die Luft nach Erde schmeckt,/ Ist’s egal, ob man gescheit ist,/ Wichtig ist, daß man bereit ist/ Und sein Fleisch nicht mehr versteckt.“

(Letzteres muss nicht immer die richtige Entscheidung sein… Und man kann Weckers Hymne auf das sommerliche Leben und den Lebensgenuss sicherlich nicht hören, ohne an seine Probleme mit dem Leben und dem Genuss zu denken. Das macht das Lied aber nicht schlechter sondern noch besser, zumal die Untiefen des Lebens zwar nicht im Text aber in der Musik deutlich hörbar sind.)

Wir preisen Gott unseren Vater, Herrn des Himmels und der Erde für die Weite des Himmels und die Kraft der Erde, weil wir beides unmittelbar erleben – unmittelbar zu erleben scheinen: die Schöpfung, wie sie ursprünglich gemeint war, offenbar, ohne Geheimnis, ohne Grenze, als „unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins“, Leben vor Gott, der dazu sagt: „Siehe, es war alles sehr gut“ (1. Mose 1, 31; Weckers Vers zum Fleisch ist vielleicht ein Verweis auf die paradiesische Nacktheit, die sich nicht versteckt. Erst der Eindruck der Sünde zwingt uns, uns zu bedecken.)

Unsere Sehnsucht nach dem Paradies führt uns ja auch in die Urlaubsparadiese – und mit etwas Glück sogar auch in diesem Jahr. Das sah ja nicht immer danach aus. Neben anderen Gründen, in den Urlaub zu fahren – Unterhaltung, Erholung, Bildung – geht es um diese Suche nach dieser ursprünglichen Einheit, die Rückkehr ins Paradies – auch wenn wir wissen, dass es das längst nicht mehr gibt; aber vielleicht doch für diesen einen Augenblick, dem man dann sagen kann, dass er verweilen soll, weil er so schön ist.

Allerdings wissen wir schon, spüren es vielleicht auch mit diesem leichten nagenden Schmerz im Hintergrund, dass dieser Moment da eben doch nicht verweilen wird; dass auch der schönste Moment zu Ende gehen und „sterben“ wird („Auch das Schöne muss sterben“), und selbst der schönste Sommer und der schönste Urlaub wird zu Ende gehen. (Meinen Vater – Gott hab ihn selig – packte gerade um Mitsommer herum, eine schmerzhafte Melancholie, dass nämlich nun die Tage wieder kürzer werden „und es stramm auf den Winter zugeht“; gerechterweise konnte er um die Wintersonnenwende einen entsprechenden Moment des Glücks empfinden.)

Es gehört zu den besonderen Leistungen der Religion, unserer Endlichkeit etwas entgegenzusetzen. Wie ja umgekehrt eine religionslose Zeit beinahe hilflos dem Ende ausgesetzt ist, den Tod darüber verdrängen muss – und erst von der Seuche wieder zu diesem Thema genötigt wird: Ja, Menschen sind sterblich; keine Medizin wird das ändern (auch der herbeigesehnte Impfstoff wird keine Unsterblichkeitsmedizin sein, kein pharmakon athanasias, wie die antiken Theologen das Abendmahl genannt haben; und selbst das war es nicht!); mit oder ohne Seuche, die Sterblichkeit von Menschen liegt bei genau 100%.

Dass unserer Endlichkeit dennoch etwas entgegenzusetzen ist, ist allerdings ein Geheimnis, dass sich besonders den Weisen und Klugen verschließt, weil es der Weisheit und Klugheit von uns Menschen zuwiderläuft, die an nichts glauben wollen, was ihrem Wissen entgegensteht oder es übersteigt, und nur das wissen wollen, was messbar, prüfbar und nachweisbar ist. Wir verpassen da etwas.

