Predigttext für den Vierten Sonntag vor der Passionszeit, 6. Februar 2022

Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!

Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn. (Matthäus 14,22-33)

Heute müssen wir uns als Geisterjäger betätigen, als Ghostbusters in der Tradition der großen – und wie wir neuerdings wissen unsterblichen – Dr. Peter Venkman alias Bill Murray, Dr. Raymond „Ray“ Stantz alias Dan Ackroyd und Dr. Egon Spengler alias Harold Ramis, die die Geister jagten und die Gespenster dingfest machten; und die wenn sie aufs Meer gefahren wären, noch dort den Heiligen Klabautermann mit ihren nichtlizensierten Protonenbeschleunigern gefesselt und in ihrer Geisterfallen gesteckt hätten; aber darauf, dass es bei uns heute so lustig wird wie bei diesen drei, sollten wir nicht hoffen. Denn heute jagen wir die Geister unseres Unglaubens, die Gespenster unsere Ängste und die Phantasmen unserer heimlichsten, ungutesten Wünsche – in der Nachfolge des Petrus, der uns – als er einmal seinen Herrn Jesus für ein Gespenst hielt – einen gewaltigen Schritt vorausging und beinahe ertrank.

Nicht in die Geisterstunde – was ja passend wäre – entführt uns der heutige Predigttext sondern – noch viel passender – in die sogenannte Wolfstunde zwischen 3 und 6 Uhr, wie unsere Spukgeschichte uns in geradezu pedantischem, aber keineswegs überflüssigem Detail berichtet: in der vierten Nachtwache. In die Wolfstunde, wenn sich nach altertümlicher Vorstellung nur noch die Wölfe herumtreiben, bevor es zu Morgen dämmert, wenn die Glücklichen und die Gerechten ihren Schlaf schlafen, aber die weniger Glücklichen unter uns sich wach in ihren Kissen und in ihren Sorgen wälzen; das Gemüt geschwächt wie die psychologische Medizin weiß von einem Ungleichgewicht der Hormone: Melatonin, Serotonin und Cortisol, das eine zu viel, die anderen zu wenig; also beinahe so wie schon die Alten raunten, dass eine Krankheit einer unvorteilhaften Mischung unserer Körpersäfte geschuldet wäre. Wenn die Mischung nicht mehr stimmt, ist unsere Geisterabwehr geschwächt, unser Geist kann sich unserer Sorgen und Probleme nicht mehr erwehren, wir werden in unseren Nachtgesichten dorthin entführt, „wo die wilden Kerle wohnen“, wie schon das Kinderbuch erzählt; oder wovon das Morgenlied singt: „Heut als die dunklen Schatten/mich ganz umgeben hatten/hat Satan mein begehret/Gott aber hats gewehret“ (EG 446)

Nicht an einen sicheren Ort mit sicherem Halt und festem Boden unter den Füßen führt unsere Geschichte, sondern aufs Meer hinaus, aufs Galiläische Meer, wie der See Genezareth auch genannt wird; tagsüber meist idyllisch aber keineswegs immer und nachts unheimlich wie die große Tiefe, Tehom oder Tiamat, das Urmeer als Macht des Chaos, gegen das Gott in der allerersten unvordenklichen Zeit gekämpft hat und nach uralter mythischer Vorstellung Nacht für Nacht immer wieder neu kämpft. Dieser Kampf mit dem Urmeer hat ein fernes Echo in unserer Urangst vor dem Ertrinken. „Gott hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist; ich bin in tiefe Wasser geraten und die Flut will mich ersäufen.“ Betet der Psalmbeter (Psalm 69) Noch der moderne Folterknecht nutzt die Wasserangst des Menschen in der teuflischen Qual des Waterboardings.

