Predigttext für den Sonntag Judika, 26. März 2023

Denn jeder Hohepriester, der von den Menschen genommen wird, der wird eingesetzt für die Menschen zum Dienst vor Gott, damit er Gaben und Opfer darbringe für die Sünden. Er kann mitfühlen mit denen, die unwissend sind und irren, weil er auch selber Schwachheit an sich trägt. Darum muss er, wie für das Volk, so auch für sich selbst opfern für die Sünden. Und niemand nimmt sich selbst diese Würde, sondern er wird von Gott berufen wie auch Aaron. So hat auch Christus sich nicht selbst die Ehre beigelegt, Hoherpriester zu werden, sondern der, der zu ihm gesagt hat (Ps 2,7): »Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt.« Wie er auch an anderer Stelle spricht (Ps 110,4): »Du bist Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks.« Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und da er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber der ewigen Seligkeit geworden, von Gott genannt ein Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks. (Brief an die Hebräer 5,1-10)

So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.

Gehorsam gehört nicht zu meinen Lieblingsworten, vielleicht geht Ihnen das ja ähnlich. Und zwar nicht zuerst, weil ich nicht bereit wäre, Gehorsam zu leisten; sondern weil ich die Situationen nicht mag, in denen Gehorsam gefordert wird; und ich finde überhaupt nicht, dass solche Situationen unser Gottesverhältnis angemessen erklären könnten: der strenge Familienvater von vor ein paar Generationen, der nicht nur von seinen Kindern sondern auch von seiner Ehefrau Gehorsam fordert; der Arbeitgeber, der von seinen Angestellten Gehorsam, gar Unterwerfung will (solls sogar in reputierlichen Kirchengemeinden geben!); der Schulmeister von seinen Schülern; der General von seinen Soldaten; der Ordensgeneral von seinen Ordensbrüdern – sogar den berüchtigten Kadavergehorsam bei den Jesuiten – das führt auf theologische Abwege, auf die übrigens auch der Autor unseres Briefes sich verirrt, wenn er anderswo so schreckliche Sätze schreibt wie: „Schrecklich ists, in die Hand des lebendigen Gottes zu fallen.“ (Hebräer 10,31) Das ist Ausdruck einer Religion der Angst vor einem tyrannischen Gott.

Auf der Suche nach entsprechenden Begriffen und Vorstellungen, die durchaus die höhere Macht Gottes anerkennen, ohne diesen tyrannisch zu verzeichnen, bin ich auf das sogenannte, weit bekannte und ebenso weit geschätzte „Gelassenheitsgebet“ des deutsch-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr gestoßen:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Dieses Gebet, Anfang des vergangenen Jahrhunderts verfasst, hat eine erstaunliche Karriere gemacht, in zwei Richtungen sozusagen, zeitlich nach vorne als quasi-liturgischer Bestandteil der Sitzungen der Anonymen Alkoholiker, wie auch sonst weithin in Beratung und Therapie, in Kirche und Andacht ja sowieso; und merkwürdigerweise auch in die Zeit zurück, in dem es dem schwäbischen Pietisten und Theosophen Oetinger, mit ihm und seiner Lehre verbunden wurde, und zwar einzig und allein einer Verwechslung wegen, die uns hier nicht weiter interessieren muss.

Gelassenheit, Mut und Weisheit erbitten wir von Gott, wenn wir dieses Gebet mit Reinhold Niebuhr beten, dass dabei selbst etwas von dieser Gelassenheit und Weisheit anklingen lässt, nur um dann auch Mut zu geben für die mutige Tat.

Gelassenheit ist ursprünglich die Fähigkeit von sich selbst abzusehen, wir verwenden es ja immer noch so, dass wir in Gelassenheit von unseren unmittelbaren emotionalen Impulsen und praktischen Reaktion absehen; und so meint es hier im Gebet eben die Einsicht, Unverfügbares oder Unabwendbares hinzunehmen, weil jede Aktion und Reaktion unsererseits ohnehin nichts ausrichten könnten. Gelassenheit als Geschehen-Lassen. Gelassenheit als besondere Form der Passivität – was ja ganz gut in die Passionszeit passt. Gelassenheit als Anerkennung einer höheren Gewalt. Gelassenheit als Leiden in Würde; im Grenzfall als Untergang, aber in Würde. Also wenn das Orchester schon mit nassen Füßen auf der untergehenden Titanic immer weiterspielt. Das ist Gelassenheit. Oder, wenn Jesus im Garten Gethsemane angesichts seines nahen Endes nach Weinen und Klagen betet: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ (Lukas 22,42); worauf sich der Hebräerbrief an unserer Stelle hier bezieht: Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.

Gehorsam und Gelassenheit verbindet die Anerkenntnis einer höheren Macht, vor der der eigene Wille zurückzustehen und deren höherer Wille zu geschehen hat. Aber während der Gehorsame in seinem Gehorsam durch Zwang gebunden bleibt, weiß der Gelassene, dass die Stunde seines Muts, die Dinge zu verändern, schlagen wird.

Dass der Autor des Hebräerbriefes hier dennoch den Begriff Gehorsam verwendet, passt in sein Gottesbild und versteht sich auch deshalb, weil der Begriff Gelassenheit erst 1000 Jahre später vom großen Theologen und Mystiker Meister Eckart gefunden wurde. Meister Eckart meint damit, dass der Gläubige von allem ablassen, alles verlassen, einfach alles lassen möge, und sogar die Suche nach Gott lassen soll, um Gott zu finden. Gelassenheit um Gottes Willen als Verzicht auf eigenes Denken, Fühlen, Wollen: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“

Diese doch sehr radikale Lehre einer am Ende vollständigen Leere, letztlich der Auslöschung des Menschen als Subjekt, der Selbstlosigkeit im Wortsinne hat Eckart Verurteilungen durch seine, also damals auch unsere, katholische Kirche eingebracht, lässt sich aber in milderer und abgewandelter Form immer noch hören und verstehen. Nur wer nicht, nicht mehr um sich selbst kreist, kann Gott als seine Mitte finden. Deshalb ist ja auch die Liebe Metapher und Inbegriff Gottes, die selbstlose Liebe, die nichts für sich selbst zu sein vermag; sich selbst loslassen für einen anderen: Liebe als Gelassenheit – im Sinne Eckarts und sicherlich nicht nach unserem heutigen Sprachgebrauch von Gelassenheit: Ein gelassener, womöglich lässiger, cooler, gar kalter Liebhaber ist ja eher nicht das, was wir uns wünschen; höchstens bei allzu ausschweifendem Überschwang an Feurigkeit lässt sich ein „tranqillo hombre!“ denken; aber lassen wir das, wir schweifen ab.

In der für uns Heutige ebenfalls etwas fremden – und ja auch im übrigen Neuen Testament nicht weiter gebräuchlichen – Symbolsprache des Hebräerbriefes zeigt und erfüllt Christus im Opfer als Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks solche gelassene, selbstlose Liebe. Im Kontrast und in Überbietung der „gewöhnlichen“ Hohepriester seiner Zeit, die jährlich und immer wieder am großen Versöhnungstag das stellvertretende Opfer vollziehen – die Sünden auf den Bock laden und in die Wüste schicken – um hier auf Erden die Menschen zu entsündigen, ist Christus der himmlische Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks, der in seinem Opfer der Liebe uns ein für alle Mal mit Gott versöhnt.

In seinem irdischen Wirken sollen wir ihn uns zum Vorbild nehmen im Beten und Flehen, aber nicht, wie der Hebräerbrief meint, in ängstlichem Gehorsam sondern in der Gelassenheit, die Gottes Barmherzigkeit gewiss ist, was er doch eigentlich sagen sollte: Und er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Zumindest ansatzweise und, was die gute Absicht angeht, kommen wir dem nach, indem wir seinen Gebetsruf aus dem Garten Gethsemane „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ im Vaterunser nachvollziehen: „Vater Unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, Dein Wille geschehe!“

In dieser Bitte zeigt sich der ganze Sinn des Gebets. Im Gebet nehme ich mich zurück und gebe Gott Raum. Ich verzichte auf Selbstbehauptung, verlasse die Kampfzone ums Dasein, lasse mich los, um Gott in mich hineinzulassen. Beten ist die Praxis schöpferischer Passivität (nach einer Formulierung Eberhard Jüngels), scheinbares Nichtstun aber voller kreativen Potentials, um dann wieder tätig werden zu können.

Meister Eckart und Reinhold Niebuhr, um nur die hier schon Genannten zu nennen, waren engagierte Ethiker in der Nachfolge dessen – des Königs der Gerechtigkeit, was Melchisedek wörtlich übersetzt heißt – von dem wir nicht nur das rechte Beten sondern eben auch das rechte Tun lernen sollen: nach der Bergpredigt, nach seiner Hilfe für die Schwachen und Kranken, nach seinem Einsatz für die Armen: „Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer“ (in der Fassung bei Lukas, 6,20).

Die Kraftquelle, aber, für das Tun der Gerechtigkeit, ist das Gebet:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. Amen.

Predigttext für den Sonntag Lätare, 19. März 2023

Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln.Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser. Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer. (Buch des Propheten Jesaja 54,7-10)

Der Prophet in der Tradition des Jesaja, dessen Wort wir heute hören, lädt dazu ein, die Krise – also zuerst seine Krise des Exils, aber dann auch andere, vielleicht alle Krisen – von ihrem Ende her zu verstehen und so zu überwinden. Trotz des ganzen Schlamassels, das – höchst aktuell! – auch in Metaphern der Naturzerstörung gemalt wird: Berge weichen und Hügel fallen, soll es am Ende gut werden: meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer. Am Ende soll alles, alles gut geworden sein. Das kennen wir.

„Whatever it takes“ – „Wir schaffen das“ – „Andrá tutto bene“ – Diese leicht wiedererkennbaren Slogans aus schweren Zeiten, die man entweder als Durchhalteparolen oder als Hoffnungsworte meinen und hören kann, haben alle gemeinsam, dass sie die jeweilige Krise – Finanzen, Flüchtlinge, Corona – von ihrem – hoffentlich glücklichen – Ende her verstehen. Der gute Ausgang wird vorweggenommen. Allein die Vorstellung, dass alles gut enden wird, scheint uns Menschen Kraft in der Krise zu geben, das Schwere auszuhalten und zu überwinden.

Das klappt übrigens durchaus auch in manchen höchstpersönlichen Krisenmomenten, meinen wenigstens, wenn ich zum Beispiel im Behandlungsstuhl beim Zahnarzt sitze, jeglicher Selbstbestimmung beraubt und keineswegs so schmerzarm behandelt wie zuvor versprochen, träume ich mir das Ende der Prozedur herbei, stelle mir vor, wo ich spazieren werde, wenn mich keine Schläuche mehr halten; male ich mir Speisekarten aus, nach denen ich kochen werde, wenn ich wieder beißen kann. Die Krise von ihrem Ende her verstehen und überwinden. Ein bisschen hilfts auch da.