Das Geheimnis, von dem unser Predigttext spricht – Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will – Dieses Geheimnis ist nämlich nicht einfach ein mehr oder weniger interessanter Umstand unsere Welt betreffend, auch keine Tatsache, die ich durch Forschung herausbekommen könnte, auch kein bloßes Kuriosum, ein fun fact ohne Belang – sondern es ist das Geheimnis unserer Welt (Eberhard Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt) und unseres Lebens, dass offenbart wird und auch als geoffenbartes Geheimnis ein Geheimnis bleibt – und dabei doch unser Leben völlig verändert (auf den Kopf stellt oder auf die Füße, je nach Perspektive).

Das Geheimnis unserer Welt und unseres Lebens besteht darin, dass uns Jesus Christus zu sich ruft – wie hier mit seinem sogenannten „Heilandsruf“: Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nicht unser Forschen und Suchen und Grübeln wird uns Gott entdecken, sondern wir werden angerufen, angesprochen von diesem Menschen Jesus, einem von uns, der aber dennoch in einzigartiger Weise zu Gott in Beziehung steht, der spricht: Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.

Wenn wir auf Jesus Christus hören, uns von ihm ansprechen lassen, erfahren wir etwas von dem Geheimnis unserer Welt und unseres Lebens. Das ist aber wie gesagt kein bloßes Wissen, sondern unsere ganze Existenz betreffende, verändernde, heilende Gewissheit, die unseren Lebenshunger stillt und unseren Lebensschmerz heilt (Nicht nur die Melancholie der Sommersonnenwende, die aber auch, denn im Johannisfest sind wir nun auf Christus verwiesen. Johannes´ Aufgabe ist ja, auf Jesus zu zeigen.), so dass wir Ruhe finden für unsere Seelen.

Indem wir zu Jesus gehören, gehören wir zu Gott; das können wir uns sonst in besonderer Weise im Abendmahl vergegenwärtigen (was wir normalerweise am 2. Sonntag nach Trinitatis thematisch und programmatisch ausdrücklich tun); jetzt und heute aber gerade nicht: seuchenbedingt. Auch das Abendmahl ist aber zuerst ein Zeichenwort und ein Wortzeichen, das nach evangelischem Glauben dem Wort Jesu, das uns ruft, nichts Wesentliches hinzufügt. Auch ohne Abendmahl sind wir wohlversorgt, gestärkt und erquickt – durch sein Wort. (Trotzdem kann man sich natürlich darauf freuen, dass Wort recht bald auch wieder in der Gestalt des Abendmahls zu haben!)

Dem Ruf Jesu können wir antworten, dazu ist der Gottesdienst ja da, nämlich durch Gebet und Gesang Antwort geben auf Gottes Wort. (Wir feiern Gottesdienst, damit „unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir umgekehrt mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang“ in Martin Luthers berühmten Worten über den Gottesdienst, seiner Torgauer Formel von 1544 während der Einweihung der Torgauer Schlosskirche).

Im vielleicht schönsten Sommerlied, das wir haben, und mit dem wir auf Gottes Wort und Werk antworten können, verpackt der Dichter Paul Gerhardt in die unbändige Freude über das sommerliche Fest des Lebens – „Geh aus mein Herz und suche Freud“ – auch den Schmerz über die Vergänglichkeit (Paul Gerhardt dichtet sein Lied im Jahr, als der Dreißigjährige Krieg zu Ende geht; er verliert vier seiner fünf Kinder im Kleinkindalter; er kennt das Leben) und beides in die Hoffnung auf Gottes Garten im Himmel: „Ach denk ich, bist du hier so schön/ und lässt du´s uns so lieblich gehen/ auf dieser armen Erden:/ Was will doch wohl nach dieser Welt/ dort in dem reichen Himmelszelt und güldnem Schlosse werden?“

Angesprochen von Gottes Wort in Jesus Christus können wir uns an der sommerlichen Natur freuen, ohne darin selbst Erfüllung suchen zu müssen – die wir dort auch im Leben nicht finden würden. So nimmt er uns die unerträgliche Last der Selbsterlösung und befreit uns zum Leben: Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht. Amen.

Klaus Neumann, Pfarrer