Und nicht bei sicherem, ruhigem Wetter geschieht das alles, sondern bei Wind und Wetter, wenn es vom Libanon und von den Golan-Höhen herunterstürmt und den idyllischen See in das chaotische Urmeer verwandelt, aufwühlt – so sehr aufwühlt, wie wir in den aufgewühltesten, schlaflosesten Nächten sein können. Selbst unser Fischer Torben an der auch nicht immer braven Ostsee mag sich bei Wind nicht auf See wagen, dann gibt’s eben keinen Dorsch und keine Scholle am Morgen, das lässt sich verschmerzen; besser als in Seenot zu geraten, wie es den Jüngern Jesu nun nicht zum ersten Mal passiert.

In diesen dreifach schaurigen Rahmen – aus grausiger Zeit, unheimlichen Ort, und wildem, windigen Wetter – malt unsere Geschichte das Bild, in dem man selbst Jesus für ein Gespenst halten könnte und Petrus ihn für ein Gespenst gehalten hat. Er und die Seinen meinen, ein über das Wasser wandelndes Phantasma, ein plastisches Nebelbild, einen voll-beweglicher Klasse-5-Dunst, eine torsohafte Erscheinung zu sehen: Es ist ein Gespenst!, und sie schrien vor Furcht.

Zünftig, furchtloses Geisterjagen geht anders, wie wir durch die einschlägigen, eingangs genannten Aufklärungsfilme wissen. Unsere Geschichte gönnt uns den Spuk aber nicht und löst ihn zum phantastischen Wunder hin auf: Ihr Zufolge ist es tatsächlich Jesus, der, wie nach antiker und nach biblischer Tradition nur Götter das können, über das Wasser geht und seine Freunde zu beruhigen versucht: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!

Und dann setzt unsere Geschichte in der Fassung des Matthäus – die anderen Evangelisten dürften das für eine unzulässige Übertreibung gehalten haben und schweigen davon – noch einen drauf, spinnt sie weiter und lässt erzählerisch gewagt aber psychologisch nicht unplausibel den Petrus in einer Mischung aus Zweifel, Übermut und Streberei um freies Geleit durch Wind und über Wellen bitten: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.

Jesus reagiert mit einem reichlich lakonischen und wenig begeisterten: Komm her! Also: Na komm schon, wenn es sein muss; du wirst schon sehen, was du davon hast. Und muss einen Augenblick später den schon wieder schreienden, und nun pitschnassen Petrus – wie ein aus Neugier und Ungeschicklichkeit in jeden erreichbaren Brunnen fallendes Kleinkind, ich kannte mal so eins – mit starker Hand und ausgestrecktem Arm aus dem Wasser fischen: Jesus, ein Menschenfischer auch hier; während Petrus auf die unsanfte Art daran erinnert wird, dass es Menschen nicht zukommt, wie die Götter über das Wasser zu wandeln zu begehren. Du wirst nicht sein wie Gott!

Ob sich, wie es der Erzählverlauf zunächst nahezulegen scheint, die Vorhaltung Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? nur – oder überhaupt – auf das Irrewerden des Petrus an seiner vermeintlichen neuen Fähigkeit des Über-Wasser-Laufens bezieht, muss also sehr bezweifelt werden. Es scheint doch vielmehr ein globaler Vorwurf an Petrus und die Jünger zu sein, die immer wieder in Zaudern, Zweifeln und Zagen verfallen und bis zum bitteren Ende der Jesusgeschichte unsichere Kantonisten bleiben. Nur ganz gelegentlich gelingt ihnen wie hier zum ersten Mal das Christusbekenntnis: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn.

Mit beidem – dem Bedenken und dem Bekenntnis – richtet sich die Geschichte an uns; Denn sie weiß von den beständigen Rückfällen in die Nacht der Ängste, auf das Meer der Zweifel und in das Unwetter unserer übertriebenen Wünsche, die uns nicht weniger als die Jünger plagen. Aber sie kennt eben auch das Licht dieses Bekenntnisses, das uns empfohlen sei, wenn uns die Schrecken unserer Verzweiflung und die Schatten unserer Sünde den Seelenfrieden rauben. Wie die Schlaftherapeuten, die uns dazu raten, nicht allzu lange im Dunkeln mit den Dämonen zu ringen, sondern lieber im Licht der Nachttischlampe ein schönes Buch zu lesen, es muss ja nicht gerade eine Gespenstergeschichte sein.