Und dabei kann einem durchaus klar sein – und in klaren Momenten während einer Krise immer klar gewesen sein – dass auch eine überwundene Krise, noch die Überwindung der Krise, enorme Kosten verursacht – was schon ein kurzer Blick auf die Zahnarztrechnung verrät, und die Rechnungen der großen Gesellschafts- und Menschheitskrisen ohnehin. Es ist unermesslich, was allein die großen Krisen dieses noch jungen Jahrhunderts an Leben, Lebensmöglichkeiten und Wohlstand gekosten haben, was die Erleichterung über ihr Ende doch mehr als ein wenig trübt und im Grunde nicht viel Freude aufkommen lässt. Ungeschehen macht die Krisen nämlich ihr Ende nicht. Während der Krise mag sie vom Ende her zu betrachten sein; aber am Ende stehen wir eben doch vor einem Scherbenhaufen – bildlich oder etwa nach Kriegen ganz real; da wird einer – nicht weit von hier – jeden grausamen Kriegstag größer und größer aufgetürmt.

Deshalb stelle ich mir die Hörer unseres Propheten am Ende von Krieg, Eroberung und Exil, die Überlebenden und Zurückgekehrten aus Babylon keineswegs überglücklich oder fröhlich oder ausgelassen vor; erleichtert wohl; mit neuer Hoffnung in aller Erschöpfung; aber eben auch gezeichnet von dieser Krise; Trümmerfrauen und -männer, denen sich Krieg und Krise in die Gesichter gegraben haben; unfähig zur hellen Freude und zu Teilen sicherlich unfähig noch zur Trauer für einige Zeit.

Und ob der Hinweis auf Noah und die Sintflut so tröstlich war damals, so tröstlich ist für uns heutige, sei dahingestellt. Gewaltige Fluten, unermessliche Schäden, zahllose Opfer an Tieren und Menschen, die hat es nach dieser biblischen Geschichte ja nun gegeben – und wird es nach menschlichem Ermessen und den meisten seriösen Prognosen wieder geben. Davongekommen sind wenige und davonkommen werden nur einige – aber ob die sich freuen konnten, freuen sollen trotz der Vernichtung der Massen? Da wird einem doch eher die Freude über das eigene Leben im Halse stecken bleiben aus Trauer über das Ende der anderen. Noch der bloße Augenblick des Zorns ist mir hier zu lang, zu schwer, zu gewichtig, zu gewaltig, dass er von ewiger Gnade wirklich wettgemacht werden würde.

Was als Aufmunterung während der Krise funktionieren mag – aber ja auch nicht bei jedem und auch nicht in jeder Krise funktioniert; für viele ist das gegenwärtig erlebte Leid zu groß, dass der Gedanke an sein Ende es wirklich lindern könnte – was als Aufmunterung während der Krise noch funktionieren mag, klingt nach deren Ende leicht schal und hohl. Da ist einfach zu viel kaputt gegangen – auch das Prophetenwort in seiner Botschaft an uns?

Der Prophet im Namen des Jesaja spricht sein Wort von kurzem Zorn und ewigem Erbarmen im Zusammenhang einer ausführlicheren Bildrede über das Verhältnis des Volkes Israel zu seinem Gott, das er in alter prophetischer Tradition als Liebesbeziehung, ja als Ehe zeichnet: Gott der Liebhaber, der Ehemann – sein Volk als Geliebte, als Partner, als Gottes Frau. Wie jeder Vergleich hinkt natürlich auch dieser gewaltig, am meisten durch das Gefälle zwischen den Partnern, das keine wirkliche Beziehung aushalten würde; wer würde sich freiwillig einer Göttin, oder auch nur seiner eigenen Vorgesetzten vermählen? Das Bild enthält aber doch auch mehr als ein Körnchen Wahrheit.

Jede Liebesbeziehung, jede Ehe verläuft in Phasen, in Kurven, mit Höhen und Tiefen, „ups and downs“; sicherlich auch mit Momenten des Zorns, die aber, solange die Beziehung andauert, gemildert werden durch die Bereitschaft zur Vergebung und eingebettet sind in eine vertrauensvolle Liebe, die sich in den unvermeidlichen Momenten des Zorns so leicht nicht zerbrechen lässt. Und auch wenn ich persönlich den Beziehungstherapeuten, die Liebenden und Eheleuten herzhaftes Streiten empfehlen, nicht über den Weg traue, glaube ich schon, weiß es ja, dass eine Beziehung einiges aushält. Zerbrechlich ist und bleibt sie gleichwohl, was wir ebenfalls aus eigener Erfahrung, oder zumindest aus eigener Anschauung wissen können. Berge weichen und Hügel mögen hinfallen, und unsere Liebe kann das eben auch.

Deshalb bleibt unser Prophetenwort ein Wort auf Hoffnung hin – in einer aktuellen Krise sowieso, aber auch nach ausgestandenem Konflikt; anwendbar auf Glaube und Liebe und noch auf die Irrungen und Wirrungen der wirklichen Welt; und warum eigentlich nicht ebenfalls auf die merkwürdige Sonderwelt unserer Kirche und unserer Gemeinden.

Die Krise vom Ende her denken, könnte hier heißen, könnte für unsere vier Gemeinden heißen, Vorstellungen und Bilder zu entwickeln, die den Nachbarschaftsprozess zu einem guten Ende kommen sehen; Vertrauen zu bilden dürfte helfen; sich bereit halten, gegenseitig zu vergeben, dürfte sinnvoll sein; Momente des Zorns sollte man erwarten, damit man ihnen nicht allzu überrascht und hilflos ausgeliefert ist.

Und bis dann? Manches wird zerbrechen und zerfallen, lange bevor die Hügel hinfallen, auf denen unsere Gemeinden stehen. Jubel über ein neues Jerusalem auf den sieben grünen Hügeln des Wiesbadener Nordostens werden wir nicht hören; eher die Klagen an den Wassern eines neuen Babylon, also an den Wassern des Dambachs, des Tennelbachs, des Goldsteinbachs, des Rambachs und des Aukammbachs, den fünf Bächen unseres verlorenen Paradieses, die können schon einiges an Tränen aufnehmen und werden bekanntlich doch in zornigen Momenten zu reißenden Fluten.

Aber vielleicht gelingen uns auch Neugründungen im heimatlichen Exil, Kapellen in der Diaspora, Wege durch die Verwüstungen unseres Unglaubens, hoffnungsvoll grüne Pflänzchen des Glaubens mitten in den Trümmern der alten Kirche: Pilgerwege über Grenzen hinweg, gottesdienstliche Gemeinschaft, Diskurse über Gott und die Welt, Krieg und Frieden.

Am Ende wird keineswegs alles gut sein, aber vielleicht manches besser als wir uns das jetzt denken können. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer. Amen.

Predigttext für den Sonntag Okuli, 12. März 2023

Als er – Jesus – aber noch redete, siehe, da kam eine Schar; und einer von den Zwölfen, der mit dem Namen Judas, ging vor ihnen her und nahte sich Jesus, um ihn zu küssen. Jesus aber sprach zu ihm: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss? Als aber, die um ihn waren, sahen, was geschehen würde, sprachen sie: Herr, sollen wir mit dem Schwert dreinschlagen? Und einer von ihnen schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm sein rechtes Ohr ab. Da sprach Jesus: Lasst ab! Nicht weiter! Und er rührte sein Ohr an und heilte ihn. Jesus aber sprach zu den Hohenpriestern und Hauptleuten des Tempels und den Ältesten, die zu ihm hergekommen waren: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis. (Lukasevangelium 22, 47-53)

Die Macht der Finsternis

Die „Macht der Finsternis“ heißt ein Schauspiel, das erste Schauspiel des russischen Dichters Leo Tolstoi, sie wissen schon: „Krieg und Frieden“, „Anna Karenina“. Tolstoi hat sein „Macht der Finsternis“ im Jahr 1886 geschrieben und beschreibt darin eine Situation völliger moralischer Verwahrlosung in einem abgelegenen russischen Dorf, Menschen die für die vage Aussicht auf etwas Besitz und flüchtigen Lustgewinn wahllos andere Menschen umbringen, die „Knochen von Babys“ knacken lassen, wie der Dichter uns nicht verschont hören zu lassen; vollständige soziopathische Umnachtung: „Macht der Finsternis“.

Es berührt unheimlich, dass der Dichter Tolstoi eine Situation aus einem Land beschreibt, die in ähnlicher Weise in nicht wenigen Hintergrundberichten zum grauenvollen Krieg in der Ukraine vorkommt und als Erklärung für diesen Exzess von Unrecht und Gewalt gegeben wird: moralische Verwahrlosung, Verachtung von Frauen, ungehemmter Hedonismus, Verherrlichung der Gewalt und ihr Einsatz gegen die eigenen Leute und noch gegen Kinder, unüberhörbar im Brechen der Knochen: „Macht der Finsternis“.

Manchmal wird aus diesen Beschreibungen eine Deformation, ein Defekt eines nationalen Charakters abgeleitet, was ich falsch finde, weil wir einerseits solche Situationen der Verwahrlosung auch an anderen Orten, zu anderen Zeiten und in anderen Völkern kennen – auch im eigenen! – Und es ist deshalb auch falsch, weil wir andererseits nicht annehmen müssen, dass die Macht der Finsternis vor Ländergrenzen halt machte, oder sich räumlich-zeitlich eingrenzen ließe. Die Macht der Finsternis ist potentiell unbegrenzt; ein Rückfall in die Nacht der Unmenschlichkeit droht überall und jederzeit.

Wir haben es der Bibel und ihren Autoren sehr zu danken, dass sie trotz anderslautender Gerüchte eben kein übertrieben helles, schönfärberisches, kitschig-triviales Bild der Wirklichkeit zeichnen, sondern neben dem Licht auch die Dunkelheit; ja die ganze „Macht der Finsternis“ ausbreiten; zwar kritisieren und bekämpfen, aber eben nicht verschweigen oder zudecken. Nur wenn die „Macht der Finsternis“ in helles Licht gestellt wird, „zur Schau gestellt wird“(s.u.), wird sie erkannt. Sie selbst, „die dunkle Seite der Macht“, wählt aus naheliegenden Gründen die Nacht, wie seit jeher – alptraumhaft – die Chaosmächte in der Nacht aus den Tiefen hervorkriechen und die Schöpfungsordnung bedrohen. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.

