5. Sonntag nach Trinitatis, 4. Juli 2021

Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft. Denn es steht geschrieben (Jes 29,14): »Ich will zunichtemachen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.« Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? Denn weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die da glauben. Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind. (1. Korinther 1,18-25)

„Fußball ist wie Schach, nur ohne Würfel.“ („Lukas Podolski“, aber eigentlich Jan Böhmermann als derselbe)
In diesen Tagen liegen, was Torheit und Weisheit angeht, Fußballweisheiten besonders nahe:
„Mal verliert man und manchmal gewinnen die anderen.“ (Otto Rehagel)
„Da hat man schon kein Glück und dann kommt noch Pech dazu.“ (Jürgen Wegmann)
„Fußball ist ein einfaches Spiel. 22 Leute jagen 90 Minuten einem Ball hinterher und am Ende gewinnen immer die Deutschen.“ (Gary Lineker)
Nicht immer bereitet es ein so großes Vergnügen, die Torheit von Weisheiten zu verspotten wie bei solchen Fußballweisheiten. Oft genug werden sie – das kann sie entschuldigen – wenige Minuten nach dem Schlusspfiff von denen geäußert, die vorher dem Ball hinterherrannten und die im günstigen Fall schussgewaltiger sind als wortgewaltig, passgenauer mit dem Ball als präzise mit ihren Worten. Beim Fußball liegt die Wahrheit schließlich auf dem Platz und nicht im Mikrophon. Und außerdem hätte jeder auch vor dem vergangenen Dienstag wissen können – wenn er vielleicht nicht gerade aus England kommt – dass deutsche Fußballer ganz prima verlieren können, auch hoch und auch deutlich. Eine Chronik krachender Fußballkatastrophen erspare ich uns, aber sie würde bestimmt nicht bei diesem Turnier beginnen und ganz sicher wird sie dort nicht enden.
Vermutlich gehört das sogar zu den größten Stärken von Sportlern und echten Champions, Schwäche auszuhalten und Niederlagen zu ertragen. Natürlich rennen, spielen, raufen wir, um zu gewinnen, aber je mehr Mitbewerber umso größer die Wahrscheinlichkeit, nicht zu gewinnen. Das weitaus wahrscheinlichste Ergebnis einer Europameisterschaft mit 24 Teilnehmern ist, einer von den 23 Verlierern zu sein und nicht der eine Europameister zu werden und weise ist folglich der, der mit seiner Niederlage rechnet und sie aushalten kann. Zum Tor aber macht sich der, der den anderen keine Tore zutraut.
Schwäche aushalten, Niederlagen ertragen, mit Verlusten rechnen – das wäre der nicht-religiöse Ertrag der christlichen Religion, der auch sportlich relevant ist, aber noch viel mehr als das. So wie der Fußball insgesamt Spiel und Spiegel des Lebens ist, so ist er es gerade in dieser Sache von Verlust und Niederlage: Jedes Leben endet mit einer Niederlage, in der Niederlage des Todes und es ist sinnvoll, sich darauf einzustellen. Nicht nur Hochbetagte müssen mit dem Tod rechnen (was uns in unglücklichen Grenzfällen bis auf den Fußballplatz verfolgt wie zu Beginn der EM: Spiel und Spiegel des Lebens!) und es macht immer ein wenig ratlos, wenn die Angehörige dieser Hochbetagten zum Ausdruck bringen, dass ihre 90-, oder 100jährigen Verwandten unerwartet gestorben sind. Womit hatten sie denn gerechnet? Was hatten sie denn erwartet?
„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“ (Evangelisches Gesangbuch 518) – und an seinem Rande noch viel mehr. Bewusstes Leben hat sich damit auseinanderzusetzen: „Herr lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Psalm 90,12). Die alten Griechen haben diesen Umstand zum Wesensmerkmal der Menschen gemacht und von uns Menschen als den Sterblichen gesprochen – im Gegensatz zu den Unsterblichen, nämlich den Göttern. Und auch der merkwürdige Gebrauch des Begriffs höherer oder niedriger Sterblichkeit durch die Wächter der Corona-Pandemie kann über den Umstand nicht hinwegtäuschen, dass die menschliche Sterblichkeit bei genau 100% liegt und – nach Ansicht der Griechen – die der Götter bei exakt 0%: Alle Menschen sterben, aber kein Gott.
Vor diesem Hintergrund geht Paulus davon aus – und vielleicht hat er auch welche in der griechischen Metropole Korinth so reden hören – dass den für ihre Liebe zur Weisheit berühmten Griechen das Wort vom Kreuz eine Torheit, also ein Quatsch, ein Blödsinn ist – und zwar gleich eine doppelte Torheit sein muss, da es den Tod des unsterblichen Gottes und die Auferstehung eines sterblichen, gestorbenen Menschen verkündet: Jesus Christus als gekreuzigter Gott und zum ewigen Leben auferweckter Mensch. Was für ein Quatsch, werden sie in der Mehrheit gesagt haben, was für ein Blödsinn, was für eine Torheit! Wie es sie für uns Heutige ja immer noch ist, weil sie allem, was wir für wahr halten zwischen Himmel und Erde widerspricht: Menschen leben nicht ewig und Götter – falls es sie geben sollte – sterben nicht.
Von der griechischen Reaktion ist die der jüdischen Landsleute des Paulus nur wenig unterschieden: sie halten die Rede von einem auferweckten Gekreuzigten für ein Ärgernis, für ein Skandal, wie es im Original heißt – also ebenfalls für einen Blödsinn, aber einen anstößigen Blödsinn, wohl weil er erkennbare jüdische Wurzeln hat und die jüdische Religion gleich zusammen mit der jüdischen Sekte – die die christliche Religion zu Zeiten des Paulus noch war – zu diskreditieren droht: Die Christen könnten von anderen, von Außenstehenden, für Juden gehalten werden – wurden das auch in jener Zeit – und dann mit solchen – wie sie es für sie waren – gotteslästerlichen Reden eines sterbenden Gottes und ewig lebenden Menschen identifiziert werden. Mehr als nur ärgerlich, ein Skandal! Was erlauben sich die Christen! (Der aufmerksame Fußballfreund darf hier das ferne Echo dieses Vorwurfs mithören: „Was erlaube Struuunz?!“ [Giovanni Trapatoni in seinem legendären Fernsehinterview])
Paulus wendet sich gegen solche möglichen und tatsächlichen Vorwürfe – und verzichtet dabei auffallend auf Erklärungen oder gar Rechtfertigungen, die ohnehin nicht verfangen würden: bei den Kritikern sowieso nicht und die Glaubenden brauchen sie nicht, da in ihnen das angeblich törichte und skandalöse Wort längst wirkt: als Gottes Kraft, die mehr und anderes als die ewige Fortsetzung unseres bisherigen Lebens bewirkt! Das Leben geht nicht einfach so weiter, oder doch?
„Lebbe geht weider“ ist als weises Wort des großen Frankfurter Fußballlehrers Stepi Stepanowitsch in die Herzen der Fans und die Weisheitslehren des schönen Spiels geschrieben: als Glaubenssatz nach schmerzlichen Niederlagen, als Trostwort verletzter Gemüter und als Aufmunterung zu neuen Anstrengungen. Wer könnte diesen Zuspruch gerade nötiger haben als die gekränkte deutsche Fußballseele: „Lebbe geht weider“, so haben es die verständigen Mütter und Väter ihren verstörten Kleinen am Dienstag erklärt.
Aber so sehr in diesem Wort eine Verheißung künftiger Auferstehung aus den Ruinen in Glanz und Gloria – vom Tod ins Leben – laut wird, so wenig trifft es die Aussageabsicht vom Wort vom Kreuz, das keine Verlängerung der irdischen Lebenszeit verspricht und keine Rückkehr ins alte Leben; sondern ein gänzlich neues und anderes Leben bei Gott – durch einen Gott, der den Tod auf sich nimmt, um uns dieses neue und andere Leben zu geben.
Für welche Torheit, für welche Weisheit entscheiden wir uns – oder eher: welche Torheit, welche Weisheit hat sich uns erwählt und lebt längst in uns? Oft genug muss man sich entscheiden – man kann nicht alles haben! – oft genug geht nur das eine oder das andere. Manchmal aber doch nicht. Als herrlichster Torheit der Welt, darf man sich am Fußball erfreuen, ohne der törichten Weisheit unseres Glaubens zu entsagen. Es könnte sogar sein, dass einem im Spiel die ernsten Dinge des Lebens klarer werden – und das umgekehrt der Glaube uns Schwächephasen und Niederlagen im Spiel erklären und ertragen hilft.
Spielen und Glauben können sogar Verbündete sein, wenn sie jeweils auf ihre Weise die Torheit falschen Ernstes und die Torheit falscher Gewissheit entlarven: Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind.
Und so wollen wir in dieser Sommer- und Urlaubszeit noch ein letztes Mal auf die weise Torheit eines unserer Fußballhelden hören, der in seiner aktiven Zeit immer wieder von sich reden gemacht hat. Es soll uns Weisung und Weisheit für Urlaub und Urlaubsziel sein:
„Mailand oder Madrid. Hauptsache Italien!“ (Andi Möller, der in seinen präzisen Analysen von seinem Trainer Stepanowitsch profitiert haben dürfte.)
Amen.

4. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juni 2021

Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte.Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen. (1. Buch Mose 50, 15-21)

Meine große Schwester erinnert sich an ihren Religionsunterricht in der Grundschule, dass sie dort jedes Jahr die Josephsgeschichte durchgenommen hätten und sie will damit nicht sagen, dass das besonders interessant gewesen wäre, war es nämlich nicht, und ich habe darin auch immer die Warnung an den kleinen Bruder mitgehört, diesem Beispiel nicht zu folgen.

Das mag zum Teil einer gewissen rückblicksbedingten Übertreibung geschuldet sein, aber wenn nun diese Erinnerung weder Begeisterung für das Fach noch Interesse an der Geschichte hinterlassen hätte, so wäre das schon auch bedauerlich; zuerst natürlich, weil Religion bekanntlich das schwierigste und zugleich das schönste Schulfach ist, weil es da nicht nur um etwas sondern um alles geht – aber auch weil gerade die Josephsgeschichte eine überaus spannende und lebensnahe Erzählung ist – eine Art Novelle, die die Verhältnisse und Konflikte unter Geschwistern darstellt und deutet, wie sie – behaupte ich – jeder Bruder und jede Schwester mit ihren und seinen Geschwistern erlebt: Vertrautheit und Entfremdung, Liebe und Gewalt, Eifersucht und Solidarität, leuchtendes Vorbild und abschreckendes Beispiel, Bevorzugung und Zurückweisung durch die Eltern, Trennung und Versöhnung, gemeinsame Erzählungen und abweichende Erinnerungen, sogar die Neufigurierung in Patchworkfamilien mit teils denselben und teils neuen Elternteilen: all das buchstabiert die Josephsgeschichte in ihrem Zeitkolorit durch – ganz wie im richtigen Leben unter Geschwistern. Genau das – also die Fülle der Identifikationsmöglichkeiten – dürfte der Grund ihrer religionspädagogischen Popularität sein wie auch ihre Anziehungskraft als Vorlage moderner Literatur: „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ wie Thomas Mann seinen Josephsroman beginnt.

Mit unserem Predigttext blicken wir ganz am Ende der Erzählung in den tiefen Brunnen der Vergangenheit, sollen die Vorgeschichte der Szene mitdenken, wie wir sie im Gedächtnis haben – auch wenn wir sie nicht in der gleichen Gründlichkeit studiert haben sollten wie meine Schwester – und wir sollen – tun das natürlich auch ganz unwillkürlich – mit unseren Geschwistererfahrungen abgleichen, uns an das gemeinsame Glück erinnern und das gegenseitige Leid, die völlige Vertrautheit als Kind, die als Erinnerung immer noch da ist – wen kennen wir besser und mit wem haben wir mehr erlebt als mit unseren Geschwistern? Unseren Liebes- und Lebenspartner schonmal nicht, denn der ist ja erst irgendwann viel später in unser Leben gekommen – und dann das eigene, eigenständige und gegenseitig fremde Leben als Erwachsene – wer kann sich fremder werden als Bruder und Schwester? Beinahe fremder als getrennte und geschiedene Paare, weil der Riss noch tiefer geht, bis zur Wurzel meiner selbst.

