Predigttext für den 1. Sonntag nach Epiphanias, 10. Januar 2021

Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt zu halten, sondern dass er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat. Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir viele ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des anderen Glied, und haben verschiedene Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Ist jemand prophetische Rede gegeben, so übe er sie dem Glauben gemäß. Ist jemand ein Amt gegeben, so diene er. Ist jemand Lehre gegeben, so lehre er. Ist jemand Ermahnung gegeben, so ermahne er. Gibt jemand, so gebe er mit lauterem Sinn. Steht jemand der Gemeinde vor, so sei er sorgfältig. Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s gern. (Brief des Paulus an die Römer 12, 1-8)

„Wir werden uns am Ende eine Menge verzeihen müssen“ – hat der Gesundheitsminister am 24. April des letzten, sehr besonderen Jahres gesagt und damit plötzlich und unerwartet einen Ton getroffen, der lange nachhallt. Im zunehmend kakophonen Getöse, in dem beinahe jede Maßnahme gegen die Seuche in Ultraschallgeschwindigkeit zum Versagen, zum Fiasko, zum Debakel, zum Chaos und zum Irrsinn – was für ein Irrsinn! – geschrien und geschrieben wird, wenn sie nicht sofort und unmittelbar erfolgreich ist oder auch nur nicht von allen verstanden wird, klingt in der vielleicht auch nur beiläufig gemeinten Bemerkung eine tiefe Lebensweisheit und zentrale Wahrheit des christlichen Glaubens durch: Wir werden uns – und nicht nur am Ende – eine Menge verzeihen müssen: und wir können das auch, weil wir immer schon – wenn wir es denn wahrnehmen und wahrhaben – in einem Zusammenhang des Verzeihens und der Barmherzigkeit aufgehoben und umfangen sind: mehr noch: in ihm empfangen werden; nicht umsonst heißt einer der hebräischen Begriffe aus dem Alten Testament für Barmherzigkeit auch Mutterleib. Der barmherzige Gott ist wie die Mutter, die einem das Leben gab – oder wie der Vater, der uns verlorene Töchter und Söhne annimmt, immer wieder annimmt und uns in Barmherzigkeit verzeiht. Deshalb ist uns gesagt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lukas 6,36)

Und deshalb rahmt der Apostel Paulus seine Gedanken zum Leben der Gemeinde mit dem Begriff der Barmherzigkeit, der immer das Verzeihen als den Verzicht auf Durchsetzung eigenen Rechts und eigener Möglichkeiten – und sei es das vermeintliche Recht sich auch mal gehörig aufzuregen – meint. Barmherzigkeit kann sogar sein, einfach mal die Klappe zu halten; meistens ist sie mehr, viel mehr: Sie räumt mir und allen anderen trotz meiner Unzulänglichkeiten und Verfehlungen und die der anderen einen Platz zu Leben ein. Alles Leben und eben auch das Gemeindeleben verdankt sich aus christlicher Sicht und aus christlichem Glauben der Gnade und der Barmherzigkeit unseres Gottes. „Gnädig und barmherzig ist der Herr, geduldig und von großer Güte“ Ohne Gnade ist nicht nur alles nichts, sondern ist überhaupt nichts.

Das ist aber nicht die Logik dieser Weltzeit, dieses Äons oder Säkulums – nicht Wesen und Form der säkularen Welt in der wir leben, weshalb das Ministerwort so herausklingt im Lärm und so funkelt im Dunkeln. In der säkularen – oder weitgehend säkularisierten – Welt gilt eigentlich das Recht des Stärkeren, der Kampf ums Dasein, das survival of the fittest, Konkurrenz und Kampf und Freiheit als Freiheit mich gegen die anderen, auch gegen die Natur und letztlich sogar gegen mich selbst durchzusetzen, kämpfend durchzusetzen.

Im Gegensatz dazu überschreibt Paulus seine Gedanken zum Leben der Gemeinde als vernünftigen, wörtlich „logischen“ Gottesdienst – also als der Logik der Barmherzigkeit folgenden Gottesdienst – und fordert seine Schwestern und Brüder, also uns, dazu auf, nicht der säkularen Logik dieser Welt zu folgen, sich nicht ihrem Schema anzupassen und uns ihr gleichzuschalten, sondern sich selbst zu ändern, zu verwandeln, eigentlich sich einer unser ganzes Selbst und Wesen verwandelnden Metamorphose (wie die Raupen zum Schmetterling) zu unterziehen, um erneuert und wie wiedergeboren dem Willen Gottes, also dem schöpferischen Gnadenwillen Gottes zu folgen und das ganze Leben zu widmen: Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.

Dazu hat uns Gott Gaben gegeben, Geistesgaben, nein: Gnadengaben. Paulus ersetzt ausdrücklich den damals gebräuchlicheren Begriff Geistesgaben („pneumatika“) durch seine eigene Wortschöpfung „Charismen“, um das gnadenhafte unserer Fähigkeiten und Begabungen herauszustreichen und sie nicht etwa einem überlegenen in uns wohnenden Geist zuzuschreiben. Insofern verwenden wir heutzutage den Begriff Charisma zumindest missverständlich, wenn wir ihn der besonderen, strahlenden, überlegenen Wirkung einer brillanten und dominanten Persönlichkeit anheften – die etwa alle Blicke auf sich zieht, wenn sie den Raum betritt und deren Worte uns unmittelbar treffen, erschüttern und bewegen. Solchen religiösen Geniekult hatte Paulus in Korinth kennen und ablehnen gelernt, weil er der säkularen Leistungsideologie folgt und Gemeinschaft zerstört: Schneller, höher, weiter gehört auf den Sportplatz aber nicht in die Kirche. Ihm ist wichtig, alle Gaben gleichermaßen – auch die unscheinbaren und scheinbar unbedeutenden – als Gottesgaben zu würdigen und für die Gemeinde fruchtbar zu machen – ohne Hierarchie der Gaben und der Begabten – was ja eine gewisse Relevanz und eine gehörige Brisanz für eine heutige Gemeindeorganisation und damit auch für den zweiten Programmpunkt unseres heutigen Vormittags hat.

Des Paulus Bild dafür ist das eines Körpers mit seinen Organen und Gliedern, das in der Antike weit verbreitet war und das er mit der Vorstellung des verborgenen Christus in, mit und unter den Christen – vor allem aber nicht nur! – beim Abendmahl verbindet. So wie wir alle zu Christus gehören, gehören wir alle zusammen – mit unseren Unterschieden und unterschiedlichen Gaben aber ohne Rangfolge und Hierarchie.

Dass dieses Bild gelinde gesagt zum Missbrauch einlädt, wenn nicht sogar dazu verführt, in dem es bestehende Machtverhältnisse verklärt oder verschleiert, liegt auf der Hand und ist oft bemerkt worden: Was nützt die beschworene Gleichrangigkeit den „Füßen“, wenn sie wie Fußabtreter, und was dem „Gesäß“, wenn es wie der letzte – nein, das sag ich jetzt nicht – behandelt werden. Es kommt darauf an, die behauptete Würde erfahrbar und erlebbar und damit wirklich zu machen, und die zuerst darin besteht, die jeweilige Funktion in ihrem Eigenwert zu würdigen: Was wären wir ohne unsere Füße, die uns gerade jetzt durch den Winterwald tragen können; und was – ja was? – ohne funktionierende Verdauung.

Genau darauf (also nicht auf die Darmtätigkeit sondern auf den jeweiligen Eigenwert jedes Organs im Zusammenhang des Organismus) zielen die treffenden, nur scheinbar redundanten und gerade darin subtilen, bisweilen sogar zartfühlenden Bemerkungen des Apostels: Vor allem geht es ihm darum, dass jeder das mache und so gut wie möglich mache, was ihm durch Gottes Gnade eben gut zu machen gegeben und deshalb seines Amtes ist (da kann man sich auch verdammt täuschen, vor allem auch über sich selbst!): der Tröster soll trösten, der Lehrer lehren, der Prophet Gesellschaftskritik üben und der Helfer Hilfe leisten; orientiert an der Sache selbst und an denen, auf die meine Tätigkeit zielt; nicht als Egotrip und nicht als Showbusiness, also eben nicht nach der Aufmerksamkeitsökonomie der säkularen Welt – sondern orientiert an der Gnade Gottes als Prinzip und Ziel.

Besonders überzeugen mich die drei Wendungen am Ende:

Gibt jemand, so gebe er mit lauterem Sinn: Nichts ist schlimmer als Almosen und praktische Barmherzigkeit zum Zweck der moralischen Selbstvergrößerung oder auch nur als inquisitorischen Schnüffelei der Wohlhabenden in den kargen Verhältnissen der Armen. Man hilft nur, wenn man nur helfen will.

Steht jemand der Gemeinde vor, so sei er sorgfältig: – wörtlich steht da „mit Eifer“. Also: Sich nicht lange bitten lassen, selbst die Dinge in die Hand nehmen, Probleme sehen, das Notwendige tun – die gemeinsame Sache als die eigene begreifen. Auch da mag es Übertreibungen geben, wenn der Eifer in Eigenmächtigkeit umschlägt; also: die eigene Sache als gemeinsame Sache begreifen.

Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s gern; wörtlich „in Fröhlichkeit“ dessen, dem selbst Barmherzigkeit widerfahren ist.

Der Predigttext bricht an dieser Stelle ab, was schade ist, denn Paulus setzt seine Bemerkungen zum Leben der Gemeinde fort – und zwar mit dem paulinischen Großthema der Liebe, die für ihn im wesentlichen auch nichts anderes ist als eine Begabung aus Gottes Gnade und Barmherzigkeit – und zwar die größte: „die Liebe aber ist die größte unter ihnen“ (1. Korinther 13); die Liebe nämlich, die nichts für sich selbst zu sein vermag, „nicht das ihre sucht“; die nicht plattmacht und quetscht, sondern die einem anderen einen Platz einräumt; die verzichten und vieles verzeihen kann.

Predigttext Silvesterabend 2020

So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.

Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht. Amen. (2. Buch Mose 13, 20-22)

„Nur ein oberflächlicher Mensch urteilt nicht nach dem Äußeren“ – Meistens ist es sehr sinnvoll mit Oscar Wilde, dem ersten Eindruck und der äußeren Erscheinung zu folgen: Wenn in der Kirche einer mit einem Talar herumsteht, wird das sehr häufig ein Pfarrer sein – und wenn im mythologischen Weltbild des Alten Orients Rauch- und Wolkensäulen umherwandern, könnte das Gott sein. Das Innere verrät sich im Äußeren, in unseren Bildern zumal; das kann als Faustregel gelten, von der es aber Abweichungen gibt. Es ist damit zu rechnen, dass gerade religiöse Gegenstände und insbesondere Gott selbst sich in vielfältigen auch unerwarteten Verhüllungen und Enthüllungen offenbart, nicht zuletzt unter seinem Gegenteil; wir kommen darauf zurück.