Es folgt also aus diesem uralten mythologischen Gesetz, wie im übrigen auch alltäglicher Verbrecherlogik, dass der entscheidende Angriff im Dunkeln erfolgt, im Schutz der Nacht. Aber selbst der Räuber kann sich seiner Sache nicht sicher sein, muss sich wappnen, lieber zu viel als zu wenig, Übertreibungen inklusive: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen.

Die uns gezeichnete Szene der Gefangennahme Jesu, mit der sich die Macht der Finsternis zeigt, ist eine Nacht-und-Nebel-Aktion, voller Dramatik und sogar unfreiwilliger Komik: Ein bewaffneter Trupp nähert sich im Dunkeln, wer soll das sein, wer hat sie geschickt? Voran einer aus dem innersten Kreis der Vertrauten, der Zwölf wie ausdrücklich vermerkt wird, der weiß, wo Jesus und die Seinen die Nacht verbringen; dieser Judas schickt sich an zu seinem berüchtigten Judaskuss, ohne den kein Mafiafilm auskommt, wobei Lukas offen zu lassen scheint, ob die Berührung stattfindet; jedenfalls wird er deutlich abgewiesen, dieser Kuss und als Verrat enttarnt: Judas, verrätst du den Menschensohn mit einem Kuss?

Dann wird es unübersichtlich, ein Tumult entsteht, Worte in der Nacht, ein Handgemenge, einer aus dem Trupp verliert sein Ohr per Schwertstreich; und bekommt es postwendend wieder geheilt, immer gut, wenn ein Arzt und Heiland anwesend ist; weiter wehren sie sich nicht; Widerstand ist zwecklos: Lasst ab! Nicht weiter! Dann benennt Jesus das Verbrechen und stellt seine ganze Absurdität bloß: Ihr seid wie gegen einen Räuber mit Schwertern und mit Stangen ausgezogen? Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen, und ihr habt nicht Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.

Verrat, Heimtücke, Gewalt – das sind die Waffen der Macht der Finsternis, gegen die selbst der Menschen- und Gottessohn machtlos zu sein scheint, wir ja sowieso; nicht mehr lange, da wird sich der Himmel über Golgatha verdunkeln, alles in Nacht und Finsternis stürzen, „eine Finsternis über das ganze Land“ kommen (Lukas 23,44): „Oh große Not, Gott selbst ist Tod“, werden wir singen (so der ursprüngliche Text des Karfreitagslieds, EG 80) und weinen.

Dass es dabei nicht sein bewenden hat, gehört zu den erstaunlichsten, den unwahrscheinlichsten Wendungen der Literatur und der Weltgeschichte. Die Christen, also wir, glauben gegen jede Wahrscheinlichkeit an den Sieg des Lichtes über die Finsternis; an den Sieg des Lebens über den Tod. Das darf man dann gerne Realitätsverweigerung nennen, wenn damit gemeint ist, dass der jetzigen Wirklichkeit verweigert wird, sie für dauerhaft oder ewig zu halten; etwa wenn mitten in einem Krieg über eine gerechte Friedensordnung nachgedacht wird, für danach; oder wenn im schon erwähnten Stück des Dichters Tolstoi der Hauptverbrecher nach einer Orgie der Gewalt im letzten Akt zum Glauben kommt, seine Vergehen öffentlich beichtet und dafür büßt.

Der Apostel Paulus greift die markante Wendung „Macht der Finsternis“ in einem seiner Briefe auf, um die durch Gott in Christus herbeigeführte Wendung vom Bösen zum Guten zu benennen: „Mit Freuden sagt Dank dem Vater, der euch tüchtig gemacht hat zu dem Erbteil der Heiligen im Licht. Er hat uns errettet aus der Macht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes …“; „Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und über sie triumphiert in Christus.“ (Kolosserbrief 1,11-13; 2,15). So soll es sein. Amen.

Predigttext zum Sonntag Reminiszere, 5. März 2023

Und er fing an, zu ihnen in Gleichnissen zu reden: Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes. Und er sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs nähme. Da nahmen sie ihn, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. Abermals sandte er zu ihnen einen anderen Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. Und er sandte einen andern, den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die andern töteten sie. Da hatte er noch einen, den geliebten Sohn; den sandte er als Letzten zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg.Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen (Ps 118,22-23): »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen«? Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie hin dies Gleichnis gesagt hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon. (Markusevangelium 12,1-12)

„sono un umile lavoratore nel giardino di Dio“ – wenn Sie das jetzt nicht gleich verstanden haben, kann das an meinem oder an ihrem Italienisch liegen; oder daran dass ich das Bayrisch- Italienisch unseres verstorbenen Papstes in der Version des immer noch sehr lebendigen Satirikers Gerhard Polt sehr unvollkommen nachgeäfft habe. Dieser zitiert sich und Papst Benedikt XVI in einem Zeitungsinterview letzte Woche: Ich bin nur ein demütiger Arbeiter im Garten Gottes.

„sono un umile lavoratore nel giardino di Dio“ – sagt Polt – „hat Papst Benedikt XVI. am Anfang seiner Papstkarriere auf Bayrisch-Italienisch gesagt. In seinem Singsang. Er wollte die Schädlinge aus dem Weinberg des Herrn entfernen. Wenn jemand so etwas sagt, muss man vorsichtig sein“ – soweit Polt (NZZ vom 3.3.23). Und damit sind wir doch schon beim Thema unseres Predigttexts; auch unser Text und sein Thema können gefährlich werden und sind es lange Zeit gewesen; Vorsicht ist geboten!

Wenn nämlich – wie Jahrhunderte geschehen – die bösen und die guten Weingärtner auf „böse Juden“ und „gute Christen“ gedeutet und so festgelegt werden, ist das interpretatorische Unheil schon angerichtet und wird seinen Lauf nehmen. Was es auch hat. Unser Text von den bösen Weingärtnern, die die Boten des Herrn misshandeln und töten und am Ende selbst getötet werden, war einer der biblischen Kronzeugen für die Verfolgung, die Misshandlung, den Mord an den Juden durch Christen. An ihm wurde Schuld und Strafe des Gottesvolkes belegt; dessen Ablösung als Auslöschung durch die Christen begründet. Was läuft da schief?

Zuerst natürlich die große und grundsätzliche Bereitschaft unseren Text wie andere Texte der Bibel in dieser Weise und in dieser Richtung – nämlich antijüdisch und alsbald antisemitisch – zu verstehen. Das antisemitische Potential im Christentum scheint ungeheuerlich. Aus der anfänglichen Konkurrenz zwischen Ursprungsreligion und Neugründung bis zur viele hundert Jahre unbestrittene Dominanz des Christentums im Grunde bis heute scheint sich zwangsläufig die Abwehr alles Jüdischen und die Verfolgung von Juden zu ergeben – und dann eben auch gerne als Kampf der vorgeblich guten gegen die bösen Weingärtner des Herrn: unser Text mittendrin und ganz vorne dabei.

Eine weitere Voraussetzung für die Instrumentalisierung unseres Textes in diesem schlechtesten aller möglichen Sinne, war die definitive Festlegung der Rollen, also wer mit den bösen und wer mit den guten Weingärtnern gemeint sein musste. Gleichnistheoretisch geschieht der antisemitische Sündenfall durch das Missverständnis einer Gleichniserzählung als Allegorie, in der jedes Motiv einer Geschichte auf eine und nur eine ganz bestimmte Bedeutung in der Wirklichkeit gedeutet und damit festgelegt wird. Damit verliert das Gleichnis seine grundsätzliche Offenheit, seine Fähigkeit, unsere Augen zu öffnen, sein Potential eine Pointe zu bilden, die eben nicht das bestätigt, was wir schon immer zu wissen gemeint haben, sondern uns etwas Neues zu sagen vermag.

Eine Allegorie ist wie ein Rätsel, dass, wenn es einmal entschlüsselt ist, jeden Reiz verliert; ein Gleichnis hingegen hat eine Pointe, die unberechenbar bleibt und eigentlich nicht langweilig werden kann. Noch der demütigste Arbeiter – gerade der – im Weinberg möchte die unbestimmte Vielzahl der Bedeutungen, die er als Schädlinge betrachtet, bekämpfen, gleichsam ausrupfen; und seinen Garten eingrenzen und umzäunen, abteilen und beherrschen. Das Gleichnis aber braucht Freiheit, will wuchern, sich ausbreiten – über Zäune und Mauern hinweg.

Im Gegensatz zur allegorischen Festlegung – die, also ihr, seid die Bösen, und die, also wir, sind die Guten – lädt das Gleichnis zum gedanklichen Rollentausch ein. So wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn die Geschichte immer lebendiger wird, je mehr ich mich in den unterschiedlichen Rollen ausprobiere – der jüngere Sohn, der Vater, der ältere Sohn; so werde ich erst dann in unsere heutige Geschichte hineingezogen, wenn ich ihr und mir wechselnde, fließende Identifikationen erlaube – die bösen und die guten Gärtner, die Gesandten, der Besitzer, der sich ja auch wandelt vom schöpferischen Gärtner, zum fernen Regenten, zum Richter und Rächer – die sind ja alles ich.

Nur wenn ich etwa mich in beiden Gruppen wiederfinde, den bösen und den guten Gärtnern, entfällt die einfältige aber bösartige Zuordnung, dass die Bösen jedenfalls die anderen sind und ich dann ja wohl zu den Guten gehören muss. Weit gefehlt, wie die Vorlage unseres Gleichnisses aus dem Alten Testament, die wir als Lesung gehört haben und als Kritik am eigenen Volk, an der eigenen Religion und also an sich selbst gerichtet ist, zeigt. Denn selbstverständlich haben noch die besten, die demütigsten Gärtner im Garten des Herrn die Tendenz zum Bösen, zur Faulheit, zur Eigenmächtigkeit, zur Selbstgefälligkeit, zur Verblendung – etwa zu der, sich selbst für unfehlbar zu halten, zur Selbstvergrößerung – wer sich selbst für unentbehrlich hält, ist es bestimmt nicht; zur Habgier, und wohl auch zur Gewalt.