Die Geschwisterdynamik der Jakobssöhne, die doch die gleiche Wurzel haben, gemeinsam aufgewachsen sind, sich mal gemocht, geliebt haben mussten, kennt das ganze Register von Überheblichkeit hochfahrender Träume bis Neid über ein Geschenk des Vaters, einen albernen roten Rock!, und Eifersucht über die Liebe der Eltern; sie weiß von Dominanzgebahren – „ich bin größer, stärker und klüger als Du“, von Verschwörung – „dem zeigen wir´s“ – bis zur Mordlust und dem Wunsch, dass der andere ganz weit weg sein möge, nach Ägypten hin und weg, damit man sich nie wieder sieht. Aber man sieht sich wieder, man begegnet sich wieder, man gerät in Abhängigkeit und dann liegt das Leben in der Hand dessen, dem man den Tod gewünscht hat. Dann doch lieber selbst das Weite suchen, wenn es denn ginge.

Gerade der Tod der Eltern – wie hier der Tod des Stammvaters Jakob – führt Geschwister wieder zusammen oder zeigt ihnen wie sehr sie sich auseinandergelebt haben oder – und das nicht selten – beides zugleich: Der Tod der Eltern führt sie zusammen – als Fremde, als sich gegenseitig Fremdgewordene. Immer wieder erlebt man das als Seelsorger in Trauerangelegenheiten, dass Hinterbliebene es für erklärungsbedürftig halten, dass sie sich nicht mit ihren Geschwistern verstehen oder nicht einmal mehr miteinander sprechen; dabei stellt das beinahe den bedauerlichen, kaum tröstlichen Normalfall dar, statistisch gesehen jedenfalls scheint das viel häufiger vorzukommen als Bruder und Schwester, die sich über dem Grab ihrer Eltern die Hände reichen; auch das kommt vor, Gottseidank! – aber eben nicht als Selbstverständlichkeit.

Der Handschlag über die garstigen Gräben des gemeinsamen – und des ungemeinsamen – Lebens ist auch Josef und seinen Brüdern nicht selbstverständlich, fällt ihnen nicht leicht, auch wenn sie es noch so wollen. Keineswegs immer reicht der bloße Willen zur Versöhnung: „Es ist mir nicht gegeben, mich mit meinem Bruder zu versöhnen“ – klingt mir als Satz im Ohr aus einer Situation, in der der Sprecher sein ehrliches Bedauern und sein aufrichtiges Bemühen ausdrückt, ohne die versöhnende Hand reichen zu können: zu viel war geschehen, zu Großes lastete auf der Brust, zu tief war der Graben zwischen den Brüdern, zu sehr hatten sie – damals – Böses einander zu tun gedacht; wie bei Josef, dass er sich über seine Brüder stellte und die anderen, dass sie ihn töten wollten und schließlich in die Sklaverei verkauften. Manchmal – wie hier – ist das Problem zwischen Brüdern, zwischen Menschen größer, als dass es gelöst werden könnte – als dass es von Menschen gelöst werden könnte.

Und da kommt die Religion ins Spiel, eher ihr Gegenstand, Gott selbst, mit seinen unerschöpflichen Gaben der Gnade und der Barmherzigkeit, um uns zu versöhnen: Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen. Gott, der uns wie Josef und seinen Brüdern, Gelegenheiten gibt, immer wieder, immer neu, aufeinander zuzugehen, die Gräben zuzuschütten, vielleicht nicht gleich und auf einmal, aber irgendwann hoffentlich schon. Ein Notfall, eine Not könnte ein Anlass, eine Gelegenheit sein, wie bei den Josefsbrüdern die Hungersnot, die sie Hilfe suchen lässt, die ihnen ihr verstoßener Bruder gewährt; auch eine Krankheit ließe sich denken, die uns bewegen könnte, uns auf unsere Geschwister zuzubewegen; eine bevorstehende Operation mit ungewissem Ausgang. Da müsste man sich doch vorher mal wiedersehen, mal miteinander ins Reine kommen, damit es nachher nicht zu spät ist.

Allerdings bleibt der Ausgang wie in der Josefsgeschichte lange offen, bis zuletzt, aus Gründen. Denn die Geschichte, die die Geschwister eint und trennt ist ja keineswegs zufällig, auch wenn sie von allerlei Zufälligkeiten und Kontingenzen beeinflusst sein mag – einer Karawane, die gerade vorbeizieht; einem Ziel, dass die Reisenden haben; einer Hungersnot, die ausgerechnet zu dieser Zeit hereinbricht. Die Trennungsgeschichte ist dennoch keineswegs zufällig, sondern sie ist eine Ableitung, eine Funktion der Wesen, der Persönlichkeiten, der Charaktere der handelnden Personen – und insofern wie gesagt alles andere als zufällig.

Wenn auch unsere Lebensgeschichte zwar nicht durch unsere Person völlig vorherbestimmt ist, bestimmen wir aber doch in jedem Moment unseres Lebens in Aktion und Reaktion und Passion, wie es von uns aus weitergeht, gestaltend oder stillhaltend, aktiv oder passiv, als Autor unserer Lebensgeschichte oder als Blatt, dass beschrieben wird. Für unsere Konflikte und ihre Lösungen heißt das, dass der Mensch, mit dem ich mich versöhnen will, derselbe ist, mit dem ich mich gestritten habe – mit allen Wesenszügen, die zu diesem Zerwürfnis geführt haben, und der bleibenden, manchmal nagenden Frage, ob es mit diesem Menschen, so wie er ist, überhaupt Frieden geben kann (ob es mit mir überhaupt Frieden geben kann). So wie in der Josefsgeschichte bleibt die Versöhnung auch deshalb möglicherweise für lange Zeit ungewiss und gefährdet; und anders als die Josefsgeschichte muss unsere nicht gut ausgehen.

Aber immerhin sehen wir und lernen das an Josef und seinen Brüdern, dass eine Versöhnung selbst nach schwersten Verletzungen möglich ist und von Gott unbedingt gewünscht und gefördert wird.

Nichts Menschliches ist der Bibel fremd – keine Gräueltat, kein Unrecht, keine Gewalt; die Menschen der Bibel schonen sich als Handelnde und uns als Lesende nicht – und man mag sich bisweilen fragen, ob die Bibel in allen Zügen schulkindgerecht erzählt. Aber neben dem Menschlichen, Allzumenschlichem und dann eben auch menschlich Unzulänglichem weiß die Bibel mit ihren Geschichten vom Göttlichen: vom unbedingten Versöhnungswillen Gottes: das ist der Zielpunkt unserer Geschichte heute. Und das darf dann auch gelegentlich wiederholt werden, bis es sitzt.

Gott wird wie bei Josef und seinen Brüdern keine Ruhe geben, bevor sich die Geschwister versöhnt haben. Damit lässt Gott weder los noch locker. Gott möchte uns Menschen, mit sich und seinesgleichen versöhnen: Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen. Amen.

Dritter Sonntag nach Trinitatis, 20. Juni 2021

Es nahten sich ihm – Jesus – aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.

Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet?

Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Oder welche Frau, die zehn Silbergroschen hat und einen davon verliert, zündet nicht ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiß, bis sie ihn findet? Und wenn sie ihn gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freut euch mit mir; denn ich habe meinen Silbergroschen gefunden, den ich verloren hatte. So, sage ich euch, ist Freude vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut.

(Lukasevangelium 15, 1-10)

Viele – vielleicht alle Familien kennen Geschichten des Verlorengehens – unsere geht so: Ein kleines Mädchen geht am Strand spazieren. In den vergangenen Tagen hat es diesen Ort für sich entdeckt, mit ihren Geschwistern und Eltern: das Meer, den Sand, Strandhafer, Muscheln, Wind, Weite Sonne.

Nun will sie etwas weiter gehen, den neuen Ort erkunden, nicht unbedingt allein, aber gerne selbständig, mal hierhin, mal dorthin, ohne Richtung, aber mit Neugier und dem Ziel, noch mehr zu sehen und noch mehr kennenzulernen. Und so läuft sie – nun doch immer in derselben Richtung, ein paar Dutzend, ein paar Hundert Meter weit, immer weiter. Es sieht genauso aus, wie an der Stelle ihres Aufbruchs, aber doch ganz anders. Sie dreht sich ein paar Mal um, geht weiter, immer weiter, sieht die Geschwister und die Eltern nicht, die müssten eigentlich da sein, sind sie aber nicht.

Die haben dafür auch gemerkt, dass die Jüngste fehlt. Ein Schrecken durchfährt sie. Wo ist sie hin? Sie kennt sich ja nicht aus. Sie ist ja noch so klein. Ist was passiert? Sie suchen nach allen Richtungen, fragen die anderen Strandbesucher, am Meeressaum rechts und links, in den Dünen, im Strandwäldchen, auf den kleinen Wegen zu den Sommerhäuschen – ein großes Gelände, uneinsehbar, unübersichlich, deshalb ist es ja so schön – aber auf einmal hat sich die Schönheit in Schrecken verwandelt. Der zur Panik neigende Elternteil fällt in Panik – was kann nicht alles passiert sein? – steckt den vernünftigeren an. Es sind ja bisher gut zehn, bald gut zwanzig, bald dreißig Minuten her. Wann und wo und wie werden wir sie finden?

Natürlich suchen wir weiter, manche Ecken an denen schon einer war, immer wieder. Und dann entdecken wir sie – nach unendlichen, vielleicht vierzig Minuten – doch; folgen einem Hinweis: eine Zweijährige? ganz alleine? die ist in diese Richtung gelaufen.

Wir glauben sie zu erkennen, ganz am anderen Ende der weiten Bucht, ein paar Hundert Meter entfernt, ein Pünktchen in den Farben ihrer Kleidung zwischen anderen Pünktchen, aber vielleicht ist sie es gar nicht, vielleicht aber doch. Und wir rennen los – ein panisches Wettrennen, ein paar Minuten dauert es dann noch, der große Bruder gewinnt, nimmt sie in die Arme, große Freude.

Auch die Kleine, wiedergefundene Verlorene war in Angst, verzweifelt über ihr Verlorensein, in Tränen aufgelöst, und erst allmählich das Glück der Gefundenen fassend, so wie wir anderen auch.

Zurückgekehrt an unseren Strandplatz begrüßt uns die zurückgelassene, nur etwas größere Schwester, auch freudig, dass wieder alle da sind, dabei ganz gelassen; wozu die Aufregung? Ihr war klar, dass die andere wiedergefunden würde, anderes konnte und musste sie noch nicht denken.

Viele – vielleicht alle Familien kennen Geschichten des Verlorengehens, des Suchens, des Wiederfindens – besonders der Angst und Verzweiflung über jenes und der Freude und des Glücks über dieses. Wenn ich die Geschichtensammlung des Lukas im 15. Kapitel von der Freude über das widergefundene Verlorene lese – diese Sammlung von Geschichten sich steigernder Freude von Schaf und Groschen und Sohn, dann kann ich nicht anders als an jenes Erlebnis am Strand vor mittlerweile ganz paar Jahren denken, das mich nicht mehr aufwühlt, aber immer noch bewegt: Das verlorene, wiedergefundene Töchterchen.

Und an solche Begebenheiten – des Verlorengehens und der Verlorenheit einerseits und der Freude über das Wiederfinden andererseits – sollen wir denken, wenn wir über Gott und uns nachdenken. In ihnen sollen wir begreifen, wie sich Gott um uns bemüht, wie Gott keine Mühe scheut uns zu suchen und zu finden – und dabei fühlt wie wir: den tiefen Schmerz über die Verlorenen, Hoffnung und Zweifel während der Suche und die große Freude über die Gefundenen: Gott gibt die Verlorenen nicht verloren; das Suchen und Finden der Verlorenen sind ihm Passion und Profession und seine Freude über die Gefundenen, die viel größer ist als die über die, die sich schon haben finden lassen: So groß ist Gottes Gnade.

Damit wäre beinahe schon alles gesagt – wären da nicht die nicht zu überlesenden Bemerkungen über den auffällig unterschiedenen Grad der Freude, über Unterschied und Steigerung der Freude über das wiedergefundene Verlorene; die Steigerung besteht vor allem im Verlustquotienten: 1/100 der Schafe – 1/10 der Groschen – ½ der Söhne (und unausgesprochen!: 1/1 der Zuhörer, also die Zuhörer im Ganzen) waren verloren und werden wiedergefunden: der Finder des einen Schafs freut sich über dieses mehr als über neunundneunzig andere, oder die Finderin des einen Groschens mehr als über die neun anderen – oder der Vater des einen Sohn mehr noch als über einen anderen – wie beim verlorenen Sohn, über den wir in der Lesung gehört haben, und dessen eifersüchtigen, neidischen Bruder, der so ganz anderes reagiert als das weise Töchterchen in der Familiengeschichte; die hat sich gefreut, wieder gemeinsam spielen zu können; der andere – der in der Gleichnisgeschichte – wurde zornig und wollte nicht mitfeiern, heißt es, und macht seinem Vater stattdessen Vorhaltungen über dessen vermeintliche Ungerechtigkeit: Du hast mir nie einen Bock gegeben. Schön ist das nicht, so zu reagieren, aber verstehen kann man ihn ja in seiner Kränkung und gefühlten Zurückweisung. Nicht jeder erhält sich die Weisheit der Freude einer 4jährigen.