Beim Durchsehen der Bilder des vergangenen Jahres – also weniger bei den offiziellen Präsentationen in Zeitungen oder im Fernsehen, als vielmehr bei den eigenen Bildern, die sich auf dem Handtelefon so übers Jahr ansammeln; oder auch bei den anderen, die man als Weihnachtsfamilienkarten bekommt und die vielfach wahre Kunstwerke sind – also beim Durchsehen dieser privaten, persönlichen Bilder des Jahres 2020 fällt auf, dass das alles beherrschende Thema, die alles bestimmende Wirklichkeit – früher war das ein Gottesprädikat! („Gott als alles bestimmende Wirklichkeit“ bei Rudolf Bultmann) – also nun aber die alles bestimmende Wirklichkeit der Seuche kaum oder gar nicht vorkommt.

Auf diesen Bildern, die ich meine und die wir vermutlich alle im Smartphone mit uns herumtragen, gehen wir durch das Jahr mit lachenden, freundlichen Gesichtern, wir und unsere Lieben, an schönen Orten bei gutem, oder zumindest interessantem Wetter. Nur ganz gelegentlich blitzt eine Maske hervor und wir wissen – noch, aber in ein paar Jahren nicht mehr – aus welcher Phase der Pandemie dieses oder jene Bild stammt, also etwa zeitgleich mit den ikonisch gewordenen Bildern der Militärlaster voller Särge in Bergamo, der Behelfslazarette in New York, der Umarmung der Angehörigen durch eine Plastikfolie im Altenheim; oder der sommerlichen Idiotenpartydemos und der Beinahe-Erstürmung des Bundestages durch selbige; oder – nochmal ganz anders – der leeren Fußballstadien.

Aber in den Sammlungen der meisten von uns kommt die Seuche – merkwürdigerweise, glücklicherweise – nicht vor. Das liegt – denke ich mir – zum einen daran, dass wir trotz allem auch im vergangenen Jahr meistens das gemacht haben, was wir eben immer machen und davon auch unsere Bilder gemacht haben; und in der großen Mehrheit – wie gesagt: glücklicherweise – keinen direkten Kontakt mit den grausamen, tödlichen Seiten der Seuche hatten. Das könnte aber auch zu einem anderen Teil daran liegen, dass wir – unbewusst, bewusst – den Schrecken verdrängen und ihn mit unseren fröhlichen Bildern zudecken, verhüllen wollen: Andere mögen leiden und sterben – aber wir doch nicht! Falls das stimmt – aber vielleicht bin ich hier wieder mal zu grübelnd, zu nörgelnd – wäre das eine nicht ganz so schöne Erkenntnis über uns selbst.

Bei einem zweiten, genaueren Blick durch die Bildersammlungen, finden wir dann vielleicht aber doch die Spuren der Pandemie – die immer selben Spaziergänge im Frühjahr, die spärlich besetzten Lokale, die leeren Strandabschnitte; auch die Leerstellen könnten uns auffallen: die Menschen, die wir nicht trafen, und die Orte, die wir nicht besuchten. Es war so vieles gleich in diesem Jahr – und doch alles anders. Und wenn auch nicht alles sichtbar ist, so doch manches erkennbar unter seinem Gegenteil.

Und wenn man so weitergeht in seinen Gedanken zur Sichtbarkeit der Pandemie in unserem persönlichen Bildergedächtnis, ergibt sich – zumindest wenn uns Fragen der Religion interessieren – die Frage nach der Sichtbarkeit Gottes in diesen Tagen und der Orientierung durch unseren Glauben. Auch wer in dieser Hinsicht keine Feuersäulen oder Wolkensäulen erwartet – das wäre wohl zuviel verlangt in Zeiten säkularer Vernunft – würde sich doch Eindeutigeres über Gott oder noch besser von Gott wünschen. Welche Antworten des Glaubens finden sich in diesen Zeiten? Wo ist Gott in der Pandemie? Wer ist uns – nun sei dennoch danach gefragt – Wolkensäule am Tag und Feuersäule in der Nacht?

Nach einer Schrecksekunde des monatelangen Schweigens hat sich der Glauben in vielfältigen theologischen Stellungnahmen geäußert, ohne je kraftvoll zu einer Stimme zu finden. Die Antworten, die in früheren Zeiten plausibel waren, dass eine solche Krise Strafe oder Prüfung Gottes sein müsse, verfängt nicht mehr, da einem Gott, der die Liebe ist, ein solches strafendes oder prüfendes Handeln schlicht nicht mehr zugetraut wird. Der liebe Gott straft und prüft nicht. Einen anderen aber kennen wir nicht – nicht mehr.

Angesichts von Seuche und Seuchentod kann dann aber auch die Gottesaussage „alles bestimmende Wirklichkeit“ nicht mehr zutreffen, wenn sie es denn je getan hat. Allerdings deckt hier die Krise nur theologische Defizite auf, die es schon längst gab und die schon längst hätten bearbeitet werden müssen: Gott könnte doch nur dann gleichzeitig als „Liebe“ und als „alles bestimmende Wirklichkeit“ ausgesagt werden, wenn ich alles, was überhaupt ist, für gut erklärte, und wenn also gleichzeitig das offensichtlich Nicht-Gute: Krankheit und Leiden, Gewalt und Tod einfach für irrelevant erklärt würden. Das sollte dem christlichen Glauben eigentlich unmöglich sein, wenn es auch die Kommentare zur Pandemie immer wieder implizieren mit Behauptungen, dass doch jeder sterben müsse, und mit Beschwichtigungen, dass Krankheiten zum Leben dazugehörten; wohl wahr! Nur dass das beides vor allem Argumente nicht gegen ihre Bedeutung sondern für mitfühlende Sterbebegleitung und effiziente Krankenversorgung sind – auch Jesus hat Krankheiten nicht erklärt sondern geheilt! Und gut finden und für göttlich gewollt halten – muss man sie schon gleich gar nicht.

Der Mangel an christlichen Deutungen in der pandemischen Öffentlichkeit spiegelt sich in einem Überfluss nicht-christlicher und religionskritischer Kommentare. Die häufen auf die System-Irrelevanz von Kirche und Theologie in der Pandemie und den demoskopischen Niedergang der Institutionen noch den triumphalen Abgesang auf die Religion überhaupt – allerdings – und das muss den Polemiker in einem betrüben – war die Religionskritik auch schon mal besser, nämlich treffender und trittsicherer als heute.

Entweder sie verkauft Ladenhüter vom Grabbeltisch der Historisch-Kritischen Forschung als Sensation, etwa dass sich Religionen entwickeln und verändern und dabei immer auch Elemente ihrer Umwelt aufnehmen, und dass also z.B. in Ermangelung eines Geburtsdatums Jesu der Zeitpunkt des Weihnachtsfestes zur Wintersonnenwende sich dem Festkalender der alten Römer verdankt – was doch höchstens Konfirmanden erstaunen kann, wenn sie es als 13jährige erstmals hören.

Oder die Kritiker verzichten gleich ganz auf Recherche und „meinen“ einfach wild drauflos – nach dem Motto: Eine starke Behauptung ist immer noch besser als ein schwaches Argument, wie z.B. neulich in einer großen Wochenzeitschrift, in der ein Autor das Recht des konfessionellen Religionsunterrichts an Schulen bestreitet, was natürlich möglich ist und interessant sein kann, aber doch nicht so: Ihm war völlig entgangen, dass die kirchlichen Lehrkräfte an staatlichen Schulen selbstverständlich dem Recht des Staates und der Ordnung der Schule unterstehen, dass Lehrpläne für Religion wie für alle anderen Fächer staatlich beschlossen werden und dass genauso wenig wie der Glaube an den Satz des Pythagoras in der Mathematik der Glaube an Bekenntnissätze im Religionsunterricht benotet wird – nur kennen sollte man sie halt und wissen, was man damit anfangen kann. Am betrüblichsten aber war, dass dem Autor gerade das fehlte, was zu den wichtigsten zu erwerbenden Kompetenzen des Religionsunterrichts gehört, nämlich eine eigene Urteilsfähigkeit in Sachen der Religion auszubilden, die insbesondere auch einschließt, sich selbst in Frage zu stellen.

Wenn die Kritik sich so wenig Mühe macht und sich machen zu leisten können scheint, muss es schlecht um die Religion bestellt sein. Dabei könnte die Krise doch eine Stunde der Religion sein, die Situation zu deuten und die Menschen zu trösten. Selten waren – um im Bild unseres Predigttextes und seines Erzählzusammenhangs zu bleiben – die Meeresfluten einer Bedrohung gewaltiger und die hinter uns her stürmenden Feinde gewalttätiger; selten die vor uns liegenden Wüsten der Bewährung und der Geduld vor uns dürrer und ausgedehnter; und sehr selten unser Bedarf an Wegweisung und Erleuchtung größer als gerade jetzt. Wo ist Gott; wo der, über den wir sagen könnten: Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.

Auch wenn wir nichts dergleichen erkennen, muss das nicht für Gottes Abwesenheit sprechen, bzw. es könnte Gottes Abwesenheit für uns eher die Verhüllung seiner Anwesenheit sein. Martin Luther hat so etwas gesagt, nämlich dass sich Gott unter dem Kreuz verbirgt, dass sich Gottes Macht unter der Ohnmacht verhüllt und das Luther folgerichtig Kreuzestheologie genannt hat. Größer als eine sichtbar machtvoll „alles bestimmende Wirklichkeit“, die es nicht mehr gibt (und nie gegeben hat), ist die die eigene Ohnmacht aushaltende Macht der Liebe. Nach Luther hat der Glauben nicht nach Machterweisen zu suchen und diese dann Gott zuzuschreiben, nicht sich von Wolken- und Feuersäulen führen und leiten lassen, sondern im Leiden der Menschen Gott zu erkennen, das er teilt, das er erträgt und trägt und so überwindet – und uns durch gemeinsames, gegenseitiges Tragen zu überwinden anstiftet. Mit dem Kreuz als Zeichen der Ohnmacht stellt Gott sich und unsere Ansprüche an Gott in Frage – aber er gibt sich auch so zu erkennen als Gott der Liebe, „der nichts für sich selbst zu sein vermag“ (Eberhard Jüngel).

Also doch der liebe Gott? Ja schon, aber so, dass seine Liebe überraschen kann, herausfordern kann, uns nicht nur bestärkt in dem, was wir schon immer glaubten, sondern unsere Schwäche ertragen lässt. Liebe ist ja nicht schon dann, wenn ich den Tollen toll finde, sondern wenn mich seine Schwächen berühren. Solche Liebe kann uns bei Tag führen und in der Nacht den Weg leuchten – oder nochmal anders:

Jesus Christus spricht, ich bin das Licht der Welt, wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis sondern das Licht des Lebens haben. Amen.

Predigttext Weihnachten 2020

Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn. Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des Herrn. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.

Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter. 

Man wird weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt. Und es wird geschehen zu der Zeit, dass die Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker. Nach ihm werden die Völker fragen, und die Stätte, da er wohnt, wird herrlich sein. (Buch des Propheten Jesaja 10,1-10)

„Es ist ein Ros´ entsprungen/ aus einer Wurzel zart“ – selten hat sich eine saubere Aussprache so gelohnt: An Weihnachten geht es – zumindest metaphorisch – um Rosen und nicht um Pferde; um Sprösslinge und nicht um Rösser. Wenn hier und heute jemand herumspringt, dann sind das kleine Kinder unterm Weihnachtsbaum; oder eigentlich das eine Kind Gottes in der Weihnachtskrippe, und das springt noch nicht – weil es nämlich im wesentlichen liegt oder getragen wird im Arm der Eltern, deren Herz wir uns aber sehr wohl als vor Glück hüpfend und springend vorstellen dürfen.