Das hat sich der Evangelist Lukas wohl auch so gedacht, denn er wird die phantastische Seewandelgeschichte wie seine evangelistischen Kollegen gekannt haben und hat sich dennoch gegen ihre Aufnahme in seine Jesusbiographie entschieden. Vielleicht hat er geahnt, wieviel ungläubigen Spott sie auf sich ziehen wird – keine Sammlung von Jesuskarikaturen ohne seinen berühmten Gang übers Meer! – und dass sie, wenn sie im gläubigen Ernst nicht als Gespenstergeschichte erkannt wird, mehr Ärgernis als Glaubenszeugnis ist. Denn Gespenst will uns Jesus ja gerade nicht sein! Jesus ist kein Phantasma – darin hat unsere Geschichte recht; und gleicht auch keinem – darin hat sie sehr unrecht.

Sondern Jesus ist wahrhaftig Sohn Gottes, des Schöpfers des Himmels und der Erde, „der den Himmel ausgespannt hat und auf den Wogen des Meeres einherschritt“ (Hiob 9,8)

Predigttext für den letzten Sonntag nach Epiphanias, 30. Januar 2022

Als nun Mose vom Berge Sinai herabstieg, hatte er die zwei Tafeln des Gesetzes in seiner Hand und wusste nicht, dass die Haut seines Angesichts glänzte, weil er mit Gott geredet hatte. Als aber Aaron und alle Israeliten sahen, dass die Haut seines Angesichts glänzte, fürchteten sie sich, ihm zu nahen. Da rief sie Mose, und sie wandten sich wieder zu ihm, Aaron und alle Obersten der Gemeinde, und er redete mit ihnen. Danach nahten sich ihm auch alle Israeliten. Und er gebot ihnen alles, was der Herr mit ihm geredet hatte auf dem Berg Sinai. Und als er dies alles mit ihnen geredet hatte, legte er eine Decke auf sein Angesicht. Und wenn er hineinging vor den Herrn, mit ihm zu reden, tat er die Decke ab, bis er wieder herausging. Und wenn er herauskam und zu den Israeliten redete, was ihm geboten war, sahen die Israeliten, wie die Haut seines Angesichts glänzte. Dann tat er die Decke auf sein Angesicht, bis er wieder hineinging, mit ihm zu reden. (2. Mose 34,29-35)

Mose trägt Maske. Er schützt damit nicht zuerst sich selbst sondern seine vulnerablen Mitmenschen. Wir kennen das; nur dass bei Mose der Groschen schneller gefallen ist als bei uns.

Mose trägt Maske, bedeckt sein Antlitz, legt sich eine Decke aufs Gesicht, einen Schleier über den Kopf (übrigens keinen Aluhut; angestrahlt, aber nicht verstrahlt) – und zwar nicht um sich selbst vor einer zu hohen göttlichen Strahlenbelastung zu schützen; sondern um die anderen nicht seinem strahlenden Gesicht auszusetzen; denn das war es, weswegen sie sich fürchteten, ihm zu nahen. Nur von weitem und für einen kurzen Moment sehen sie sein strahlendes Angesicht sahen die Israeliten, wie die Haut seines Angesichts glänzte. Aber sie sehen es.