Auch das so ein irritierender, eher abstoßender Zug unserer Geschichte: die Gewalt. Könnten die Gärtner und Boten nicht etwas zivilisierter miteinander umgehen? Muss man immer gleich draufhauen? Das griechische Original ist erstaunlich und zugleich abstoßend kreativ in der Bezeichnung, was die Handelnden da anstellen: schinden, schlagen, auf den Kopf schlagen, durch Faustschläge ins Gesicht misshandeln, entehren, beschimpfen, töten, hinauswerfen, zugrunde richten. Die Vielfalt der Ausdrücke lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, dass Gewalt viel mehr ist als bloßes Mittel, viel mehr als reines Werkzeug zur Herbeiführung von Unrechtsverhältnissen, sondern auch – in sich! – Machtdemonstration, Tabubruch, Verletzung der Würde, Entehrung – und zwar beider, der Opfer und der Täter. In den Nachrichten lässt sich gerade jeden Abend nachvollziehen, was hier gemeint ist: kriminelle und kriegerische Gewalt, die im Falle des russischen Gewaltherrschers in eins fällt, als Angriff auf die Zivilisation, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Erst Aussicht und Einbruch höherer Gewalt – im Sinne der Gewalt eines Höheren, Größeren – beendet die Gewalt, wenigstens in unserer Geschichte, wenigstens in der religiösen Fiktion, die freilich auf unsere Wirklichkeit abzielt und sie verändern möchte. Allerdings spricht nichts dafür, dass nach einem historischen, relativen Ende von Unrecht und Gewalt, nicht wieder neues entstehen könnte, etwa indem sich die guten in böse Arbeiter wandeln. Also etwa so wie im Hollywoodfilm sich der wildeste Streit löst oder noch die widerborstigsten Liebenden im Happy End zwar finden, es aber eigentlich keinen Grund gibt anzunehmen, dass die auf der Leinwand unerzählte Nachgeschichte den ganzen Schlamassel nicht von Neuem aufrollt. Oder eben in der historischen Wirklichkeit, wenn ein mühsam errungener Frieden den Keim zu neuem Unrecht und zu neuer Gewalt schon in sich trägt. Erst ein absolutes Ende unserer verwirrten, gewaltvollen menschlichen Verhältnisse, an das Jesus und die seinen als „Einbruch der Gottesherrschaft“ glaubten, würde daran etwas grundsätzlich verändern.

Ohne in die allegorische, historische Falle zu tappen, lässt sich unsere Erzählung nur schwer auf Jesus und sein Geschick hindeuten. Aber gemeint ist doch wohl, dass hier einer, der unter den historischen Bedingungen menschlicher Gewaltverhältnisse gelitten und durch sie zu Tode gekommen ist, eine Umkehr eingeleitet hat, die selbst nicht mehr umzukehren ist: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Das Opfer unserer menschlichen Gewalt soll zum Maßstab neuer Verhältnisse der Gewaltlosigkeit werden. Der, dessen Geschichte durch unsere, menschliche Gewalt beendet wurde, beendet unsere Gewaltgeschichte. Was gegenwärtig noch als reines Wunder – mit den bekannten Glaubwürdigkeitsproblemen – quer zu unserer Wirklichkeit liegt, wird Gott sichtbar, wirklich und machtvoll herbeiführen. Und diese gegenwärtige Wirklichkeit, aber, voller Gewalt, sollen wir für veränderlich, für endlich und irgendwann für beendet halten, um zu sagen: Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen. Und vielleicht, darauf spekulieren Gleichnis und Erzähler, kann schon diese Idee uns zum Besseren verändern. Amen.

Predigttext für den Sonntag Invokavit, 26. Februar 2023

Es begab sich aber eines Tages, da die Gottessöhne kamen und vor den Herrn traten, dass auch der Satan mit ihnen kam und vor den Herrn trat. Da sprach der Herr zu dem Satan: Wo kommst du her? Der Satan antwortete dem Herrn und sprach: Ich habe die Erde hin und her durchzogen. Der Herr sprach zu dem Satan: Hast du acht auf meinen Knecht Hiob gehabt? Denn es ist seinesgleichen auf Erden nicht, fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und meidet das Böse und hält noch fest an seiner Frömmigkeit; du aber hast mich bewogen, ihn ohne Grund zu verderben. Der Satan antwortete dem Herrn und sprach: Haut für Haut! Und alles, was ein Mann hat, lässt er für sein Leben. Aber strecke deine Hand aus und taste sein Gebein und Fleisch an: Was gilt’s, er wird dir ins Angesicht fluchen! Der Herr sprach zu dem Satan: Siehe da, er sei in deiner Hand, doch schone sein Leben! Da ging der Satan hinaus vom Angesicht des Herrn und schlug Hiob mit bösen Geschwüren von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel. Und er nahm eine Scherbe und schabte sich und saß in der Asche. Und seine Frau sprach zu ihm: Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb! Er aber sprach zu ihr: Du redest, wie die törichten Frauen reden. Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? In diesem allen versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen.  

Als aber die drei Freunde Hiobs all das Unglück hörten, das über ihn gekommen war, kamen sie, ein jeder aus seinem Ort: Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama. Denn sie wurden eins, dass sie kämen, ihn zu beklagen und zu trösten. Und als sie ihre Augen aufhoben von ferne, erkannten sie ihn nicht und erhoben ihre Stimme und weinten, und ein jeder zerriss sein Kleid, und sie warfen Staub gen Himmel auf ihr Haupt und saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten nichts mit ihm; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war. (Hiob 2,1-13)

Haut für Haut, sagt der Teufel; alles hat seinen Preis, meint der Teufel; jeder ist käuflich, glaubt der Teufel; und jeder, der so glaubt, glaubt auf teuflische Weise.

Wert und Würde des Menschen werden heute verhandelt, Wert oder Würde: nicht nur im Lande Uz, in dem Hiob wohnt, sondern bei uns und überall. Wert statt Würde, so will es der Teufel. Der Teufel, der spricht: Ich habe die Erde hin und her durchzogen – , der kommt überall hin, auch zu uns. Es geht ihm um seine Geschäfte, nämlich aus allem ein Geschäft zu machen, überall einen Deal zu wittern; der Teufel ist ein Dealer, der Dealer schlechthin: Drogendealer, Waffenhändler, Menschenhändler – das zuerst und vor allem.

Für seinen Handel schleicht er sich unter die Göttersöhne, schleicht sich der Teufel vor Gott, erschleicht sich einen Deal über Hiob; das ist hier ja schon die zweite Handelsrunde: Haut für Haut. Bei seinem ersten Geschäftsbesuch ging es um den materiellen Besitz des Hiob, seinen Reichtum, seine Immobilien, seine Viehbestände, um die der Teufel den Hiob bringen darf, um die er in bringt, um ihn um seine Seele zu bringen, seine Seele zu kaufen.

Aber Hiob verweigert den Deal, hält sein Unglück aus – und provoziert somit ein weiteres Angebot des Teufels, das er nicht ablehnen kann – und doch ablehnt. Der Teufel nimmt ihm nach seinem Besitz auch seine körperliche Gesundheit, schlägt ihn mit bösen Geschwüren von der Fußsohle an bis auf seinen Scheitel; schlägt ihn mit Krankheit des Leibes, um ihm die Seele zu nehmen. Aber auch diesen Deal schlägt Hiob aus, will seine Seele behalten und bei Gott bleiben. Fragt in geradezu berückender Naivität: Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? Das kann man ja auch anders sehen. Und in den berühmten Reden des Hiobbuches, die sich unserer Szene anschließen, wird das auch anders gesehen, von seinen Freunden, die ihn besuchen – Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama – und von Hiob selbst auch.

In unserer Szene zeigen die Freunde aber zuerst, was Freunde machen und wie sie helfen können dem, der im Elend sitzt, nämlich: da sein, trauern, weinen, klagen, schweigen (und nicht reden, was sie im Rest des Hiobbuches tun), und so das Elend mittragen. Manchmal – und ich weiß, wovon ich rede – hilft nur – aber das hilft dann sogar – da sein und schweigen. Sie erhoben ihre Stimme und weinten, und ein jeder zerriss sein Kleid, und sie warfen Staub gen Himmel auf ihr Haupt und saßen mit ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte und redeten nichts mit ihm; denn sie sahen, dass der Schmerz sehr groß war.

Hiob verweigert den Deal mit dem Teufel, aber unter welchen Schmerzen, welchen Kosten! Er lässt sein Land und seinen Besitz zerstören, lässt sich massakrieren, gibt Gesundheit und Wohlergehen – aber er gibt dem Teufel seine Seele nicht. Warum macht er das? Und wieso kann er das?

Am Jahrestag des Beginns eines schrecklichen Krieges in unserer Nähe, als ein widerlicher Teufel in Menschengestalt ein ganzes Land zu einem neuen Hiob machte, das Land massakriert und vergewaltigt bis jetzt, ohne dass dieses aufgegeben hätte, aufgeben würde, muss uns das besonders berühren: Die Standhaftigkeit seiner Menschen, ihre Entschlossenheit den Teufelspakt zu verweigern, die hiobsgleiche Härte gegen sich selbst, ein Angebot, das sie nicht ablehnen können sollten, eben doch abzulehnen. Mit dem Teufel spricht man nicht, zu groß ist die Gefahr für Leib und vor allem Seele, das ist klar. Mit dem Teufel spricht man nicht, oder doch?

Gott spricht mit dem Teufel, wie wir heute hören, und zeigt also, dass es Gelegenheiten und Gründe geben kann, sogar mit dem Teufel zu reden und mit ihm in Verhandlungen zu treten; z.B. um Schlimmeres zu verhindern. Ob und wann das so im Falle dieses Krieges ist, ist in erster Linie keine Frage des Glaubens sondern Gegenstand gesellschaftlicher Debatten und politischer Entscheidungen und wir können den Verantwortlichen dafür nur eine äußerst glückliche Hand wünschen – und für den Frieden beten.

Warum, aber, und zu welchem Zweck spricht Gott in unserer Geschichte mit dem Teufel? Warum nur lässt er sich auf einen Deal mit ihm ein? Warum scheint Gott den Hiob zum Gegenstand einer Wette zu machen, zum bloßen Objekt, scheinbar zum bloßen Wert ohne eigene Würde? Warum erlaubt er dem Teufel Hiobs Käuflichkeit zu testen? Und warum verteidigt er nicht Hiobs von Gott selbst verliehene Menschenwürde und haut ihm für dessen zynisches Haut für Haut nicht aufs Maul? Ich hätte mir das gewünscht!

Zumindest der Erzähler unserer Hiobsgeschichte denkt sich Gott offensichtlich anders. Er lässt den Teufel als das Böse aus Gott heraustreten und ihm dann gegenübertreten. Der Teufel wird so das schlechthin Andere Gottes. Indem der Erzähler Gott dem Teufel das Wort geben lässt, wird das Böse hörbar, es zeigt sich, entlarvt sich selbst, lässt sich identifizieren, also auch bekämpfen. Der Kampf gegen das Böse ist damit nicht nur die Sache Gottes, sondern auch von uns Menschen. Der Kampf gegen das Böse besteht für uns Menschen im Festhalten an das Gute. Gott beteiligt uns am Kampf gegen das Böse, er, der Allmächtige, scheint uns Ohnmächtige in diesem Kampf zu brauchen, zu wollen, und darin gegen das Böse zu ermächtigen, er stiftet Allianzen gegen den Teufel. Die Geduld und die Standhaftigkeit Hiobs seien uns Vorbild im gemeinsamen Kampf gegen das Böse.