Übertreibt es hier vielleicht doch einer, also Gott – der ja gemeint ist – mit seiner Freude über seinen Fund – und untertreibt er, hintertreibt er damit nicht seine Gerechtigkeit? Übertreibt es Gott hier nicht mit seiner Gnade zulasten der Gerechtigkeit. Ist Gott mit seiner Gnade im Unrecht?

Merkwürde Frage! Ungerecht kann Gott hier doch nur derjenige finden, der seine eigene Gerechtigkeitserwartungen über die Möglichkeiten Gottes stellt und dessen Fähigkeiten der Gnade unterschätzt. Gottes Gnade aber ist größer als unsere Gerechtigkeitsvorstellung – und manchmal übertrifft sich Gott sogar selbst. Auch das liegt ja in unseren Geschichten des verlorenen Wiedergefundenen, dieses Moment der Ungewissheit und der Überraschung; und sei es ein erweiterter Gerechtigkeitsbegriff, der jedem nicht nur das als das seine zukommen lässt, was er verdient, sondern was er braucht: Gott ist mit seiner Gnade im Recht!

Mit diesem Fund über die unerschöpfliche Gnade Gottes ist unser Gleichnis aber noch keineswegs ausgeschöpft. Wie mit allen seinen Geschichten lädt uns Jesus und laden uns seine Biografen, die Evangelisten, ein, sich selbst in den verschiedenen Rollen und Figuren auszuprobieren und wiederzufinden; und immer wieder wird es da zu überraschenden Perspektivwechseln kommen mit Aha-Erlebnissen unterschiedlicher Intensität:

Das bin ja ich, der Sucher; nein, ich, der Gefundene; nein, ich, der ich immer da war; nein, ich über den größere oder ich über den die kleinere, oder ich über den keine Freude herrscht bei Gott. Wie in einem Vexierspiegel dreht und verändert sich der Sinn, der sich gerade für mich und gerade jetzt erschließt:

Was wäre, wenn gar nicht nur das Verlorene verloren und von Gott zu finden wäre? Was wäre, wenn die durch Jesus Angesprochenen – also wir – die Verlorenen wären, die von Gott gesucht würden und darauf hoffen dürfen, gefunden zu werden? Was wäre, wenn Gott gerade durch solche Geschichten uns suchen und zu finden versuchen würde? Was wäre, wenn wir dann – endlich, endlich – unsere Verlorenheit einsehen und zu Gott zurückkehren würden? Was wäre wenn wir uns ganz dem Glück des Gefundenen hingeben könnten? Also das wäre eine richtig gute Nachricht für uns Verlorene – und große Freude im Himmel! Amen.

Zweiter Sonntag nach Trinitatis, 13. Juni 2021

Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber darum, dass ihr prophetisch redet! Denn wer in Zungen redet, der redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott; denn niemand versteht ihn: im Geist redet er Geheimnisse. Wer aber prophetisch redet, der redet zu Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die Gemeinde. Ich möchte, dass ihr alle in Zungen reden könnt; aber noch viel mehr, dass ihr prophetisch redet. Denn wer prophetisch redet, ist größer als der, der in Zungen redet; es sei denn, er legt es auch aus, auf dass die Gemeinde erbaut werde. Nun aber, Brüder und Schwestern, wenn ich zu euch käme und redete in Zungen, was würde ich euch nützen, wenn ich nicht mit euch redete in Worten der Offenbarung oder der Erkenntnis oder der Prophetie oder der Lehre? So verhält es sich auch mit leblosen Instrumenten, es sei eine Flöte oder eine Harfe: Wenn sie nicht unterschiedliche Töne von sich geben, wie kann man erkennen, was auf der Flöte oder auf der Harfe gespielt wird? Und wenn die Posaune einen undeutlichen Ton gibt, wer wird sich zur Schlacht rüsten? So auch ihr: Wenn ihr in Zungen redet und nicht mit deutlichen Worten, wie kann man wissen, was gemeint ist? Ihr werdet in den Wind reden. Es gibt vielerlei Sprachen in der Welt, und nichts ist ohne Sprache. Wenn ich nun die Bedeutung der Sprache nicht kenne, werde ich ein Fremder sein für den, der redet, und der redet, wird für mich ein Fremder sein. So auch ihr: Da ihr euch bemüht um die Gaben des Geistes, so trachtet danach, dass ihr sie im Überfluss habt und so die Gemeinde erbaut. 

(1. Korinther 14,1-12)

„Bla, Bla, Bla“ schmückte vor ein paar Jahren in großen Buchstaben das T-Shirt eines unserer Konfirmanden, was wohl als Kommentar auf sein Erleben in Unterricht und Gottesdienst zu lesen war.

„Bla, Bla, Bla“ könnte auch die knappe aber zutreffende Inhaltsangabe mancher Konferenzen sein, Elternabende eingeschlossen; Sitzungen des Kirchenvorstandes ausdrücklich nicht!

Und wenn Sie heute, liebe Schwestern und Brüder, den Inhalt der Predigt mit einem augenrollenden „Bla,Bla,Bla“ zusammenfassen, soll mich das nicht kränken. Denn genau darum geht es heute im Predigttext: um silbige Lautgebilde ohne vernünftigen Inhalt, um unverständliche lautmalende Verdoppelungen von Silben, um Lautreihen ohne oder ohne eindeutige Bedeutung: kurz um Glossolalie, also um „Bla,Bla,Bla“ in Gebet und Gottesdienst.

Was ist das überhaupt, Glossolalie? Glossolalie ist das von Paulus erfundene griechische Wort für das unverständliche Sprechen im Geist, wörtlich „Zungenrede“: Unser Wort Lallen stammt hörbar vom griechischen Wort „Lalein“ ab, das in Glossolalie steckt. Lallen ist selbst ein Lallwort wie: Mama, Papa, summ-summ-summ, Lalala; Tralala; Barbar; Abba; BlaBlaBla, also lautmalerische und silbenverdoppelnde Lautgebilde, die oft erst – aber durchaus nicht immer – durch den wiederholten Gebrauch eine Bedeutung annehmen können, wie in den Tierrufen, die zu Tiernamen werden – aber keineswegs müssen: Wau-Wau, Guru-Guru, Kuckuck, Zilpzalp.

Lallworte bilden als „kanonisches Lallen“ eine wichtige Stufe – die Lallphase – des frühkindlichen Spracherwerbs: ohne Lallen, kein Sprechen – wenn zum Entzücken der Eltern aus der Reihe Mamamamamama endlich Mama und aus Papapapapa schließlich Papa wird.

Auch Erwachsene fallen bisweilen in silbige Lautgebilde ohne weitere Bedeutung zurück – krankheitshalber oder alkoholinduziert etwa – aber auch – durchaus willentlich – im populären oder im karnevalistischen Lied: „Yeah, Yeah, Yeah“ in der Liverpooler Variante; „Ritsch Ratsch die Bötz kapott“ auf Kölsche Weise und „Rucki-Zucki“ auf Meenzerisch. Auch der Alpenjodler darf hier genannt werden: „Jodelidi-dudödel-du“ (ob es dann zu einem Jodeldiplom reicht, muss sich zeigen). Und von dort ist es nicht mehr weit zu den Rufen der Wagnerschen Walküren: „Hojotoho“; oder dem Gesang der Rheintöchter: „Wagalaweia Wallala weialaweia“ bis zu den Lautgedichten eines Christian Morgenstern oder Ernst Jandl als kulturellen Hochformen der säkularen, nicht-religiösen Glossolalie:

Das große Lalula

Kroklokwafzi? Semememi!

Seiokrontro – prafriplo:

Bifzi, bafzi; hulalemi:

quasti basti bo …

Lalu lalu lalu lalu la! (1. Strophe des gleichnamigen Gedichts von Christian Morgenstern)

Glossolalie bedient sich solcher in ihrer Bedeutung nicht festgelegter Lautreihen und hält sie – nun in ihrer religiösen Ausprägung – für direkte Äußerungen des göttlichen Geistes.

Während Glossolalie in unseren Gottesdiensten – wie ich finde: zurecht – keine Rolle spielt, ist sie heutzutage das Markenzeichen charismatischer und pfingstlicher Gemeinden. Allein: Auf den Apostel Paulus können sie sich nicht berufen, eher schon auf seine Gegner in Korinth, die wie sie die Glossolalie als Ausweis ihrer Begabung durch den Geist sehen: Nur die Glossolalen – so die Behauptung – sind die wahren Charismatiker und erwerben so ihren Ruhm.

Dieser Behauptung – ihrem Wahrheitsmoment aber vor allem ihrer Widerlegung – widmet der Apostel das ganze 14. Kapitel seines Korintherbriefs, aber auch schon die Ausführungen in den vorausgehenden Kapiteln gehören dazu: Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle – womit Paulus die Liebe – und zwar als Fürsorge, Rücksichtnahme, Erbarmen: also Nächstenliebe – vor alle charismatische und pseudocharismatische Leistungsschau stellt. Strebt nach der Liebe! (V.1) bringt es Paulus gleich im Einleitungssatz kurz und knackig auf den Punkt – und meint damit: Strebt nach der Liebe – und nicht nach glossolalischen Geist-Erweisen.

Paulus erwidert den Glossolalen und Charismatikern in Korinth, dass insbesondere die Zungenrede nicht – zumindest nicht ausreichend – der Erbauung meines Nächsten und dem Aufbau der Gemeinde dient, weil sie nämlich die zwischenmenschliche Kommunikation verweigert: Glossolalie spricht im besten Fall mit Gott und im schlimmen Fall nur mit mir selbst – keinesfalls aber mit meinem Nächsten. Und immer wenn Paulus der Zungenrede ein relatives Recht einräumt oder ein zaghaftes Lob zu zollen scheint, verbindet er es mit einer Pflicht zur Übersetzung, weil sonst Sprecher und Hörer sich gegenseitig zum „Barbaren“ (V.11), schlimmer noch: zum „Idioten“ machen: Wenn du Gott lobst im Geist, wie soll der, der als Unkundiger – wörtlich im Griechischen: als Idiot – dabeisteht, das Amen sagen auf dein Dankgebet, da er doch nicht weiß, was du sagst? (1. Korinther 14,16). Und genauso bin ich mir noch jedes Mal in sogenannten charismatischen Gottesdiensten vorgekommen, als Barbar und Idiot – und habe in meinem Hochmut die anderen ebenfalls dafür gehalten.

Wenn wir also heute mehr als das „Bla,Bla,Bla“ mitnehmen, dann ist es die absolute Hochschätzung der verständlichen Sprache im Gottesdienst, weil nur sie den Anderen, den Nächsten erreicht und Gemeinschaft bilden kann. Und wenn Paulus sein Plädoyer für die verständliche Sprache in die universelle Aussage münden lässt: Es gibt vielerlei Sprachen in der Welt, und nichts ist ohne Sprache. (V.10), dann kann man darin auch ein Echo des alles durchdringenden Wortes – des Logos – Gottes hören: Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort (Anfang des Johannesevangeliums, Johannes 1,1).

Und mitzunehmen ist weiterhin der wiederholte Hinweis auf die Notwendigkeit uns gegenseitig zu übersetzen und zu deuten und auszulegen – Paulus verwendet das Wort, dass unserer Hermeneutik, unserer Lehre vom Verstehen und Deuten zugrunde liegt. Keineswegs nur den unverständlichen Zungenredner gilt es zu übersetzen und zu deuten – verständlich zu machen – sondern im Grunde alles und jedes, zumindest jede menschliche Äußerung, die eigenen zuerst: Wer also in Zungen redet, der bete, dass er´s auch auslegen könne. (14,13; Ist aber kein Ausleger da, so schweige er in der Gemeinde und rede für sich selber und für Gott 14,28). Paulus plädiert für den Vorrang der Hermeneutik, also des Verstehens, der Deutung, der Auslegung – Religion als Lebensdeutung, Religion als Deutung aller Lebensäußerungen: wie wahr! – was könnte daran auszusetzen sein?