Mose trägt Maske, weil er strahlt und glänzt. Seine Gottesbegegnung – schon im brennenden Dornbusch hatte er die Stimme Gottes gehört – und nun die Begegnung hier am Sinai hat ihn verändert, auch sichtbar verändert. Er erscheint nun in einem neuen Licht, mit neuer Ausstrahlung, die alles und alle in den Schatten stellt, stellen würde. Es ehrt ihn doppelt, dass er als Träger göttlicher Ehre und Herrlichkeit – das hebräische Wort für Ehre meint zuerst die Herrlichkeit, den Lichtglanz Gottes; dass er damit die anderen nicht blenden will, kein Blender sein will. Er soll und will nicht als Chef verehrt und gefürchtet werden, sondern er will und soll als Diener seines Gottes und als Diener seines Volkes dessen Weg ausleuchten.

Mose trägt Maske, weil er glänzt, aber er will nicht auf anderer Leute Kosten glänzen, um die geht es ihm ja – um die anderen Leute – denen soll durch ihn ein Licht aufgehen; sie sollen durch ihn gestärkt, geleitet, geführt und befreit werden; denn so viel liegt hinter ihnen – die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, der Zug durchs Meer – und so viel liegt noch vor ihnen – das verheißene Land, in dem Milch und Honig fließen – und vor allem – eine gute Ordnung für das neue Leben, Gesetze und Regeln der Freiheit.

Mose trägt keine Maske auf dem berühmten Marmorbildnis des Michelangelo, dafür trägt er Hörner, die sich durch einen Übersetzungsfehler in die mittelalterlich lateinische Version der Bibel geschlichen und auf den Moseskopf gepflanzt haben. Eigentlich und ursprünglich steht da was von Strahlen und nicht von Hörnern – gehörnt statt strahlend, darauf muss man erstmal kommen. Natürlich wird der Besucher – so wie wir als Gemeindegruppe vor fünf unendlich langen Jahren in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom – von jedem Reiseführer auf diesen berühmten Kunstfehler des Renaissancegenies hingewiesen, der übrigens leicht vermeidbar gewesen wäre, wenn Michelangelo sein Werk ein paar Jährchen später hätte schaffen können und durch die dann fertiggestellte Lutherbibel besser informiert gewesen wäre: strahlend statt gehörnt, ist doch klar!

Moses von Michelangelo
(c) Dino Quinzani from Brescia, Italy, Mosé (2475015425)CC BY-SA 2.0

Noch leichter vermeidbar gewesen wäre eigentlich der andere, deutlich schwerwiegendere Fehler, nämlich die fehlende Maske seiner Moseskulptur; aber vielleicht auch nicht. Bei Michelangelo trägt Mose keine Maske; dieses Zeichen der persönlichen Zurücknahme, der Selbstbeschränkung und Rücksicht auf die Schwachen passt nicht zum marmornen Herrscherportrait eines religiösen Genies der Renaissance, wie Michelangelo seinen Mose sich vorstellt und verbildlicht; also des Künstlers, der sogar den auferstandenen Christus als muskulösen Helden der Antike dargestellt hat – mit trainiertem Sixpack und elegantem Kontrapost (in der Kirche Santa Maria sopra Minerva nur einen Spaziergang in Rom von unserem Mose entfernt).

Was die Theologen meckern lässt, begeistert die Kunsthistoriker nichtsdestoweniger von Anfang an. Giorgio Vasari lobt und preist seinen etwas älteren Zeitgenossen Michelangelo in höchsten Tönen: „Er (Michelangelo) vollendete den 5 Ellen (also 2,35 m) hohen Moses aus Marmor, einer Statue, der kein modernes Werk an Schönheit je gleichkommen wird, wie es gleichermaßen von den antiken gesagt werden kann. In sitzender Position, von unsagbar würdiger Haltung, legt er einen Arm auf die Tafeln, während er sich mit der anderen in den Bart greift, der wallend und lang in einer Weise in Marmor ausgeführt ist, dass die Haare – womit die Bildhauerei große Schwierigkeiten hat – unendlich fein, flaumig weich und mit einzelnen Strähnen auf eine Weise wiedergegeben sind, dass es unmöglich scheint, wie der Meißel hier zum Pinsel wurde.“ (G. Vasari, Das Leben des Michelangelo 1550/1568; zitiert nach Wikipedia: Artikel zum Mose des Michelangelo)

