Predigttext Himmelfahrt 18. Mai 2023

Imagine there´s no heaven
It´s easy if you try
No hell below us
Above us, only sky

Schönes Lied vom großen John Lennon, aber vielleicht nicht die erste Wahl für den Himmelfahrtsgottesdienst; und wenn es wie vor ein paar Wochen in der wundervollen Rambacher Kirche erklingt, führt das zu verstärktem Stirnrunzeln bei den sprachkundigen Gottesdienstbesuchern. Erst die Abwesenheit von Religion und also ein leerer Himmel soll Frieden und Liebe bringen? Während ihre Gegenwart zu fürchten wäre? – das ist eher nicht die reine Lehre, die sie in einem evangelischen Gottesdienst erwarten dürfen.

Andrerseits ist die hier gemachte Unterscheidung von religiösem heaven und natürlichem sky schon relevant, wie auch das Vorstellen und Träumen einer besseren möglichen Welt und die Frage von Gegenwart und Abwesenheit eben auch. Gerade darum soll es heute gehen: um die Präzisierung von Jesu Abwesenheit durch seine Himmelfahrt.

Und es geschah, als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr gen Himmel. (Lukas 24,51)

Viel mehr als eine Abwesenheitsnotiz ist das hier ja nicht, sondern etwa so wie auf unserem Email-Account oder auf der Mailbox; meistens wird einem dort nur mitgeteilt, dass der, den man erreichen wollte, gerade nicht erreichbar ist, was man sich aber schon denken konnte, weil man ihn ja nicht erreicht hat. Im besten Fall bekommt man noch gesagt, wo der Betreffende gerade ist und an wen man sich in dringenden Angelegenheiten wenden kann. So auch hier.

Aus der Abwesenheitsnotiz, die Lukas im Namen Jesu aufspricht und für uns notiert, geht hervor, dass dieser in den Himmel gefahren – eigentlich: „hochgehoben“ oder „fortgetragen“ – ist. Hier auf Erden werden wir ihn vergeblich suchen; wer etwas von ihm will, wende sich bitte an den Himmel; womit uns aber wie so oft bei solchen Ansagen nicht sehr viel weitergeholfen ist, denn wo ist der Himmel und wie erreiche ich ihn?

Eine Abwesenheitsnotiz dient der Bewältigung von Abwesenheit; es geht darum, sie überhaupt wahrzunehmen, zu wissen, woran man ist, und auszuhalten; auch unseren Ärger auszuhalten über das nicht stattfindende Gespräch, oder unsere Trauer auszuhalten darüber, dass ein Gespräch nie wieder stattfinden wird. Es geht auch darum, sie pragmatisch zu bewältigen, Alltagslösungen zu finden, das Leben trotz Abwesenheit des einen, einzelnen, wichtigen weitergehen zu lassen; nicht unbedingt Ersatz zu schaffen für den womöglich Unersetzlichen, aber doch Ersatzlösungen zu finden, um die Lücke herum; ein Leben zu finden unter den Bedingungen der Abwesenheit.

Oft hilft dabei, eine unbestimmte Abwesenheit in eine bestimmte zu überführen, also zu wissen, wo der Abwesende ist; Eltern geht es so, wenn sie nicht nur bemerken, dass der Nachwuchs weg ist, sondern dazu auch wissen, wohin weg; aber manchmal will man es auch gar nicht so genau wissen. Mit der Bestimmung des Abwesenheitsortes als Himmel ist allerdings nicht viel gewonnen, denn nach der Bibel ist der Himmel nicht nur Wohnsitz Gottes, sondern auch – und durchaus im Widerspruch dazu – die uns abgewandte Seite der Schöpfung, in keinem Fall aber das, was wir als Himmel über uns wahrnehmen und in gar keinem Fall ein Ort, den wir kennten oder über den wir etwas wüssten.

Die gleich mehrfache Unverfügbarkeit des Himmels als Wohnort Gottes, als unbekannte, unerkannte Schöpfung, als Universum – „unendliche Weiten, die nie zuvor ein Mensch gesehen hat“ – macht ihn zum idealen Rückzugsort des abwesenden Jesus – abwesender geht’s nicht! – allerdings ohne unsere Bedürfnisse nach Bestimmtheit des Abwesenheitsortes zu befriedigen. Wenn wir wissen, dass Jesus im Himmel ist, wissen wir immer noch nicht, wo er ist.

Dennoch ist der Himmel in diesem Sinne mehr als nur ein unbestimmter Grenzbegriff, sondern als der uns abgewandte Bereich der Schöpfung ein unerschöpftes Reservoir noch nicht verwirklichter Möglichkeiten; mehr noch: als Wohnort Gottes ist dieses Reservoir nicht nur unerschöpft sondern unerschöpflich, grenzenlos, unendlich weit. Von dort her, vom Himmel hoch, kommen – ganz im Sinne John Lennons – die Imaginationen und Träume eines besseren Lebens; gute Mär für die Glaubenden, auch die ungläubig Glaubenden.

Noch als Abwesender versorgt uns der in den Himmel gefahrene Jesus so mit dem für ein besseres Leben Notwendigen aus dem Himmel herab, geistliches Manna in den Wüsten unserer Welt: Bilder des Friedens, Berichte von überwundener Not, Geschichten gelingender Gemeinschaft, Erzählungen von Menschen als Schwestern und Brüder – als Möglichkeiten besseren Lebens gegenüber der wirklichen Welt, nach denen wir diese gestalten sollen; wirksame Träume aus dem Himmel für unsere Erde:

You may say I´m a dreamer
But I´m not the only one
I hope someday you´ll join us
And the world will live as one

Sonntag Rogate, 14. Mai 2023

So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. Dies ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland, welcher will, dass alle Menschen gerettet werden und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat als Lösegeld für alle, als Zeugnis zur rechten Zeit. (1. Timotheus 2,1-6)

Wenn uns auch das Beten abhandengekommen sein mag – wer betet denn noch, wenn er nicht gerade in der Kirche mitbetet; und wer kommt denn überhaupt noch zum Beten in die Kirche? – Wenn uns auch das Beten abhandengekommen sein mag, sind jedenfalls viele von uns gerade noch unter dem Eindruck eines prachtvollen Gottesdienstes für einen König und der glaubensstarken, kraftvollen und authentischen Gebete für ihn: Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeitgenau wie es der Apostelschüler fordert:

Lord, enthroned in heavenly splendour:/ Herr, der du in himmlischer Herrlichkeit thronst:
look with favour upon thy servant Charles our King,/ blicke mit Wohlgefallen auf deinen Diener Karl unseren König
and bestow upon him such gifts of wisdom and love/ und verleihe ihm solche Gaben der Weisheit und der Liebe
that we and all thy people/dass wir und alle deine Völker
may live in peace and prosperity/in Frieden und Wohlstand leben mögen
and in loving service one to another;/und in liebevollem Dienst untereinander
to thine eternal glory,/zu deiner ewigen Ehre
who with the Father and the Holy Spirit/der du mit dem Vater und dem Heiligen Geist
reigns supreme over all things,/über alle Dinge vorherrschst
one God, now and for ever./Ein Gott, jetzt und allezeit.
Amen. (Kollektengebet aus der Krönungsliturgie, die der Erzbischof von Canterbury am 6. Mai in der Westminster Abbey gehalten hat; The Coronation Liturgy: ‘Called to Serve’ | The Church of England)

So müssen Gebete sein: kein Wort zu viel, keins zu wenig, nicht geplappert wie die Heiden, sondern auf den Punkt – au point wie ein gutes englisches Steak; echt, direkt, unmittelbar; Gott wird schon wissen, was gemeint ist und die Zuhörer und Mitbetenden aber auch. 

Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeitdie einerseits natürlich zu allen Menschen gehören, aber um ihrer besonderen Aufgabe willen ausdrücklich erwähnt und dadurch hervorgehoben werden. Wie der Apostelschüler macht auch der Erzbischof deutlich, dass das Gebet für den König nicht zuerst als Huldigung und Unterwerfung der Betenden gemeint ist; bzw. nicht als Huldigung des Königs und Unterwerfung unter ihn, sondern, im Gegenteil, den König als Diener unter Gott als höchsten Herrn und König stellen soll. Das Gebet für den König erhöht diesen nicht über die Menschen, sondern erniedrigt ihn unter Gott. Das muss man sich als betender Bischof erstmal trauen und als König erstmal aushalten. Da wird einer auf seinem Thron zum König gekrönt, aber die höchste Krone, die Vorherrschaft – the supreme reign – gebührt Gott allein, dem der in himmlischer Herrlichkeit thront – enthroned in heavenly splendour.

Selbst eingefleischten Atheisten müsste das doch gefallen – uns anderen ja sowieso: Dass ausgerechnet in einem solchen glanzvollen Moment, auf den noch dazu der zu Krönende ein ganzes Leben – 70 Jahre – schon gewartet hat, in allem Pomp und in allen Umständen – „macht euch bloß keine Umstände!“, war jetzt offenkundig die Devise für diese Feier nicht – dass also in einem solchen Moment voller Gold, Glitzer und Trompeten der hohe Herr „Diener“ genannt und an einen höheren Herrn als ihn erinnert wird. In allem Hochgefühl ist das ein Mittel gegen jeden Hochmut des Königs: Berufen ja, aber berufen, um zu dienen: Called to serve, wie es das Motto der erzbischöflichen Krönungspredigt sagt.

Im Grunde zeigen alle Regalien, Insignien und herrscherlichen Symbole der Krönungsfeier diesen dialektischen Herrschaftsauftrag zur Herrschaft als Dienst unter Gott, besonders der berühmte, geheimnisumwitterte, umstrittene „stone of scone“, der für die Krönung in den Thron gelegt wird und auch vergangene Woche gelegt wurde und der – so will es die mutige und abenteuerliche Legende – der Stein von Jakobs Nachtlager unter der Himmelsleiter sei und damit also an einen reichlich unrühmlichen Moment des biblischen Patriarchen erinnert, als der vor seiner Familie geflohen und von allen guten Geistern verlassen in einer Vision diese Leiter sieht, auf der Engel zwischen Himmel und Erde wandeln. Darin wird Jakob sein Platz – nämlich ganz unten – gezeigt, aber auch seine Hoffnung und Aspiration – ganz oben im Himmel. Nebenbei bemerkt: Es ist eine unerfindbare Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet der seinen königlichen Allerwertesten in diesem Moment auf diesen Stein setzt, dessen Söhne in bitterem Bruderzwist getrennt sind – genauso wie Jakob und dessen Bruder Esau. Aha, auch der König ist nicht ausgenommen von den Plagen und Streitereien, die alle von uns belasten können.