Vielleicht das: Jede Deutung bedeutet eine Distanzierung vom Geschehen. Deutung teilt und trennt – nämlich meinen Verstand vom Erlebnis. Deutend trete ich aus dem Geschehen heraus, stelle mich neben mich, schaue mir selbst über die Schulter. Manche kennen das von solchen Momenten auf einer Party oder in Gesellschaft, wenn wir uns nach ausgelassenen Momenten auf einmal fragen: Was mache ich eigentlich hier? Dann ist die Stimmung futsch.

Deutung ist immer Deutung von etwas und reden über etwas – nicht die Sache selbst. Deutung produziert unvermeidlich einen Verlust an Gegenwart, an Lebendigkeit. Nichts ist unlustiger als ein erklärter Witz und nichts langweiliger als ein fortlaufend gedeuteter Gottesdienst – außer man machte die Deutung selbst zum Witz, bzw. die Deutung zum Teil des Gottesdienstes wie in der Predigt.

Vielleicht ging und geht es also den Glossolalen um das Erleben der Sache selbst, in diesem Fall um das Wirken des Geistes, um die Erfahrung der Gegenwart Gottes: „die unmittelbare Gegenwart des ganzen ungeteilten Daseins“ wie der Schleiermacherfreund Henrik Steffens sie erst für das Reich Gottes in Aussicht stellt. Dann wäre die Forderung des Apostel Paulus nach Deutung der Glossolalie ein schlichtes Missverständnis – allerdings genauso die Meinung der Korinther, dass das glossolalische Charisma einen Ruhm vor den Menschen begründe.

Diesseits solcher Missverständnisse müssten wir dem unmittelbaren Erleben von Sprache und der direkten Erfahrung von Präsenz Gelegenheiten verschaffen: wie es z.B. in den schon erwähnten Lautgedichten geschieht, die unter Umgehung der inhaltlichen Dimension die Materialität von Sprache hörbar und sichtbar machen, allerdings für den gottesdienstlichen Gebrauch kaum geeignet erscheinen; oder in manchen Meditationsübungen, die immer und immer wieder dieselbe Silbe, dasselbe Wort oder denselben Satz wiederholen: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“ (hundertfach hintereinander wiederholtes Jesusgebet der orthodoxen Kirche).

Oder – für mich einleuchtender – wie wir es in der Musik erfahren, die, wenn sie nicht gerade als Programmmusik eine Geschichte erzählen will, Ausdruck ohne Inhalt – Lieder ohne Worte – darstellt. Musik ermöglicht eine einzigartige Zeiterfahrung – mit jeder Note und jedem Takt erleben wir die Gegenwart und wie sie vergeht. Es ist sicherlich kein Zufall, dass dem Glossolalie-Kritiker Paulus hier Musik und Musikinstrumente einfallen: Zither und Flöte und Posaune, ihre Laute und Töne, wobei diese gerade keine inhaltsbezogene Sprache sprechen aber in ihren Tönen und Tonfolgen dennoch Menschen erreichen, Menschen bewegen und Menschen verbinden. Für viele ist das Musikerlebnis Gottesdienst – und für nicht wenige ist es das mehr als eine Predigt. Das muss man nicht kritisieren. Vielleicht ist Musik nämlich gerade das, was einen Gottesdienst davor bewahrt, eine „langweilige Schulstunde“ zu sein. (So die eindrückliche Kennzeichnung eines evangelischen Gottesdienstes durch unseren Heidelberger Lehrer und Theologen Dietrich Ritschl.) Amen.

Predigttext für den 1. Sonntag nach Trinitatis, 6. Juni 2021

Es geschah das Wort des Herrn zu Jona, dem Sohn Amittais: Mache dich auf und geh in die große Stadt Ninive und predige wider sie; denn ihre Bosheit ist vor mich gekommen.

Aber Jona machte sich auf und wollte vor dem Herrn nach Tarsis fliehen und kam hinab nach Jafo. Und als er ein Schiff fand, das nach Tarsis fahren wollte, gab er Fährgeld und trat hinein, um mit ihnen nach Tarsis zu fahren, weit weg vom Herrn. Da ließ der Herr einen großen Wind aufs Meer kommen, und es erhob sich ein großes Ungewitter auf dem Meer, dass man meinte, das Schiff würde zerbrechen. Und die Schiffsleute fürchteten sich und schrien, ein jeder zu seinem Gott, und warfen die Ladung, die im Schiff war, ins Meer, dass es leichter würde. Aber Jona war hinunter in das Schiff gestiegen, lag und schlief. Da trat zu ihm der Schiffsherr und sprach zu ihm: Was schläfst du? Steh auf, rufe deinen Gott an! Vielleicht wird dieser Gott an uns gedenken, dass wir nicht verderben. Und einer sprach zum andern: Kommt, wir wollen losen, dass wir erfahren, um wessentwillen es uns so übel geht. Und als sie losten, traf’s Jona. Da sprachen sie zu ihm: Sage uns, um wessentwillen es uns so übel geht? Was ist dein Gewerbe, und wo kommst du her? Aus welchem Lande bist du, und von welchem Volk bist du? Er sprach zu ihnen: Ich bin ein Hebräer und fürchte den Herrn, den Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht hat. Da fürchteten sich die Leute sehr und sprachen zu ihm: Was hast du da getan? Denn sie wussten, dass er vor dem Herrn floh; denn er hatte es ihnen gesagt. Da sprachen sie zu ihm: Was sollen wir denn mit dir tun, dass das Meer stille werde und von uns ablasse? Denn das Meer ging immer ungestümer. Er sprach zu ihnen: Nehmt mich und werft mich ins Meer, so wird das Meer still werden und von euch ablassen. Denn ich weiß, dass um meinetwillen dies große Ungewitter über euch gekommen ist. Doch die Leute ruderten, dass sie wieder ans Land kämen; aber sie konnten nicht, denn das Meer ging immer ungestümer gegen sie an. Da riefen sie zu dem Herrn und sprachen: Ach, Herr, lass uns nicht verderben um des Lebens dieses Mannes willen und rechne uns nicht unschuldiges Blut zu; denn du, Herr, tust, wie dir’s gefällt. Und sie nahmen Jona und warfen ihn ins Meer. Da wurde das Meer still und ließ ab von seinem Wüten. Und die Leute fürchteten den Herrn sehr und brachten dem Herrn Opfer dar und taten Gelübde. Aber der Herr ließ einen großen Fisch kommen, Jona zu verschlingen. Und Jona war im Leibe des Fisches drei Tage und drei Nächte. Und Jona betete zu dem Herrn, seinem Gott, im Leibe des Fisches und sprach:

Ich rief zu dem Herrn in meiner Angst, und er antwortete mir. Ich schrie aus dem Rachen des Todes, und du hörtest meine Stimme. Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer, dass die Fluten mich umgaben. Alle deine Wogen und Wellen gingen über mich, dass ich dachte, ich wäre von deinen Augen verstoßen, ich würde deinen heiligen Tempel nicht mehr sehen. Wasser umgaben mich bis an die Kehle, die Tiefe umringte mich, Schilf bedeckte mein Haupt. Ich sank hinunter zu der Berge Gründen, der Erde Riegel schlossen sich hinter mir ewiglich. Aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt, Herr, mein Gott! Als meine Seele in mir verzagte, gedachte ich an den Herrn, und mein Gebet kam zu dir in deinen heiligen Tempel. Die sich halten an das Nichtige, verlassen ihre Gnade. Ich aber will mit Dank dir Opfer bringen. Meine Gelübde will ich erfüllen. Hilfe ist bei dem Herrn.“

Und der Herr sprach zu dem Fisch, und der spie Jona aus ans Land.

(Buch des Propheten Jona 1-2*)

Und der Herr sprach zu dem Fisch: Mit Walen kann man reden, Gott kann das nach Meinung unseres Autors, und wir könnten es auch, wenn wir ihre Sprache kennten, denn Wale kommunizieren, sie reden miteinander, was sage ich, sie singen miteinander: Das Evangelium der Wale. Und wenn die Not groß ist, und die Wale von Gott freundlich angesprochen, womöglich angesungen werden, dann können sie Menschen retten, wie Jona gerettet wird: Wo Wale singen, tauch´ hernieder, böse Wale kennen keine Lieder.

Mit etwas Phantasie sind Wale sogar geeignet und geneigt, die Welt zu retten – mit ihrem Gesang die Welt zu retten – wie im Weltraumabenteuer „Zurück in die Gegenwart“ des Raumschiff Enterprise mit Captain Kirk und Commander Spock und den anderen Helden unserer Fernsehkindheit, wenn die nämlich alt und dick geworden – das kennen wir – in höchster Gefahr auf die Erde zurückkommen ins Aquarium des Meeresforschungsinstituts in San Francisco und sich dort mal eben kurz einen Wal, einen Buckelwal, ausleihen, um mit seinem Gesang die gute alte Erde zu retten. Save the whales – save the world!

Etwas realistischer, aber nicht weniger wunderbar geht es im Ozeaneum in Stralsund an der Ostsee zu: Ganz unten im Bauch dieses Meeresaquariums ist der Saal der Wale, in dem man nach einem Besuch der Meerestiere und ihrer Lebensräume in den oberen Stockwerken – all den Fischen und Säugern, den Quallen und Seepferdchen, den Seegurken, Seeanemonen, Korallen und Schwämmen – in den man dann tief hinabtaucht zu den Walen, sich dort niederlässt, sich an das Halbdunkel gewöhnt mit den lebensgroßen Modellen an der Decke und den Aufnahmen ihres Gesangs hört, sich berühren lässt von diesen Wunderwesen der Tiefe – im Vergleich zum Wunder solcher wirklicher Wesen ist das märchenhafte Wunder, das Jona erlebt – ganz zu schweigen vom Raumschiff Enterprise – geradezu läppisch. In solchen Hallen sollen schon Kinder ihre Walverwandschaft gefühlt und die Berufung zur Meeresbiologin gehört haben.

Eine solche Berufung würde der des Jona ähneln, weil die so Berufene sich unweigerlich zusammen mit der Biologie der Meere eben auch mit ihrer prekären Ökologie, den gefährdeten Lebensbedingen, den schwindenden Lebensräume auseinanderzusetzen hätte – so wie die Meeresbiologie das ja längst tut, auch indem sie den World Ocean Day begeht, jedes Jahr am 8. Juni, also übermorgen, was für ein Zufall, dass wir gerade heute über Jona und den Wal hören – aber Zufälle gibt es ja nicht, oder?

Am World Ocean Day geht es um Aufmerksamkeit für die zerbrechliche Schönheit der Natur der Ozeane und um – ja! – um die „Bosheit“ der Menschen – nicht nur von Ninive, schon beim alten Jona steht diese Stadt für alle Städte, Ninive ist überall, Niniviten sind wir ja alle. Jona und seinen Zeitgenossen war die Natur insgesamt eher gefährlich als gefährdet, sie galt den Alten noch lange als unermesslich und unerschöpflich, des Ozeans unendliche Weiten, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat und ihre Bewohner, unbekannte Lebensformen, die großen Fische, die Wale – so genau nahm man es zu diesen Zeiten noch nicht, wer nun säugte und wer nun Eier legte – sie galten als Ungeheuer, hießen Behemoth und Leviathan, noch uns Heutigen sind das Namen von mythischen Gefahren und Mächten. Der Wal in unserer Geschichte stellt zunächst auch eine Bedrohung dar – und erweist sich erst im weiteren Verlauf als Retter.

Und dennoch – trotz ihrer unerforschten Unerschöpflichkeit und ihrer Gefährlichkeit – konnte den Alten die Welt selbst als gefährdet und bedroht scheinen, gefährdet und bedroht durchaus von der „Bosheit“ der Menschen, wie etwa die Sintflutgeschichte zeigt. Darin – auch darin! – ähnelt die antike Gefühlslage unseren heutigen Befindlichkeiten. Wir Menschen bedrohen unsere Welt. Der Klimawandel und die Verschmutzung der Ozeane durch Plastik und anderem Müll lassen sich als Folge menschlicher „Bosheit“ verstehen – also als Folge von Gier und Rücksichtslosigkeit und Ungerechtigkeit. Gegen die soll der Prophet seine Stimme erheben: Mache dich auf und geh in die große Stadt Ninive und predige wider sie; denn ihre Bosheit ist vor mich gekommen.