Aber auch Vasari fällt auf, dass etwas, nämlich die Maske fehlt und wünscht sie sich – beinahe – dazu: „In seiner Schönheit besitzt das Gesicht in der Tat die Ausstrahlung eines wahren Fürsten, heilig und gewaltig, weshalb man ihn, während man ihn betrachtet, fast um einen Schleier bitten möchte, der sein Gesicht verhüllt, so strahlend und hell leuchtend wirkt es.“ (ebd.)

Während also Herrscherideal und Geniekult dem Mose die Maske verweigern, soll sie uns hingegen zum Zeichen des guten Fürsten werden, der als erster Diener seines Gottes und seines Volkes Rücksicht nimmt auf die Stärke des einen und die Schwäche der anderen. Es geht in der Bibel anders als bei unserem Künstler nicht um die Verherrlichung herrscherlicher Würde sondern um die von Gott verliehene Menschenwürde aller.

Ohne dass das im Bibeltext ausdrücklich vermerkt würde, kann man doch aus der Andeutung: als er dies alles mit ihnen geredet hatte, legte er eine Decke auf sein Angesicht – und aus dem Zusammenhang schließen, dass des Mose Rücksicht und Zurückhaltung seinem Auftrag entsprach und ihm zugutekam. Er sollte ja schließlich einem aufmüpfigen, streitlustigen und irregeleiteten Volk die Regeln für ein Leben in Freiheit vermitteln. Und es wird dem Mose eingeleuchtet haben – wie es ja auch uns einleuchten sollte – dass da ein zwingender, innerer Zusammenhang besteht, zwischen der Rücksicht gegenüber den Schwachen und den Freiheitsgesetzen einer Gesellschaft.

Gebote, Regeln und Gesetze, wenn sie denn taugen, schränken entgegen anderslautender Propaganda die Freiheit nicht ein, sondern ermöglichen sie erst – aber eben allen und auch den Schwächeren. Die propagandistisch verherrlichte Willkürfreiheit: frei ist der, und nur der, der seinen Willen durchzusetzen vermag – solche Willkürfreiheit ist dagegen gar keine, indem sie ausschließlich den Starken von der Rücksicht gegenüber Schwächeren befreit und zu einer Herrschaft der Starken und nicht zu einer Herrschaft des Rechts verleitet.

Mose und sein Werk sind weit über die von ihm gegründete Religion hinaus ein Symbol für die Freiheitlichkeit einer rechtsförmigen Gesellschaftsordnung. Gegen das Murren und Maulen seines Volkes und gegen größte innere und äußere Widerstände setzt er durch, dass das Zusammenleben seines Volkes Regeln folgt, dass diese Regeln das Erbarmen einschließen und die Schwächeren schützen und dass nur mit verbindlichen für alle geltenden Regeln ein Leben in Freiheit zu ermöglichen ist.

Für dieses Symbol passt natürlich – bei aller Bewunderung und Verehrung für das überwältigende Kunstwerk Michelangelos – sein Mose nicht; um einem solchen aus der Hand des Michelangelo zu begegnen, müssten wir unseren Spaziergang in der ewigen Stadt noch um ein gutes Stück verlängern, etwa über den Tiber hinweg zum Petersdom, in dem dann gleich rechts neben dem Eingang in einer Seitenkapelle die nicht minder berühmte Pieta unseres Künstlers steht, bei der sich in unüberbietbarer Zartheit eine mädchenhafte Maria liebevoll über den verstorbenen und von Gott aufzuerweckenden Jesus beugt und uns so das Gesetz des Erbarmens unmittelbar anschaulich verbildlicht – ganz ohne Maske.

Höchste Zeit mal wieder hinzufahren und nachzuschauen.