Am Ende sollen wir aber auch verstehen lernen, dass unsere menschliche Existenz zerrissen bleibt zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und dem Teufel, lebenslang zweideutig sogar in dem, was wir von Gott empfangen: Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? Die Eindeutigkeit, die wir uns in Krisen wie diesen wünschen, wird es nicht geben. Auch das ist also von uns auszuhalten, dass es das Gute im Bösen und dass es das Böse mit dem Guten gibt und geben wird. Amen.

Predigttext für den Sonntag Septuagesimae, 5. Februar 2023

Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Als das Jesus hörte, sprach er: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6):  »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.« Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder. (Matthäusevangelium 9,9-13)

Weder Zöllner noch eigentlich Sünder, da minderjährig und also auch nur vermindert schuldfähig, aber doch eine recht gemischte Gruppe und anspruchsvolle Tafelrunde: Das sind unsere Konfirmanden auch in diesem Jahr, 12 Jugendliche (wie die Apostel!), so lebendig, energisch und liebenswürdig, wie man sie sich nur wünschen kann; aber auch so anstrengend, chaotisch und einfach laut, wie man es befürchtet hatte und sowieso schon wusste.

Konfirmandenfahrt: 110 Stunden Dauerpower, atemlos und verrückt, lustig und anarchisch; von nur kurzen Phasen des Nachtschlafs unterbrochen, aber nicht wirklich unterbrochen; um gleich wieder aufzuflammen, aufzuflackern noch vor dem Frühstück; bisweilen brennt die Luft – was sage ich – diesmal brannten sogar zum Abendbrot, zu friedlichen Hotdogs auf Sandwichgurken und Röstzwiebeln, mit Desinfektionsgel flambierte Hände lichterloh; beinahe auch die Gardinen, beinahe das ganze Häuschen im winterlich-wohligen Waldkappel in Hessisch Sibirien; nur der Geistesgegenwart, der kraftvollen Stimme und dem ebenso kraftvollen Zupacken des Pädagogen verdankt sich das Fortbestehen des Hauses und die Unversehrtheit eines ganzen Konfirmandenjahrgangs 2023. Was für ein Schrecken und was für ein Glück, dass er vorüber ging!

Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Warum isst und reist unser Meister der Jugendarbeit, Achim Hoock, mit solchen Jugendlichen und lässt sich dabei von seinem nerven- und altersschwachen Pfarrer begleiten, der offensichtlich dem pubertären Sturm nicht gewachsen ist und lieber das Weite sucht. Warum tut sich der Mann das an? Warum verteidigt er leidenschaftlich diese gefährlichen Fahrten, diese beschwerlichen Begegnungen, die durchwachten Nächte und die schwarzen Ränder um die Augen? Warum verteidigt er sie mit Leidenschaft und Eifer, dass sie das Herz seiner Arbeit und die Erfüllung seiner Berufung sind – auch und gerade in den Momenten, da die Wellen über dem Kopf zusammenschlagen und die Flammen züngeln.

Ich behaupte, aus demselben, oder zumindest aus einem sehr ähnlichen Grund, der Jesus zu den Zöllnern und Sündern führt; der Jesus sagen lässt, dass er nicht zu den Gesunden, sondern zu den Kranken zu gehen berufen ist; nicht zu den Gerechten sondern zu den Sündern. Also zu denen, denen er etwas geben kann; die ihn brauchen; bei denen seine Anwesenheit und seine Tätigkeit einen Unterschied machen, ihnen zum Segen. Nur so glaubt er, die Menschen zu erreichen – und hier ist bewusst offen gelassen, wer mit diesem er gemeint ist – nur so kann er die Menschen erreichen, sie von ihrer Berufung zum Leben mit Gott überzeugen: Heute nennen wir das Konfirmation; Jesus nannte es Nachfolge: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm.

Die Aufforderung zur Nachfolge wie die Einladung zur Konfirmation gewinnen an Plausibilität, wenn der Auffordernde, der Einladende, Gemeinschaft gewährt, sich auch anstrengender, schlafraubender und fordernder Gemeinschaft nicht entzieht; und in dieser Gemeinschaft Gottes Barmherzigkeit erlebbar macht: »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.« zitiert Jesus den Propheten Hosea. Und Pädagoge Achim Hoock zitiert und umschreibt die Barmherzigkeit Gottes mit dem Gleichnis vom verlorenen Sohn: „Jeder hat bei Gott eine zweite Chance.“

Aus Angst vor einem Ausverkauf der Gnade, einer allzu billigen Gnade, kritisieren die Pharisäer Jesus, die anders als ihre historischen Vorbilder, zu ihren eigenen streberhaften und besserwisserischen Karikaturen geworden sind; gezeichnet nach dem neidischen, kleinmütigen Bruder des verlorenen Sohns. Aber so wie Gott in seinem Sohn seine Komfortzone aus Heiligkeit und Herrlichkeit verlässt, „es nicht für einen Raub hält, Gott gleich zu sein, sondern Menschengestalt annimmt“ – nötig hätte er das nicht – so sollen auch wir heraus aus den Kuschelecken – und womöglich Gummizellen – unseres Glaubens, um Gottes Gnade zu zeigen und erlebbar zu machen.

Die historischen Vorbilder unserer Pharisäerfiguren in den Jesusgeschichten hatten tatsächlich einen, wie sie sagten, „Zaun um die Tora“ gemacht; also zahllose weitere Absicherungen und Regeln gefunden und erfunden, um Gottes Gesetz zu beschützen; in Wirklichkeit, um sich abzusichern, nur ja kein Gebot zu missachten, keine Regel zu verletzen – was ja zunächst aller Ehren wert ist: Alles zu tun, damit Gottes Gebot gilt. Und dazu gehörte, dass man sich von denen, die Gottes Gebote missachtet haben oder missachten könnten, fernhielt. Wer mit Zöllnern und Sündern isst, könnte dabei selber zum Sünder werden; und wer sich mit wilden Konfirmanden gemein macht und mit ihnen auf Fahrt geht, könnte dabei seinen Auftrag von Gott aus den Augen verlieren; es geht ja nicht zuerst um Vergnügen und Spaß in der Gemeinschaft, sondern um darin Gottes Barmherzigkeit zu finden. Und es ist kaum von der Hand zu weisen, dass der Umgang mit ungezähmten Jugendlichen am eigenen Lack der Zivilisation kratzt. Also doch lieber zuhause bleiben?

Jesus hat sich bekanntlich anders als die Pharisäer entschieden, er hat keine Zäune gezogen, keine Grenzen errichtet, sondern sie überschritten; er nimmt das Risiko in Kauf, missverstanden zu werden und wurde auch missverstanden; man hat ihm Mancherlei angedichtet, ihn zum „Fresser und Weisäufer“ erklärt, der Unmoral und der Gottlosigkeit bezichtigt, und so für uns „zur Sünde gemacht“, wie der Apostel Paulus schreibt. Das hat ihn letztlich das Leben gekostet und jeder muss sich fragen, ob solche Nachfolge eine Perspektive sein soll, also dass der eigene Glaube einem selbst nicht nur wohl- sondern auch wehtun kann. Ich denke da etwa an die Narben des berühmten Jenenser Jugendpfarrers König, der die Narben seines Kampfes gegen die örtlichen Naziraudis mit Schmerz und Stolz im Gesicht trug. Die Barmherzigkeit Gottes kann sich auch im Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit zeigen.

Auch wenn nicht jeder diesen Kampf und diesen in dieser Weise kämpfen muss, gehört zum Ruf in die Nachfolge – und eben auch zur Einladung zur Konfirmation – der Hinweis zu Risiken und Nebenwirkungen des Glaubens, nämlich dass er uns etwas kosten kann, dieser Glauben; hoffentlich nicht das Leben, aber vielleicht das alte Leben. Amen.

Predigttext für den letzten Sonntag nach Epiphanias, 29. Januar 2023

Und nach sechs Tagen nahm Jesus mit sich Petrus und Jakobus und Johannes, dessen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg.
Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.
Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia; die redeten mit ihm.
Petrus aber fing an und sprach zu Jesus: Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine.
Als er noch so redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!
Als das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und erschraken sehr.
Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: Steht auf und fürchtet euch nicht!
Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein.
Und als sie vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist. (Matthäus 17,1-9)

Eine geheimnisvolle Geschichte, eigentlich kaum mehr als eine Szene, ein Tableau, ein Bild von Licht und Wolken.

Jesus geht auf einen Berg. Nur die engsten Vertrauten begleiten ihn. Nur Petrus und die beiden Söhne des Zebedäus, Jakobus und Johannes sind dabei. Sie steigen auf einen Berg, niemand weiß welchen; erst die viel spätere Tradition hat aus dem Berg Tabor den Berg der Verklärung gemacht, jenen auffälligen Berg in Galiläa, der weithin sichtbar das Land beherrscht, 455 Meter über der Jesreelebene, jener Berg, der schon seit jeher ein kultischer Ort war, schon vor den Israeliten.

Aber unsere Erzählung schweigt von einem Namen des Berges, als würde eine Lokalisierung dem geheimnisvollen Geschehen etwas von seinem Geheimnis entreißen. Der Ort der Verklärung ist kein Ort, den wir auf einer Landkarte finden könnten, keine Stätte, zu der wir pilgern könnten. Der Berg der Verklärung ist nicht von dieser Welt.

Jesus geht mit seinen drei Begleitern dorthin, sie verlassen das Gewohnte, steigen hinauf in ungeahnte Höhen, lassen alles hinter sich, erreichen einen Gipfel jenseits der Wolken, nahe beim Licht. Dort Erleben sie eine Verwandlung, eine Metamorphose.

Davon spricht der Text, so heißt es im griechischen Original: Metamorphose. Also Verklärung nicht als Überzeichnung einer Erinnerung, wie wir das Wort verwenden; Verklärung der Vergangenheit, Verklärung der Kindheit vielleicht, Idealisierung eines Verstorbenen; das also nicht. Und Verklärung auch nicht als bloß leuchtstarke Ausstrahlung eines Geschehens oder einer Person, die in das Rampenlicht, das Scheinwerferlicht – und sei es das Licht Gottes gestellt wird – damit es alle sehen können; das nun nicht – das gerade nicht, wie wir hören und lesen, denn es soll ja den Menschen verborgen bleiben.