Wie alle Eltern werden sie dieses unfassbare, unverdiente und unvergleichliche Glück empfunden haben über ihr neugeborenes rosiges leicht verschrumpeltes Kindlein; aber dabei kaum selbst als Eltern im Stall herumgesprungen sein, die eine vor Erschöpfung nicht und der andere aus solidarischer Erschöpfung nicht (oder auch aus der stillen Freude, nicht selbst Gebärer zu sein; wie meine Großmutter – Gott hab sie selig – gesagt haben soll: „Würden die Kerls die Kinder bekommen, wären die Menschen längst ausgestorben.“ Da könnte was dran sein; vgl. auch die einschlägigen Erkenntnisse zum „Männerschnupfen“.)

„Es ist ein Ros´ entsprungen“ – verdankt sich der prophetischen Zeile aus dem prophetischen Text des Jesaja, die und der seit jeher – also zumindest seitdem Christen über Christi Geburt nachgedacht haben, auf Jesus von Nazareth bezogen wurden, wieso ihn die Weihnachtsgeschichte in Bethlehem statt im näherliegenden Nazareth geboren sein lässt: Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Also eigentlich „Reis“ wie Reisig statt „Rose“. Also Ästchen, oder Zweiglein statt Blume; aber da wollen wir nicht zu genau hinschauen, da Genauigkeit bei der Betrachtung von Wundern diese beschädigen könnten. Ob Reis oder Ros – da sprießt etwas hervor, ein Sprössling der Familie David, uralter judäischer Adel von königlich-messianischem Geblüt, ausgewählt von Gott zum guten König über sein Volk.

Der christliche Glauben pfropft hier nichts auf oder ein zur Erschleichung eines Adelstitels, auf den Jesus zweifellos verzichten könnte, sondern um eine theologische Aussage zu veranschaulichen: Der hier gemeinte und geglaubte Christus ist der jüdische-davidische Messias, auf den Gottes Volk wartet und dessen Herrschaft in umfassender Weise ersprießlich sein wird.

Denn viel wichtiger als die Fragen der Phonetik oder der Historik oder meinetwegen der Pomologik ist hier die Theo-logik, was denn das für ein göttlicher Herrscher sei, wenn er kommt, dieser Messias und was sein messianisches Reich wäre, wenn er es aufrichtet. Ein geisterfüllter Herrscher und Messias jedenfalls, voll des Geistes des Herrn, des Geistes der Weisheit und des Verstandes, des Geistes des Rates und der Stärke, des Geistes der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.

Von allen guten Geistern angeblasen, bewegt und begleitet wird er Gottes Idee eines moralischen Universums durchsetzen, in dem Gerechtigkeit und Frieden herrschen. Beides steht noch aus: Gerechtigkeit und Frieden für die ganze Welt, Schalom für Mensch und Tier, genauer sogar für jedes Blümelein und für jeden Spross; Das steht noch aus, steht nach einhelliger Meinung der Bibel noch aus, weshalb man sich über die immer nur wundern kann, die sich darüber wundern, dass und warum trotz eines gerechten und friedenbringenden Gottes noch soviel Ungerechtigkeit und Unfrieden in der Welt sei.

Der „Frieden auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens“ steht noch aus, der Weihnachtsfrieden formuliert eine Zukunft, eine Utopie, aber als eine konkrete Utopie – also eine, die unser Denken und Fühlen jetzt schon bewegt, damit sich unsere Welt jetzt schon verändert, damit wir unsere Welt jetzt schon verändern. (Mit dem Begriff der konkreten Utopie bezeichnet Ernst Bloch die Hoffnung als die die Gegenwart verändernde Kraft aus den Bildern der Zukunft: „Es kommt darauf an das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern.“ „Sozialutopie arbeitet als ein Teil der Kraft, sich zu verwundern und das Gegebene so wenig selbstverständlich zu finden, dass nur seine Veränderung einzuleuchten vermag.“)

Die konkreten Zukunftsbilder, die der Prophet vor uns ausbreitet, sind dazu geeignet und haben die Kraft, unsere Gegenwart zu verändern: Frieden und Gerechtigkeit in jeder Ecke der Welt und in jedem Winkel der Natur: Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein kleines Kind wird seine Hand ausstrecken zur Höhle der Natter. 

„Geist“ ist biblisch unter anderem die Kraft, die mich etwas von einem anderen Standpunkt als meinem eigenen aus vorstellen lässt:

  • „Geist“ lässt mich den Konflikt mit den Augen meines Gegners betrachten;
  • „Geist“ erzählt eine Geschichte aus der Perspektive der Marginalisierten, der Armen, der Frauen, der Kinder;
  • „Geist“ interessiert sich für mehr als die anthropozentrische Weltsicht sondern auch für Wölfe und Lämmer, Löwen und Nattern, Aale und Habichte, Ochsen und Esel;
  • „Geist“ schildert die Gegenwart aus dem Blickwinkel einer möglichen Zukunft.

Durch Gottes Geist – den Geist des Herrn, den Geist der Weisheit und des Verstandes, den Geist des Rates und der Stärke, den Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn – verlassen wir das Gefängnis unserer bloß eigenen Privatwelt, legen wir unsere egoistische egozentrische Befangenheit ab: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst – indem du deines Nächsten Standpunkt einnimmst und seine Sichtweise ausprobierst. Damit ich nicht richte nach dem, was meine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was meine Ohren hören, sondern mit Gerechtigkeit.

Weihnachten lebt vom empathischen Geist der Utopie:

  • Himmel und Erde verbinden sich im „englischen“ Ruf – also dem Ruf des Engels – nach Frieden und Gerechtigkeit;
  • Marginalisierte werden vom Rand in die Mitte gerückt;
  • Frauen und Kinder schreiben die Geschichte – in Hütten, nicht in Palästen;
  • armselige Hirten werden königliche Herolde
  • und noch die Krippenfolklore durchbricht die gewohnte, auf Menschen fixierte Sichtweise, indem sie Ochs und Esel zum Christkind stellt und den ewigen Frieden – so wenig wahrscheinlich er uns vorkommen mag – an der Vielfalt der friedlich vereinten Arten veranschaulicht: an Wolf und Lamm, an Panther und Böcklein, an Kalb und Löwe, an Kuh und Bärin, an Löwe und Rind, an Menschenkind und Schlange. Und wir haben ökologischen Respekt und den Schutz der Artenvielfalt für neue Ideen gehalten!

Das ganze hat nur Sinn, wenn ich verstehe, dass der weite Blick in die Vergangenheit einen noch weiteren in die Zukunft gewährt – und damit – und erst damit – mich in meiner Gegenwart erreicht, damit ich sie verändere. Selten also könnte ein Lied so sehr den weihnachtlichen Sinn verfehlt haben wie das „Alle Jahre wieder“ unserer Kindheit, wenn es die jährliche Wiederkehr des ewig Gleichen besingt, und als Besitzanspruch auf Heimat im Idyll die Weihnachtsbotschaft in ihr Gegenteil verkehrt. Dagegen bleibt festzuhalten: „Es geht um den Umbau der Welt zur Heimat, ein Ort, der allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war.“ (Ernst Bloch)

Denn das bezeichnet den eigentlichen „ernsten ausgewachsenen Feiertagsnotstand“ (ausgerufen vom unvergleichlichen Chevy Chase in seiner Weihnachtskomödienfarce „Schöne Bescherung“ aus dem Jahr 1989; unbedingt wiedersehen!), wenn ich Weihnachten für verfügbar halte, es als meinen Besitz, ja Raub erachte, auf den ich Anspruch habe und den ich nach meinem Gutdünken verhunzen kann, schepperndes Familienglück und greller Frohsinn inklusive. (Es sollen ja schon Pfarrer am Heiligen Abend in ihrer Kirche Schimpfe bekommen haben, wenn sie nicht fröhlich genug geschaut haben.)

Wenn uns dieses blöde Virus in all seiner Grausamkeit eins lehren kann, dann das: dass Weihnachten unverfügbar bleibt, es eben nicht uns gehört; dass es unseren Zugriff verweigert, es sich nicht in Besitz nehmen lässt; dass es wie ein Ross scheut und davonspringt, wenn wir ihm zu nahe treten; oder aber – als zartes Pflänzchen für uns aufblüht, wenn wir nicht darauf herumtrampeln.

Wir müssen Weihnachten in diesem Jahr anders feiern – aber wir können das auch: rücksichtsvoller, empathischer, utopischer – und in der Hoffnung, im nächsten Jahr es wieder anders, vor allem gemeinsamer feiern zu können – ohne dass doch alles einfach so wäre wie früher. Denn alles so bleiben, wie es immer schon war – das soll es ja an Weihnachten gerade nicht. Amen.

Predigttext für den 2. Advent, 6. Dezember 2020

So seid nun geduldig, Brüder und Schwestern, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe. Seufzt nicht widereinander, damit ihr nicht gerichtet werdet. Siehe, der Richter steht vor der Tür. Nehmt zum Vorbild des Leidens und der Geduld die Propheten, die geredet haben in dem Namen des Herrn. Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben. Von der Geduld Hiobs habt ihr gehört und habt gesehen, zu welchem Ende es der Herr geführt hat; denn der Herr ist barmherzig und ein Erbarmer. (Brief des Jakobus 5, 7-11)

Ruhig – Geduldig. Das hört sich nicht nur so an wie der Slogan einer Fahrschule, sondern das war auch einer. Die alten Wiesbadener werden sich vielleicht daran erinnern; an diese leicht überdimensionierten Schilder auf dem Dach und auf den Seiten der Fahrzeuge: Ruhig – Geduldig: Manfred Hardel. In diesem Fahrinstitut habe ich meine automobilistische Matura erworben mit sehr viel Geduld auf beiden Seiten nach 32 Fahrstunden – das war einsamer Rekord, was unter anderem daran lag, das mein Papa – Gott hab ihn selig – das vorzeitige illegale Üben im Privat-PKW verweigert hat – auch mit dem Hinweis, als Jurist könne er das nicht verantworten und im übrigen sei ohnehin nicht zu erwarten, dass ich mit meinen natürlichen Anlagen zum Autofahren tauge.

Der Ruhe und der Geduld meines Fahrlehrers (und meiner eigenen) verdanke ich nicht nur den berühmten grauen Lappen, den heute noch das Bild des damals 19 Jährigen ziert, sondern auch die Merksätze des theoretischen Unterrichts, die den praktischen ergänzten; deren schönster mir heute noch in den Ohren klingt: „In der Fahrschule lernen Sie nicht fahren sondern bremsen“. Ruhig – geduldig!