Das Gebet für den König erinnert diesen an seinen Dienst vor Gott und an seinen Dienst für die Menschen,damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeitwie es der Apostelschüler sagt und ebenso der Erzbischof meint und ausführt: that we and all thy people/ dass wir und alle deine Völker/ may live in peace and prosperity/ in Frieden und Wohlstand leben mögen. Auch in diesem Aspekt ist das Gebet für den König keine Ergebenheitsadresse von Untertanen, sondern weit eher Erinnerung an seinen Auftrag und Forderung, ihn zu erfüllen. König und Obrigkeit dürfen dann und genau dann mit Gottes Gnade rechnen, sich also dann und nur dann auf Gottesgnadentum berufen, indem sie dieser Bitte entsprechen: wenn sie sich für Frieden und Wohlstand der ihnen anvertrauten Menschen einsetzen.  

Und gilt das jetzt eigentlich auch für uns glanzlose Republikaner, uns nüchterne Demokraten, uns monarchieferne Trockenbrötchen? Aber ja, denn auch wenn unsere Regierenden weder König noch Obrigkeit im alten Sinne sind, so kann und so würde ihnen nicht schaden, an eine höhere Instanz verwiesen zu werden, vor der auch sie sich zu verantworten haben. Solche höheren Instanzen sind Gesetz, Verfassung und Volk zuerst, keine Frage – aber eben auch und noch viel mehr der König der Könige. 

Es ist merkwürdig und schade zugleich, dass nur die wenigsten der uns in unserem Land Regierenden beim Eid die Gottesformel verwendet haben – und es ist umso bemerkenswerter, dass ausgerechnet die freisinnigen Liberalen das im Gegensatz zu den anderen mehrheitlich dann doch sagten: „So wahr mir Gott helfe“ – desto inniger verdienen sie alle unser Gebet, und dass unser Anliegen auch für sie hörbar vor Gott gebracht wird; das Anliegen, dass Gott ihnen „solche Gaben der Weisheit und der Liebe verleihen möge, damit wir in Frieden und Wohlstand leben“. 

Das Gebet für die Regierenden überhöht sie nicht, sondern begrenzt sie. Der Verweis unserer Gebete auf die Herrlichkeit Gottes – „Denn ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“ – soll sie vor Selbstherrlichkeit schützen. Jede Regierung hat das Recht auf diese Begrenzung menschlicher Macht durch Gott hingewiesen zu werden; und wir Christen haben die Pflicht, uns und sie durch das Gebet zu erinnern, dass sie nicht autonom, und nicht autokratisch das Geschick der ihnen anvertrauten Menschen bestimmen wollen. Damit ist das Gebet der Gläubigen eine staatstragende Handlung, ein staatsermöglichender Akt. Und alles andere – wenig ist das nicht – legen wir im Gebet in Gottes Hand. Amen.

Misericordias Domini, 23. April 2023

Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund, nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde. So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen. (1. Petrus 5,1-4)

Eine dringende Verwechslungsgefahr besteht nicht, liebe Schwestern und Brüder, wenn eine Gottesdienstgemeinde am Ostermontag zum Osterspaziergang durchs Tennelbachtal zieht – auch wenn …, auch wenn am selben Ort eins zweimal im Jahr eine Schafherde gesichtet wird, sie etwa – wie schon gelegentlich erlebt – im Herbstnebel wie eine Fata Morgana morgens beim Brötchenholen auftaucht, was man kaum für möglich gehalten hat und erst ein zweites Hinsehen bestätigt, dass einem nicht die homiletische Phantasie durchgeht, sondern in einer höchst realen pastoralen Szene hier Schafe, Hunde, Hirten wie aus der Kinderbibel begegnen.

Und schon der zweite Blick auf das schöne Bild vom Hirten und seiner Herde bestätigt ja auch die leisen Zweifel, die man eigentlich schon immer hegte, an seiner Eignung als Metapher für Gottesbeziehung und Gemeindeordnung. Das Idyll als Ideal reibt sich an der rauen Realität eines wirtschaftlich prekären Lebens voller Gefahren ohne festen Wohnsitz, den Unbilden des Wetters und wilder Tiere ausgesetzt, im Tennelbachtal dann ja wohl eher Wildschweinen statt Wölfen, doch wer weiß, auch die leben bekanntlich wieder in unseren beschaulichen Wäldern. Hinten im Rheingau hat sich ein Wolfsrudel angesiedelt; und wer weiß, vielleicht rücken die Bären bald nach. Schwere Zeiten für Hirten und ihre Herden.

Und selbst wenn man den rauen Rahmen ausblendet, bleibt immer die Frage, wer Hirte, wer Herde ist und warum. Wenn mein Gott ein Hirte ist, bin ich dann ein Schaf? Und wenn die Gemeinde die Herde ist, sollte sie dann ihrem Pastor, also dem Hirten einfach so folgen? Vor diesen Fragen kann es als positiv gewertet werden, dass eine evangelische Gemeindegruppe auf Wanderschaft spätestens nach 50 Metern – also schon kurz vor dem Tegut – erstmals die Autorität des Hirten in Frage stellt und lieber rechts statt links abbiegt. Anstrengend, aber positiv.

Der Autor des 1. Petrusbriefes, unseres Predigttextes, greift gleich zweimal in seinem Sendschreiben und eher beiläufig ohne Anspruch auf Originalität auf das Hirtenbild der Bibel zurück, und wendet es einigermaßen erwartbar sowohl auf unser Gottes- bzw. Christusverhältnis als auch seine Gemeindeordnung an: Die Gemeindeältesten sollen die Gemeinde als Hirten unter dem „Erz – also Oberhirten“ Christus leiten. Hier verbindet sich das Hirtenbild mit Begriff und Amt der „Ältesten“, der „Presbyter“, wie es natürlich im griechischen Original heißt – und wie in vielen eher reformiert als lutherisch geprägten Gemeinden der Kirchenvorstand bis heute genannt wird.

Mit dem Begriff des „Ältesten“ kommt eine uns Heutigen kaum noch geläufige aber im Altertum selbstverständliche Hochschätzung des Alten als Weisen und Erfahrenen zum Ausdruck, ganz ohne die bei uns übliche Abwertung des Alten als gebrechlich, schwach, obsolet und dem Tode geweiht. Während wir entsprechend heutzutage unser Alter möglichst hinter gefärbten Haaren, glattgezogenem Gesicht und Teeny-Kleidung für Rentner verstecken, ist in Antike und Bibel der Alte der, dessen Meinung gefragt und dessen Entscheidung gefordert ist, so dass sich der Begriff des geehrten Alten schnell zum Titel wandelte, der auch jüngere als die Ältesten bekleiden konnte: Die „Ältesten“ waren – griechisch, römisch, jüdisch – vielfach die Mitglieder des maßgeblichen Entscheidungsgremium eines Gemeinwesens, gleich welchen Alters: Älteste ehrenhalber sozusagen; am bekanntesten vielleicht die römischen „Senatoren“, deren Name sich vom lateinischen „senex“ ableitet – wie unser meistens aus unerfreulichen Zusammenhängen bekanntes Wörtchen „senil“, wie in „senile Bettflucht“; oder das etwas freundlichere „senior“, wie in „Seniorenrabatt“.

In der Herausbildung von Gemeindeordnung und Kirchenverfassung haben die christlich-kirchlichen „Presbyter“ – die „Ältesten“ – eine erstaunliche Karriere gemacht: aus den genannten kulturellen und religiösen Wurzeln heraus waren die Presbyter zunächst eher informelle Berater, Beiräte und Leiter der Gemeinden, durchaus im nicht immer konfliktfreien Gegenüber zu den Aposteln und apostolischen Lehrern, bis sie sich in einer allmählich herausbildenden gestuften Hierarchie der kirchlichen Ämter zwischen Bischöfen und Diakonen einsortierten und als eigenes Amt etablierten: und zwar nicht, wie es sich für unser evangelisches Verständnis gehören würde, als Kirchenvorstand sondern ganz katholisch als Priester. Unser Wort Priester ist zunächst nichts anderes als eine Eindeutschung des griechischen „Presbyter“, dem dann auch die antik und biblisch genuin priesterliche Aufgabe des Opferdienstes und der Mediation zwischen Gott und Mensch zukam, die wir automatisch mit dem Begriff Priester verbinden, die aber mit dem Herkunftsbegriff Presbyter zunächst nichts zu tun hat.

Wenn also unser Autor des Predigttextes hier – am Anfang solcher Entwicklungen – ausdrücklich die Ältesten anspricht: Die Ältesten unter euch ermahne ich; dann dürfen und sollen sich die, die mit Beratung, Leitung und Dienst in der Gemeinde tätig sind, angesprochen fühlen. Hat er auch uns was zu sagen? Jedenfalls!

Der Autor skizziert das Hirten- und Ältestenamt, also das Leitungsamt der Kirche, als Ehrenamt; womit schon alles gesagt wäre, wenn wir unter Ehrenamt eben nicht das unbezahlte Stellen von Tischen zum Gemeindefest oder die rein freizeitliche Beschäftigung mit der Religion als Lifestyle-Enhancement verstehen; auch nicht das Aufhübschen der eigenen höchstpersönlichen Ehre und Herrlichkeit, die sich in Lebensläufen und Jubiläumsreden niederschlagen könnte; sondern allein das Amt ist gemeint, dass sich der Ehre Gottes verpflichtet, soli deo gloria, als Teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll, als unverwelkliche Krone der Herrlichkeit; wie es in unserem Text so schön heißt.

Diese höhere Ehre Gottes ist nach Meinung unseres Autors der einzige Zweck und das alleinige Ziel unseres Amtes; womit schon wieder alles gesagt sein könnte, wenn wir eben nicht die Menschen wären, die wir sind. Wir mögen unsere jetzige Zeit für die Erfindung unfähiger Kirchenapparate, unwürdiger, ja verbrecherischer Geistlicher, oder ungläubiger Gläubiger verantwortlich machen; heute werden wir eines Besseren belehrt. Die feinen, lebensklugen und lebenspraktischen Abgrenzungen unseres uralten Textes zeigen, dass unsere Probleme die seinigen sind und seine die unsrigen:

Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie,
nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt,
nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund,
nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde.