Predigttext für den 3. Sonntag nach Epiphanias, 23. Januar 2022

Als aber Jesus nach Kapernaum hineinging, trat ein Hauptmann zu ihm; der bat ihn und sprach: Herr, mein Knecht liegt zu Hause und ist gelähmt und leidet große Qualen. Jesus sprach zu ihm: Ich will kommen und ihn gesund machen. Der Hauptmann antwortete und sprach: Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund. Denn auch ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan, und habe Soldaten unter mir; und wenn ich zu einem sage: Geh hin!, so geht er; und zu einem andern: Komm her!, so kommt er; und zu meinem Knecht: Tu das!, so tut er’s. Als das Jesus hörte, wunderte er sich und sprach zu denen, die ihm nachfolgten: Wahrlich, ich sage euch: Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden! Aber ich sage euch: Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen; aber die Kinder des Reichs werden hinausgestoßen in die Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern. Und Jesus sprach zu dem Hauptmann: Geh hin; dir geschehe, wie du geglaubt hast. Und sein Knecht wurde gesund zu derselben Stunde. (Matthäus 8,5-13)

Nicht nur in diesen pandemischen Zeiten, in denen sich so ziemlich alles um Gesundheit und Krankheit dreht, kommt der gesundheitlichen Aufklärung ein besonderer Wert zu – und gerade darum hat sich die sogenannte Rentner-Bravo, alias Apotheken-Umschau seit nunmehr 66 Jahren Verdienste erworben, die kaum abschätzbar sind.

Mein lieber Vater – Gott hab ihn selig – hat sie im Alter vierzehntäglich durchgearbeitet und konnte dann beim nächsten Arztbesuch ordentlich glänzen, also dem staunenden Doktor haarklein erklären, was ihm fehlt und was zu tun sei. Und nur in den Fällen, in denen der behandelnde Arzt noch nicht auf dem gleichen Kenntnisstand war, konnte es zu unerfreulichen Diskussionen kommen, die nicht durchweg dem Heilungsprozess förderlich waren.

Der Hauptmann von Kapernaum folgt der gegensätzlichen Strategie und erstaunt mit seinem unerschütterlichen Vertrauen und ohne jedes medizinische Vor-Urteil den sich wundernden Jesus: Sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund! Er leitet sein Vertrauen aus dem ihm als Militär vertrauten Lebenszusammenhang von Befehl und Gehorsam ab: ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan, und habe Soldaten unter mir; und wenn ich zu einem sage: Geh hin!, so geht er; und zu einem andern: Komm her!, so kommt er; und zu meinem Knecht: Tu das!, so tut er’s. Ob das mal so gestimmt hat; es gab ja auch immer schon Deserteure – wie den kürzlich hochbetagt verstorbenen Hardy Krüger – gegen die böse und um der guten Sache willen.

Zumindest scheint – nebenbei gesagt – eine nicht unähnliche Hoffnung noch heute bei manchen dazu zu führen, in medizinischen Krisen wie der gegenwärtigen Pandemie militärischem Fachpersonal – keinem Hauptmann bloß, sondern einem General! – ihre Lösung anzuvertrauen und zuzutrauen. Höchst merkwürdig, aber wir kennen das. Im Kleinen haben viele von uns das auch schon erlebt, ich meine natürlich die Begegnungen mit den Bundeswehrsoldaten im Impfzentrum, in deren Obhut man sich gleich etwas sicherer vor dem Virus gefühlt hat. Aber ich schweife ab.

Als kurze lebenspraktische Zwischenbilanz wäre an dieser Stelle festzuhalten, dass sich – wie so oft im Leben – ein Mittelweg für den Umgang mit der eigenen Gesundheit empfiehlt: allgemeinverständliche Hintergrundinformationen und Empfehlungen zur Lebensweise gerne aus der Apotheken-Umschau, bei Konkreterem fragen wir unseren Arzt oder Apotheker. Noch der schlechteste Arzt dürfte unendlich viel bessere medizinische Kenntnisse haben als wir – womit dann auch zur Impffrage alles gesagt ist.