Und Jona reagiert genauso wie die meisten von uns: Er entzieht sich diesem Auftrag durch Flucht in die Verantwortungslosigkeit, will keine Scherereien auf sich nehmen, will nicht derjenige sein, der den Zorn der Bösen über ihre aufgedeckte Bosheit abbekommt. Und er weiß bestimmt auch, dass er selbst nicht frei von Bosheit ist, wir ja auch nicht. Natürlich bin ich gegen die Vermüllung der Ozeane, aber wenn ich eine eigene Tüte auf dem Markt vergessen habe, lasse ich mir eine aus Plastik geben, darauf kommts bestimmt nicht an; falsch! Genau darauf kommt es an. Abgesehen davon, dass meine eigene Gedankenlosigkeit mich persönlich zwar unglaubwürdig macht aber keineswegs das Anliegen verfälscht. Ich setze mich damit ins Unrecht aber nicht die Sache. Auch Jona hat im Epilog unserer Geschichte mit einem Glaubwürdigkeitsproblem zu kämpfen – der Sache mit dem Rizinusstrauch – an der er seinen gekränkten Stolz auslässt.

Darüber – über Jonas und unseren Zorn und Feigheit – geht Gott einfach hinweg, er hat wichtigeres zu tun. Es geht hier um mehr als um unsere Unzulänglichkeiten und um unsere instabilen Emotionen, auf denen rumzureiten sich nicht lohnt. Gott will die Welt retten – und uns in ihr, wie den Jonas und wie die Niniviten; nicht weil die, nicht weil wir uns das verdient hätten – das ja gerade nicht, wie wir sehen – sondern weil er das so will, weil es seine göttliche Art ist, unser Unglück zu wenden – aus lauter Gnade und Barmherzigkeit.

Noch in der tiefsten Tiefe ist es genau des Jonas unerschütterlicher Glaube an Gottes Gnade und Barmherzigkeit, die ihn aus der Tiefe herauf – de profundis – beten lässt: Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer, dass die Fluten mich umgaben. Alle deine Wogen und Wellen gingen über mich, dass ich dachte, ich wäre von deinen Augen verstoßen, ich würde deinen heiligen Tempel nicht mehr sehen. Wasser umgaben mich bis an die Kehle, die Tiefe umringte mich, Schilf bedeckte mein Haupt. … Aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt, Herr, mein Gott!

Das Amt des Propheten Jona uns gegenüber ist es, uns aufmerksam zu machen für unsere Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung, für unsere Schuld an Umweltzerstörung, unsere „Bosheit“ wie es im Text heißt; aber eben nicht so, dass es ein unabwendbares Verhängnis wäre, an dem unser Verhalten eh nichts ändern könnte, dass uns also so oder so die Sintflut verschlingen würde; sondern so, dass unser Verhalten alles ändern kann.

In Anlehnung an das wunderbare Buch von Patrik Svensson „Das Evangelium der Aale“ wäre mit Jona „Das Evangelium der Wale“ zu verkünden, dass wir uns wie der Prophet mitnehmen lassen von den Walen in ihre Welt der Ozeane, dass wir unsere Lebensgeschichten miteinander verbinden, dass wir uns einfühlen in ihr Leben – und ihr Sagen und Singen; dass wir ihre Sprache und ihre Lieder und ihre Gebete lernen; dass wir sie mitsingen in der Tiefe und aus der Tiefe herauf. Amen.

Predigttext für Sonntag Trinitatis, 30. Mai 2021, Konfirmationsjubiläum

Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster der Juden. Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.

Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist. Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie mag das zugehen? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du bist Israels Lehrer und weißt das nicht? Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben, und ihr nehmt unser Zeugnis nicht an. Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sage? Und niemand ist gen Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herabgekommen ist, nämlich der Menschensohn. Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, auf dass alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. (Johannesevangelium 3,1-18)

Über den trinitarischen Gott, den wir heute feiern, die gesellige Gottheit, wie Kurt Marti sie nennt, dichtet der Schweizer Dichterpfarrer:

Am Anfang also Beziehung.
Am Anfang: Rhythmus.
Am Anfang: Geselligkeit.
Und weil Geselligkeit: Wort.
Und im Werk, das sie schuf, suchte die gesellige Gottheit sich neue Geselligkeiten.
Weder Berührungsängste noch hierarchische Attitüden.
Eine Gottheit, die vibriert vor Lust, vor Leben.
Die überspringen will auf alles, auf alle.

Und das Gegenteil eines geselligen, gelenkigen, gemeinschaftswilligen und gemeinschaftsfähigen Wesens ist: — der Stiesel!

„So ein ‚Stiesel‘ “ konnte meine Mutter – Gott hab sie selig – über jemanden sagen, der ungesellig war, der irgendwo nicht hineinpasste – oder gleich nirgendwo hineinpasste – und auch keine Anstalten machte, sich etwas passender zu machen. „Sei nicht so ein ‚Stiesel‘ “ hat sie uns gelegentlich mitgegeben, wenn wir über unseren Schatten springen sollten – nicht immer mit Erfolg.

Das Mitmachwörterbuch der rheinischen Umgangssprache erklärt den Stiesel zum ungelenken, geistig unbeweglichen Sturkopf, der an alten Zeiten und Gewohnheiten hängt. Soziale Kompetenz ist des Stiesels Stärke nicht. Geselligkeit bleibt ihm fremd. Vielleicht ist er sich selbst fremd.

Insofern wird man weder Nikodemus noch Jesus ohne weiteres mit diesem schönen, doch etwas aus der Mode gekommenen Ausdruck belegen wollen, da sie sich ja über manche Gräben hinweg um ein Gespräch bemühen, über ihren Schatten springen, heimlich im Schatten der Nacht, Umstände auf sich nehmend, an Verständigung interessiert – aber Verständnis zu keiner Zeit erreichend.

Das liegt – meine ich – daran, dass sie sich eben doch gegenseitig Stiesel sind, indem ihre jeweiligen Denk- und Lebensweisen, an denen sie hängen, und in denen sie verharren, echtes Verständnis eigentlich verbietet. Johannes verteilt als Biograph seines Heilands die Sympathien und Schuldanteile an diesem misslingenden Gespräch eindeutig, aber auch der Jesus in der Zeichnung des Johannes kommuniziert hier für uns hörende Beobachter merkwürdig, ungelenk, rätselhaft und ohne auf die Fragen und Probleme seines Gegenübers einzugehen. Schon stieselig.

Ich wäre aber wohl trotzdem kaum beim Nachdenken über unseren Text auf den Ausdruck Stiesel gekommen, ohne den frischen Eindruck einer Fernsehserie des israelischen Fernsehens, deren 3 Staffeln, 33 Folgen und genau 3 mal 3 mal 3 Stunden – was ich jetzt mal – bei so viel Dreien – als an uns Christen gerichtete trinitarische Chiffre deute – mir und meinen Lieben zu einem abendlichen Vergnügen in dieser Zeit geworden sind – so viele Vergnügen gibt es ja nicht unter den Bedingungen der Pandemie – und die unter dem Namen „Shtisel“ das Leben einer ultraorthodoxen jüdischen Familie im heutigen Jerusalem – eben, der Shtisels – erzählt; wobei ich bisher nicht herausgefunden habe, ob die Familie nach unserem rheinisch-westfälischen Sturkopf benannt wurde oder ob dieser womöglich jiddische Wurzeln hat oder beides; das ist ja nur eine der berührenden Seherfahrungen, dass wir das Jiddische im Grunde als deutschen Dialekt erleben, und beinahe jeden jiddisch gesprochenen Satz verstehen können.

Der Patriarch dieser Familie, Rabbi Schulem Shtisel, Lehrer und Leiter einer Bibel- und Talmudschule, einem Cheder – ist ein geistiger Nachfahre unseres Nikodemus, Pharisäer und Oberster der Juden, als Pharisäer einer, der mit besonderem Ernst Gottes Geboten zu folgen versucht. Sie bleiben im Wesentlichen unter sich und Shtisel würde im Leben nicht darauf kommen bei einem Christen um ein Gespräch zu bitten, weder tagsüber noch des Nachts und auch im Evangelium des Johannes ist das Treffen von Nikodemus und Jesus ein äußerst unwahrscheinlicher Fall.

Aber bei aller Fremdheit dieser religiösen Gemeinschaft, wachsen die Figuren einem ans Herz, ihre Suche nach Lebensglück in Ehe und Familie nach den Regeln ihres Glaubens gewinnt uns Zuschauer für sie: Unglaublich wie allgegenwärtig der Glauben bei ihnen ins Leben spielt. Kein Bissen wird gegessen, kein Schluck getrunken, keine Wohnung betreten – ohne das Lob Gottes auf der Zunge. Und man fragt sich: Welche Rolle spielt eigentlich unser Glauben in unserem Leben, in unserem Alltag? Haben wir nicht einmal vor Jahrzehnten versprochen, auch im Glauben wachsen und ein lebendiges Mitglied der Kirche sein zu wollen, Tag für Tag?

Shulem Shtisl zeigt sich immer wieder als echter Stiesel, der stur in den überkommenen Regeln und Verhaltensweisen verharrt, der wenig Wert darauf legt, sich seinen Mitmenschen übertrieben angenehm zu machen oder gar anzupassen – und dennoch wächst unsere Sympathie, ja Zuneigung für ihn und die Seinen von Folge zu Folge, von Staffel zu Staffel. Man würde ihn gerne treffen, warum nicht nachts und über Gott und die Welt sprechen, wobei die nächtliche Ausgangssperre – glaube ich – das geringste Problem wäre. Ein solches Treffen wäre eine echte Stieselprobe, nämlich der Austausch mit einem, der ganz was anderes glaubt als ich selbst, ob wir beide das aushalten? – und zwar nicht wie in missverstandener Toleranz, weil uns das alles nicht so wichtig ist, sondern im Gegenteil, weil uns beiden nichts wichtiger ist als unser Glauben.

In einem solchen Gespräch im Schutz der Nacht würde ich ähnlich wie der johanneische Jesus das christliche Gottesverständnis ausbreiten wollen, zu dem das Wirken des Geistes, der weht wo er will und das Geschick des Sohnes gehört, den Gott gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben und es sich daher für uns Christen nicht vermeiden ließ, Gott als Trinität zu denken: Gott verharrt nicht bei sich, sondern setzt sich in Bewegung, verändert sich, hat eine Geschichte, ist gesellig, sucht Gesellschaft, Gemeinschaft, Gott ist nach allem, was wir wissen können, eben kein Stiesel; sondern wie in Kurt Martis Worten: Die gesellige Gottheit.

Und wir würden von dem neuen Nikodemus, den Gott uns nach Hause schickt – und warum sollte Gott ihn uns nicht in diesen Zeiten über den Bildschirm als Fernsehserie des Nachts nach Hause schicken? – wir würden wissen wollen, wie das in seiner Tradition geglaubt wird, wie es zur Sprache kommt und wie es lebendig wird: Gottes Lebendigkeit, seine Beweglichkeit und seine Geselligkeit. Und dann würden wir vielleicht zuerst dazu ermahnt, Gottes Heiligkeit und Verborgenheit zu achten, die in der jüdischen Tradition dadurch geäußert wird, dass er eben nicht geäußert wird der Name Gottes, um ihm nicht zu nahe zu treten; Gott ist den frommen Juden unaussprechlich, nur als der „Name“ Haschem kommt er zur Sprache; und das immerzu im Milieu der Stisels im Lobpreis bei jeder Gelegenheit: Boruch Haschem, Gelobt sei der Name, gelobt sei Gott!

Und dann würden wir erinnert werden, dass sich das Lob Gottes im Befolgen seiner Gebote spiegelt. Gott lebt in unserem Leben: und je mehr unser Leben Gottes Geboten folgt, desto sichtbarer wird dessen Lebendigkeit, seine Gemeinschaftstreue, sein unerschöpfliches Talent zur Geselligkeit: Auch dieser Gott ist kein Stiesel, wie auch, es ist ja derselbe wie unsrer, der nach unserem Glauben seinen Sohn sandte und uns mit seinem Geist bewegt: die gesellige Gottheit.

Und dann wäre es noch einmal – auch für uns – ganz neu auszuhalten, was der johanneische Jesus dem Nikodemus des Nachts zuraunt in der Hoffnung auf Wiedergeburt durch den Geist: Als Geist verbindet Gott Unverfügbarkeit und Nähe, die unverfügbare Nähe des geselligen Gottes, uns zu verändern, uns zu erneuern – was sage ich! – uns neu zu gebären, und wären wir längst alt geworden. Und dann würden – vielleicht – wir in die Rolle des ratlosen Nikodemus fallen und ratlos fragen: Wie soll das gehen, neu geboren werden, Altgewordene, die wir sind, gegründet in unseren Überzeugungen, gehalten in unseren Gewohnheiten, eingerichtet in unserem Leben. Was ja erstmal nicht schlecht und nicht falsch ist. Wie sollte man anders leben – etwa haltlos und bodenlos? Etwa ohne Überzeugungen, etwa ohne Gewohnheiten? Fordert Jesu etwa von uns die permanente Revolution unseres Lebens, die fortgesetzte midlife Krise?