Bremsen können und Geduld üben dürfte zu den Kernkompetenzen des heutigen Autofahrens gehören, nicht nur bei plötzlichen Wintereinbrüchen wie letzte Woche, sondern ganzjährig in Staus und verstopften Straßen, auch in unserer schönen Heimatstadt Wiesbaden – in der bekanntlich erst gerade ein kollektiver selbstquälerischer Impuls eine Verkehrsentlastung durch eine Straßenbahn ausgebremst hat. Das kann man konsequent und authentisch finden, wenn sich die Stadt des rückwärtsgewandten Historismus kraftvoll zurückwendet, muss man aber nicht – und bereuen werden es gerade wir Automobilisten bitter.

Wir, die Ausgebremsten: das könnte man ja überhaupt über dieses Jahr schreiben; Und Geduld üben, Geduld erstmal lernen – ist Jahresthema und Jahresaufgabe im Schatten der Seuche; hier in der Stadt und überall: urbi et orbi.

Ruhig – Geduldig: Das wissen Kranke und Leidende ja sowieso, müssen es als Ausgebremste ertragen, tragen es in ihrem Namen als Patienten: – der Geduldige und geduldig Leidende; der Wartende auf den Termin, im Wartezimmer auf die Behandlung, dann auf die Diagnose, dann mit etwas Glück auf Heilung oder doch zumindest Wiedereintritt in etwas, das man Alltag nennen kann.

Kranke haben eine deutlichen Mehrbedarf an Geduld. Eine Krankheit ist meistens auch eine Geduldsprobe; die Zeit erst heilt Wunden, viele zumindest; aber es braucht halt Zeit, nicht immer 100 Jahre, bis alles – Heile, Heile, Gänschen wieder – gut wird, aber eine gefühlte Ewigkeit eben doch – manchmal: bis das Treppensteigen geht, bis man wieder durchschnaufen kann, bis man seine Gliedmaßen wieder durchzählen und bewegen kann, bis ich wiederhergestellt bin, den Beruf ausüben, die Vergnügen pflegen, wieder Reisen kann, bis ich wieder hergestellt, belastbar und ganz gesund bin. Aber das ist keineswegs garantiert, das alles bin ich ja durchaus nicht immer nach einer Krankheit oder eben nicht ganz – und dann brauche ich wieder Geduld, neue Geduld, eine neue Art von Geduld, mich an meine Beschränkungen zu gewöhnen. Krankheit als Chance ist meistens eine dicke Lüge – aber Krankheit als Chance Geduld zu üben, nein als Zwang Geduld zu üben – da ist was dran.

Und gemeinsam Kranke, also wir im Schatten der Seuche brauchen allemal Geduld: Wir wünschen uns das alles weg und zwar möglichst schnell: Das Virus, die Krankheit, die Maßnahmen, die Einschränkungen – wer nicht gelernt hat seine Wünsche von der Wirklichkeit zu unterscheiden, setzt sich einen Aluhut auf den Kopf, reißt sich die Maske vom Gesicht und schimpft auf die Verantwortlichen: Magisches Denken. Demgegenüber ist mit dem großen Philosophen Bjarne Mädel festzuhalten: Wenn alle immer nur meckern, können wir sowas wie Corona eben nicht mehr machen (- das ist immer noch das beinahe Profundeste, was zur Seuche gesagt worden ist).

Geduld üben können setzt offensichtlich einen Reifeprozess voraus, der mich erkennen lässt, dass Seuchen ziemlich sicher mit der Zeit vorübergehen, aber auch so oder so vorübergehen, also ganz unterschiedlich erlitten werden können; dass sie viel Leid oder unermesslich viel Leid bringen; dass sie Naturkatastrophen sind, die auszuhalten sind, und eine Aufgabe für Menschen zugleich, die zu bewältigen ist.

Aushalten und Gestalten; damit haben wir den Kern einer vorläufigen Theorie der Geduld erreicht, den unser Predigttext durch zwei verschiedene Vokabeln abzubilden versucht: Der oft nicht sonderlich geschätzte Jakobusbrief – die stroherne Epistel wie Luther sagt – verwendet zwei unterschiedliche Wörter (das ist in der Übersetzung nicht erkennbar, die beide mit „Geduld“ übersetzt) und gibt uns damit eine Vorlage, zwei Aspekte der Geduld zu unterscheiden: Aushalten und Gestalten. Während die „Hypomonä“ das reine Aushalten, das bloße Geschehen lassen, das passive Leiden bezeichnet; könnte mit „Makrothymia“ – also eigentlich: „Langmut“ oder „Großmut“ – eine Annahme und Hinnahme, zwar durchaus Passivität, aber eher schöpferische Passivität gemeint sein, die die abgebremste Selbstbestimmung zumindest für eine selbstbestimmte Gestaltung der Zwangspause nutzen lässt.

Diese beiden unterschiedlichen Aspekte des Geduldig-Seins lassen sich ganz leicht veranschaulichen: Wenn etwa der Fahrschüler begreift, dass man die Lebensweisheiten des Fahrlehrers besser erträgt und kürzer ertragen muss, wenn man sich nicht nur berieseln lässt, sondern endlich fahren lernt. Oder wenn ich in der Schule den Schülern begreiflich zu machen versuche, dass sie die belästigende Zwangspause vom Leben, die für manche die Schule darstellt, paradoxerweise dadurch erträglicher mache, wenn ich mitmache: Plötzlich ist die Stunde rum. Und schon die Jüngsten – und ihre herausgeforderten Eltern – erleben beim Warten aufs Christkind: Je weniger ich am Tag des Heiligen Abends zu tun haben, desto größer ist die Langeweile, desto schwerer kann ich das Warten aushalten. Umgekehrt: Je vielfältiger mein Programm, desto schneller ist das Christkind da.

Wir warten auf das Christkind – ruhig – geduldig: Das war früher – also ziemlich lange früher – keine Geduldsprobe für Kinder, sondern das zentrale Problem des Frühchristentums: Parusiverzögerung – Verzögerung der Wiederkehr des Gottessohnes. Wo bleibt er nur, der Herr Jesus Christus? Wann kommt er wieder?

Statt darüber nachzugrübeln, was ihn aufhalten mag, empfiehlt Jakobus: So seid nun geduldig, Brüder und Schwestern, bis zum Kommen (Parusia) des Herrn. Das müssen wir jetzt aushalten, da müssen wir durch, aber wir können dieses Aushalten gestalten. Nicht nur rumsitzen und warten, sondern erwarten und tun.

Jakobus gibt uns im Zusammenhang seiner Geduldigkeitsrede gleich zwei wertvolle Tips zur schöpferisch passiven Gestaltung unserer Zeit der Geduld: Unmittelbar nach unserem Predigttext spricht Jakobus von der Kraft des Betens: Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn.  Denn: Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist. (Jakobus 5,13-16) Beten hilft und hat eine Kraft, die nicht erst heutzutage unterschätzt wird. Das etwas betuliche deutsche Wörtchen „ernstlich“ verfehlt das, was hier eigentlich steht, worum es dem Jakobus eigentlich geht; er will sagen, dass das Gebet Energie hat, die größer ist als die Worte und größer ist als ihr Sprecher, weil das Gebet durch Gott selbst energetisiert wird: Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es voller göttlicher Energie ist. Beten hat Power!

Und unmittelbar vor unserem Predigttext zeigt Jakobus wozu diese Energie befähigt; in einem flammenden Aufruf zur Gerechtigkeit, gegen den übermäßigen Reichtum der wenigen, gegen die Plutokratie, gegen den Raubtierkapitalismus der Antike und aller Zeiten, gegen die Herrschaft des als Gott verehrten Geldes, wendet er sich an die Wohlhabenden, an die Zuviel Habenden; etwa an uns? Wohlan nun, ihr Reichen: Weint und heult über das Elend, das über euch kommen wird! Euer Reichtum ist verfault, eure Kleider sind von Motten zerfressen. Euer Gold und Silber ist verrostet und ihr Rost wird gegen euch Zeugnis geben und wird euer Fleisch fressen wie Feuer. Ihr habt euch Schätze gesammelt in den letzten Tagen! Siehe, der Lohn der Arbeiter, die euer Land abgeerntet haben, den ihr ihnen vorenthalten habt, der schreit, und das Rufen der Schnitter ist gekommen vor die Ohren des Herrn Zebaoth. Ihr habt geschlemmt auf Erden und geprasst und eure Herzen gemästet am Schlachttag. Wow, wieder mal eine prophetische Brandrede wie aus dem Windkanal, die im Wesentlichen darauf hinausläuft, dass auf dem Streben nach Reichtum kein Segen liegt; dass man nicht zwei Herren dienen kann – nicht Gott und dem Mammon; und dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel gelangt, wie Jesus schon treffend bemerkte. Ist uns eigentlich klar, was das für einer ist, auf den wir da warten?

Beten und das Tun des Gerechten; das ist ein schönes Programm für die Zeit der Geduld, wenn schon die meisten Adventsvergnügen geschlossen sind; aber ein bisschen was fehlt doch noch, zum adventlichen Predigtglück, das uns der Jakobusbrief, diese stroherne Epistel nicht bietet, – der Text für den Nikolaustag, den wir heute ja auch feiern, aber sehr wohl: Der Prophet Jesaja blickt weit voraus in die Zeit, wenn Gott zu uns kommt, wie es dann sein wird. In aller Unbekümmertheit und Begeisterung ruft er es hinaus und erfindet dabei das schöne Wort von der guten Botschaft, das uns als das „Evangelium“ so wichtig und lieb ist:

Gott hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft (das Evangelium!) zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn und einen Tag der Rache unsres Gottes, zu trösten alle Trauernden. (Jesaja 61,1f.)

Das beziehen wir jetzt einfach mal auf unser nächstes Jahr, das ein gnädigeres Jahr werden möge als dieses und in dem es in Gottes Namen dem Virus so richtig an den Kragen geht, frei und ledig zu werden, zu trösten alle Kranken und Trauernden. Dann werden wir ein Fest feiern, das seinen Namen verdient und das wie jede echte Feier ein Vorgriff auf das große Fest sein wird, wenn Gott zu uns kommt. Dann werden wir mit Jesaja das besingen, was uns Jakobus mit Geduld zu erwarten rät:

Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt. Denn gleichwie Gewächs aus der Erde wächst und Same im Garten aufgeht, so lässt der Gott der Herr Gerechtigkeit aufgehen und Ruhm vor allen Völkern. (Jesaja, 61,10; vgl. Jakobus 5,7; s.o.)

Wir werden allen Grund haben uns im Herrn zu freuen! Amen.

Predigttext für den Ewigkeitssonntag, 22.11.2020

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.

Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.

Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiß!

Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.

Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn sein. (Offenbarung des Johannes 21,1-7)

Am Ende einen neuen Anfang erkennen. Im Tod das Leben sehen. In dieser Zeit Gottes Ewigkeit wahrnehmen.

In der Vision des Propheten Johannes, die wir heute als Predigttext zu bedenken haben, überwältigen die außerordentlich starken und lebendigen Bilder.

Die Welt vergeht und wird neu. Daß unsere Welt ein Ende haben wird, gehört ja zu den eher neueren Erkenntnissen der Naturwissenschaft. Hier wird sie in einer prophetischen Vision vorweggenommen – und gleichzeitig aufgehoben in Gottes Zusage und unsere Hoffnung, dass es eine neue, ganz andere Welt geben wird – durch Gott.