Unser Autor wird wissen, wovon er spricht; ohne die Realität solcher Übertretungen müsste es keine Vorschrift geben. Wenn er äußeren Zwang, Aussicht auf eigenen Gewinn oder persönlichen Vorteil, Streben nach Macht anklagt, wird es sie gegeben haben, wie bei uns; bis hin zu dem in jeder Weise verabscheuungswürdigen Vergehen, sich an denen zu vergehen, die einem als Geistlicher anvertraut sind. Schändlicher, ehrloser könnte der Gewinn nicht sein, den ich aus meinem Ehrenamt erzielen wollte.

Seinen Abgrenzungen stellt unser Autor Freiwilligkeit, die innere Haltung und feste Überzeugung und die Vorbildfunktion der Leitenden gegenüber, die unser Amt prägen sollen. Das soll so sein, wenn ich auch durchaus Schwierigkeiten mit der Vorstellung von Vorbildern habe, im Allgemeinen und mit mir ganz besonders. „Aber Sie müssen doch Vorbild sein, Herr Pfarrer“ – ist es mir vor allem in den wenig glanzvollen Momenten meines Berufslebens, in Lebenskrisen, im krachenden Scheitern entgegengeklungen. Muss ich das? Will ich das? Vorbild sein? Und: Müsste ich eins haben, ein Vorbild? Hätte ich eins gehabt haben müssen? Angeblich brauchen wir doch alle, besonders die Jugend, Vorbilder. Tut sie das? Etwa uns?

Im Original steht das Wort „Typos“ und die Übersetzung dafür: „Vorbild“ geht nach Auskunft der Lexika in Ordnung. Aber dort finden sich auch Hinweise, die die Vorstellung eines Vorbildes ergänzen und präzisieren. Ein „Typos“ ist ursprünglich etwas „Hineingehautes“, etwas „Eingedrücktes“, eine Form, die man dann füllen kann wie ein Backförmchen, mit der man immer die gleichen Kekse backen kann. Wollen wir das? Immer die gleichen Kekse backen.

Andererseits könnte Vorbild in diesem Sinne nicht die, sondern eine Form des Lebens sein; eine Lebensform unter mehreren oder vielen, an denen ich meine noch zu realisierenden Möglichkeiten des Lebens modellhaft anschauen kann. Kein Model – o graus! – sondern Modell. Will ich so werden, will ich so leben, so glauben wie der oder die? An die Leitenden als Vorbilder der Gemeinde wäre dann die Aufgabe gestellt, Formen oder Modelle des Glaubens zu leben, die diesen Glauben anschaulich machen, insbesondere in der Art, wie sie Krisen bewältigen und das eigene Scheitern aushalten: Nachfolge Christi.

Unser Autor selbst sprengt ein wenig die Fesseln seines Vorbildbegriffs, wenn er ihn mit dem Hirtenbild zusammenbringt. Wie soll ich mir das denn vorstellen, dass der Hirte der Herde ein Vorbild werde? Dass die Schafe Hirten werden? Dass die Hirten dann den Schafen folgen? Soll man sich das wünschen?

Oder dass aus der Herde selbst neue Hirten erstehen? Wäre ja nicht die schlechteste Idee. Vielleicht dass Hirten jeweils auf Zeit Hirten sind und dann wieder zur Herde gehören. Dass wir uns gegenseitig zu Hirten werden können; nicht immer gleichzeitig, dass wäre sicherlich zu anstrengend, wenn wir an jeder Wegkreuzung die Richtung neu auszudiskutieren hätten. Aber vielleicht so als allgemeines Hirtentum, wie Luther es beinahe genannt und sicher gemeint hat, dass wir uns grundsätzlich gegenseitig Hirte, Vorbild, Ältester, Presbyter und Priester sind – und aus praktischen Gründen einige ausbilden und einen oder eine wählen, dieses Amt auszuführen, damit alle dann, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen. Amen.

Predigttext für den Ostermontag, 10. April 2023

Und siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, das war von Jerusalem etwa sechzig Stadien entfernt; dessen Name ist Emmaus. Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten. Und es geschah, als sie so redeten und einander fragten, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. Aber ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten. Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs? Da blieben sie traurig stehen. Und der eine, mit Namen Kleopas, antwortete und sprach zu ihm: Bist du der Einzige unter den Fremden in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen dort geschehen ist? Und er sprach zu ihnen: Was denn? Sie aber sprachen zu ihm: Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Tat und Wort vor Gott und allem Volk; wie ihn unsre Hohenpriester und Oberen zur Todesstrafe überantwortet und gekreuzigt haben. Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde. Und über das alles ist heute der dritte Tag, dass dies geschehen ist. Auch haben uns erschreckt einige Frauen aus unserer Mitte, die sind früh bei dem Grab gewesen, haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagen, er lebe. Und einige von denen, die mit uns waren, gingen hin zum Grab und fanden’s so, wie die Frauen sagten; aber ihn sahen sie nicht.Und er sprach zu ihnen: O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! Musste nicht der Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in allen Schriften von ihm gesagt war.Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen. Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben.Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen.Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen. Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete? Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten zurück nach Jerusalem und fanden die Elf versammelt und die bei ihnen waren; die sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und dem Simon erschienen.Und sie erzählten ihnen, was auf dem Wege geschehen war und wie er von ihnen erkannt wurde, da er das Brot brach.
(Lukasevangelium 24,13-33)

Zu den peinlichsten Momenten gehört es, nackt dazustehen. Nackt am falschen Ort. Und damit meine ich nicht einmal einen Mangel an Kleidung – das kann ja auch lustig sein; etwa wenn einem der ehemalige Stadtkämmerer im Opelbad begegnet im bauchtiefen Wasser und – keine Angst! – selbstverständlich mit Badehose bekleidet, aber eben nur mit dieser, und wir die Weltlage im allgemeinen und den Gottesdienst vom vergangenen Sonntag im besonderen Revue passieren lassen! – das war ein bisschen peinlich, aber auch sehr komisch; ein bisschen so wie in dem berühmten Sketch von Loriot mit den beiden Herren, die sich unverhofft in derselben Badewanne begegnen; also nicht auf diese Weise nackt ist jetzt gemeint, sondern ich meine das „Nackt-am-falschen-Ort-Dastehen“ im übertragenen Sinne: also keine Ahnung zu haben aber so zu tun als ob: Klugscheißen ohne Klugheit; Rechthaben ohne recht zu haben; ein Kaiser ohne Kleider.

Zu meinen peinlichsten Momenten gehört der, als ich einem Freund und Mitstudenten einen lateinischen Satz verunklärte und nach zähen Minuten falscher Belehrung nicht nur merken musste, dass ich in dieser Sache völlig unrecht hatte, sondern auch, dass mein geduldiger Gesprächspartner ohnehin viel besser diese keineswegs tote aber für mich in diesem Fall tödliche Sprache beherrschte. Was brannte mir Toren in diesem Moment das Herz – aber anders als in der gerade gehörten Geschichte der Emmausjünger.

An diesen und ähnliche Momente der geistigen Nacktheit, von denen es in meiner glanzlosen Theologenlaufbahn leider etliche gibt, fühlte ich mich erinnert, als ich unseren Text für diese Predigt neu gelesen habe: ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten, was sie aber nicht daran hinderte, ihm, den sie nicht erkannten, sein Leben, Leiden und Sterben zu erklären. Das entspricht ja ziemlich genau der Situation von uns Pfarrern und Predigern, wenn wir den Glaubenden ihren Glauben erklären. Auch das endet regelmäßig in der beschämenden Erkenntnis, dass die Angesprochenen längst wissen und wissend glauben, worum der Geistliche noch ringt. Am interessantesten wird es übrigens dann, wenn der Gesprächspartner seinen Teil mit dem Sätzchen eröffnet: „Wissen Sie, Herr Pfarrer, ich kann das nicht glauben und bin sozusagen bekennender Atheist, aber …“ Dann kann man sicher sein, ganz viel über dessen Glauben und den eigenen Unglauben zu erfahren.

Zu den unerklärlichen und unverdienten Glücksfällen unserer Glaubensgeschichte gehört, dass nicht nur die Emmausjünger sondern auch wir an einen wie Jesus geraten, der unsere Ahnungslosigkeit in geistigen und geistlichen Angelegenheiten nicht krummnimmt; dem zwar ein kräftiges „O ihr Toren“ entfährt, der aber gleichwohl mit ebenfalls unverdienter und unerklärlicher Geduld unsere Nacktheit bedeckt, mit uns im Gespräch bleibt – „immer im Gespräch bleiben!“ sagt der nette, weise und geplagte Vater ehemaliger Konfirmanden im Gespräch an der Supermarktkasse über die unendlichen Qualen der Pubertät und deren Bewältigung – Jesus also, der mit uns ewig religiös Pubertierenden, also des Glaubens sich Schämenden, im Gespräch bleibt, der uns auf unseren Wegen begleitet, uns Aufmerksamkeit schenkt und noch aus unseren törichtsten Einwänden und wunderlichsten Irrtümern Erkenntnisse über das Geheimnis des Glaubens erweckt. Wie das?

Genau so wie es in unserer Geschichte steht: Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete? Und: und wie er von ihnen erkannt wurde, da er das Brot brach. Natürlich gibt es 1000 weitere Arten, Gott und seinem Sohn zu begegnen, aber die beiden hier genannten und gemeinten scheint Jesus für besonders erfolgversprechend zu halten: Nimm hin, und lies; nimm hin, das ist mein Leib, mein Blut, iss und trinke! In sein Wort und sein Mahl ist Jesus für uns auferstanden, heißt das doch. In den Sakramenten der Heiligen Schrift und des Abendmahls öffnen sich für uns Türen zu Gott: Machet die Türen weit und die Tore in der Welt hoch! Lasst ihn mit Wort und Brot in eure Welt.

Aber auch das weiß jeder, der schon einmal durch eine Tür gegangen ist: Türen öffnen sich, schließen aber eben auch, klemmen, werden verriegelt, werden zugeschlagen, bleiben verschlossen. Macht das was?