Sondern Verklärung hier als Metamorphose, als Verwandlung: Gott, der im Licht wohnt und selbst das Licht ist, verwandelt den, der in sein Licht kommt, lässt ihn so von Licht durchdrungen sein, dass er selbst zum Teil dieses Lichtes wird, zu Gott gehörig, Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, von ihm angenommen wie ein Sohn: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!

Jesus wird in unserer Geschichte in den Sohn Gottes verwandelt. Die Geschichte nimmt die Worte auf, die über der Taufe Jesu gesagt sind – und sie nimmt das Geschehen vorweg, das mit Auferstehung und Himmelfahrt noch aussteht, die Verwandlung in den Auferstehungsleib, in die österliche Lichtgestalt, in die wir auch einst gehören werden.

Wenn eine Geschichte genau am Schnittpunkt zwischen Weihnachten und Ostern zu erzählen ist, dann diese. Im durch Licht verwandelten Jesus treffen sich Weihnachts- und Osterbotschaft, das weihnachtliche Kommen Gottes in diesem einen Menschen Jesus zu allen Menschen und das österliche Kommen aller Menschen durch den einen Menschen Jesus in Gottes ewige Gegenwart. Nicht von ungefähr leben beide Feste, leben beide Festkreise Weihnachten und Ostern vom Bild des Licht, vom Strahlen Gottes, vom Glanz seiner Herrlichkeit, in den auch wir getaucht sind.

„Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt einen neuen Schein; es leucht wohl mitten in der Nacht und uns des Kindes Lichter macht. Kyrieleis.“

So singt es das Weihnachtslied; und so singen wir an Ostern:

„Frühmorgens, da die Sonn aufgeht, mein Heiland Christus auf ersteht. Vertrieben ist der Sünden Nacht, Licht, heil und Leben wiederbracht. Halleluja.“

Soviel Licht blendet. Wer kann die Sonne anschauen. Wer würde nicht von Gottes Glanz geblendet, ja verbrannt. Auch die treuen Begleiter sehen mehr als sie verstehen können, neben dem verklärten Jesus, auch noch Mose und Elia als himmlische Gestalten. Petrus bietet an, gleichsam als religiöse Übersprungshandlung bietet er es an, drei Hütten zu bauen: je eine für Mose und Elia und Jesus. Was das wohl soll?

Immerhin ist damit eine Brücke geschlagen zur biblischen Tradition, in deren Licht die Verklärung Jesu auf dem Berg zu sehen ist.

Es war Mose, der auf dem Berg Sinai Gott begegnete und seine Gebote für sein Volk mitbekam. Mose, der vom Lichtglanz Gottes beleuchtet und erleuchtet noch soviel vom Glanz Gottes nach unten brachte, dass er sich eine Decke um das Haupt legen musste, um sein Volk nicht zu blenden.

Es war Elia, der auf dem Berg Horeb ganz Neues über Gott erfuhr, und vor allem erfuhr, dass Gott bei ihm und für ihn sein wollte.

Und es waren Mose und Elia, die als Gesetzgeber und Prophet, die Heilige Schrift Alten Testaments, Gesetz und Propheten repräsentierten, die höchste religiöse Autorität in Israel darstellten. Zu der nun Jesus aufschließen sollte – in den geblendeten Augen des Petrus. Er soll aber nach der Meinung des Matthäus nicht nur die Tradition des Mose und des Elia aufnehmen und fortführen, sondern überbieten und verwandeln. Jesus wird auf dem Berg der Verklärung kein neuer Mose, kein neuer Elia – sondern er wird verwandelt in den Sohn Gottes: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!

Den sollen wir hören und sehen, dass auch wir nach seinem Wort und nach seinem Bild verwandelt werden, hineingebildet werden in den Leib Christi. Denn das Geheimnis unserer Geschichte soll ja nicht verschlossen bleiben. Sondern soll als Geheimnis weiterwirken und fortwirken und etwas bewirken. Das war kein Geschehen, wie von dieser Welt. Es war ein Blick in eine andere Welt – in der die Auferstehung des Menschensohns und die Gegenwart Gottes schon wirklich sind – und für uns Schauende Wirkung haben soll:

Auch wir dürfen im Licht Gottes wandeln, nicht im vollen Glanz seiner Herrlichkeit, die würde uns blenden und verbrennen. Aber im Abglanz seines Sohnes, seines Wortes und seines Bildes sollen wir wandeln und verwandelt werden. Wissend, dass es solches Licht gibt, trotz aller Finsternis. Wissend, dass nicht die Finsternis sondern das Licht das Ende sein wird. Dass wir nicht in uns gekehrt in unserem eigenen Schatten sitzen. Dass wir nicht auf den Todesschatten starren und dabei erstarren. Dass wir nicht unsere dunklen Geschäfte treiben, unsere zwielichtigen Spielchen treiben. Sondern als Kinder des Lichtes, dem Licht zugewandt leben.

2. Sonntag nach Epiphanias, 15. Januar 2023

Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des Herrn vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir hersehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen. (2. Buch Mose 33, 18-23)

Auch ein schöner Rücken kann entzücken; und der verlängerte Rücken sowieso und so hat es sich der große Michelangelo nicht nehmen lassen – hat es gewagt! – an die Decke der Sixtinischen Kapelle in Rom – ja genau da, wo die Päpste gewählt werden, wenn sich nicht die Besuchermassen Rücken an Rücken aneinander reiben – neben vielem anderen auch das entblößte Hinterteil Gottes darzustellen, jetzt nicht genau als Illustration unserer Bibelstelle mit dem Gespräch Gottes mit Mose hier, sondern den Moment der Schöpfungsgeschichte, wenn Gott der Gärtner „aus der Erde Gras und Kraut aufgehen lässt, das Samen bringt, ein jedes nach seiner Art, und Bäume, die da Früchte tragen, in denen ihr Same ist, ein jeder nach seiner Art.“ (1. Mose 1,11f.) Da steht zwar gar nichts von Rücken oder verlängertem Rücken, aber vielleicht hatte der Künstler ja einschlägige Erfahrung mit der Gartenarbeit, die bekanntlich mächtig in den Rücken ziehen kann. Dass die Rückenansicht Gottes nicht nur gärtnerisch relevant und künstlerisch herausfordernd, sondern eben auch theologisch interessant ist, erfahren wir heute. Warum ist das so?

Eigentlich ist ja nach biblischer wie auch gegenwärtiger Vorstellung das Angesicht die Schnittstelle der Kommunikation; wenn wir mit jemandem sprechen, wenden wir ihm uns zu; das gebietet allein die Höflichkeit, und wenn wir jemandem wieder den Rücken zuwenden, ist das Gespräch beendet. Im Angesicht unseres Gegenübers vergegenwärtigt sich dessen Person; wenn das Gesicht verhüllt ist, fehlt da etwas; der Gesprächspartner ist nicht in derselben Weise da, wenn das Gesicht bedeckt ist. Deshalb bereiten uns ja religiöse Verschleierung oder Gesichtsmasken zum Schutz vor Ansteckung solche Probleme – von der Vermummung von Straftätern mal ganz abgesehen. Wenn das Gesicht fehlt, fehlt etwas zur Kommunikation, eigentlich.

Deshalb spricht die Bibel in ihrem hemmungslosen Anthropomorphismus, wenn sie von Gottes Zugewandtheit spricht, immer wieder vom Angesicht Gottes, dass sich den Menschen zum Segen zuwendet: „Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig, der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“ (4. Mose 6,24-26)

Das schöne Wort der diesjährigen Jahreslosung hat genau das zum Inhalt und lädt uns ein, darüber nachzudenken: „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (1. Mose 16,13); ein Gott, der mich ansieht in meiner Not, wie es die Psalmen oft und oft bitten, beten und singen; ein mich ansehender Gott, einer der weiß, wie es um mich steht, der meine Sorgen kennt, sich kümmert: ein Kenner und Kümmerer. Ohne seinen Segen können wir nicht gedeihen. Dass Gott uns dagegen seinen Rücken zuwenden könnte, müsste uns mit Sorge erfüllen.

Es sei denn Gott wendete uns seinen Rücken aus reiner Rücksicht und Barmherzigkeit zu, wie hier an unserer Bibelstelle Gott dem Mose aus Rücksicht den Rücken zukehrt. Denn das ist der Grund für Gottes Verhalten hier. Der Lichtglanz – das ist mit Herrlichkeit gemeint – der Lichtglanz von Gottes Angesicht müsste den Mose – wie ein brennender Dornbusch – verbrennen; so wie es unsere Augen verbrennt, wenn wir – etwa allzu neugierig bei einer Sonnenfinsternis – ungeschützt in die Sonne schauen – oder so wie die Haut verbrennt, wenn wir uns zu lange der Sonne aussetzen; aber auch so wie es uns verlegen macht und uns die Augen senken lässt, wenn wir plötzlich einen bisher nur aus der Ferne geliebten oder bewunderten Menschen erblicken. Beides lässt uns rot werden – als sozusagen psychosomatische Mimikry einer Verbrennung; autsch! Das tat weh.

Gott ist nach den biblischen Erzählungen recht erfinderisch, wenn es darum geht, seine Gesprächspartner zu schützen; kurz zuvor wird davon erzählt, dass Gott und Mose „wie Freunde von Angesicht zu Angesicht“ gesprochen haben; Gott scheint also seinen Herrlichkeitslichtglanz womöglich auf einen besseren Verträglichkeitsgrad dimmen zu können. Und an anderer, späterer Stelle wird davon erzählt, dass Mose trotz aller göttlicher Rücksicht noch so sehr strahlte nach seinen Gottesbegegnungen, dass er seine menschlichen Gesprächspartner mit dem Überziehen einer Decke zu schützen hatte.

Der direkte Blick in Gottes Angesicht würde uns blind machen. Die unmittelbare Gegenwart Gottes ist mehr, als wir Menschen aushalten könnten. Eine Erkenntnis Gottes ist auf diesem – scheinbar direkten – Weg nicht zu gewinnen. Dafür sind wir vielmehr auf Gottes Äußerungen angewiesen, auf seine Offenbarung. Aus dem brennenden Dornbusch lässt Gott sich dem Mose hören: „Ich werde sein, der ich sein werde“ (2. Mose 3,14) – was ein erklärendes Wortspiel über seinen Namen ist: JHWH, der nicht ausgesprochen werden darf und doch angerufen werden will, der sich entzieht, aber doch da ist, für mich da ist; und immer schon da war.

Und an unserer Stelle klingt es dem Mose aus Gottes Lichtglanz ganz ähnlich hervor: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Was uns Gott nicht selbst über sich mitteilt, werden wir nie erfahren. So aber können wir wissen, dass Gott je und je für uns da ist und da sein wird, sich um uns sorgt, uns nachgeht und nach uns sieht: sein Angesicht uns zuwendet, bzw. immer schon zugewendet hat; darin uns und die anderen um uns erleuchtet; etwa wie die Sonne den Mond anleuchtet und ihn damit der Dunkelheit der unendlichen Weiten des Universums entzieht.