Die geheimnisvolle Wendung “Meer” bezieht sich übrigens auf die antike Vorstellung eines himmlischen Meeres, eines gläsernen Daches über der Erde, das Himmel und Erde voneinander trennt. Diese Trennung zwischen Himmel und Erde gibt es in Gottes Neuschöpfung nicht mehr.

Das Himmlische Jerusalem kommt auf die Erde. Die Heilige Stadt wird neu entstehen. Das war damals sicherlich historisch-politisch gemeint, da ja das Jerusalem der damaligen Zeit – also zu der Zeit des Propheten Johannes – nur mehr ein Ruinenhaufen war. Aber auch wir dürfen an die gegenwärtigen Zustände im Heiligen Land denken. Mit der Ewigkeit verknüpft sich die Hoffnung auf ein friedliches und schöpferisches Zusammenleben der Menschen, auf Heimat für alle.

Und außerdem steht Jerusalem als ideale Stadt für menschliche Kultur, für Bildung, für Kunst und Musik: „Jerusalem du hochgebaute Stadt, ich wollt ich wär´ in dir!“

Gott wird bei den Menschen wohnen. Die Trennung zwischen Himmel und Erde ist aufgehoben. Wir werden die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins erleben – wie es ein Freund des großen Theologen Schleiermacher formuliert hat. In allen visionären Beschreibungen von Gottes Ewigkeit für uns wird deutlich, dass das ewige Leben keine Verlängerung des irdischen Lebens ist. Wir gehen nicht irgendwohin, in kein Licht und keine Dunkelheit, wir werden nicht einfach verändert – sondern im Tod und durch den Tod hindurch, in dem wir ganz und gar vergehen, sind wir bewahrt bei Gott. Es ist keine menschliche Qualität, keine Eigenschaft in uns, auch keine unsterbliche Seele, wie die Griechen glaubten, die uns ewig leben ließe – sondern nur und ausschließlich Gott selbst. In ihm werden wir leben; die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins erleben. Das erste ist vergangen. Siehe ich mache alles neu, spricht Gott.

Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Das ist für mich das stärkste und tröstlichste aller Bilder des Johannes. In allem Weltgeschehen, in allem Weltvergehen und Neuschaffen, übersieht Gott unsere Tränen nicht. Wir weinen nicht umsonst. Wir bleiben nicht ungetröstet. Bei allem Großen, was Gott verrichtet, vergißt er die Kleinen nicht, nicht uns Menschen. Denn auch wenn wir an Gott glauben, auch wenn wir auf Gottes ewiges Leben hoffen, auch wenn wir unsere Verstorbenen bei Gott wissen – und wer könnte das so stark, und so fest und so unbeirrt, dass es da nicht auch Zeiten der Unsicherheit, der Anfechtung, des Zweifels geben würde:

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen – auch wenn wir also an Gottes ewiges Leben glauben und uns darauf – eigentlich – für uns selbst und unsere Lieben freuen können, auch dann bleibt der Schmerz über die Trennung, die Trauer über den Abschied, der Verlust von Gemeinsamkeit, auch dann bleiben unsere Tränen. Auch die, liebe Gemeinde, wird Gott abwischen.

Johannes, der Prophet, den wir uns als theologischen Freund des Evangelisten Johannes vorstellen können, hat in diesen und in einer Fülle von anderen Bildern der christlichen Hoffnung auf das ewige Leben bei Gott einen Ausdruck gegeben:

Der neue Himmel und die neue Erde,

Das neue Jerusalem,

Gottes Wohnung bei uns Menschen,

Sein liebevolles Abwischen unserer Tränen,

Mit diesen Bildern sollen wir unsere Vorstellungskraft bereichern, um uns das nicht Sichtbare, das nicht Erfahrbare und letztlich nicht Vorstellbare eben doch – annäherungsweise -vorstellen zu können.

Diese Bilder sind uns gegeben damit wir nicht bei dürren theologischen Begriffen bleiben müssen – und seien sie auch noch so gültig wie der von der unmittelbaren Gegenwart des ganzen, ungeteilten Daseins. Nicht jeder muß sich für solche Begriffe begeistern, aber wer würde nicht verstehen, worum es geht, wenn er das Bild – das mütterliche Bild – vor sich hat, dass unsere Tränen abgewischt werden.

Diese Bilder des Johannes sind wahr. Sicherlich in anderer Weise wahr als Erfahrungswissen und mathematische Formeln wahr sind.

Sie sind wahr, weil sie sich als gültiger Ausdruck unserer Hoffnung erwiesen haben.

Sie haben sich in der Konkurrenz der Bilder durchgesetzt – als lebensfreundlich und lebensfördernd. Es gibt ja – wie wir wissen auch ganz andere Vorstellungen vom Jenseits, die eher Lebensverachtung und Lebensfeindschaft verbildlichen, oder sogar Gewalt und Dominanz beinhalten.

Die Bilder des Johannes sind überdies auch wahr, insofern sie mit dem übereinstimmen, was wir sonst von Gott wissen dürfen, dem Gott des Lebens und der Liebe. So ist der liebende Gott, dass er unsere Tränen abwischt, uns ein neues Zuhause gibt uns niemals loslässt.

Eine endgültige Bewahrheitung dieser Bilder steht allerdings noch aus. Die werden wir – so Gott will – erleben. Schon jetzt dürfen wir darauf hoffen.

Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!

Am Ende einen neuen Anfang erkennen. Im Tod das Leben sehen. In dieser Zeit Gottes Ewigkeit wahrnehmen.

In ihm sei´s begonnen,/ der Monde und Sonnen/an blauen Gezelten/ des Himmels bewegt!

Du Vater, du rate,/ lenk du und wende!

Herr, Dir in die Hände/ sei Anfang und Ende,/ sei alles gelegt. (Eduard Mörike)

Amen.

Predigttext für Buß- und Bettag, 18. November 2020

Höret des HERRN Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unsres Gottes, du Volk von Gomorra! Was soll mir die Menge eurer Opfer? spricht der HERR. Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von Mastkälbern und habe kein Gefallen am Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke. Wenn ihr kommt, zu erscheinen vor mir – wer fordert denn von euch, daß ihr meinen Vorhof zertretet? Bringt nicht mehr dar so vergebliche Speisopfer! Das Räucherwerk ist mir ein Greuel! Neumonde und Sabbate, wenn ihr zusammenkommt, Frevel und Festversammlung mag ich nicht! Meine Seele ist feind euren Neumonden und Jahresfesten; sie sind mir eine Last, ich bin’s müde, sie zu tragen. Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut. Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen, laßt ab vom Bösen! Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schaffet den Waisen Recht, führet der Witwen Sache! (Buch des Propheten Jesaja 1,10-17)

Was für ein Text! Wie ein Herbststurm bläst und pustet er uns an, wie ein Faustschlag in unsere fromm tuenden Gesichter. Da bleibt einem erstmal die Luft und die Spucke weg. Rücksichtsvoll geht anders. Ein bisschen verblümter wäre schon schön. Aber nein: Der Prophet und sein Herr – unser Herr – reden Klartext, unüberhörbar. (Im englischen Fußball spricht man vom Hairdryer-Treatment, mit dem etwa der legendäre Sir Alex Ferguson seine Leute von Manchester United regelmäßig in der Kabine zusammenstauchte, wenn sie sich nicht richtig ins Zeug gelegt hatten. Wäre vielleicht auch etwas für den allzu lieben und selbstverliebten Jogi, um unsere Jungs wieder ans Laufen zu kriegen, aber lassen wir das.)

Gott selbst stellt Feiertag und Gottesdienst lautstark in Frage, bezweifelt ihre Systemrelevanz, fordert den Lockdown. Also nicht erst fürsorgliche Regierungen unserer Zeit, die den Buß- und Bettag für die Pflegeversicherung opfern und Gottesdienste wie im Frühjahr unter Quarantäne stellen, – nicht nur die schließen die Gotteshäuser, sondern Gott selbst sagt: Ich hab es satt! Und er scheint es ernst zu meinen.

Meint er es ernst? Davon sollten wir ausgehen – und nicht zu schnell auf die Gnade des gnädigen Gottes spekulieren, der alles – und noch die größte Missetat – einfach so zudeckt. Das hat Dietrich Bonhoeffer gemeint, wenn er vor der billigen Gnade gewarnt hat.

Rhetorisch brillant zählt Jesaja alles auf, was die Herren von Sodom und Gomorra – also wir – gerne lassen können, das ganze fromme Getue, die gefalteten Hände, den demütigen Blick: Was soll das, wenn wir es ja doch nicht ernst meinen? Und wenn ihr auch eure Hände ausbreitet, verberge ich doch meine Augen vor euch; und wenn ihr auch viel betet, höre ich euch doch nicht; denn eure Hände sind voll Blut.

Bei diesem Wutausbruch belässt es Gott aber nicht. Sondern nutzt die Gelegenheit, um es uns mal wieder mitzuteilen, worum es ihm geht mit uns, nämlich: den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Wer ist mein Nächster: der Schwache, der meiner Hilfe bedarf. Im Grunde ist die ganze Bibel ein großes Plädoyer gegen das Recht der Stärke; gegen das Recht des Stärkeren, für die Rücksicht auf die Schwachen: Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schaffet den Waisen Recht, führet der Witwen Sache! Das Tun des Guten zeigt sich biblisch an der Hilfe für die Schwachen.

Und damit sind wir bei dem Thema, bei dem wir gegenwärtig sowieso immer sind. Auch in der Coronakrise muss unser Handeln – und soweit wir da mitreden dürfen, das Handeln in Staat und Gesellschaft – die Schwachen und Anfälligen im Blick behalten. Wir kommen nur so gut durch die Krise wie es unsere Schwächsten tun: die Alten, die Vorbelasteten, auch die Kinder, auch die Armen.

Misstrauen ist angebracht, wenn also zugunsten der „Wirtschaft“ – wer oder was das auch immer sei – die Alten in ihre Häuser und Heime weggesperrt und die Kinder in die Schule zusammengesperrt werden sollen. Abgesehen davon, dass sich kein Jüngerer sicher sein kann, von der Seuche nicht behelligt zu werden, dürfen die Alten nicht unserer Freiheit und unserem Lebensstil geopfert werden.

Ohne den Schutz der Schwächeren, für den wir uns einsetzen sollen, haben unsere Feiern des Glaubens und unsere Feste der Erbauung, unsere Gottesdienste keinen Sinn. Der, an den sie sich richten, hat sie satt: Frevel und Festversammlung mag ich nicht. Spricht Gott der Herr. Amen.

Predigttext für den Drittletzten Sonntag im Kirchenjahr, 8. November 2020

Von den Zeiten aber und Stunden, Brüder und Schwestern, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen: »Friede und Sicherheit«, dann überfällt sie schnell das Verderben wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entrinnen.