Für das Verständnis unseres Predigttextes ergibt sich, dass es weniger um ein Heilungswunder als um ein Glaubenswunder geht – nicht medizinische und therapeutische Fragen stehen im Vordergrund sondern solche des Glaubens und des Vertrauens: Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden!

Dabei ist doch auch und gerade der hier vorgestellte und von Jesus gelobte unerschütterliche, von keinem Zweifel gestörte Glaube, der sich Gott wie einen General gegenüber den Mächten der Natur denkt, höchst fragwürdig und mindestens erklärungsbedürftig; kein Wunder, dass Jesus solchen Glauben in Israel bei keinem gefunden hat, denn Israel leitet seinen Glauben ja nicht aus Praxis und Psychologie seiner Militärs ab, sondern aus seinen jahrhundertelangen Erfahrungen mit Gott; aus der Geschichte und den Geschichten des Heils; von Adam und Eva oder mindestens von Abraham und Sara her. Solcher Glaube findet sich in Israel.

Das Gottesbild unseres Hauptmanns ist hingegen mit gutem Recht kritisiert worden als das von einem „General, der seine Truppen sieht, obgleich sie ihn nicht oder selten sehen. Er befiehlt, sie gehorchen; bei ihm laufen alle Fäden zusammen. Er ist der große, männliche Herrscher, der Chef, der Manager, der, der den Überblick hat und für alles zeichnet.“ Dieser General-Gott hat uns, wenn wir ihm denn anhängen – nach Meinung des Theologen Dietrich Ritschl – im Griff, sogar unsere Gedanken, ein General, „der uns zwingt, alles umzuinterpretieren: Leiden in verstecktes Glück, Tod in vermeintlichen Sinn, Diffamierung und Unterdrückung in gottgeplantes und -gewolltes pädagogisches Planen – Satan-Gott, wirklich! Ein Gott zum Hassen. Oft sind die Gläubigen wirklich so unterwürfig gewesen, dass sie bereit waren, alles umzuinterpretieren, das Leid, den Tod, den totalen Sinnverlust, die Liebe Gottes – alles waren sie bereit umzuinterpretieren, solange sie ihr Generalsbild von Gott aufrechterhalten konnten, die abstrakte Idee von seiner Allmacht.“ (Dietrich Ritschl, Auf der Suche nach dem verlorenen Gott, 1988)

Demgegenüber sollte es – ebenso nach Ritschl – darum gehen, solchen Glauben, wie er in Israel gefunden wurde und wird, neu zu hören und neu hören zu lassen; sich hineinzustellen in die Geschichten und die Geschichte von Gott und den Menschen. „Hineinschlüpfen müssten wir nachträglich in diese Geschichte Gottes mit Israel, Jesus und mit den frühen Christen, so sehr sie auch geirrt haben und so wenig vorbildlich sie auch gewesen sein mögen.“ (ebd.)

Apropos Irrtum: Was wäre, wenn wir es hier bei unserem Predigttext gleich mit einem doppelten Irrtum zu tun hätten; also zum ersten mit dem Irrtum des Hauptmanns von Kapernaum, der sich Gott als gleichsam stärkere Ausgabe seiner selbst denkt, als kosmischen General, der über die Kräfte des Kosmos befiehlt – aber eben einem produktiven Irrtum, der durch die Barmherzigkeit Jesu nicht beschämt wird, nicht bloßgestellt wird – wie es schlechte Lehrer mit unseren Irrtümern machen; sondern die Wahrheitsmomente unter allem Irrtum hervorheben, wie es die guten Lehrer machen, die nicht die Fehler bewerten sondern das, was richtig ist. Wahr wäre am Irrtum des Hauptmanns, dass er und wir uns auf Gott verlassen können, dass er über Kräfte der Heilung verfügt, von denen wir nichts ahnen und von denen noch nicht einmal die Apotheken-Umschau weiß. Wahr am Irrtum des Hauptmanns ist sein enthusiastischer, naiver, forscher, fordernder Glauben, alles von Gott zu erbitten, „denn er wird´s wohl machen“ (Psalm 37).