Macht nichts, denn auch darauf hat unsere erstaunliche Geschichte eine Antwort, oder gibt zumindest einen Hinweis: Eben noch wird von Jesus als unverhofftem und zunächst unerkanntem Abendmahlsgast gesprochen: Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben.Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen. In diesem Moment erkennen sie ihn: Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Woraufhin Jesus die Szene – und zwar nicht durch eine Tür, also geistergleich – verlässt: Und er verschwand vor ihnen. Exit Ghost, wie es bei Shakespeare heißen würde und heißt: Exit Ghost. Was aber in einem schönen Paradox nicht zuerst die Abwesenheit des physischen Jesus betont, sondern seine geistige Anwesenheit in Wort und Brot bezeugt. Weg ist er – aber auf eine sehr qualifizierte Weise auch ganz gegenwärtig.

Oder anders: Noch nicht einmal auf Tür oder Tor ist er angewiesen bei seinem Besuch bei uns Toren. Er wird jedenfalls auch Wege zu uns finden, von denen unsere Schulweisheit nichts ahnt, auf die wir aus Torheit stolzer sind, als es weise wäre zu sein. Er wird das nicht gegen uns verwenden, sondern die Blöße unseres Unglaubens, unserer Überheblichkeit und unserer Verbohrtheit zudecken mit dem Mantel seiner Wahrheit und dem Kleid seiner Gerechtigkeit. Amen.

Karfreitag, 6. April 2023

Er hat uns errettet aus der Macht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes, in dem wir die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden.

Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,
der Erstgeborene vor aller Schöpfung.
Denn in ihm wurde alles geschaffen,
was im Himmel und auf Erden ist,
das Sichtbare und das Unsichtbare,
es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten;
es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen.
Und er ist vor allem,und es besteht alles in ihm.
Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde.
Er ist der Anfang,der Erstgeborene von den Toten,
auf dass er in allem der Erste sei.
Denn es hat Gott gefallen,
alle Fülle in ihm wohnen zu lassen
und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin,
es sei auf Erden oder im Himmel,
indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.

Auch euch, die ihr einst Fremde wart und feindlich gesinnt in bösen Werken, hat er nun versöhnt durch seinen sterblichen Leib, durch seinen Tod, auf dass er euch heilig und makellos und untadelig vor sein Angesicht stelle; wenn ihr nur bleibt im Glauben, gegründet und fest, und nicht weicht von der Hoffnung des Evangeliums, das ihr gehört habt und das gepredigt ist allen Geschöpfen unter dem Himmel.
(Brief an die Kolosser 1,13-23)

Frieden durch Blut ist keine Formel, die aufgehen kann außerhalb der Logik des religiösen Opfers, außerhalb des sacrificium, in dem die Gewalt religiös dargestellt wird, also nur dargestellt wird, um sie stellvertretend vor Gott und die Menschen zu bringen, sie so zu identifizieren und zu überwinden. Außerhalb des religiösen Opfers, wenn also tatsächlich Blut eines victima vergossen wird, wenn einer zum realen Gewaltopfer wird, dann geht die Formel Frieden durch Blut nicht auf, dann kann Gewalt – wenn überhaupt – nur durch Gegenwalt begrenzt werden; wahrscheinlicher ist, dass „Gewalt fortlaufend Gewalt gebären wird“ (Macbeth), denn Gewalt schreit nach Rache, Blut schreit nach Rache, Blut schreit zum Himmel (Kain und Abel). Das muss uns warnen – tut es aber nicht – vor allen Vorhaben, auch den gegenwärtigen, mit Gewalt, mit kriegerischer Gewalt Frieden herbeiführen zu wollen. Im besten Falle kann Gewalt durch Gegengewalt aufgehalten, eingedämmt, zeitlich und örtlich begrenzt werden; das muss sie ja auch. Frieden wird sie uns nicht bringen.

Wenn der Autor unserer Zeilen also davon spricht, dass Jesus Christus Frieden machte durch sein Blut am Kreuz, erhält der Satz seine Geltung und seine Wahrheit ausschließlich im Zusammenhang eines religiösen Opfers; und zwar in diesem Fall des Opfers Jesu Christi am Kreuz und das nur wenn wir – im Glauben – nachvollziehen, dass Jesus eben nicht nur victim, Gewaltopfer, sondern auch und eigentlich sacrifice, religiöses Opfer zum Zwecke der Versöhnung, ist. Nur als solches und in dieser Deutung vermag es Frieden zu machen. Wenn wir Jesus dagegen ausschließlich als Gewaltopfer eines brutalen Besatzungsregimes und seiner groben Justiz sehen, erkennen wir weder Versöhnung noch Frieden.

So wird es den Anhängern Jesu zunächst gegangen sein, als Trauernde und Leidtragende verzweifelt und ratlos über sein Blut am Kreuz, überdies erschreckt und aufgewühlt „voll Furcht und Zittern“ angesichts der Erscheinungen und der Botschaft vom Auferstandenen, denen sie kaum glauben konnten. Aber nach einem Moment des Schreckens haben die ersten Christen den religiösen Sinn produziert, der für sie, für uns im Kreuzesgeschehen liegt. Innerhalb kürzester Zeit, innerhalb weniger Jahren formulieren sie unter dem Eindruck der Auferstehung und unter Rückgriff auf die Bibel Alten Testaments Summen ihres Glaubens, kurze zusammenfassende Texte in gebundener, dichterischer Sprache, die ihren Glauben auf den Punkt bringen, und damit auch der Sinnlosigkeit einer Hinrichtung den religiösen Sinn, nämlich den eines stellvertretenden, versöhnenden Opfers geben.

Auf solche von der Forschung „Christushymnen“ genannte Überlieferungsstücke, greifen Paulus und seine Schüler in ihren Briefen immer wieder zurück, so auch hier der Autor des Kolosserbriefes:

Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,
der Erstgeborene vor aller Schöpfung.
Denn in ihm wurde alles geschaffen,
was im Himmel und auf Erden ist,
das Sichtbare und das Unsichtbare,
es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten;
es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen.
Und er ist vor allem,und es besteht alles in ihm.
Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde.
Er ist der Anfang,der Erstgeborene von den Toten,
auf dass er in allem der Erste sei.
Denn es hat Gott gefallen,
alle Fülle in ihm wohnen zu lassen
und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin,
es sei auf Erden oder im Himmel,
indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.

Durch diese Deutung verändert sich der Sinn des Kreuzestodes völlig – bzw. erst durch diese Deutung erhält der an sich nur sinnlose, schreckliche, brutale Tod am Kreuz einen Sinn. Der Gekreuzigte ist nach dieser Deutung Mensch und Ebenbild Gottes. Er ist Schöpfungsmittler, der vor aller Schöpfung und während der Schöpfung bei Gott war und nach allem Weltgeschehen alles versöhnen wird und bei Gott sein wird. Dieser wahre Mensch und wahre Gott hat den Tod auf sich genommen, um ihn zu überwinden. Wer, wenn nicht er, kann den Tod mit seinem Tod überwinden. Deshalb sollen sich die, die an ihn glauben, an ihn hängen, um mit ihm den Tod zu überwinden, um sich von ihm durch den Tod tragen lassen, sich den Frieden geben lassen durch sein Blut am Kreuz.

Man könnte unserem Text, bzw. denen, die ihn für den Karfreitag ausgewählt haben, den Vorwurf, machen, dass er zu wenig karfreitaglich und zu sehr schon österlich wäre, indem er die Ansicht des Gekreuzigten nicht für sich zeichnet – uns also kaum Zeit gibt, „die Leiden zu bedenken“, wie es ihm Passionslied heißt-, sondern ihn, den Gekreuzigten, vor dem überwältigenden kosmischen Panorama der Allversöhnung in üppigen Farben malt.

An solchen Bedenken gegen einen Vorgriff auf Ostern ist was dran. Das ist ein bisschen so, also wolle man in den gewaltsam überstreckten Armen unserer Kreuzesdarstellung hier in der Thomaskirche nicht die Darstellung von Ohnmacht und Qual sehen sondern das Siegeszeichen, das Victory-Zeichen erkennen, was aber der Absicht des Bildhauers Jürgen Weber, dem wir unser Kreuz verdanken, widerspricht: „Bei meinem Kruzifix ist die gequälte, von Gott getrennte Fleischlichkeit gemeint. Das ist ein Erlebnis und eine Bestätigung des ´Eli, Eli, lama asabthani´, das aus der Gegenwart stammt… das Thema einer Kreuzigung ist, was den Körper des Gekreuzigten anbelangt, von anstößiger Fleischlichkeit; darauf sollte dieses Kruzifix den Betrachter stoßen.“ (Jürgen Weber in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“, 1965).

Andererseits hat es etwas Künstliches, so zu tun, als ob wir nicht wüssten, dass in zwei Tagen Ostern ist, jede Feier des Karfreitags immer schon von Ostern beleuchtet wird. Ohne Ostern würden wir Karfreitag gar nicht feiern. Denn dann wäre ja Jesu Kreuzestod bloßes Ereignis eines – sicher längst vergessenen – grausamen Todes, bloßes victima, und nicht sacrificium, also nicht Darstellung eines Versöhnungsgeschehens, das uns hier und heute betrifft. So sehr Karfreitag die Voraussetzung von Ostern ist, so sehr erfordert der Kreuzestod die Auferstehung zu ihrer Deutung.

Auch unser Bildhauer hat weitere Werke geschaffen, die noch stärker als unseres einen österlichen Schein auf das Kreuz legen. In seinem Lebensbaum -Kruzifix im Magdeburger Dom, das ursprünglich für eine Braunschweiger Kirche geschaffen worden war, verbindet Jürgen Weber das Kreuzes- mit dem Lebensbaummotiv. Die abermals gewaltsam überstreckten Arme des Gekreuzigten verbinden sich mit dem Baum, an dem er hängt. Neues Leben aus altem Tod. Versöhnung aus seinem sterblichen Leib. Amen.

Predigttext für Palmsonntag, 2. April 2023

Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem kommen werde, nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und schrien: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie geschrieben steht (Sacharja 9,9): »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte. Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach. (Evangelium des Johannes 12,12-19)

Michael Kessler, einer der ganz wenigen gebürtigen Wiesbadener, die es nach Konrad Duden und Wilhelm Dilthey und mit den Sportskanonen Jürgen Grabowski, John McEnroe und Keke Rosberg wenn nicht zu Ruhm, so doch zu einer gewissen Bekanntheit gebracht haben, geht auf einer seiner überaus unterhaltsamen Fernsehexpeditionen in den Fernen Osten Deutschlands zu Fuß mit dem Esel Elias von Berlin durch Brandenburg, Mecklenburg und Vorpommern bis an den Ostseestrand Usedoms bei Ahlbeck. (Ah, klingt wie Urlaub!) Die gewinnende, freundliche, liebenswürdige Art – und zwar beider: die des Elias und die des Michael Kessler – öffnet ihnen Türen und Herzen der Menschen auf dem Weg wie auch der Zuschauer: siehe, alle Welt läuft ihm nach.