Ihr aber seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. Denn die da schlafen, die schlafen des Nachts, und die da betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil. Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, die Seligkeit zu besitzen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. Darum tröstet euch untereinander und erbaue einer den anderen, wie ihr auch tut. (1. Brief des Paulus an die Thessalonicher 5,1-11)

Wer meine Älteste fragt, was ihr die liebste Jahreszeit und der liebste Monat sei, dann antwortet sie im Frühling, dass es der Frühling ist – und im November dass es der November ist. Als unerschütterlich positiver Mensch – von mir Miesepeter hat sie das nicht – als Kind des Lichts kann sie die Zeiten nehmen und lieben, wie sie kommen – und natürlich hat sie recht damit, denn auch ein Spaziergang im herbstlichen Nebel, in dem sich die Bäume verflüchtigen, ist an sich und unvergleichlich schön – und in der tiefstehenden Novembersonne doch auch oder noch mehr; und wenn dann noch die Kraniche ziehen zu Tausenden über Stadtwald und Stadt hinweg mit ihrem weitdringenden Trompetenruf, ihrer perfekten Flugordnung, die sich auch auflösen kann in Treffen der verschiedenen Teilschwärme in wilden Kreisen und Begegnungen mit scheinbar noch lauteren und wilderen Rufen, tagelang, stundenlang wie in dieser Woche – dann lässt sich unsere Welt doch gar nicht anders als gute Schöpfung verstehen, in der die Natur und wir in ihr wohlgeordnet sind: Ordnung, „Friede und Sicherheit“. So kann es bleiben – aber so bleibt es oft nicht.

Der Zug der Kraniche ist seit alters als Zeichen gedeutet worden – als Glücksbringer im Frühling, als Winterboten im Herbst – in Ermangelung vermeintlich besserer Vorhersagen; aber auch das haben wir in dieser Woche gelernt, das Demoskopen mit ihren Prognosen danebenhauen können und den hohen Anspruch, den sie in ihren vornehmen Bezeichnungen hochtrabend gräzisieren – der Demoskop ein „Volksseher“, also so eine Art gesellschaftlicher Prophet und seine Prognose ein „Vorwissen“ – auch diesmal nicht einlösen. Dann doch lieber Kaffeesatzlesen oder der Flug der Kraniche.

„Sieh da, sieh da Timotheus, die Kraniche des Ibikus!“ Bei Friedrich Schiller – den man als Jugendlicher, der seine Ballade auswendig lernen sollte, nicht lieben musste – wird sehr schön deutlich, dass Schicksalzeichen, als welche die Kraniche gesehen werden, überaus vieldeutig sind: die Mörder entlarven sich selbst durch diesen Ruf und bekommen ihre Strafe, die Tat wird vergolten, und die Gesellschaft erlebt ihre Welt als moralisches Universum, in der Gerechtigkeit über den Tod hinaus regiert.

„Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ heißt es anderswo beim selben Schiller zum selben Thema und wir können davon ausgehen, dass Schiller seinen Paulus kannte, wie wir unseren Schiller kennen – also vielleicht nicht ganz textsicher, aber doch so, dass wir die Pointe drauf haben: „Zwei Blumen für den weisen Finder,/ Sie heißen Hoffnung und Genuß./ Wer dieser Blumen Eine brach, begehre/Die andre Schwester nicht./ Genieße, wer nicht glauben kann. Die Lehre/ Ist ewig wie die Welt. Wer glauben kann, entbehre./ Die Weltgeschichte ist das Weltgericht./ Du hast gehofft, dein Lohn ist abgetragen,/ Dein Glaube war dein zugewog´nes Glück./ Du konntest Deine Weisen fragen,/ Was man von der Minute ausgeschlagen,/ Gibt keine Ewigkeit zurück.“( Schiller, Resignation)

Nur dass Paulus nicht zwei Lebensentwürfe wie bei Schiller („Zwei Blumen“: das Leben in Hoffnung und Glauben und das Leben im diesseitigen Genuß) gleichwertig nebeneinanderstellt, sondern aufs Entschiedenste den ersten befürwortet: Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, um so den Tag des Herrn also das Weltgericht zu erwarten. Mit dieser eindeutigen Wertung, sagt Paulus auch, dass trotz aller ausgleichenden Gerechtigkeit, die auch schon in dieser Welt geschieht – vielleicht einfach so, dass sich manche Tragödien als Farce wiederholen und damit aufheben (wie wir es gerade in Amerika erleben) – diese weltliche Gerechtigkeit nicht reicht (auch in Amerika werden die tiefen Wunden, die ein böser und dummer Präsident geschlagen hat, nur in tiefen Narben verheilen) sondern erst Gott am Ende Gerechtigkeit schaffen wird. Nach Paulus ist die Weltgeschichte eben nicht schon das Weltgericht – das steht noch aus.

Und das entlastet uns übrigens auch von Fehlzuschreibungen und Missdeutungen, Tyrannen für göttliche Werkzeuge und Seuchen für göttliche Strafen zu halten. Wir sollen und brauchen nicht Gott in die Schuhe schieben, was durch die Bosheit der Menschen und den Gang der Natur ganz gut zu erklären ist. Genauso wenig wie wir im Weltgeschehen einzelnen Geschehen das Gericht Gottes zuschreiben können, sollen wir über Zeiten und Stunden spekulieren, wann es den anbricht: Denn der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht.

So ist mit dem heutigen Paulustext eine klare Wahlempfehlung zu machen: Lebt als Kinder des Lichts, Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, die Seligkeit zu besitzen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. Darum tröstet euch untereinander und erbaue einer den anderen, wie ihr auch tut.

Und dass das Leben als Kinder des Lichts auch ungemütlich sein kann, wusste Paulus, hat es ja selbst in einem bewegten Leben erlebt und verschweigt es uns auch hier nicht: Zieht euch warm an! (Nicht nur im November, nicht nur in der ungeheizten Kirche.) Legt euch an den Panzer des Glaubens und der Liebe und den Helm der Hoffnung auf das Heil! Tragt die Maske – würde er zweifellos heute sagen. Und sagt ja zu dem Leben, dass uns Gott gegeben hat – auch im traurigen Monat November, wenn die Kraniche nach Deutschland hinüberziehen. Amen.

Predigttext für den 21. Sonntag nach Trinitatis, 1. November 2020

Dies sind die Worte des Briefes, den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte …

So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu allen Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen: Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl. Denn so spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Lasst euch durch die Propheten, die bei euch sind, und durch die Wahrsager nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen! Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Ich habe sie nicht gesandt, spricht der HERR.

Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe. Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung. Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich will euch erhören. Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

(Buch des Propheten Jeremia 29,1-14*)

Suchet der Stadt Bestes! Das ist – liebe Schwestern und Brüder – seit langem der Schlüsselbeleg aus der Bibel für das gesellschaftliche Engagement der Christen, für ein politisches Christentum – und gegen den stillen Rückzug in die fromme Ecke. Uns wird folglich heute eine politische Predigt zugemutet – mir sie zu halten, Euch sie zu hören und zu ertragen.

Suchet der Stadt Bestes! Schon seit Jeremias Zeiten werden die Gläubigen dazu aufgerufen, nicht nur auf Erlösung und das Reich Gottes zu warten – das auch! – sondern die irdischen Reiche mitzubauen und mitzugestalten. Christen sind nicht neutral in gesellschaftlichen Fragen, keine Idioten im eigentlichen Sinne dieses schönen griechischen Wortes, das ursprünglich den politisch desinteressierten, unwissenden Menschen bezeichnet, der sich dem demokratischen Prozess und damit der Verantwortung für die gemeinsame Sache verweigert. (Insofern trifft übrigens die Wortschöpfung „Covidiot“ haargenau die, die sich der gesellschaftlichen Verantwortung verweigern, die sich aus der Corona-Seuche ergibt.)

Suchet der Stadt Bestes! Es lohnt sich – wie immer – auf den genauen Wortlaut dieser prophetischen Empfehlung zu achten: Da steht ja nicht: Suche dein Bestes! Was ja vielleicht im günstigsten Fall die liberale Illusion bezeichnen würde, dass, wenn alle ihr eigenes Glück anstreben (im berühmten „pursuit of happiness“), das gemeinsame Glück entsteht; eine Illusion ist das deshalb, weil natürlich die Starken ihre Vorstellung von Glück und Gut weit eher verwirklichen können als die Schwachen. Wenn alle in Freiheit ihrem Glück nachstreben, herrscht das Recht des Stärkeren. Deshalb fordert der Prophet eben nicht mein Bestes sondern das Beste der Stadt zu suchen: Gemeinwohl vor Eigennutz!

Dazu gibt es ein schönes aktuelles Beispiel: In einem Gesprächskreis lange vor Corona kamen wir auf die Wiesbadener Citybahn zu sprechen und ich musste zu meiner Verwunderung feststellen, dass man auch dagegen sein kann. Es mag Gründe für beide Meinungen geben, aber das in diesem Gespräch immer wieder geäußerte Argument „Ich brauche sie nicht“ ist – aus christlicher Sicht – keins, zumindest kein gutes. Denn es ist natürlich demokratisch legitim, in politischen Entscheidungen dem eigenen Nutzen zu folgen. Aber der christliche Glaube verlangt mehr, nämlich die Orientierung am Gemeinwohl: Suchet der Stadt Bestes! – Wobei natürlich zumindest theoretisch denkbar wäre, dass auch die Orientierung am Gemeinwohl gegen die Bahn spräche. Bevor wir das Kreuzchen heute machen, müssen wir das prüfen.

Übrigens meint das hebräische Original des Prophetenwortes noch etwas viel Besseres als bloß „das Beste für die Stadt“, indem es nämlich sagt, was das Beste ist: Dirschu et-Schalom ha-Ir! Heißt eigentlich: Sucht den Frieden, das Wohl, das Heil der Stadt. Der biblische „Schalom“ ist weit mehr als Abwesenheit von Gewalt und Krieg – das natürlich auch. Er meint den gelungenen Ausgleich der verschiedenen Kräfte und Interessen, das gemeinsame Wohl von Menschen und Tieren, Heil und Leben aller vor einem wohlwollenden Gott. Sucht das Wohl der Stadt!

Dabei hätte Jeremiah doch eigentlich allen Grund, eine andere Botschaft in die Stadt Nebukadnezars, des grausamen Feldherrn und Eroberers, zu senden; eine andere Botschaft in die Stadt Babylon, die noch uns Heutigen ein Symbol der Verkommenheit und des Verfalls ist: „Babylon Berlin“; eine Stadt, in die die Israeliten verschleppt wurden, deportiert, ihrer Heimat, ihres bisherigen Lebens beraubt.

Denkbar oder sogar naheliegend wären doch Botschaften des Zorns und der Selbstbehauptung, der Beschwörung der eigenen Identität (übrigens dieselbe sprachliche Wurzel wie Idiot!) in der fernen Fremde – wie es auch heutzutage gelegentlich die Präsidenten der Herkunftsländer von Migranten und Exilierten tun. Denkbar wäre doch zum bloßen Durchhalten aufzufordern, zum Abgrenzen, zum Abschotten und Desintegrieren, um Parallelgesellschaften zu bilden und dann bei der ersten, besten Gelegenheit wieder zurückzukehren. Was geht mich das Wohl der Stadt an?

Anders Jeremia, der ahnt, der weiß, dass das Exil lang sein wird – kein Sprint sondern ein Marathon, in den man sich einrichten muss. Von 70 Jahren ist die Rede. Auch in diesen siebzig Jahren in der Fremde soll – so sagt es der Prophet – gelebt und geliebt werden, sollen Familien gegründet, Häuser gebaut und Felder bestellt werden, soll das Leben gestaltet und das gemeinsame Wohl gesucht werden.