Soll ich mir rote Schuhe kaufen – wie ein Freund das letztens gemacht hat – soll ich eine neue Frisur ausprobieren, eine, die nicht von den Schließungen der Frisörsalons erzwungen ist, aber dem zufälligen Wildwuchs der Coronazeit folgt, wie ein Bekannter vorgeschlagen hat: Siehst viel besser außer jetzt! – soll ich endlich das sportliche Auto fahren, für das ich bestimmt bin – von anderen Narreteien mal zu schweigen? Selbst der gottesfürchtige Shulem Shtisel hat Momente, in denen er sich neu erfinden möchte auf einem sündhaft teuren Shopping-Trip mit edlem Tuch und schickem Hut, keinem Borsolino, einem Brandolino! – und der immerhin postwendenden Erkenntnis, dass das jetzt Quatsch war. Muss auch mal sein, aber es ist Quatsch.

Also vermutlich – ganz sicher! – ist das mit der Neugeburt aus Gottes Geist doch anders gemeint. Es geht eher darum, in unserem Leben den Geist Gottes abzubilden, besser: den Geist sich abbilden zu lassen; und uns nicht durch periodische oder permanente Neuerfindung unserer selbst zu ermüden und zu beschämen; sondern indem wir Gottes Geist Raum geben für uns, in uns; aufmerksam werden für Gottes Wirken um uns herum; auf das Brausen des Geistes hören, denn:

Der Geist bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. Amen.

Predigttext für Pfingstmontag, 24.5.2021

Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter; aber es ist ein Herr. Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen. Durch einen jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller. Dem einen wird durch den Geist ein Wort der Weisheit gegeben; dem andern ein Wort der Erkenntnis durch denselben Geist; einem andern Glaube, in demselben Geist; einem andern die Gabe, gesund zu machen, in dem einen Geist; einem andern die Kraft, Wunder zu tun; einem andern prophetische Rede; einem andern die Gabe, die Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Zungenrede; einem andern die Gabe, sie auszulegen. Dies alles aber wirkt derselbe eine Geist, der einem jeden das Seine zuteilt, wie er will. (1. Korintherbrief des Paulus 12, 4-11)

Was ist deine besondere Stärke? Was dein Talent, dass du pflegen solltest? Was sind deine Gaben, die Gott dir gegeben hat?

Als Kind galt ich als musikalisch, hatte Freude am Flötenspielen schon vor der Grundschule und brauchte dann 10 Jahre entsagungsvollen Klavierunterricht, um einzusehen – bzw. um meine Eltern einsehen zu lassen, dass das jedenfalls nicht mein Talent ist, das ich pflegen sollte. Ich habe das auch immer meinen beiden Klavierlehrern angelastet, deren eine – überaus schöne – aus der guten alten bulgarischen Musikschultradition stammte und keine Probleme damit hatte, ihr Temperament auch lautstark gegen mich zu wenden; und deren anderer – überaus hässlicher – unsere gemeinsame Leidenszeit dadurch abzukürzen versuchte, dass er mich zu Beginn der Stunde Wasser für seine unter den Missklängen seiner amusischen Schüler dahinsiechenden Zimmerpflanzen zu holen beauftragte. Still leiden und Wasser tragen konnte ich am Ende meiner Klavierdekade, Klavierspielen nicht.

Auch sportlich lief es nicht so gut, beim Hockey im Nerotal war ich für den Trainer – selbst Weltmeister mit gehörigem Selbstbewusstsein und ohne jedes Verständnis für das Unvermögen anderer – das „Talent“ und immer dann ein Problem, wenn er nicht darum herum kam, mich aus Mangel an verfügbaren Spielern nun doch für die Wochenendturniere aufzustellen, dann aber mit dem dringenden Auftrag mich möglichst fern vom Spielgeschehen zu halten, im Abseits sozusagen, was mir nicht immer gelang, auch weil die Abseitsregeln in diesem Sport für mich als Außenstehenden geradezu absurd kompliziert sind – und was ich dann mit geschwollenen Knöcheln und ansehnlichen Hämatomen bezahlt habe; ein Hockeyball ist klein, hart und wird von denen, die davon Ahnung haben, auf bisweilen überraschende Flugbahnen und beträchtliche Geschwindigkeiten gebracht; kein Wunder dass sie leicht übersehen werden können.

Was ist meine besondere Stärke? Was mein Talent, dass ich pflegen sollte? Was sind meine Gaben, die Gott mir gegeben hat? Hab ich welche?

Gerade Jugendliche beschäftigen sich – im genetischen Auftrag der Selbstfindung – mit der Suche nach ihren Stärken und Begabungen und müssen lernen mit ihren Schwächen umzugehen. Und als Herangewachsene sollten wir uns einigermaßen darüber im Klaren sein, was geht und was nicht, wo sich die Mühe lohnt und was wir besser lassen, womit sich ein Leben bestreiten lässt und was auch anderen nützen kann. Meine Entscheidung von damals ist bekannt: Klavier und Hockey klappen nicht so – versuchen wir es mit der Religion. (Reli stresst weniger, lernt man schon in der Schule, übrigens zu Recht; der Reli-Unterricht ist nicht umsonst als „kulturökologische Nische“ bezeichnet worden).

Der Apostel Paulus erfindet sich für unsere Gaben und Talente ein eigenes Wort, dass wir dank seiner bis heute verwenden, aber etwas anders, als es Paulus ursprünglich meinte: Charisma ist für ihn nicht die besondere, wirkungsvolle, beeindruckende, gleichsam auratische Erscheinung – wie für uns – sondern die Gabe, mit der uns Gott segnet und auszeichnet; beides schließt sich nicht aus, meint aber Verschiedenes. Im Wörtchen Charisma steckt das Wort Gnade und so bezeichnet es zugleich die besondere Gabe wie auch die Gnade, aus der sie gewährt wurde. So weit, so gut – aber anders als in Demut und Dankbarkeit sollte man dieser Gabe, wenn man sie denn hat oder von ihr durch andere profitiert, nicht begegnen; auch unser Wort Dank steckt in der griechischen Vokabel Charis und Charisma. Was ist das Problem?

Das Problem und das Drama des begabten Christen, das Paulus insbesondere in den Auseinandersetzungen mit den Korinthern erlebt hat und dann in seinen Briefen adressiert, besteht nicht so sehr wie in meinen Kindheitserinnerungen in einem Mangel an Begabung sondern eher im Gegenteil, also in dem, was sich an gewissen Musiklehrern oder manchen Sportübungsleitern zeigt, nämlich im hochmütigen Unverständnis gegenüber ihren tiefbegabten Schützlingen, in deren Scheitern sie sich selbst auch scheitern sehen; solcher Hochmut aber entwertet als Lieblosigkeit die eigenen großen Talente: Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir´s nichts nütze. (1. Korintherbrief des Paulus 13,1-3)

Wenn der Apostel Paulus nur kurz vor diesen berühmten Versen – seinem Hohen Lied der Liebe – in unserem Predigttext die legitime Verschiedenheit der christlichen Begabungen und implizit auch der Minderbegabungen betont – denn die Aufzählung der Charismen geht ja kaum von Doppel- oder Mehrfachbegabungen als Regelfall aus und rechnet folglich durchaus mit Talentlosigkeit auf allen Gebieten außer dem einen einzigen eigenen – dann ist das von diesem Hohen Lied der Liebe des Paulus als Pointe her zu lesen: Die Begabungen und Talente haben ihr Recht, sind auch notwendig für das Gelingen der Gemeinde, sie schaden aber – so wie in Korinth – wenn sie als Distinktionsmerkmale einer charismatischen Elite und nicht als Gnadengabe des einen göttlichen Geistes zusammengebunden im Band und im Dienst der Liebe gesehen werden. Erst die Liebe vermag die Begabten einzubinden und ihre Begabungen für die anderen erträglich, sozialverträglich und dann auch nutzbar zu machen.

Erst mit dieser und der folgenden Einsicht des Paulus, dass aus den verschiedenen Gaben keine Hierarchie abzuleiten ist, wie schließlich der, dass – in Abwandlung eines Satzes des charismatischen Künstlers Joseph Beuys – jeder Christ ein Charismatiker ist, wäre also an dieser Stelle frei nach Luther das allgemein Charismatikertum zu verkündigen: Jeder Christ ist ein Charismatiker, von Gottes Geist begabt.

Damit erübrigt sich nicht etwa sondern es verschärft sich die eingangs gestellte Frage zur Lebensfrage: Was sind unsere besonderen Stärken? Was gerade unsere Talente, die wir pflegen sollten? Was sind unsere Gaben, die Gott durch seinen Geist uns gibt? Und wie können wir sie einbringen? Amen.

Predigttext für Pfingsten, 23. Mai 2021

Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde. Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der Herr von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der Herr daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde.

(1. Mose 11,1-9)

Wer auf dem Lutherweg von Oppenheim kommend in Richtung Süden nach Worms wandert, genießt nicht nur die unmittelbare Umgebung der Weinberge und Hügel – die hier rheinhessisch heimelig Hiwwel heißen und so ganz anders wirken als die vertrautere Gegend von Rheingau und Taunus – , sondern der kann auch den Blick schweifen lassen, weit schweifen lassen über den Rhein und die Rheinebene hinweg bis zum Odenwald hinüber, zum Melibokus und zur Starkenburg und den anderen Berglein, hoch sind sie ja nicht wirklich, die aber zusammengenommen ein schönes Gebirgspanorama abgeben. Die reine Erholung, für die Augen und den Geist – auch wenn der Weg sich ziehen kann. Zeugnis für Gottes unerschöpflichen Schöpfergeist.

Und mittendrin lenkt den Blick eine Ansammlung von hohen, mächtigen Türmen auf sich, Kühltürme eines Kraftwerks und die Hauben zweier Reaktoren, Biblis A und Biblis B; längst eine Industrie- und Bauruine, abgeschaltet ziemlich genau vor 10 Jahren unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe von Fukushima.

Die meisten von uns Älteren kennen noch die Diskussionen und die gesellschaftlichen Konflikte um die Atomkraft der 80er und der darauffolgenden Jahre, haben jeder für sich ein Bild davon, um was es ging – hoch her jedenfalls – und um was es geht. Über diese Konflikte ist in den Hintergrund geraten, welche Hoffnungen einst die geniale Ingenieurleistung der Kernspaltung begleitete, nämlich weit mehr als bloß die Sicherung der Energieversorgung sondern nicht weniger als die Bezähmung der Schöpfungskräfte durch den Menschen, der ein zweites Mal den Göttern das Feuer entreißt, Prometheus 2.0: Ihr werdet sein wie Gott! nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Die Diskussionen und Konflikte sind keineswegs beendet; der deutsche Atomausstieg aus Sorge vor der Unbeherrschbarkeit der Kernkraft und ihrer unbeherrschbaren Folgen für die Menschen der Zukunft, dieser Ausstieg blieb ein Sonderweg und gilt vielen unserer Nachbarn als Irrweg, als Irrweg gerade angesichts des menschengemachten Klimawandels und der Notwendigkeit auf fossile Brennstoffe zu verzichten.

Als Symbol für Triumph und Scheitern menschlichen Ehrgeizes taugen die nutzlos gewordenen und dem Ruin geweihten Türme in der lieblichen Landschaft des Rheintals allemal: Soviel haben wir gewollt, so wenig ist uns gelungen, so viel bleibt zweifelhaft. (Und so gibt es seit langem politische Plakate, die den Turmbau zu Babel in die Kühltürme von Biblis und den anderen Standorten einzeichnen, etwa in Bearbeitung der berühmten Babelturmbilder des Pieter Brueghel durch den Schweizer Plakatkünstler Pierre Brauchli.) Soviel haben wir gewollt, so wenig ist uns gelungen. Was ist da geschehen?

Die Turmbaugeschichte der Bibel verdankt sich derselben Frage: Was ist da geschehen? fragten die Menschen angesichts der großen, beeindruckenden Ruinen im Zweistromland, den Überresten der gewaltigen Zikkurate in Babylonien, der Tempeltürme und Wohnpyramiden, dieser Himmelshügel und Götterberge, wie sie genannt wurden, die aber schon zu biblischer Zeit nur noch ruinöse und zerfallene Denkmäler ihrer selbst waren. Was war da geschehen?