Über den langen, manchmal beschwerlichen Weg und manche Abenteuer – sie werden bei hellem Tag beklaut und einmal reißt Elias über Nacht aus – wächst ihre Freundschaft und unsere Freundschaft zu ihnen. Natürlich zeigt Esel Elias artgemäß seine Eigenwilligkeit, seine Bockigkeit – kleidet sie aber in zurückhaltende Liebenswürdigkeit, drängt sich nicht auf, dominiert nie, lässt aber durch seine Schüchternheit hindurch auch echte Zuneigung erkennen. Nichts läge ferner, ihn für einen dummen Esel zu halten. Am Ende zerreißt es nicht nur den beiden beim Abschied am Ostseestrand das Herz, sondern uns gleich mit. Abschiedsreden – nicht ganz so lang wie die des Jesus im Johannesevangelium, die sich unserer Predigttext-Szene anschließen – können den Abschiedsschmerz kaum lindern.

Esel werden unterschätzt; noch wenn sie wie der Esel Rucio des Sancho Pansa Weltliteratur schreiben, dienen sie vor allem als Kontrast und Sidekick zum stolzen Pferd – selbst zum traurig-stolzen Klepper Rosinante des noch viel traurig-stolzeren Don Quichote, des stolzen Ritters von der allertraurigsten Gestalt. Schon die Bibel, die durchaus vom hohen Wert des Esels als Nutztier und kostbarem Besitz von Nomaden weiß, denkt den Esel als Kontrast zum hohen Ross, Herrschaftssymbol und Kriegsgerät in einem, demgegenüber der Esel als Niedrigkeitssymbol und Demutsaccessoire gilt – und so ist ja auch das Eselsgeleit als spielerische Demütigung des verhinderten Samstagabendentertainers Kessler gedacht. Will ich jemanden klein machen, setze ich ihn auf einen Esel. So wie natürlich auch in unserer biblischen Szene vom Einzug in Jerusalem, die mit struppigem Esel und kreischender Menge eher eine Parodie oder die Travestie eines Königsbesuchs darstellt. Oder wollen wir uns König Charles und seine Camilla auf Eselchen zum Staatsbesuch in Berlin vorstellen? Seine Mama – Gott hab sie selig – wäre „not amused“.

Das Spannende der Einzugsszene Jesu in Jerusalem ist, dass hier ein doppelter Film abläuft – offensichtlich und verborgen zugleich: offensichtlich unter ihrem Gegenteil und verborgen vor aller Augen: der karnevaleske Zug des Bettlerkönigs in die verkehrte Welt hinein, die aber viel wahrer ist als die wahrhaft verkehrte Welt, in die der König der Welt einzieht. Der wahre König verkleidet sich als Bettler, sein stolzes Ross als Esel und sein Gefolge als Lumpenpack.

Und wir wissen schon, dass die Bretter dieses doppelten Bodens nicht halten werden, der Mordplan ist längst geschmiedet: Den Hosianna-Rufen wird das „Kreuziget ihn“ folgen. Der Bettlerkönig wird den Fluchtod am Kreuz sterben, verspottet von seinen Hassern; als was? – als Esel natürlich, wie die früheste blasphemische Karikatur gegen die Christen und ihren Heiland zeigt, das berühmte Axelamenos-Graffito aus dem zweiten Jahrhundert an der Wand der Domus Flavia auf dem Palatin in Rom: Einer betet seinen ans Kreuz genagelten Esel an. Damit ist ausgerechnet sie das die früheste erhaltene Kreuzesdarstellung der Geschichte. Das treue Eselchen folgt seinem Herrn bis in den Tod, den Tod am Kreuz. Und wir folgen den beiden nach.

Der Evangelist Johannes wäre nicht er selbst, wenn er nicht der doppelbödigen Einzugsgeschichte der 3 älteren Evangelien noch eine dritte Bedeutungsebene hinzufügen würde. Der scheinbare Triumphzug in den schändlichen Tod wird noch einen entscheidenden Schritt – ins Leben nämlich – weiterführen, angedeutet durch den auffälligen Verweis auf die wunderbare Erweckung des Lazarus aus dem Tode, der in den anderen Evangelien fehlt, wie ja die ganze Lazarusgeschichte in ihnen fehlt: Die Menge aber, die bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, bezeugte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan.

Nach der Erzählung des Evangelisten Johannes hat sich die Menschenmenge gebildet, um den zu sehen und dem zu begegnen, der den Lazarus aus dem Tod ins Leben erweckt hat, dem Bezwinger des Todes, dem Herrn über Leben und Tod, für den sein eigener Tod am Kreuz nicht Erniedrigung sondern Erhöhung, nicht Vernichtung sondern Verherrlichung bedeutet, weil in seinem Tod der Tod des Todes bereitet ist. Kein Wunder, dass wir mit seinen Jüngern davorstehen wie die Esel und es nicht verstehen. Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so an ihm getan hatte.

Nur in einem hat Johannes nicht recht behalten, dass ihm alle Welt nachliefe. Statt Jesus ins Leben zu folgen, bestehen wir auf unseren eigenen Tod, halten ihn gar für den Goldstandard eines selbstbestimmten Lebens und denken uns inzwischen allerhand Eseleien aus, ihn vor uns selbst zu verbergen. Störrisch und bockig wehren wir uns gegen das freundliche Geleit Jesu. Störrisch und bockig wehren wir uns dagegen, Christus zu tragen. Aus reiner Eselei verweigern wir die Rolle und den Dienst, die uns fürsorglich und freundlich zugedacht sind – zu unserem Wohl, zu unserem Heil. Da wäre etwas aufzuarbeiten, etwas nachzubessern, aber wie?

Und da kämen nun also eventuell doch wieder der Esel Elias ins Spiel und sein menschenfreundlicher Begleiter auf ihren Wegen zum Menschen. Man hat von Jesus als Wandercharismatiker gesprochen und so eine Art charismatische Wanderer sind die beiden, Mensch Kessler und Esel Elias in dem erwähnten harmlos freundlichen Fernsehformat eben auch. „Was ist da los?“ – ist die Frage, die viele Türen öffnet, der Esel tut den Rest; jeder wird mit einem distanzlosen aber respektvollen Du begrüßt, „ich bin der Michael“ – nicht immer wird es erwidert, macht nichts. Immer ist klar, dass das Interesse an den anderen interesselos ist, keinen eigenen Vorteil im Sinn hat, nie jemanden vorführt, nie dominieren will, keine Privilegien einfordern oder begründen will. Die anderen werden um ihrer selbst willen akzeptiert, so verschroben, skurril und merkwürdig sie auch sein mögen; jeder Esel ist anders, wie sie beinahe im Rheinland sagen, aber keiner ist keiner.

Das entspricht ungefähr, insgesamt, ziemlich genau der Haltung, die der Apostel Paulus an anderer Stelle zur Nachfolge Christi empfiehlt. „Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und war gehorsam bis zum Tode, bis zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht“ sagt der Apostel dieses Heilands zu uns (Philipper 2). Also: Geht weite Wege, mischt euch unter die Leute, aber in gegenseitigem Dienst; ohne Anspruch auf die besseren Plätze; der Platz an der Seite Jesu ist allemal gut genug. Amen.

Predigttext für den Sonntag Judika, 26. März 2023

Denn jeder Hohepriester, der von den Menschen genommen wird, der wird eingesetzt für die Menschen zum Dienst vor Gott, damit er Gaben und Opfer darbringe für die Sünden. Er kann mitfühlen mit denen, die unwissend sind und irren, weil er auch selber Schwachheit an sich trägt. Darum muss er, wie für das Volk, so auch für sich selbst opfern für die Sünden. Und niemand nimmt sich selbst diese Würde, sondern er wird von Gott berufen wie auch Aaron. So hat auch Christus sich nicht selbst die Ehre beigelegt, Hoherpriester zu werden, sondern der, der zu ihm gesagt hat (Ps 2,7): »Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.« Wie er auch an anderer Stelle spricht (Ps 110,4): »Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks.« Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und da er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber der ewigen Seligkeit geworden, von Gott genannt ein Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks. (Brief an die Hebräer 5,1-10)

So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.

Gehorsam gehört nicht zu meinen Lieblingsworten, vielleicht geht Ihnen das ja ähnlich. Und zwar nicht zuerst, weil ich nicht bereit wäre, Gehorsam zu leisten; sondern weil ich die Situationen nicht mag, in denen Gehorsam gefordert wird; und ich finde überhaupt nicht, dass solche Situationen unser Gottesverhältnis angemessen erklären könnten: der strenge Familienvater von vor ein paar Generationen, der nicht nur von seinen Kindern sondern auch von seiner Ehefrau Gehorsam fordert; der Arbeitgeber, der von seinen Angestellten Gehorsam, gar Unterwerfung will (solls sogar in reputierlichen Kirchengemeinden geben!); der Schulmeister von seinen Schülern; der General von seinen Soldaten; der Ordensgeneral von seinen Ordensbrüdern – sogar den berüchtigten Kadavergehorsam bei den Jesuiten – das führt auf theologische Abwege, auf die übrigens auch der Autor unseres Briefes sich verirrt, wenn er anderswo so schreckliche Sätze schreibt wie: „Schrecklich ists, in die Hand des lebendigen Gottes zu fallen.“ (Hebräer 10,31) Das ist Ausdruck einer Religion der Angst vor einem tyrannischen Gott.

Auf der Suche nach entsprechenden Begriffen und Vorstellungen, die durchaus die höhere Macht Gottes anerkennen, ohne diesen tyrannisch zu verzeichnen, bin ich auf das sogenannte, weit bekannte und ebenso weit geschätzte „Gelassenheitsgebet“ des deutsch-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr gestoßen:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Dieses Gebet, Anfang des vergangenen Jahrhunderts verfasst, hat eine erstaunliche Karriere gemacht, in zwei Richtungen sozusagen, zeitlich nach vorne als quasi-liturgischer Bestandteil der Sitzungen der Anonymen Alkoholiker, wie auch sonst weithin in Beratung und Therapie, in Kirche und Andacht ja sowieso; und merkwürdigerweise auch in die Zeit zurück, in dem es dem schwäbischen Pietisten und Theosophen Oetinger, mit ihm und seiner Lehre verbunden wurde, und zwar einzig und allein einer Verwechslung wegen, die uns hier nicht weiter interessieren muss.