Man kann das für die Pointe der Lichtglanzökonomie Gottes halten, dass wir in Gottes Licht nicht Gott selbst erkennen – nämlich weil wir ihm darin nie anders als rückwärtig, nie anders als von uns weggewandt, als vorübergegangen – also bloß in seiner Verborgenheit gewahr werden, aber ihn eben nicht eigentlich erkennen – sondern im besten Fall uns selbst und die anderen erkennen, um die es Gott geht: den Nächsten, der mich als Reflex von Gottes Gnade und Barmherzigkeit braucht. Auf ihn wird der Gottsucher verwiesen, ihn strahlt der herrliche Glanz Gottes an; in Gottes Spur finde ich die anderen, die mich brauchen, denen ich zum Nächsten werden kann.

Der große jüdische Religionsphilosoph Emmanuel Levinas schreibt: „Der geoffenbarte Gott unserer jüdisch-christlichen Spiritualität bewahrt die ganze Unendlichkeit seiner Abwesenheit […] Er zeigt sich nur in seiner Spur, wie in Kapitel 33 des Exodus. Zu ihm hingehen, heißt nicht, dieser Spur, die kein Zeichen ist, folgen, sondern auf die anderen zugehen, die sich in dieser Spur halten.“ (E.L. Die Spur des Anderen [1992] 235; zitiert nach M.L. Frettlöh, Gottes nackter Hintern und das nackte Antlitz des anderen Menschen. Beobachtungen und Reflexion zu einem tabuisierten göttlichen Körperteil, in: konstruktiv. Theologisches aus Bern 39/2012; theol.unibe.ch)

Das Entzückende an Gottes Rücken zeigt sich mir also als Leuchten im Gesicht meines Nächsten. Oder umgekehrt: Wenn ich Gott suche, lässt er sich in meinem Mitmenschen finden.

Predigttext an Weihnachten 2022

[Das Geheimnis Gottes, das ist Christus.] In ihm liegen verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Ich sage das, damit euch niemand betrüge mit verführerischen Reden. Denn obwohl ich leiblich abwesend bin, so bin ich doch im Geist bei euch und freue mich, wenn ich eure Ordnung und euren festen Glauben an Christus sehe. Wie ihr nun angenommen habt den Herrn Christus Jesus, so lebt auch in ihm, verwurzelt und gegründet in ihm und fest im Glauben, wie ihr gelehrt worden seid, und voller Dankbarkeit. Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus. Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und ihr seid erfüllt durch ihn, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist. 

(Brief des Paulus an die Kolosser 2,3-10)

Es war einmal – so fangen Märchen an – es war einmal eine Zeit, dass die Menschen ganz selbstverständlich, in aller Naivität oder in tiefer Weisheit im Glauben ihr Leben führten, vor Gott ihr Tagwerk verrichteten und sich von seinen Engeln in den Schlaf betten ließen:

Abends, will ich schlafen gehn,
vierzehn Engel um mich stehn:
zwei zu meinen Häupten,
zwei zu meinen Füßen,
zwei zu meiner Rechten,
zwei zu meiner Linken,
zwei die mich decken,
zwei, die mich wecken,
zwei, die mich weisen
zu Himmels Paradeisen!

Das war das Abendgebet meines Vaters – Gott hab ihn selig – das ihn im Glauben  hoffentlich dorthin geführt hat, wovon er sprach. Er hat den Glauben an Himmels Paradeisen ausdrücklich geteilt und es erfüllt mich noch heute mit wilder Scham, wenn ich mich an ein Gespräch von vor 40 Jahren erinnere, bei dem ich ihm als Erstsemester der Theologie seinen naiven Kinderglauben an das Paradies im Himmel austreiben wollte. Es bleibt nur zu hoffen, dass ich ihn nicht weiter mit meinen halbgaren säkularen Belehrungen beeindruckt habe!  

Gerade an Weihnachten gehen unsere Gedanken an die, die nicht mehr mitfeiern können. Wir beziehen sie ein, nennen Erinnerungen, halten ihnen einen Platz frei, wenn nicht am Tisch, so doch im Herzen. Je älter wir werden, desto mehr feiern mit uns, die nicht mehr mit uns feiern können. Deshalb ist die Weihnachtsstimmung für viele keine ausgelassene Fröhlichkeit, dazu passierte zu viel über die Jahre, sondern sie ist eher eine verhaltene Freude und das Gefühl aufgehoben zu sein in Erinnerungen, Ritualen und der Hoffnung auf das, was uns unsere Eltern und Großeltern zu glauben gelehrt haben und uns selbst die aufgeklärtesten Pfarrer nicht ausreden konnten: „Himmels Paradeisen“, zu denen an Weihnachten die Tür geöffnet wird: „Lobt Gott ihr Christen alle gleich, in seinem höchsten Thron, der heut schließt auf sein Himmelreich und schenkt uns seinen Sohn“.

Zu den liebsten Ritualen der Weihnachtszeit gehört der Besuch der Märchenoper „Hänsel und Gretel“, Engelbert Humperdincks Weihnachtsklassiker, der in Wiesbaden seit Jahren mit großem Erfolg aufgeführt wird, wobei sich Kenner und Veteranen darüber streiten, ob nicht die vorherige Inszenierung der seit 2015 gespielten aktuellen Version vorzuziehen ist, weil nämlich einfach die Hexe damals mehr Wumms hatte, viel böser war, echten Schrecken verbreiten konnte – und darum auch die Befreiung aus ihrer Herrschaft umso mehr Erleichterung schuf: als Erlösung vom Bösen.

Anders als die aktuelle Inszenierung und mit ihr viele weitere heutzutage, die die religiöse Dimension des Stücks mehr oder weniger völlig ausblenden, spielt die Oper Humperdincks – unseres Straßennachbarn; soviel Lokalstolz muss sein! – mit zahllosen Motiven der Volksreligion, wie etwa der von Gott heraufgeführten strafenden und ausgleichenden Gerechtigkeit, und variiert zentrale Themen der Bibel, wie z.B. der Himmelsleiter oder dem aus dem Vaterunser bekannten Strukturgegensatz Versuchung und Erlösung: „Führe uns nicht in Versuchung – des Knusperhauses, sondern erlöse uns von dem Bösen – der bösen Hexe“. Dabei bildet der Abendsegen der vierzehn Englein Mitte und Schwerpunkt des Stücks, und sein musikalisches Motiv zieht sich an allen wichtigen Momenten durch. Die Oper beginnt und endet mit ihm und lässt es immer wieder leitmotivisch anklingen, so dass sie allein musikalisch als Erlösungsdrama anzusprechen ist.

Die säkularisierte Fassung in Wiesbaden, die Religion und Glauben ausblendet, verweigert der Musik ihre sichtbare Entsprechung auf der Bühne und scheint darauf zu hoffen, dass die Besucher das Stück nicht gut genug kennen oder die Sänger nicht verständlich singen. Augenfällig wird das in der Engelspantomime direkt nach dem Abendsegen, wenn statt Himmelsleiter und den Engeln auf ihr und dann um die schlafenden Kindern herum eine Schar Waldgeister – herrenlose Mächte und Gewalten – in phantasievollen Kostümen aus dem Wald strömt und die Kinder neugierig besichtigt. Für sich genommen ist das eins der schönsten und wirkungsvollsten – nämlich märchenhaftesten – Bilder der ganzen Aufführung, im Kontext der Musik aber eine verfälschende Säkularisierung.   

Mit unserem Bibelwort gesprochen, wird den Mächten und Gewalten ihr Haupt, nämlich Christus, genommen. Man muss das für keine theaterdonnernde Dramatisierung halten: Indem zugunsten der Überlieferung der Menschen und der Elemente der Welt der christliche Glaube ausgeblendet wird, verlieren wir die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig und darüber alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis. Das mag für einen Abend in der Oper leicht zu verschmerzen sein – wie gesagt: die Wiesbadener Inszenierung ist unbedingt einen Besuch wert, morgen ist übrigens die letzte Aufführung in dieser Saison – aber für unser ganzes Leben betrachtet bedeutet unsere religionslose Existenz einen immensen Schaden an Leib und Leben.   

Lasst uns also nicht den Märchen von der gottlosen Welt glauben, wie sie gegenwärtig in den Gazetten erzählt werden, wenn bis in die sich für konservativ haltende Presse hinein der Säkularisierungsmythos gepflegt wird. Christlicher Glaube scheint gerade rechtfertigungspflichtig zu werden. Was, Du bist noch Mitglied der Kirche? Dabei heißt Religionsfreiheit doch nicht allein und nicht zuerst Freiheit von Religion, sondern Freiheit zur Religion. Ich darf glauben – auch im säkularen Staat. Und zu glauben tut nicht nur mir sondern auch der Gesellschaft gut: Ohne Gott verliert unsere menschliche Existenz die maßgebliche Instanz, die uns erst zur Rechenschaft zieht. „Ihr werdet sein wie Gott“ – lautet die Verheißung der Gottlosigkeit.

Gegen die Säkularisierungsdepression in- und außerhalb der Kirche setzt unser Predigttext einen putzmunteren, selbstbewussten, offensiven Ton, von dem wir einiges lernen können: Lasst euch nicht betrügen mit verführerischen Reden. … Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus. Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig, und ihr seid erfüllt durch ihn, der das Haupt aller Mächte und Gewalten ist. 

Wie heißt es noch im Märchen am Ende: Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Wenn er nicht gestorben ist – nämlich der christliche Glaube – dann wird er auch morgen noch leben und wirken, in uns und unseren Kindern; tagsüber, aber auch in unseren Abendgebeten, die wir ihnen weitergeben; und das nicht nur zur Weihnachtszeit:

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.  

Amen.   

Predigttext an Heiligabend 2022, über die Weihnachtsgeschichte Lukas 2

„Stille Post“ zur „Stillen Nacht“: 

Von Kindergeburtstagen – und heute feiern wir ja den Geburtstag eines Kindes – von Geburtstagsfeiern kennen wir das Spiel „Stille Post“, das geht etwa so: Dem ersten in einer Reihe wird ein Begriff oder ein Satz ins Ohr geflüstert, der das, was er verstanden hat, dann dem Nächsten zuflüstert und immer so weiter, bis der letzte ausspricht, was bei ihm angekommen ist. Ziel des Spiels ist – glaube ich – keineswegs die möglichst korrekte Wiedergabe des Ursprungs, auch nicht seine absichtliche Verunstaltung, sondern der kreative Umgang mit ihm, wobei jener – also der Ursprung – schon irgendwie auch im Ergebnis anklingen sollte. Wenn es gut läuft, macht das einen Riesenspaß und vermittelt obendrein spielerisch etwas von der kreativen Dynamik eines Überlieferungsprozesses. Einiges geht verloren, anderes wird gewonnen, wie immer kommt es darauf an, dass die Bilanzen stimmen.Und die frühen Redakteure der Bibel werden gewusst haben, warum sie das so betonen, dass kein Wort abgezogen und kein Wort hinzugefügt werden darf – denn genau das haben sie getan und genau so ist die Bibel entstanden! 