Offensichtlich lag schon damals nahe, die Ursache solcher Bauruinen im Hochmut – dass wir uns einen Namen machen – und im Streit der Menschen – wenn keiner des andern Sprache versteht – zu sehen. Manchmal wollen wir zu viel, riskieren wir zu viel und verlieren wir zu viel über unserem Ehrgeiz und über unserer Gier. Wer hoch baut, kann auch tief fallen. Wer zu viel will, wird am Ende alles verlieren. Hochmut kommt vor dem Fall.

Unsere Predigttext-Geschichte macht insbesondere Mängel und Fehler der Kommunikation für das Scheitern des Projekts verantwortlich. Wer etwas erreichen will, muss die gleiche Sprache sprechen mit denen er etwas erreichen will. Das leuchtet unmittelbar ein für den Betrieb einer Baustelle: Wer den Auftrag nicht versteht, kann ihn nicht ausführen; und wer das Problem nur auf sumerisch äußern kann, wird der nicht begreifen, der sich vornehmlich auf hetitisch verständigt; und manchmal versteht man noch nicht einmal seinen rheinhessischen Nachbarn: In ländlicher Abgeschiedenheit kann selbst der obligate Kauf von Weck, Woscht und Woi zum Abenteuer mit ungewissen Ausgang werden; es soll Norddeutsche geben, die mit leeren Händen die Warentempel rheinhessischer Kulinarik verlassen mussten. Darüber hinaus gibt es ausgezeichnete Möglichkeiten in derselben Sprache aneinander vorbei zu sprechen – oder noch in denselben Worten in unterschiedlichen Welten zu leben.

Das könnte man leicht zeigen in den Konflikten unserer Zeit, sozusagen auf den Großbaustellen in der ganzen Welt:

– Bis heute gibt es keine gemeinsame Erzählung über die Atomkraft, ihrer Chancen, ihrer Gefahren, ihrer Katastrophen. Erst kürzlich habe ich einen seriös gemeinten Zeitungsartikel von einem offensichtlich klugen und informierten Menschen gelesen, der behauptete, dass Atomkraft die Energie der Zukunft sei und dass es ja weder in Tschernobyl noch in Fukushima unmittelbar Tote gegeben habe, während gleichfalls seriöse Untersuchungen internationaler Organisationen unter Verweis auf tausende Opfer allein dieser beider emblematischen Unglücke unserer Zeit jede weitere Nutzung rundherum ablehnen.

– Oder in den Wahrnehmungen und Deutungen der Pandemie finden die Befürworter und Gegner mancher oder aller Maßnahmen trotz derselben Sprache keine gemeinsame Sprache. Auch hier scheinen – und zwar diesseits der offensichtlich durchgeknallten Leugner und Hetzer – offensichtlich rationale und um Informationen bemühte Kommentatoren in verschiedenen Welten zu leben und zu argumentieren, wenn „No-Covid“ für die einen eine – und zwar die beste und vernünftigste – Möglichkeit ist, die Pandemie einzudämmen, für andere aber nur für die unvernünftige Illusion der Totalvermeidung des Lebensrisikos steht, die das Leben selbst erstickt.

– Oder – schrecklich und traurig zugleich – im gegenwärtigen und schon so alten Konflikt im Heiligen Land, wenn so viele auf beiden Seiten nur jeweils ihr Leid und ihr Recht sehen und nicht das der anderen. Nicht selten blenden die ehrlich herzzerreißenden Opferberichte der einen das Leid der anderen völlig aus.

Wir würden sicherlich auch im Kleinen und im persönlichen Nahbereich – in Familien, unter Freunden, in Gemeinden – immer wieder auf Konflikte stoßen, die an diesem Mangel einer gemeinsamen Sprache, die an diesen Fehlern der Kommunikation, die an der Verweigerung von Empathie leiden, die Familien und Freundschaften zerbrechen lassen und Gemeinwesen schädigen. Es sind ja nicht schon die widerstreitenden Interessen und Ansprüche an sich, die zum Konflikt führen, sondern die Verweigerung diese zu verhandeln.

Unsere Geschichte vom Turmbau zu Babel – was hier durchaus lautmalerisch gemeint ist: Babel – Gebabbel; aber nicht in seiner sympathisch mundartlichen Variante unserer Heimat sondern als unverständliches pseudosprachliches Geräusch – gibt hier bloß den Hinweis, dass solche Konflikte letztlich Sprachkonflikte sind; aber sie löst sie nicht auf, sie zeigt keine Lösungen, weist nicht über die Ruinen, den Ruin hinaus. Auch wenn das Problem erkannt ist, ist es noch lange nicht gebannt. Was kann helfen?

Die Pfingstgeschichte, wie sie der Evangelist Lukas erzählt, gibt eine Antwort; sie ist in gewisser Weise eine Antwort auf die uralte Sage vom Turmbau, wenn nämlich an Pfingsten die gemeinschaftszerstörende babylonische Sprachverwirrung zurückgenommen und aufgehoben wird – durch den Geist Gottes. Der wirkt nach dem breiten und einheitlichen Zeugnis der Bibel und so auch hier in den Worten des Lukas, dass er Sprachblockaden überwindet, Kommunikationsknoten löst, Einfühlung in die anderen empfiehlt. Es geht darum, wieder – und trotz allen Widerwillens – gemeinsam und miteinander zu sprechen – von mir aus auch zu babbeln, zu quatschen, zu quasseln, zu schwätzen – gerne wie einem der Schnabel gewachsen ist, aber auch so, dass einem am Verständnis der anderen etwas liegt, mit Interesse.

Macher – vor allem solche, die sich selbst für welche halten – meinen manchmal, dass irgendwann genug geredet sei und jetzt mal „gemacht“ werden müsste; kann schon sein. Aber dieses „irgendwann“ ist nicht unbedingt schon dann erreicht, wenn meine Geduld aufgebraucht ist und ich keine Lust mehr aufs Zuhören habe. Eine Alternative zu Verhandlungslösungen gibt es nicht – was auch furchtbar altklug klingt aber deshalb nicht weniger stimmt. Probleme und ihre möglichen Lösungen müssen solange erklärt werden, bis sie verstanden werden. Und manchmal kann es dann sogar besser sein, nix zu tun als das offenkundig Falsche.

Die Grundlage solcher Verhandlungen, solcher Gespräche wird immer das Gemeinsame der Streitenden sein, gemeinsame Interessen, gemeinsame Geschichte, gemeinsame Ziele, gemeinsame Überzeugungen; so wie Petrus an Pfingsten die gemeinsame Heilsgeschichte und die gemeinsame Sehnsucht benennt und darüber die Hörenden zusammenführt.

Angesichts der babylonischen Turmruinen im Rheintal liegt das Gemeinsame sowieso auf der Hand, aber vielleicht tut es gut nochmal davon zu sprechen, frei nach Karl Valentin, dass zwar schon alles gesagt wurde, aber noch nicht von allen und noch nicht bei jeder Gelegenheit: Wer könnte, wer wollte die unvergleichliche Schönheit dieser Ebene gefährden, riskieren. Kein wirtschaftlicher Gewinn, kein Mehr an Bequemlichkeit könnte den Verlust einer bewohnbaren Heimat gutmachen, dieser jahrhundertealten Kulturlandschaft voller Naturschönheit, Handlungsort unserer Geschichte – nicht nur Luther war hier; Goethe sowieso – und Erbe für unsere Kinder und Enkel, sichtbar gesegnet durch Gottes Schöpfergeist. Ausschöpfen werden wir das nie, weder in unserem Erleben noch in unserem Reden. Aber gut, dass wir mal wieder darüber gesprochen haben. Amen.

Predigt zur Konfirmation 2021 Matthäus, 22. Mai 2021

Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind’s, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind’s, die ihn finden!

Seht euch vor, vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig sind sie aber reißende Wölfe. (Matthäusevangelium 7,13-15)

„Zwei Wege boten sich mir dar, / Ich nahm den, der weniger begangen war, / und das veränderte mein Leben“ –

So wie hier ein berühmtes amerikanisches Gedicht endet – „Two roads diverged in a wood, and I -/ I took the one less traveled by,/and that has made all the difference“;

so wie dieses Gedicht endet, beginnt manchmal das Herumirren in einem finstern Wald auf schlecht markierten Trampelpfaden. Es muss nicht immer die richtige, die weise Entscheidung sein, in unbekanntem Terrain den breiten, ausgetretenen Weg zu verlassen und sich stattdessen auf engem Pfad durch die Büsche zu schlagen.

In meiner Familie bin ich längst als falscher Prophet der Wanderkarte bekannt und meine berühmten „Abkürzungen“ – „Wieviel länger wird diese ‚Abkürzung‘ werden, Papa?“ – sind, nun ja, berüchtigt; der gewohnheitsmäßigen Versicherung „nennenswerte Steigungen sind nicht zu erwarten“ wird wenig bis kein Vertrauen geschenkt; aber die Erleichterung am Ziel über ein Leben diesseits des Waldes überstrahlt noch jedes Mal die Erschöpfung nach einer Wanderung.

Bei dieser Gelegenheit könnt ihr euch, liebe Konfirmanden, – bei allem, was euch entgangen ist in diesem ungewöhnlichen Konfirmandenjahr und was wir beklagen – wenigstens dessen glücklich schätzen, dass euch das Schicksal einer meiner früheren Konfigruppen erspart blieb, mit der ich – damals noch im schönen Odenwald – bei Schnee und Finsternis – einer falschen Eingebung und also einem Weg folgend, der gar nicht begangen war, außer von uns – verloren gegangen bin – verirrt und frierend wie die Wölfe ohne Schafspelz – uns alle beinahe – beinahe – in die Verdammnis geführt habe und wo wir uns mit letzter Kraft in ein Wirtshaus – noch nicht ganz im Spessart aber halt im falschen Ort – retten konnten, aus dem uns dann nach einer heißen Schokolode für die Konfis und etwas Geistlichem für den Geistlichen eine barmherzige eingeborene und gänzlich unbekannte Konfirmandenmutter per SUV-Staffel ins Landschulheim zurückgefahren hat – Taxis gab´s dort nämlich nicht im winterlich nächtlich finstern Odenwald, dem Wald Odins des Wanderers.

„Auf halbem Weg des Menschenlebens fand/ Ich mich in einen finstern Wald verschlagen/ Weil ich vom graden Weg mich abgewandt“ – so ist es schon größeren als unsereinem gegangen, und deshalb beginnt der diesjährige Jubilar Dante seine Göttliche Komödie mit eben diesen Worten (mein altitalienisch ist noch ein bisschen schlechter als mein modernes italienisch, wenn das überhaupt möglich ist, denn auch das ist erbärmlich): „Nel mezzo del cammin di nostra vita/ mi ritrovai per una selva oscura/ ché la diritta via era smarrita“. Das jetzt nur so nebenbei, weil letztens jemand in der Gemeinde darüber geklagt hat, Dante würde nicht mehr gelesen. Stimmt also nicht, wir lesen Dante, sogar im altitalienischen Original, und seien es drei Zeilen.

Man kann davon ausgehen, dass sowohl der amerikanische wie der italienische Dichter auch Bibelstellen wie unseren Predigttext im Ohr hatten, wenn sie vom Leben als Lebensweg sprachen. Und so wie es bei Dante die ersten drei berühmten Zeilen sind, so sind es bei Robert Frost die letzten drei Zeilen, die viele kennen, diese oft zuerst (wie ich) aus dem großartigen Film „Der Club der Toten Dichter“ mit dem noch großartigeren Komödianten Robin Williams – Gott hab ihn selig! -, der seinen Schülern im Film zeigt, wie überaus lebendig die vermeintlich toten Dichter sind, und der uns Unterrichtenden zeigt, wie lebendig Unterricht sein kann. So müssten wir das auch hinkriegen – natürlich ohne die hollywoodmäßigen Übertreibungen und ohne das tragische Ende. So wünschte ich mir selbst unseren Unterricht über das überaus lebendige Wort Gottes – nichts ist lebendiger als die Worte der Bibel, wenn wir sie unserer Einbildungskraft anverwandeln – dass Gottes Wort also leben möge in euch und euch begleiten möge, auf eurem Lebensweg, auf dem die Konfirmation eine nicht unbedeutende Wegmarke darstellt: aus der Kindheit heraus in das Heranwachsen hinein.