Gelassenheit, Mut und Weisheit erbitten wir von Gott, wenn wir dieses Gebet mit Reinhold Niebuhr beten, dass dabei selbst etwas von dieser Gelassenheit und Weisheit anklingen lässt, nur um dann auch Mut zu geben für die mutige Tat.

Gelassenheit ist ursprünglich die Fähigkeit von sich selbst abzusehen, wir verwenden es ja immer noch so, dass wir in Gelassenheit von unseren unmittelbaren emotionalen Impulsen und praktischen Reaktion absehen; und so meint es hier im Gebet eben die Einsicht, Unverfügbares oder Unabwendbares hinzunehmen, weil jede Aktion und Reaktion unsererseits ohnehin nichts ausrichten könnten. Gelassenheit als Geschehen-Lassen. Gelassenheit als besondere Form der Passivität – was ja ganz gut in die Passionszeit passt. Gelassenheit als Anerkennung einer höheren Gewalt. Gelassenheit als Leiden in Würde; im Grenzfall als Untergang, aber in Würde. Also wenn das Orchester schon mit nassen Füßen auf der untergehenden Titanic immer weiterspielt. Das ist Gelassenheit. Oder, wenn Jesus im Garten Gethsemane angesichts seines nahen Endes nach Weinen und Klagen betet: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ (Lukas 22,42); worauf sich der Hebräerbrief an unserer Stelle hier bezieht: Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.

Gehorsam und Gelassenheit verbindet die Anerkenntnis einer höheren Macht, vor der der eigene Wille zurückzustehen und deren höherer Wille zu geschehen hat. Aber während der Gehorsame in seinem Gehorsam durch Zwang gebunden bleibt, weiß der Gelassene, dass die Stunde seines Muts, die Dinge zu verändern, schlagen wird.

Dass der Autor des Hebräerbriefes hier dennoch den Begriff Gehorsam verwendet, passt in sein Gottesbild und versteht sich auch deshalb, weil der Begriff Gelassenheit erst 1000 Jahre später vom großen Theologen und Mystiker Meister Eckart gefunden wurde. Meister Eckart meint damit, dass der Gläubige von allem ablassen, alles verlassen, einfach alles lassen möge, und sogar die Suche nach Gott lassen soll, um Gott zu finden. Gelassenheit um Gottes Willen als Verzicht auf eigenes Denken, Fühlen, Wollen: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“

Diese doch sehr radikale Lehre einer am Ende vollständigen Leere, letztlich der Auslöschung des Menschen als Subjekt, der Selbstlosigkeit im Wortsinne hat Eckart Verurteilungen durch seine, also damals auch unsere, katholische Kirche eingebracht, lässt sich aber in milderer und abgewandelter Form immer noch hören und verstehen. Nur wer nicht, nicht mehr um sich selbst kreist, kann Gott als seine Mitte finden. Deshalb ist ja auch die Liebe Metapher und Inbegriff Gottes, die selbstlose Liebe, die nichts für sich selbst zu sein vermag; sich selbst loslassen für einen anderen: Liebe als Gelassenheit – im Sinne Eckarts und sicherlich nicht nach unserem heutigen Sprachgebrauch von Gelassenheit: Ein gelassener, womöglich lässiger, cooler, gar kalter Liebhaber ist ja eher nicht das, was wir uns wünschen; höchstens bei allzu ausschweifendem Überschwang an Feurigkeit lässt sich ein „tranqillo hombre!“ denken; aber lassen wir das, wir schweifen ab.

In der für uns Heutige ebenfalls etwas fremden – und ja auch im übrigen Neuen Testament nicht weiter gebräuchlichen – Symbolsprache des Hebräerbriefes zeigt und erfüllt Christus im Opfer als Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks solche gelassene, selbstlose Liebe. Im Kontrast und in Überbietung der „gewöhnlichen“ Hohepriester seiner Zeit, die jährlich und immer wieder am großen Versöhnungstag das stellvertretende Opfer vollziehen – die Sünden auf den Bock laden und in die Wüste schicken – um hier auf Erden die Menschen zu entsündigen, ist Christus der himmlische Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks, der in seinem Opfer der Liebe uns ein für alle Mal mit Gott versöhnt.

In seinem irdischen Wirken sollen wir ihn uns zum Vorbild nehmen im Beten und Flehen, aber nicht, wie der Hebräerbrief meint, in ängstlichem Gehorsam sondern in der Gelassenheit, die Gottes Barmherzigkeit gewiss ist, was er doch eigentlich sagen sollte: Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Zumindest ansatzweise und, was die gute Absicht angeht, kommen wir dem nach, indem wir seinen Gebetsruf aus dem Garten Gethsemane „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ im Vaterunser nachvollziehen: „Vater Unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, Dein Wille geschehe!“

In dieser Bitte zeigt sich der ganze Sinn des Gebets. Im Gebet nehme ich mich zurück und gebe Gott Raum. Ich verzichte auf Selbstbehauptung, verlasse die Kampfzone ums Dasein, lasse mich los, um Gott in mich hineinzulassen. Beten ist die Praxis schöpferischer Passivität (nach einer Formulierung Eberhard Jüngels), scheinbares Nichtstun aber voller kreativen Potentials, um dann wieder tätig werden zu können.

Meister Eckart und Reinhold Niebuhr, um nur die hier schon Genannten zu nennen, waren engagierte Ethiker in der Nachfolge dessen – des Königs der Gerechtigkeit, was Melchisedek wörtlich übersetzt heißt – von dem wir nicht nur das rechte Beten sondern eben auch das rechte Tun lernen sollen: nach der Bergpredigt, nach seiner Hilfe für die Schwachen und Kranken, nach seinem Einsatz für die Armen: „Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer“ (in der Fassung bei Lukas, 6,20).

Die Kraftquelle, aber, für das Tun der Gerechtigkeit, ist das Gebet:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Amen.

Predigttext für den Sonntag Lätare, 19. März 2023

Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser. Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer. (Buch des Propheten Jesaja 54,7-10)

Der Prophet in der Tradition des Jesaja, dessen Wort wir heute hören, lädt dazu ein, die Krise – also zuerst seine Krise des Exils, aber dann auch andere, vielleicht alle Krisen – von ihrem Ende her zu verstehen und so zu überwinden. Trotz des ganzen Schlamassels, das – höchst aktuell! – auch in Metaphern der Naturzerstörung gemalt wird: Berge weichen und Hügel fallen, soll es am Ende gut werden: meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer. Am Ende soll alles, alles gut geworden sein. Das kennen wir.

„Whatever it takes“ – „Wir schaffen das“ – „Andrá tutto bene“ – Diese leicht wiedererkennbaren Slogans aus schweren Zeiten, die man entweder als Durchhalteparolen oder als Hoffnungsworte meinen und hören kann, haben alle gemeinsam, dass sie die jeweilige Krise – Finanzen, Flüchtlinge, Corona – von ihrem – hoffentlich glücklichen – Ende her verstehen. Der gute Ausgang wird vorweggenommen. Allein die Vorstellung, dass alles gut enden wird, scheint uns Menschen Kraft in der Krise zu geben, das Schwere auszuhalten und zu überwinden.

Das klappt übrigens durchaus auch in manchen höchstpersönlichen Krisenmomenten, meinen wenigstens, wenn ich zum Beispiel im Behandlungsstuhl beim Zahnarzt sitze, jeglicher Selbstbestimmung beraubt und keineswegs so schmerzarm behandelt wie zuvor versprochen, träume ich mir das Ende der Prozedur herbei, stelle mir vor, wo ich spazieren werde, wenn mich keine Schläuche mehr halten; male ich mir Speisekarten aus, nach denen ich kochen werde, wenn ich wieder beißen kann. Die Krise von ihrem Ende her verstehen und überwinden. Ein bisschen hilfts auch da.

Und dabei kann einem durchaus klar sein – und in klaren Momenten während einer Krise immer klar gewesen sein – dass auch eine überwundene Krise, noch die Überwindung der Krise, enorme Kosten verursacht – was schon ein kurzer Blick auf die Zahnarztrechnung verrät, und die Rechnungen der großen Gesellschafts- und Menschheitskrisen ohnehin. Es ist unermesslich, was allein die großen Krisen dieses noch jungen Jahrhunderts an Leben, Lebensmöglichkeiten und Wohlstand gekosten haben, was die Erleichterung über ihr Ende doch mehr als ein wenig trübt und im Grunde nicht viel Freude aufkommen lässt. Ungeschehen macht die Krisen nämlich ihr Ende nicht. Während der Krise mag sie vom Ende her zu betrachten sein; aber am Ende stehen wir eben doch vor einem Scherbenhaufen – bildlich oder etwa nach Kriegen ganz real; da wird einer – nicht weit von hier – jeden grausamen Kriegstag größer und größer aufgetürmt.

Deshalb stelle ich mir die Hörer unseres Propheten am Ende von Krieg, Eroberung und Exil, die Überlebenden und Zurückgekehrten aus Babylon keineswegs überglücklich oder fröhlich oder ausgelassen vor; erleichtert wohl; mit neuer Hoffnung in aller Erschöpfung; aber eben auch gezeichnet von dieser Krise; Trümmerfrauen und -männer, denen sich Krieg und Krise in die Gesichter gegraben haben; unfähig zur hellen Freude und zu Teilen sicherlich unfähig noch zur Trauer für einige Zeit.

Und ob der Hinweis auf Noah und die Sintflut so tröstlich war damals, so tröstlich ist für uns heutige, sei dahingestellt. Gewaltige Fluten, unermessliche Schäden, zahllose Opfer an Tieren und Menschen, die hat es nach dieser biblischen Geschichte ja nun gegeben – und wird es nach menschlichem Ermessen und den meisten seriösen Prognosen wieder geben. Davongekommen sind wenige und davonkommen werden nur einige – aber ob die sich freuen konnten, freuen sollen trotz der Vernichtung der Massen? Da wird einem doch eher die Freude über das eigene Leben im Halse stecken bleiben aus Trauer über das Ende der anderen. Noch der bloße Augenblick des Zorns ist mir hier zu lang, zu schwer, zu gewichtig, zu gewaltig, dass er von ewiger Gnade wirklich wettgemacht werden würde.