Es mag etwas frivol klingen, die Erfahrungen mit der „Stillen Post“ auf Bibel und Weihnachtsbotschaft anzuwenden; und wie jeder Vergleich hinkt natürlich auch dieser gewaltig, enthält aber dennoch das eine oder andere Körnchen Wahrheit, vor allem die Wahrheit, dass wir uns gegenseitig die Weihnachtbotschaft so weitersagen sollten, dass sie neuund interessant klingt, obwohl wir sie ja gut kennen, sie „alle Jahre wieder“ hören und schon oft gehört haben; also dass eine Pointe in ihr laut wird, die uns überraschen kann, ohne uns zu befremden. Das Alte neu hören; und im Neuen das Alte wiedererkennen.

Und uns froh und fröhlich machen, das darf sie dabei auch; auch wenn es zunächst gar nicht danach klingt. Auch die Ursprungsgeschichte erzählt ja kein bürgerliches Idyll und schon gar keine Hüttengaudi zum Schenkelklopfen, sondern erzählt von denkbar prekärenFamilienverhältnissen, von Armut und Mangel, erzählt vom Leben unter einem gewaltbereiten Besatzungsregime, von Nacht und Not – und erst dann von „großer Freude“ jubelnder Engel. Die Engel wissen schon mehr als die Familie im Stall und die Hirten auf dem Feld, und viel mehr als wir hier. Wussten wir mal mehr? Waren wir früher frommer? War mehr Lametta?

Wer die öffentliche Diskussion über Kirche und Glaube verfolgt, wundert sich, dass es uns noch gibt. Wenn ich in den letzten Wochen und Tagen richtig gelesen habe, schreibt selbst die für konservativ geltende Presse die Kirchen – und keineswegs nur die unter ihren Skandalen ächzende katholische Kirche – als gesellschaftliche und mehr noch als moralische Größe ab; geschieht uns recht, könnte man sagen, denn auch wir Evangelischen lassen ja keinen Quatsch aus, den wir dann auch noch Kirchenreform nennen: „ecclesia semper deformanda“. Von wegen „Stille Post“ zur „stillen Nacht“; die Boten scheinen doch eher zu verstummen. Das Ende des Konstantinischen Zeitalters, in dem der christliche Glaube anerkannt und verbreitet war, der Untergang des christlichen Abendlandes scheint unaufhaltsam. Es sei denn, es sei denn … die Botschaft erwiese sich als haltbarer als ihre Boten. 

Die Weihnachtsgeschichte führt uns in vorkonstantinische Zeiten, ins Morgenland zurück; es ist der Kaiser Augustus, der die Welt regiert, ihr mit harter Hand seinen Willen als „Pax Romana“ aufzwingt; mit harter Hand und seinen Legionen, die nur wenn sie frech geworden ausnahmsweise im winterlichen Matsch unwegsamer Wälder stecken bleiben. Und das alles haargenau in dem Moment, in dem Gott durch seinen Sohn einen ganz anderen Frieden – den „Schalom Gottes“ – aufziehen lässt. Zeitenwende – aber richtig! Zeitenwende, nach der unsere Zeit gerechnet wird, seit 2022 Jahren, wie lange noch?

Der Evangelist und Chronist Lukas gibt sich alle Mühe, seine Geschichte vom Rande der damals bekannten, also römischen Welträumlich und zeitlich einzuordnen: Kaiser, Statthalter, Provinz, Zeit und Anlass weiß er zu nennen. So genau hätten wir es gar nicht wissen müssen; ob er es denn so genau wusste? Aber seine Absicht ist natürlich klar: das Weihnachtswunder ist in die wirkliche Welt hineingeschehen und bildet den größten möglichen Kontrast zu allem, was im Imperium Romanum Rang und Geltung hat. Denkt euch das unbedeutendste Geschehen im armseligsten Nest in der abgelegensten Gegend, und zieht dann noch einmal die Hälfte ab, oder legt eine Schippe drauf – so kontrastiert Lukas Bethlehem und Rom. Wenn Rom der Nabel der Welt ist, dann Bethlehem der … aber lassen wir das! Und von diesem Ursprung betrachtet war es vielleicht verständlich aber eben nicht die beste Idee des entstehenden Christentums, sich ausgerechnet in Rom sein Zentrum zu suchen. Das Konstantinische Zeitalter mit Rom als seinem Gravitationspunkt – ein Irrtum? Der Weg nach Rom – ein Irrweg? Da sind schon andere draufgekommen.

Kein Haus sondern ein Stall, keine Herberge – geschweige denn Tempel oder Palast – sondern eine Krippe ist der Ort der Geburt des Heilands; gleich dreimal kurz hintereinander nennt der Evangelist Lukas diesen für Geburtszwecke reichlich ungeeigneten Ort: „in der Krippe“; immerhin widerholt er auch das „In-Windeln-Gewickelt“ des Knäbleinsmit allen olfaktorischen Implikationen: auch die Windeln des Heilands werden nach Bedarf gewechselt worden sein. „In Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend“ soll heißen: ärmlich, aber versorgt;unbequem, aber sauber; nackt, aber die Blöße bedeckt; an abgelegenem Ort, aber nicht schutzlos abgelegt.

Gemessen an den armseligen Umständen ist viel los in oder bei jener Krippe in Bethlehem: Engel aus dem Himmel und Hirten von der Herdefinden sich ein, viel Aufmerksamkeit für eine junge Familie, die sich in der neuen Situation erstmal einrichten muss. Mit der im Vergleich zu Lukas ganz anderen Geburtsgeschichte des Matthäus denken wir unwillkürlich weitere Besucher, weitgereiste Weise und Sterndeuter,dazu – aus denen ein langer Prozess „Stiller Post“ die „Drei Heiligen Könige“ gemacht hat, für deren Verehrer es sich sogar irgendwann gelohnt haben muss, namenlose Gebeine aus Mailand ins heilige Köln zu verbringen. Aber sogar Namen für die Könige haben Hellhörigen im Geflüster der Überlieferung herausgehört: Caspar, Melchior und Balthasar, die von lateinkundigen Mitflüsterern als Segenswort abermals dechiffriert wurden: C-M-B: Christus mansionem benedicat: Christus segne dieses Haus!

Und wenn wir gerade dabei sind: In einer weiteren Kapriole hat die Überlieferung ausgerechnet auf dem Gebiet des ehemaligen und in seinen Ruinen immer noch unübersehbaren römischen Reiches aus dem anderen Namen des Dreikönigsfestes – Epiphanias – eine Knusperhexe heraus- oder hineingehört, eine Rosina Leckermaul auf Italienisch, die am Ende der Weihnachtszeit die Kinder mit Süßigkeiten beschenkt: die gute Hexe Befana – von der ist es nur ein kurzer Weg durch „die Nacht ohne Sterne und Mond“ zu Humperdincks Meisterwerk für die Weihnachtszeit – „Hänsel und Gretel“ natürlich – , das übrigens übermorgen zum letzten Mal in dieser Saison in Wiesbaden aufgeführt wird. Vielleicht gibt’s noch Karten.

„Wahr“ ist das, wie alle solche Geschichten wahr sind, nämlich als Anwendungen der Weihnachtsbotschaft auf uns selbst, höchstpersönlich und individuell. So wie Engel, Hirten und Weise das Kindlein segnen, seine Eltern, seinen Stall segnen – so möge es uns segnen. Unser Haus soll an Weihnachten zum Stall von Bethlehem werden, in dem wir uns um die Krippe versammeln; und hier in der Thomaskirche ist das sogar an der schlichten, stallartigen Wandgestal(l!)tung zu besichtigen; kein üppiger Schmuck wie sonst vielfach in den Knusperhäuschen des Historismus, sondern eine schlichte Bretterwand, der signature move,unseres Baumeisters Rainer Schell! Wir haben es direkt vor Augen: Hier und heute ist Bethlehem, ist Heiliger Abend, ist Weihnachten, mit uns hier im Stall, weitgehend ohne Geruch. Das geht in Ordnung.

Weihnachtsüberlieferung ist kulturelle Aneignung in Reinform und auf Gegenseitigkeit. Sie fordert unser eigenes Bestes und sie schenkt uns das Beste eines anderen, des ganz Anderen; mit den Worten unserer Geschichte: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens. Was ersehnen wir uns mehr als Frieden! Frieden auf Erden – ganz besonders im geplagten Land der Ukraine und dass die Legionen des Gewalttäters in Matsch und Wald stecken bleiben mögen – wie damals der verblendete und unglückselige Feldherr des Augustus ziemlich ungefähr zur Zeit Jesu Geburt!

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens. Auch an dieser berühmten Stelle haben bekanntlich nicht alle dasselbe gehört und dasselbe weitergegeben; noch Luther hat mit wichtigen Textzeugen Friede auf Erden den Menschen ein Wohlgefallengelesen und es ist nicht lange her, dass ich in einem bitterbösen Brief der Bibelfälschung bezichtigt wurde, bloß weil ich mit der wahrscheinlich originalen Version Menschen von Gottes Wohlgefallen angeblich ausgeschlossen hätte. Dabei ist der Unterschied ein nur scheinbarer, denn auch die Fassung Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens schließt keineswegs jemanden aus, wenn man bedenkt, dass alle Menschen unter Gottes Wohlgefallen stehen. Auch wenn wir uns von Gott abwenden mögen, wird er sich doch uns immer wieder zuwenden. Gottes Art der Zuwendung zu uns Menschen ist sein Wohlgefallen, das sich als Frieden – als Schalom – äußert: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens.

Solches hörend, brechen die einen – mit den Hirten – in Lob und Jubel aus; andere – mit Maria – bewegen es still in ihrem Herzen, die Temperamente sind verschieden; nicht jeder ist auf dieselbe Weise religiös musikalisch, mancher gar nicht und wendet sich ab, wie Schade. Dabei kann ich nicht glauben, dass es an dieser durch und durch frohen Botschaft liegen soll, eher doch an den Boten, die beim Flüstern nuscheln, oder gleich ganz verstummen. Wir jedenfalls wollen jetzt gemeinsam darüber laut werden: Ehre sei Gott in der Höhe!