– So wie das Millionen Einwanderer, also Millionen unserer italienischen, spanischen, polnischen und türkischen – und so vieler anderer eingewanderter – Landsleute seit beinahe 70 Jahren in unseren Städten tun – im privaten und im gesellschaftlichen, im sportlichen, kulturellen und kulinarischen, im politischen Leben, auch in Forschung und Medizin: Die Virologin aus Hamburg und der Impfforscher aus Mainz sind ja nur die gerade jetzt besonders sichtbaren Beispiele von Medizinern und Forschern mit Migrationshintergrund. (Und es ist auf eine sehr dialektische Weise – passend zum Hegeljahr?! – tröstlich, dass einer der Autoren eines Spiegelcovidiotenbestsellers ursprünglich von sehr weit her kommt: Wer so was schreibt, und wenn das dann auch noch gelesen wird, der hat es in seiner neuen Heimat weit gebracht.)

Manchmal übersehen wir das alles, was doch überwiegend gelingt, beim Betrachten der Migrationsprobleme, die es auch gibt, wohl geben muss – und die uns in diesen Tagen im Blick auf Frankreich zutiefst verstören und quälen. Auch Babylonier und Israeliten werden sich bisweilen bekämpft haben. Dennoch sagt der Prophet: Suchet gemeinsam der Stadt Bestes! Was wäre denn die Alternative?

Spricht unser Prophet auch in unsere aktuelle besondere Zeit der Corona-Krise und der Seuchen-Angst? Na klar, wie denn nicht? Vor den Falschsagern und Leugnern wird ausdrücklich gewarnt: Lasst euch von den Wahrsagern nicht betrügen, und hört nicht auf die Träume, die sie träumen! Denn sie weissagen euch Lüge in meinem Namen. Nein, das Virus geht nicht weg, wenn wir es leugnen.

Und morgen beginnt dann also wieder ein Monat des inneren Exils vom gewohnten Leben – auch kein Sprint sondern Marathon, aber – da lege ich mich fest – ganz bestimmt keine 70 Jahre. Auch in diesen Wochen und Monaten der neuerlichen Distanzierung, der Vereinzelung und Trennung, die vor uns liegen, sollen wir – so ermuntert und ermutigt uns der Prophet – leben und lieben, Familien gründen, Häuser bauen – wenn man durch Wiesbaden fährt, wenn’s denn mal weitergeht vor lauter Staus, hat man den Eindruck, dass noch nie so viel gebaut wurde wie gerade jetzt – Felder bestellen, lernen und forschen – gerne auch nach guter Medizin – und das Wohl der Stadt suchen: Suchet der Stadt Bestes!

Der Prophet – und das muss uns nun nicht wirklich überraschen – traut der Religion in dieser Sache besonders viel zu; sie ist nicht nur systemrelevant sondern mehr als das, denn sie soll ja das System tragen und erneuern (auch sich selbst reformieren, darüber wäre gestern zu reden gewesen): wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR. Wir sind als Gemeinden dankbar, dass wir anders als im Frühjahr weiterhin gemeinsam auf die Suche nach Gott gehen und Gottesdienste feiern können, in aller Verantwortung und bei aller Vorsicht, versteht sich.

Der Prophet endet mit einem geradezu überschwänglichen Wort der Hoffnung, das wir auch auf uns beziehen dürfen: Es wird alles gut, also zumindest so gut wie es vorher war, wie es in diesem Leben sein kann. Auch wir werden nach dem Corona-Exil in unser früheres Leben zurückkehren:

Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung… und ich will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch habe wegführen lassen.

Amen.

Predigttext für den 20. Sonntag nach Trinitatis, 25. Oktober 2020

Und es begab sich, dass er am Sabbat durch die Kornfelder ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat. (Markusevangelium 2,23-28)

Desperate times call for desperate measures. Notzeiten erfordern Notmaßnahmen. Es kann nicht verwundern, dass diese Redensart im Zusammenhang von Krankheit und Heilung entstand und dem griechischen Arzt Hippokrates zugeordnet wird, genau! – dem mit dem Eid. Notzeiten erfordern Notmaßnahmen. Passt zur Pest; passt sehr in unsere Corona-Zeit.

Und der notwendige Streit um die hoffentlich notwendenden Maßnahmen geht immer auch um die Frage, ob und wie sehr wir uns in einer Notzeit befinden. Wer nicht einsieht, wer nicht einsehen kann, dass jetzt Notzeit ist, wird auch die Notwendigkeit besonderer Maßnahmen nicht einsehen können. Das lässt sich tagtäglich in Presse, Funk und Fernsehen vernehmen, wenn der sich seriös gebende journalistische Arm der Covidioten und Leugner das Recht von Partys, offenen Schulen und der nicht zu störenden Wirtschaft lautstark gegen die Wirklichkeit der Seuche auflehnt. Aber wer soll unterrichten, wenn die Lehrer krank sind? Und wer soll arbeiten und kaufen, wenn die Käufer und Arbeiter mit der Seuche im Bett oder im Grab liegen?

Wer Hunger nicht kennt, wird den Mundraub der Jünger am Sabbat nicht verstehen. („Die hätten ja wirklich mal einen Tag hungrig ins Bett gehen können.“ Oder: „Wer kein Brot hat, soll halt Kuchen essen!“) Und wer Corona für eine Art Grippe hält, wird im Leben nicht verstehen, dass anders als in Grippezeiten nun zumindest zeitweilig andere Regeln gelten müssen und also das öffentliche Leben abgeschlossen und ruhig gestellt werden muss unter Einschränkung gleich mehrerer Grund- und Menschenrechte; um der Menschen (und dieser Rechte!) willen. Denn Rechte und Gesetze sind um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um der Rechte und Gesetze willen – wie Jesus schon sehr richtig insistierte. Was hülfe es dem Menschen, seine Freiheit zu gewinnen aber sein Leben zu verlieren? (Wie Jesus nicht sagte – aber meinen könnte; vgl. Markus 8,36)

Kein Wunder, dass solche Berufung auf ein höheres Recht in einer Notsituation umstritten ist und insbesondere bei Juristen, den eigentlichen Hütern der Gesetze, umstritten ist – auch in dieser Situation, obwohl es ja ein Seuchenschutzgesetz gibt, das Eingriffe in Bürgerrechte zu Notzeiten vorsieht. Wobei ich es unglücklich finde – und beinahe einen Kategorienfehler, dass gerade mehr und mehr seuchenpolitische Maßnahmen vor Gerichten entschieden werden: also etwa die Mundschutzpflicht im Unterricht oder Quarantänebestimmungen für Hotspots mit offenkundig fragwürdigen Urteilen. Das sind doch politische Entscheidungen aufgrund von medizinischen Sachverhalten, die Juristen nicht und schon gar nicht besser beurteilen können (genauso wenig natürlich die Theologen).

Dieses juristische Vorgehen dürfte dem Verlangen folgen, möglichst keine rechtsfreien Räume oder rechtlich unbestimmte Situationen zuzulassen. Das zeigt sich etwa im Widerstand gegen ein „Widerstandsrecht“ gegen Maßnahmen des Staates oder in der Abschaffung des Mundraubparagraphen im Strafgesetzbuch vor nicht allzu langer Zeit. Beides – ein „Widerstandsrecht“, das es juristisch nicht gibt, wie auch die Idee eines „Mundraubs“, den es zumindest mal gab – hat nicht zufällig eine gewisse Relevanz in kirchlichen oder auch nur christlich inspirierten Diskussionen – wenn wir an Kirchenasyl für Flüchtlinge, an Waldbesetzungen wie aktuell im Dannenröder Forst oder an das Containern, also das Verwerten von weggeworfenen Lebensmitteln in Müllcontainern vor Supermärkten denken, die allesamt – juristisch – strafbewehrte Vergehen sind, und andererseits – theologisch – gleichsam prophetische Zeichenhandlungen sein können, die sich auf eine höhere Gerechtigkeit berufen: nämlich Menschenwürde und Menschrechte, Bewahrung der Schöpfung und Nachhaltigkeit im Umgang mit natürlichen Ressourcen. Es scheint da eine prinzipielle Spannung zwischen rechtlichen und religiösen Argumenten zu geben. (Unsere rechtskundigen Ausbilder im Fach Kirchenrecht ließen keine Gelegenheit aus, um unsere Begriffsstutzigkeit in juristischen Fragen herauszustellen, während wir Theologen uns immer noch mit dem bösen Spott trösten, dass noch nie ein Jurist vom Paulusplatz einen Rechtstreit für sich entscheiden konnte – was vermutlich nicht stimmt.)

Auch die Pharisäer in unserer Geschichte treten nicht nur oder nicht zuerst als religiöse Konkurrenten auf sondern als rechtskundige Schriftgelehrte, die eine Befolgung des 3. der 10 Gebote fordern: „Du sollst den Feiertag heiligen!“ – unter Verkennung der Notsituation, auf die Jesus in seiner Replik ausdrücklich abhebt: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte? Es gibt also einen Präzedenzfall im Alten Testament: Der berühmte König David hat auch in einer Notsituation als ihn hungerte gegen Gottes Gebot verstoßen.

Jesus verweist interessanterweise auf David und nicht auf die allgemeine Erlaubnis zum Mundraub aus Not, die sich ebenfalls im Alten Testament findet: „Wenn du in deines Nächsten Weinberg gehst, so darfst du Trauben essen nach deinem Wunsch, bis du satt bist, aber du sollst nichts in dein Gefäß tun. Wenn du in das Kornfeld deines Nächsten gehst, so darfst du mit der Hand Ähren abrupfen, aber mit der Sichel sollst du nicht dreinfahren.“ (5. Mose 23,23f. Man kann es bedauern, dass der Mundraubparagraph aus dem Strafgesetzbuch getilgt wurde. Es ging in diesem Bezug zur Bibel nicht so sehr um die Beschwichtigung eines Bagatelldelikts – auch Mundraub wurde bestraft aber geringer als Diebstahl – sondern um das Eingeständnis, dass das Eigentumsrecht der einen nicht in jedem Fall über der Not der anderen steht. Das dreiste Mitgehenlassen z.B. von Trauben im reifen Rheingauer Weinberg oder die heimliche Ernte von fremder Leute Quitten war damit eh nie gemeint; aber vielleicht das übriggebliebene, schon angewelkte und heimlich aufgefutterte Käsebrötchen, das mittlerweile den Job kosten kann.)

Es geht in unserer Jesusgeschichte nicht einfach um Mundraub aus Not sondern um Mundraub aus Not am Sabbat – also an dem Tag der Woche, an dem sich die Glaubenden an Gottes Schöpfung erinnern sollen, als noch alles gut und kein Mangel war: „Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.“ (2. Mose 20,11) Wie an den Heilungen am Sabbat, die ähnliche Konflikte mit den Pharisäern als Hütern des Rechts provozieren (über die Frage: Darf man am Sabbath medizinische Dienstleistungen erbringen? – Nein! [was sich Gottseidank geändert hat] Darf Jesus am Sabbath heilen, um das Heil Gottes zu zeigen? – Ja!), so stellt Jesus zeichenhaft prophetisch in seinen Reden und Wundern dar, wie Gott seine Schöpfung gemeint hat und wie sein Reich sein wird. In seinen Handlungen stellt Jesus die Schöpfungsordnung dar – und wieder her!