Was als Aufmunterung während der Krise funktionieren mag – aber ja auch nicht bei jedem und auch nicht in jeder Krise funktioniert; für viele ist das gegenwärtig erlebte Leid zu groß, dass der Gedanke an sein Ende es wirklich lindern könnte – was als Aufmunterung während der Krise noch funktionieren mag, klingt nach deren Ende leicht schal und hohl. Da ist einfach zu viel kaputt gegangen – auch das Prophetenwort in seiner Botschaft an uns?

Der Prophet im Namen des Jesaja spricht sein Wort von kurzem Zorn und ewigem Erbarmen im Zusammenhang einer ausführlicheren Bildrede über das Verhältnis des Volkes Israel zu seinem Gott, das er in alter prophetischer Tradition als Liebesbeziehung, ja als Ehe zeichnet: Gott der Liebhaber, der Ehemann – sein Volk als Geliebte, als Partner, als Gottes Frau. Wie jeder Vergleich hinkt natürlich auch dieser gewaltig, am meisten durch das Gefälle zwischen den Partnern, das keine wirkliche Beziehung aushalten würde; wer würde sich freiwillig einer Göttin, oder auch nur seiner eigenen Vorgesetzten vermählen? Das Bild enthält aber doch auch mehr als ein Körnchen Wahrheit.

Jede Liebesbeziehung, jede Ehe verläuft in Phasen, in Kurven, mit Höhen und Tiefen, „ups and downs“; sicherlich auch mit Momenten des Zorns, die aber, solange die Beziehung andauert, gemildert werden durch die Bereitschaft zur Vergebung und eingebettet sind in eine vertrauensvolle Liebe, die sich in den unvermeidlichen Momenten des Zorns so leicht nicht zerbrechen lässt. Und auch wenn ich persönlich den Beziehungstherapeuten, die Liebenden und Eheleuten herzhaftes Streiten empfehlen, nicht über den Weg traue, glaube ich schon, weiß es ja, dass eine Beziehung einiges aushält. Zerbrechlich ist und bleibt sie gleichwohl, was wir ebenfalls aus eigener Erfahrung, oder zumindest aus eigener Anschauung wissen können. Berge weichen und Hügel mögen hinfallen, und unsere Liebe kann das eben auch.

Deshalb bleibt unser Prophetenwort ein Wort auf Hoffnung hin – in einer aktuellen Krise sowieso, aber auch nach ausgestandenem Konflikt; anwendbar auf Glaube und Liebe und noch auf die Irrungen und Wirrungen der wirklichen Welt; und warum eigentlich nicht ebenfalls auf die merkwürdige Sonderwelt unserer Kirche und unserer Gemeinden.

Die Krise vom Ende her denken, könnte hier heißen, könnte für unsere vier Gemeinden heißen, Vorstellungen und Bilder zu entwickeln, die den Nachbarschaftsprozess zu einem guten Ende kommen sehen; Vertrauen zu bilden dürfte helfen; sich bereit halten, gegenseitig zu vergeben, dürfte sinnvoll sein; Momente des Zorns sollte man erwarten, damit man ihnen nicht allzu überrascht und hilflos ausgeliefert ist.

Und bis dann? Manches wird zerbrechen und zerfallen, lange bevor die Hügel hinfallen, auf denen unsere Gemeinden stehen. Jubel über ein neues Jerusalem auf den sieben grünen Hügeln des Wiesbadener Nordostens werden wir nicht hören; eher die Klagen an den Wassern eines neuen Babylon, also an den Wassern des Dambachs, des Tennelbachs, des Goldsteinbachs, des Rambachs und des Aukammbachs, den fünf Bächen unseres verlorenen Paradieses, die können schon einiges an Tränen aufnehmen und werden bekanntlich doch in zornigen Momenten zu reißenden Fluten.

Aber vielleicht gelingen uns auch Neugründungen im heimatlichen Exil, Kapellen in der Diaspora, Wege durch die Verwüstungen unseres Unglaubens, hoffnungsvoll grüne Pflänzchen des Glaubens mitten in den Trümmern der alten Kirche: Pilgerwege über Grenzen hinweg, gottesdienstliche Gemeinschaft, Diskurse über Gott und die Welt, Krieg und Frieden.

Am Ende wird keineswegs alles gut sein, aber vielleicht manches besser als wir uns das jetzt denken können. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer. Amen.

Predigttext für den Sonntag Okuli, 12. März 2023

Als er – Jesus – aber noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss? Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn. Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis. (Lukasevangelium 22, 47-53)

Die Macht der Finsternis

Die „Macht der Finsternis“ heißt ein Schauspiel, das erste Schauspiel des russischen Dichters Leo Tolstoi, sie wissen schon: „Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“. Tolstoi hat sein „Macht der Finsternis“ im Jahr 1886 geschrieben und beschreibt darin eine Situation völliger moralischer Verwahrlosung in einem abgelegenen russischen Dorf, Menschen die für die vage Aussicht auf etwas Besitz und flüchtigen Lustgewinn wahllos andere Menschen umbringen, die „Knochen von Babys“ knacken lassen, wie der Dichter uns nicht verschont hören zu lassen; vollständige soziopathische Umnachtung: „Macht der Finsternis“.

Es berührt unheimlich, dass der Dichter Tolstoi eine Situation aus einem Land beschreibt, die in ähnlicher Weise in nicht wenigen Hintergrundberichten zum grauenvollen Krieg in der Ukraine vorkommt und als Erklärung für diesen Exzess von Unrecht und Gewalt gegeben wird: moralische Verwahrlosung, Verachtung von Frauen, ungehemmter Hedonismus, Verherrlichung der Gewalt und ihr Einsatz gegen die eigenen Leute und noch gegen Kinder, unüberhörbar im Brechen der Knochen: „Macht der Finsternis“.

Manchmal wird aus diesen Beschreibungen eine Deformation, ein Defekt eines nationalen Charakters abgeleitet, was ich falsch finde, weil wir einerseits solche Situationen der Verwahrlosung auch an anderen Orten, zu anderen Zeiten und in anderen Völkern kennen – auch im eigenen! – Und es ist deshalb auch falsch, weil wir andererseits nicht annehmen müssen, dass die Macht der Finsternis vor Ländergrenzen halt machte, oder sich räumlich-zeitlich eingrenzen ließe. Die Macht der Finsternis ist potentiell unbegrenzt; ein Rückfall in die Nacht der Unmenschlichkeit droht überall und jederzeit.

Wir haben es der Bibel und ihren Autoren sehr zu danken, dass sie trotz anderslautender Gerüchte eben kein übertrieben helles, schönfärberisches, kitschig-triviales Bild der Wirklichkeit zeichnen, sondern neben dem Licht auch die Dunkelheit; ja die ganze „Macht der Finsternis“ ausbreiten; zwar kritisieren und bekämpfen, aber eben nicht verschweigen oder zudecken. Nur wenn die „Macht der Finsternis“ in helles Licht gestellt wird, „zur Schau gestellt wird“(s.u.), wird sie erkannt. Sie selbst, „die dunkle Seite der Macht“, wählt aus naheliegenden Gründen die Nacht, wie seit jeher – alptraumhaft – die Chaosmächte in der Nacht aus den Tiefen hervorkriechen und die Schöpfungsordnung bedrohen. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.

Es folgt also aus diesem uralten mythologischen Gesetz, wie im übrigen auch alltäglicher Verbrecherlogik, dass der entscheidende Angriff im Dunkeln erfolgt, im Schutz der Nacht. Aber selbst der Räuber kann sich seiner Sache nicht sicher sein, muss sich wappnen, lieber zu viel als zu wenig, Übertreibungen inklusive: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen.

Die uns gezeichnete Szene der Gefangennahme Jesu, mit der sich die Macht der Finsternis zeigt, ist eine Nacht-und-Nebel-Aktion, voller Dramatik und sogar unfreiwilliger Komik: Ein bewaffneter Trupp nähert sich im Dunkeln, wer soll das sein, wer hat sie geschickt? Voran einer aus dem innersten Kreis der Vertrauten, der Zwölf wie ausdrücklich vermerkt wird, der weiß, wo Jesus und die Seinen die Nacht verbringen; dieser Judas schickt sich an zu seinem berüchtigten Judaskuss, ohne den kein Mafiafilm auskommt, wobei Lukas offen zu lassen scheint, ob die Berührung stattfindet; jedenfalls wird er deutlich abgewiesen, dieser Kuss und als Verrat enttarnt: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?

Dann wird es unübersichtlich, ein Tumult entsteht, Worte in der Nacht, ein Handgemenge, einer aus dem Trupp verliert sein Ohr per Schwertstreich; und bekommt es postwendend wieder geheilt, immer gut, wenn ein Arzt und Heiland anwesend ist; weiter wehren sie sich nicht; Widerstand ist zwecklos: Lasst ab! Nicht weiter! Dann benennt Jesus das Verbrechen und stellt seine ganze Absurdität bloß: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.

Verrat, Heimtücke, Gewalt – das sind die Waffen der Macht der Finsternis, gegen die selbst der Menschen- und Gottessohn machtlos zu sein scheint, wir ja sowieso; nicht mehr lange, da wird sich der Himmel über Golgatha verdunkeln, alles in Nacht und Finsternis stürzen, „eine Finsternis über das ganze Land“ kommen (Lukas 23,44): „Oh große Not, Gott selbst ist Tod“, werden wir singen (so der ursprüngliche Text des Karfreitagslieds, EG 80) und weinen.

Dass es dabei nicht sein bewenden hat, gehört zu den erstaunlichsten, den unwahrscheinlichsten Wendungen der Literatur und der Weltgeschichte. Die Christen, also wir, glauben gegen jede Wahrscheinlichkeit an den Sieg des Lichtes über die Finsternis; an den Sieg des Lebens über den Tod. Das darf man dann gerne Realitätsverweigerung nennen, wenn damit gemeint ist, dass der jetzigen Wirklichkeit verweigert wird, sie für dauerhaft oder ewig zu halten; etwa wenn mitten in einem Krieg über eine gerechte Friedensordnung nachgedacht wird, für danach; oder wenn im schon erwähnten Stück des Dichters Tolstoi der Hauptverbrecher nach einer Orgie der Gewalt im letzten Akt zum Glauben kommt, seine Vergehen öffentlich beichtet und dafür büßt.