Ich habe mich lange gefragt, ob das Jesuswort von den beiden Wegen und den beiden Pforten, vom breiten und vom schmalen Weg und von der weiten und von der engen Pforte eine so gute Wahl für die Konfirmation ist – mal abgesehen davon, dass es ausdrücklich für die Konfirmation vorgesehen und seit Generationen den Konfirmanden gepredigt wird. Es kann ja doch als Drohung gehört werden und das wäre so ziemlich das letzte, was wir wollen, euch drohen. Auch eine allzu dringliche Warnung könnte kontraproduktiv wirken, denn Angst vor dem Leben sollen wir – trotz allem, trotz Seuche, Tod und Teufel, die euch und uns allesamt fernbleiben mögen – Angst sollen wir nach Gottes Willen gerade nicht haben: Fürchte dich nicht – sagt Gott – ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.

Aber ich glaube, Jesus möchte uns mit seinen Worten vom Weg und der Pforte aufmerksam machen, dass das Leben und unsere Entscheidungen bei aller jugendlichen Leichtigkeit, auf die gerade ihr, liebe Konfirmanden, jedes Recht habt, und die wir gemeinsam schmerzhaft entbehren – unendlich wichtig sind. Leben und Lebensentscheidungen verdienen unsere ganze Aufmerksamkeit, alle Wachheit, derer wir fähig sind, auch allen Eifers und aller Liebe für das, was uns wichtig ist; für das, was wichtig ist: „Carpe diem“, noch so ein Satz aus dem genannten Film, bringt es überaus missverständlich, geradezu riskant aber dennoch treffend auf den Punkt. „Nutze, Pflücke den Tag“, soll wenigstens in seiner christlichen Aneignung nicht den maximalen Lustgewinn fordern, wie ursprünglich vom lebendig toten Dichter Horaz gemeint und wie es die Spaßgesellschaft durch ihre falschen Propheten der in Wirklichkeit unerträglichen Leichtigkeit des Seins bis heute predigt; sondern „Carpe diem“, „Pflücke den Tag“ soll uns der Einzigartigkeit jedes einzelnen Tags unseres Lebens, jedes einzelnen Meters – was sage ich: Zentimeters – unseres Lebensweges erinnern. Wir haben nur dieses eine Leben hier – auch die Auferstehung wird uns nicht in dieses Leben zurück- sondern aus diesem Leben zu Gott bringen! – und es ist nicht egal, was wir aus diesem irdischen Leben machen, das uns Gott gegeben hat. Jede Entscheidung, jede Wendung kann einen Unterschied machen, macht einen Unterschied – makes all the difference; verändert unser Leben, wie der Dichter uns mitteilt.

Das kann jetzt schon ein bisschen einschüchtern, soll es aber nicht. Es gehört zur religiösen Mündigkeit, die Konfirmierten zugesprochen wird, dass wir uns dieser facts of life bewusst werden. Die Sache wird übrigens dadurch noch ein bisschen komplizierter, dass wir – anders als unser Predigttext aber auch das Dichterwort zu sagen scheinen – „Zwei Wege boten sich mir dar,/ Ich nahm den, der weniger begangen war,/ und das veränderte mein Leben“ ; dass wir in den Entscheidungssituationen unseres Lebens – also täglich – nicht ohne weiteres wissen, was der breite und was der enge Weg ist, welcher der ausgelatschte, vor dem gewarnt wird, und welcher der empfohlene, der weniger begangen ist. Nicht jeder Weg trägt einen Wegweiser! Und es stellt die ziemlich überraschende Pointe des Gedichts von Robert Frost dar, dass für ihn erst der Rückblick auf den Lebensweg darüber entscheidet, was überhaupt der Weg ist, der weniger begangen war, der sich gelohnt hat, der der richtige war und der den Unterschied gemacht hat. An der Entscheidungssituation selbst, an der Weggabelung können beide ziemlich gleich aussehen. Klingt kompliziert? Ist kompliziert! So wie das Leben.

Was kann uns da helfen, was kann uns leiten? Gott selbst natürlich, ohne den wir unseren Lebensweg nicht gehen müssen: „Der Wolken Wind und Regen gibt Wege Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann“ Wenn wir ganz genau auf diesen Liedvers hören, sagt er nicht nur, dass es einen Weg für mich – und gerade für mich – geben wird – was schon mal gut ist – sondern dass es eine Vielzahl von Wegen gibt, die sich je und je ergeben und je und je verändern. Der Vielzahl solcher Wege assoziiert der Dichter, Paul Gerhard übrigens, die Veränderlichkeit von Wetterphänomenen. Wenn es Gott hinbekommt – so die dichterische Logik – im chaotischen System Wetter den Überblick zu bewahren, wird er auch uns nicht im Regen stehen lassen, also: auf unseren verschlungenen Pfaden durchs Leben nicht aus den Augen verlieren. Nicht wir allein suchen uns unsere Wege, sondern Gott wird sie uns finden: Gott gewährt uns freies Geleit durchs Leben.

Und so sei diese Predigt voller toter Dichter mit einem Vers aus der lebendigsten aller Gedicht- und Liedersammlungen beendet, dem Buch der Psalmen:

Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen. Amen.

Predigttext für den Sonntag Exaudi, 16. Mai 2021, Konfirmation

Jesus Christus spricht: Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt,wie die Schrift sagt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten. (Johannesevangelium 7,37b-39a)

Ströme lebendigen Wassers fließen: Panta rhei! Alles fließt – gehört zu den ersten Erkenntnissen der Philosophie überhaupt; dem griechischen Philosoph Heraklit wird diese Einsicht zugeschrieben, irgendwann vor mehr als zweieinhalb tausend Jahren hat er das erkannt und dann gesagt – in seinen berühmten Flussfragmenten: dass „alles fließt und nichts bleibt; es gibt nur ewiges Werden und Wandeln“; „Wer in denselben Fluss steigt, dem fließt anderes und wieder anderes Wasser zu“; „Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.“; „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“

Panta rhei! Noch im Namen unseres Flusses Rhein, klingt diese uralte Weisheit nach, denn der ist nach demselben Wortstamm gebildet: rhei – Rhein, wenn man die Worte vor sich sieht, ist es noch deutlicher: der Rhein, der Fließende, der sich Wandelnde; wie wahr!

In meiner Kindheit – vor einem halben Jahrhundert: Kinder, wie die Zeit vergeht und verfließt! – war der Rhein auch schon schön, aber auch schön stinkig, stinkend nach Haushalt, nach Klo, nach Chemie; nicht nur die Schornsteine mussten rauchen sondern auch die Abwässer fließen; niemand wäre auf die Idee gekommen, in Biebrich, in Schierstein, oder auf der Rettbergsau, der Mariannenau, der Maaraue den Inselrhein auch als Badestätte zu genießen, heute hindert uns nur noch die Strömung oder der Schiffsverkehr daran, allzu sorglos im Rhein zu baden; krank machen würde er uns wohl nicht mehr, Fische und Vögel fühlen sich jedenfalls wieder wohl. Alles fließt, alles wandelt sich – nicht alles wandelt sich zum Schlechteren.

Ein paar hundert Kilometer flussaufwärts lässt sich wieder oder noch – alles fließt, alles wandelt sich, alles bleibt im Wandel – erleben, in Basel nämlich, wo die Menschen in den Fluss steigen, in ihm mitfließen, sich treiben lassen, sich selbst zum Treibgut machen, an der einen Stelle hinein und ein paar hundert Meter weiter hinaus, im Flussbadi – wie es in unseren nördlichen Ohren niedlich helvetisch klingt. Wenn man das als Besucher von weitem erlebt, die scheinbar hilflos im Wasser treibenden Menschlein als Punkte vom gegenüberliegenden Ufer sieht, denkt man erst an ein Unglück, möchte als ersten Impuls um Hilfe telefonieren, und erkennt nach einem Schreckmoment, dass die da zum Vergnügen sind, dass sie Spaß haben, und man lernt später, dass das, was sie da in Händen halten kein Rettungsgerät sondern der geniale Basler Wickelfisch ist, eine Trockentasche, die die Klamotten bis zum Ausstieg am anderen Ende der Stadt sicher verwahrt: Panta rhei; wenn schon alles fließt, muss aber noch lange nicht alles nass werden, denkt sich der patente Schweizer und verbindet das Vergnügen mit der Philosophie. Alles fließt und ich mit.

Panta rhei – was für ein starker Satz! Und das fließende Wasser – was für ein starkes Symbol! Mitreißend – und mitgerissen hat es uns ein wenig auch vom Predigttext, aber nur scheinbar fortgerissen. Denn da geht es nun einmal in einer Art hydrologischen Glaubenslehre um das Fließen von Strömen lebendigen Wassers, als Symbol des Wandels, des Lebens, der Kommunikation – das heißt ja „Geist“ – aus Christus; um das Fließen des Wassers – Jesus und sein Biograph Johannes werden Heraklit nicht gelesen haben – ich ja auch nicht, nur über ihn – aber beide benutzen dieselbe Vokabel, kommunizieren mit ihr mit uns, wie das Panta rhei, das noch den Rhein durchfließt.

Auf Flüssen und über Flüsse hinweg kommunizieren wir, zum Guten wie zum Bösen. Die Flüsse hinunter und hinauf ergaben, ergeben sich die Kulturkontakte; und über die Flüsse hinweg kreuz und quer haben unsere Vorfahren ihre Kulturkonflikte ausgekämpft: „Lieb Vaterland magst ruhig sein, fest steht die Wacht am Rhein“ – heute noch schön scheußlich in Stein gemeißelt, oben in Rüdesheim, im Niederwalddenkmal, darüber die Germania, die Siegeselse zum Gedenken an 1871, gerade einmal 150 Jahre her, mit stolzem Blick über den Rhein hinweg aus einer anderen Welt, weniger drohend und weniger martialisch als die Worte darunter, sie selbst vielmehr stolz und schön, eine starke Frau mit wehendem Haar, feministisches Statement, Frauenpower der Bismarckzeit, zumindest in der Bildsprache dieser Hauptfigur; ihrer französischen Schwester Marianne viel weniger unähnlich als gedacht. Mir gefällt sie, je öfter ich sie besuche und je länger ich sie kenne. Was hat sie uns zu sagen?

Unser Predigttext benutzt das Bild der Wasserströme um unsere Kommunikation zu zeigen; oft genug ist die gestört, gerade jetzt in diesen bösen Zeiten. Manches werden wieder neu lernen müssen nach der Pandemie; anderes haben wir neu eingeübt, auch zum Guten. Wenn wir nur vor dem Bildschirm sitzen ist das zwar Mist, aber besser als ganz allein zu sein; etwas Geist strömt da ja doch durch die bits und bytes unserer Daddelkisten.

Noch besser, viel besser aber ist es in direkten Kontakt zu treten, sich gegenseitig gegenwärtig zu werden, Geist zu spüren, Präsenz zu erleben. Das wird wieder passieren – und das ist schon wieder passiert. Das war ein besonderer Moment für mich, dass ihr den Vorstellungsgottesdienst präsent, gegenwärtig, real für und mit uns feiern konntet – nach so vielen Monaten vor dem Bildschirm Euch zu erleben, nicht nur als flimmerndes Bild oder schwarze Kachel. Euch gibt’s ja wirklich!

Und dass ihr euren Gottesdienst unter das Thema gestellt habt, das so viel für unseren Glauben bedeutet: Gerechtigkeit, die ja letztlich Regeln der Kommunikation betrifft! Gerechtigkeit: Wie gehen wir miteinander um, was verdient einer, was gehört sich, wie fließen unsere individuellen Lebensbächlein zusammen in den Strom der Gesellschaft.

Unser Predigttext heute bezieht sich direkt auf einen Text im Alten Testament, dem es wie so oft um nichts anderes geht als gerade das: Gerechtigkeit! Wie beziehen wir uns auf andere, wie kommunizieren wir, wie geht das: jedem das seine zukommen zu lassen (noch der beste Satz kann zum schlechtesten werden, den Schatten des Schreckens tragen); wie geht das, jedem und jeder gerecht zu werden. Gerechtigkeit ist Kommunikation – im weitesten Sinne – mit den anderen; wie bekommen wir es hin, dass jeder und jedem das ihm Gebührende zukommt, zufließt? Panta rhei, nun als Frage und als Aufgabe. Der Prophet Jesaja schreibt:

Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«. (Buch des Propheten Jesaja 58,9b-12)

Konfirmiert werden heißt – neben so vielem anderen, über das wir gesprochen haben – auch, dass ich mich als von Gott zur Gerechtigkeit beauftragt verstehe: die Ströme der Gerechtigkeit fließen zu lassen, dazu beitragen, Ungerechtigkeit in Gerechtigkeit zu verwandeln – und dadurch den Strom des Lebens durch mich fließen zu lassen. Was für eine Aufgabe, mit der wir heute – alle von uns, nicht nur die Konfirmanden – entlassen werden in den Strom des Lebens. Panta rhei. Amen.