Zum Sinn der Schöpfung gehört nach Meinung der Bibel der Mensch und seine besondere Würde und Stellung: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. Der Mensch ist also nicht Mittel sondern Zweck, nicht Objekt sondern Subjekt. Darin liegt seine Würde.

Wenn Notzeiten besondere Notmaßnahmen erfordern, was sie tun! – wir erinnern uns: desperate times call for desperate measures – dann aber nicht in der Weise, dass vom Goldstandard religiösen und juristischen Redens vom Menschen abgewichen würde: der Menschenwürde.

Das Schreckliche an der Corona-Seuche ist nicht, dass Menschen erkranken, leiden und sterben – das tun sie, also wir, alle Tage (schrecklich genug!). Sondern das Schreckliche ist, dass Menschen in dieser Notsituation ihrer Würde beraubt werden – während der Frühjahrsausbrüche in Sterbehallen ohne Versorgung oder Begleitung selektioniert nach Wahrscheinlichkeit ihres Überlebens wie in Norditalien, in Spanien oder New York; oder wenn die schwachen Alten in Scharen aufgegeben werden ohne auch nur den Versuch der Behandlung wie im Corona-Wunderland Schweden (Meine Schwester, die dort lebt, kann sich aufregen über die Politik dort und die Berichterstattung darüber hier.)

Und das Skandalöse an den Corona-Debatten (also an denen, die sich seriös geben; die anderen sind ohnehin indiskutabel) ist das Werten und Abwerten von Menschenleben: Wie viele 90jährige Leben wiegen meinen Partyspaß auf? Auf wie viele Menschenleben meine ich verzichten zu können, um vorübergehende Schließungen des öffentlichen Lebens zu vermeiden, damit die Wirtschaft brummt? Welches Risiko kann ich Schülern und Lehrern zumuten, um die Schulen offen zu halten?

Den Vogel hat neulich der Chef der Süddeutschen Zeitung abgeschossen, als er die ohnehin gebeutelten Kirchen und ihre Vertreter für ihre Coronareaktion verächtlich gemacht hat und sie wegen der Kirchenschließungen über Ostern der Feigheit bezichtigt hat, ohne das Offensichtliche zu erkennen und zu nennen: nämlich dass sie – also wir – mit den Schließungen unsere Mitglieder und Besucher beschützt haben. Sonntag und Gottesdienst stehen nicht über Schutz und Würde des Menschen – meint jedenfalls Jesus:

Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat. Amen.

Predigttext für den 19. Sonntag nach Trinitatis, 18. Oktober 2020

Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.

Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind. Zürnt ihr, so sündigt nicht; lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen und gebt nicht Raum dem Teufel. Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite und schaffe mit eigenen Händen das nötige Gut, damit er dem Bedürftigen abgeben kann. Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Gnade bringe denen, die es hören. Und betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung. Alle Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung seien fern von euch samt aller Bosheit. Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus. (Brief an die Epheser 4,22-32)

Gibt es ein Menschenrecht auf Party? Eher nicht – andererseits steht in einem der wichtigsten Texte zum Thema in christlich-aufklärerischem Geist das „Streben nach Glück“ ausdrücklich neben und nach „Leben“ und „Freiheit“ als den unveräußerlichen Rechten eines jeden Menschen („We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776).

Man konnte beinahe – liebe Schwestern und Brüder, liebe Gemeinde – beinahe den Eindruck bekommen, als sei das wichtigste Thema in dieser Zeit und das höchste Recht des Menschen, insbesondere des jungen Menschen – aber fühlen wir uns nicht alle jung, zumindest jünger als wir sind – als sei es das wichtigste Thema und Menschenrecht, dass der Mensch Spaß habe und feiere. Selbst gemeinhin seriöse Zeitschriften ließen ihre Edelfedern spitzen, um das Recht auf Party der feiernden Jugend gegen das Recht auf Leben von 90jährigen abzuwägen; ja es wurde vor einem neuen Biedermeier gewarnt, wenn nun womöglich für ein paar Wochen das lustige Treiben in Parks und Clubs der Hauptstadt und anderswo coronahalber einzuschränken wäre. Geht’s noch? Selbst dem Feierwütigsten müsste doch bei vorübergehender Nüchternheit einleuchten, dass Lebensrecht vor Feierrecht geht und Lebensschutz vor Partyschutz – sagt einer, der selbst der 90 deutlich näher als der zwanzig ist, also doppelt: aus Befangenheit und aus Betroffenheit. Zudem geht es ja nicht um das Ende der Party sondern nur um ihre Unterbrechung bis zum Ende der Seuche.

Allerdings könnte man doch auch schon fragen, was das eigentlich soll, was für eine Idee des Feierns (und also des Glücks, bzw. des Strebens nach Glück) diese Partykultur steuert, die sich nicht unterbrechen lassen will und nicht unterbrechen lassen kann. Aber vielleicht ist da gar keine Idee sondern bloß Lustprinzip und Spaßbefehl, reiner triebgesteuerter Hedonismus, den auch der Autor unseres Briefes meint und vor dem er warnt, wenn er von zugrunde richtenden, trügerischen Begierden spricht, oder in den Zeilen davor mahnt, nicht wie die Heiden zu leben „in der Nichtigkeit ihres Sinnes. Ihr Verstand ist verfinstert, und sie sind entfremdet dem Leben, das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, die in ihnen ist, und durch die Verstockung ihres Herzens. Sie sind abgestumpft und haben sich der Ausschweifung ergeben, um allerlei unreine Dinge zu treiben.“ (Epheser 4,17-19) Verfinstert, entfremdet, verstockt, abgestumpft – zugedröhnt, würde man heute sagen – , der Ausschweifung ergeben – hier drückt jemand ordentlich auf die Spaßbremse.

Man nimmt an, dass Paulus und seine Schüler hier nicht nur einem spießig biedermeierlichen Ressentiment folgen, sondern auch auf Verdächtigungen der heidnischen Umwelt gegen die christliche Gemeinde reagieren, galt doch der Kultstifter Jesus als „Fresser und Weinsäufer“ (Matthäus 11,19) und der Geburtstag der Kirche konnte von Außenstehenden als Trinkgelage missverstanden werden („Sie sind voll des süßen Weins“ Apostelgeschichte 2,13).

Der in der Antike berühmt berüchtigte Bacchanalienskandal lag zwar einige Generationen zurück aber lastete dennoch auf dem kollektiven Gedächtnis. Damals (also 186 vor Christus) wurden die Bacchanalien, Feste zu Ehren des Gottes Bacchus, verboten und unterdrückt, wilde nächtliche drogengeschwängerte und alkoholgetränkte, auch sexuelle Ausschweifungen von Frauen und Männern in Parks und Gärten, die nach Meinung der Obrigkeit Sicherheit und Ordnung gefährdeten. Auch nach dem Verbot hat es sie weiterhin – aber möglichst reglementiert – gegeben (und sie leben bis heute als uralte heidnische Wurzeln in unseren Karnevalsfeiern fort). Sicherlich hat es sie auch in der Nachbarschaft der Christen gegeben – aber damit wollte Paulus nichts zu tun haben. Er grenzt sich und die Seinen mit geradezu protestantischer Schärfe und Klarheit davon ab.

Er grenzt sich ab, und zwar weder aus Ressentiment noch zuerst aus Furcht vor einer Kultverwechslung, sondern aus Gründen des Glaubens: Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.

Die Gegenüberstellung von altem und neuem Menschen ist eine berühmte Denkfigur des Apostel Paulus, die – wie die ähnliche Redeweise von äußerem und inneren Menschen – die zunächst nicht sichtbare aber alles verändernde neue Wirklichkeit der Auferstehung im alten Leben bezeichnet: Alles ist anders – auch wenn alles so aussieht wie vorher; alles ist neu – auch wenn oberflächlich alles beim Alten bleibt: äußerlich Sünder – in Wahrheit gerecht, gerecht gesprochen durch Gott: „simul justus et peccator“ in der berühmten Wendung Luthers (Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/16).

Dieser Rechtfertigung aus Glauben als innerem Geschehen entsprechen die menschlichen Versuche der Heiligung des Lebens nach außen, die hier der Apostelschüler in Anlehnung an 10 Gebote und Bergpredigt mit Beispielen beschreibt: Nicht Lügen, keine – auch keine verbale Gewalt (Die Anregung, lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen, hat schon manche Ehe gerettet.), nicht Stehlen! Besonders zeitgemäß klingt die Warnung vor faulem Geschwätz, vor Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung und aller Bosheit. (Hier kann jeder mit seinen Gedanken eintragen, was ihm an Beschimpfungen durch andere Verkehrsteilnehmer, an Pöbeleien wenig liebenswerter Zeitgenossen, an Gelegenheiten, wenn man mal wieder für dumm verkauft werden sollte, so einfällt – vorausgesetzt man gedenkt der eigenen Liebenswürdigkeiten, mit denen man andere bedacht hat, gleich mit.) Weg mit dem faulen Geschwätz!

Es kann ja eigentlich gar nicht anders sein, als dass das neue Wesen des Menschen von innen nach außen drängt; andererseits bleibt es draußen bis auf einige wenige Zeichen und Wunder als Vorzeichen der endgültigen Gottesherrschaft vorerst beim Alten; das heißt, die menschlichen Bemühungen um ein besseres, heiliges Leben sind insgesamt zum Scheitern verurteilt und auf Vergebung angewiesen: vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus. Das wäre nur dann ein überflüssiger Rat, wenn unsere Bemühungen der Heiligung nachhaltig wären, sind sie aber nicht! Und deshalb ist der Rat zu Vergebung hier wie so oft Fluchtpunkt und Pointe des heiliggemäßen Lebens: vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus.

Was bleibt aber von den unveräußerlichen Rechten auf „Leben, Freiheit und Streben nach Glück“, zu dem selbstverständlich auch Fest, Feier und Party gehören – zu ihrer Zeit, die eben jetzt nicht in Zeiten der Seuche ist. Wir würden ja als Einzelne genauso wenig fiebrig und krank feiern gehen – also auch nicht, wenn die Gesellschaft insgesamt fiebert und krankt. Es werden auch wieder andere Zeiten kommen.

Von einem Zeitfaktor spricht auch unser Bibeltext: betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid für den Tag der Erlösung. Als Tag der Erlösung wird uns das Ende der Seuche sicherlich vorkommen; auch wenn hier im Bibeltext Erlösung natürlich in einem viel umfassenderen Sinn gemeint ist. Keine Feier kann uns von den Leiden des Lebens erlösen – und wahrscheinlich ist genau das das Problem mit uns und unseren Partys: dass wir sie missverstehen, dass wir sie nicht zur Feier unseres Lebens sondern als Flucht aus dem Leben missbrauchen, dass sie uns darin trügerische Begierden werden und zugrunde richten.

Deswegen und dagegen ruft uns der Apostelschüler zur Ordnung: Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit. Amen.