Der Apostel Paulus greift die markante Wendung „Macht der Finsternis“ in einem seiner Briefe auf, um die durch Gott in Christus herbeigeführte Wendung vom Bösen zum Guten zu benennen: „Mit Freuden sagt Dank dem Vater, der euch tüchtig gemacht hat zu dem Erbteil der Heiligen im Licht. Er hat uns errettet aus der Macht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes …“; „Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und über sie triumphiert in Christus.“ (Kolosserbrief 1,11-13; 2,15). So soll es sein. Amen.

Predigttext zum Sonntag Reminiszere, 5. März 2023

Und er fing an, zu ihnen in Gleichnissen zu reden: Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes. Und er sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs nähme. Da nahmen sie ihn, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. Abermals sandte er zu ihnen einen anderen Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. Und er sandte einen andern, den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die andern töteten sie. Da hatte er noch einen, den geliebten Sohn; den sandte er als Letzten zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg.Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen (Ps 118,22-23): »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen«? Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie hin dies Gleichnis gesagt hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon. (Markusevangelium 12,1-12)

„sono un umile lavoratore nel giardino di Dio“ – wenn Sie das jetzt nicht gleich verstanden haben, kann das an meinem oder an ihrem Italienisch liegen; oder daran dass ich das Bayrisch- Italienisch unseres verstorbenen Papstes in der Version des immer noch sehr lebendigen Satirikers Gerhard Polt sehr unvollkommen nachgeäfft habe. Dieser zitiert sich und Papst Benedikt XVI in einem Zeitungsinterview letzte Woche: Ich bin nur ein demütiger Arbeiter im Garten Gottes.

„sono un umile lavoratore nel giardino di Dio“ – sagt Polt – „hat Papst Benedikt XVI. am Anfang seiner Papstkarriere auf Bayrisch-Italienisch gesagt. In seinem Singsang. Er wollte die Schädlinge aus dem Weinberg des Herrn entfernen. Wenn jemand so etwas sagt, muss man vorsichtig sein“ – soweit Polt (NZZ vom 3.3.23). Und damit sind wir doch schon beim Thema unseres Predigttexts; auch unser Text und sein Thema können gefährlich werden und sind es lange Zeit gewesen; Vorsicht ist geboten!

Wenn nämlich – wie Jahrhunderte geschehen – die bösen und die guten Weingärtner auf „böse Juden“ und „gute Christen“ gedeutet und so festgelegt werden, ist das interpretatorische Unheil schon angerichtet und wird seinen Lauf nehmen. Was es auch hat. Unser Text von den bösen Weingärtnern, die die Boten des Herrn misshandeln und töten und am Ende selbst getötet werden, war einer der biblischen Kronzeugen für die Verfolgung, die Misshandlung, den Mord an den Juden durch Christen. An ihm wurde Schuld und Strafe des Gottesvolkes belegt; dessen Ablösung als Auslöschung durch die Christen begründet. Was läuft da schief?

Zuerst natürlich die große und grundsätzliche Bereitschaft unseren Text wie andere Texte der Bibel in dieser Weise und in dieser Richtung – nämlich antijüdisch und alsbald antisemitisch – zu verstehen. Das antisemitische Potential im Christentum scheint ungeheuerlich. Aus der anfänglichen Konkurrenz zwischen Ursprungsreligion und Neugründung bis zur viele hundert Jahre unbestrittene Dominanz des Christentums im Grunde bis heute scheint sich zwangsläufig die Abwehr alles Jüdischen und die Verfolgung von Juden zu ergeben – und dann eben auch gerne als Kampf der vorgeblich guten gegen die bösen Weingärtner des Herrn: unser Text mittendrin und ganz vorne dabei.

Eine weitere Voraussetzung für die Instrumentalisierung unseres Textes in diesem schlechtesten aller möglichen Sinne, war die definitive Festlegung der Rollen, also wer mit den bösen und wer mit den guten Weingärtnern gemeint sein musste. Gleichnistheoretisch geschieht der antisemitische Sündenfall durch das Missverständnis einer Gleichniserzählung als Allegorie, in der jedes Motiv einer Geschichte auf eine und nur eine ganz bestimmte Bedeutung in der Wirklichkeit gedeutet und damit festgelegt wird. Damit verliert das Gleichnis seine grundsätzliche Offenheit, seine Fähigkeit, unsere Augen zu öffnen, sein Potential eine Pointe zu bilden, die eben nicht das bestätigt, was wir schon immer zu wissen gemeint haben, sondern uns etwas Neues zu sagen vermag.

Eine Allegorie ist wie ein Rätsel, dass, wenn es einmal entschlüsselt ist, jeden Reiz verliert; ein Gleichnis hingegen hat eine Pointe, die unberechenbar bleibt und eigentlich nicht langweilig werden kann. Noch der demütigste Arbeiter – gerade der – im Weinberg möchte die unbestimmte Vielzahl der Bedeutungen, die er als Schädlinge betrachtet, bekämpfen, gleichsam ausrupfen; und seinen Garten eingrenzen und umzäunen, abteilen und beherrschen. Das Gleichnis aber braucht Freiheit, will wuchern, sich ausbreiten – über Zäune und Mauern hinweg.

Im Gegensatz zur allegorischen Festlegung – die, also ihr, seid die Bösen, und die, also wir, sind die Guten – lädt das Gleichnis zum gedanklichen Rollentausch ein. So wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn die Geschichte immer lebendiger wird, je mehr ich mich in den unterschiedlichen Rollen ausprobiere – der jüngere Sohn, der Vater, der ältere Sohn; so werde ich erst dann in unsere heutige Geschichte hineingezogen, wenn ich ihr und mir wechselnde, fließende Identifikationen erlaube – die bösen und die guten Gärtner, die Gesandten, der Besitzer, der sich ja auch wandelt vom schöpferischen Gärtner, zum fernen Regenten, zum Richter und Rächer – die sind ja alles ich.

Nur wenn ich etwa mich in beiden Gruppen wiederfinde, den bösen und den guten Gärtnern, entfällt die einfältige aber bösartige Zuordnung, dass die Bösen jedenfalls die anderen sind und ich dann ja wohl zu den Guten gehören muss. Weit gefehlt, wie die Vorlage unseres Gleichnisses aus dem Alten Testament, die wir als Lesung gehört haben und als Kritik am eigenen Volk, an der eigenen Religion und also an sich selbst gerichtet ist, zeigt. Denn selbstverständlich haben noch die besten, die demütigsten Gärtner im Garten des Herrn die Tendenz zum Bösen, zur Faulheit, zur Eigenmächtigkeit, zur Selbstgefälligkeit, zur Verblendung – etwa zu der, sich selbst für unfehlbar zu halten, zur Selbstvergrößerung – wer sich selbst für unentbehrlich hält, ist es bestimmt nicht; zur Habgier, und wohl auch zur Gewalt.

Auch das so ein irritierender, eher abstoßender Zug unserer Geschichte: die Gewalt. Könnten die Gärtner und Boten nicht etwas zivilisierter miteinander umgehen? Muss man immer gleich draufhauen? Das griechische Original ist erstaunlich und zugleich abstoßend kreativ in der Bezeichnung, was die Handelnden da anstellen: schinden, schlagen, auf den Kopf schlagen, durch Faustschläge ins Gesicht misshandeln, entehren, beschimpfen, töten, hinauswerfen, zugrunde richten. Die Vielfalt der Ausdrücke lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, dass Gewalt viel mehr ist als bloßes Mittel, viel mehr als reines Werkzeug zur Herbeiführung von Unrechtsverhältnissen, sondern auch – in sich! – Machtdemonstration, Tabubruch, Verletzung der Würde, Entehrung – und zwar beider, der Opfer und der Täter. In den Nachrichten lässt sich gerade jeden Abend nachvollziehen, was hier gemeint ist: kriminelle und kriegerische Gewalt, die im Falle des russischen Gewaltherrschers in eins fällt, als Angriff auf die Zivilisation, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Erst Aussicht und Einbruch höherer Gewalt – im Sinne der Gewalt eines Höheren, Größeren – beendet die Gewalt, wenigstens in unserer Geschichte, wenigstens in der religiösen Fiktion, die freilich auf unsere Wirklichkeit abzielt und sie verändern möchte. Allerdings spricht nichts dafür, dass nach einem historischen, relativen Ende von Unrecht und Gewalt, nicht wieder neues entstehen könnte, etwa indem sich die guten in böse Arbeiter wandeln. Also etwa so wie im Hollywoodfilm sich der wildeste Streit löst oder noch die widerborstigsten Liebenden im Happy End zwar finden, es aber eigentlich keinen Grund gibt anzunehmen, dass die auf der Leinwand unerzählte Nachgeschichte den ganzen Schlamassel nicht von Neuem aufrollt. Oder eben in der historischen Wirklichkeit, wenn ein mühsam errungener Frieden den Keim zu neuem Unrecht und zu neuer Gewalt schon in sich trägt. Erst ein absolutes Ende unserer verwirrten, gewaltvollen menschlichen Verhältnisse, an das Jesus und die seinen als „Einbruch der Gottesherrschaft“ glaubten, würde daran etwas grundsätzlich verändern.

Ohne in die allegorische, historische Falle zu tappen, lässt sich unsere Erzählung nur schwer auf Jesus und sein Geschick hindeuten. Aber gemeint ist doch wohl, dass hier einer, der unter den historischen Bedingungen menschlicher Gewaltverhältnisse gelitten und durch sie zu Tode gekommen ist, eine Umkehr eingeleitet hat, die selbst nicht mehr umzukehren ist: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Das Opfer unserer menschlichen Gewalt soll zum Maßstab neuer Verhältnisse der Gewaltlosigkeit werden. Der, dessen Geschichte durch unsere, menschliche Gewalt beendet wurde, beendet unsere Gewaltgeschichte. Was gegenwärtig noch als reines Wunder – mit den bekannten Glaubwürdigkeitsproblemen – quer zu unserer Wirklichkeit liegt, wird Gott sichtbar, wirklich und machtvoll herbeiführen. Und diese gegenwärtige Wirklichkeit, aber, voller Gewalt, sollen wir für veränderlich, für endlich und irgendwann für beendet halten, um zu sagen: Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen. Und vielleicht, darauf spekulieren Gleichnis und Erzähler, kann schon diese Idee uns zum Besseren verändern. Amen.