Und dann ist da noch der zweite Irrtum, den Jesus leider nicht mehr wie den ersten ausbügeln konnte, weil ihn seine Jünger und Biografen erst posthum notiert haben; der so stehen geblieben ist und nun durch unsere – hoffentlich nicht selber allzu irrtümliche – Deutung zurechtgebogen werden muss: ich meine die hässlichen, antijüdisch klingenden Worte vom Austausch des Gottesvolkes, vom Hinausst0ßen der Kinder des Reichs, also der Kinder Israels in die Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern. Ich will nicht glauben, dass Jesus selbst das gesagt hat und schon gar nicht, dass er es selbst so gemeint haben könnte; wie hätte er nur als geborener und jüdisch lebender Jude.

Viel eher dürfte er sich hier auf die uralte, alttestamentlich-jüdische Hoffnung der Völkerwallfahrt zum Zion, zur heiligen Stadt Jerusalem beziehen, wenn er verheißt: Aber ich sage euch: Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen. Von diesem Glauben war in Israel schon seit Jahrhunderten die Rede; jeder dort dürfte von diesem Glauben in Israel gehört haben:

„Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. 

Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ (Sowas hören Generäle nicht gerne; damit es nicht überhört werden kann, zur Sicherheit gleich doppelt überliefert: Jesaja 2,2-4; Micha 4,1-5)

Und das wäre dann auch Pointe und Evangelium unseres Predigttextes: Alle können zu Gott, niemand wird abgewiesen; jeder kann sich in die Geschichte seines Volkes stellen und seine Geschichten hören; alle können zu Gott aus allen Ländern dieser Erde – mit ihrem Glauben und mit ihren Irrtümern; und noch unsere größten Irrtümer vermag Gott in Glaubenswahrheit zu verwandeln. Gott beschämt niemanden, der zu ihm kommt.

Oder mit den Worten unserer Jahreslosung: „Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ (Johannes 6,37).

Predigttext für den 2. Sonntag nach Epiphanias, 16.1.22

Auch ich, meine Brüder und Schwestern, als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten oder hoher Weisheit, euch das Geheimnis Gottes zu predigen. Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, ihn, den Gekreuzigten.

Und ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern; und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten der Weisheit, sondern im Erweis des Geistes und der Kraft, auf dass euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft. Von Weisheit reden wir aber unter den Vollkommenen; doch nicht von einer Weisheit dieser Welt, auch nicht der Herrscher dieser Welt, die vergehen. Sondern wir reden von der Weisheit Gottes, die im Geheimnis verborgen ist, die Gott vorherbestimmt hat vor aller Zeit zu unserer Herrlichkeit, die keiner von den Herrschern dieser Welt erkannt hat; denn wenn sie die erkannt hätten, hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt. Sondern wir reden, wie geschrieben steht (Jes 64,3): »Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.«Uns aber hat es Gott offenbart durch den Geist; denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen Gottes. (1. Korinther 2,1-10)

Kannst du ein Geheimnis bewahren? fragt der eine den anderen; und auf die eifrige Beteuerung: aber ja, erzähl! entgegnet jener: ich auch – und behält es für sich.

Eine schöne und auch wahre Geschichte, denn zum Geheimnis gehört natürlich, dass es geheim ist – allerdings nicht unbedingt, dass es geheim bleibt, zumindest nicht jedem. Ebenso gehört zum Geheimnis doch auch sein Verrat: Wenn es schlechthin nur verborgen wäre, wüssten wir ja gar nichts davon, noch nicht einmal, dass es eins gäbe. Mag schon sein, dass manche ein Geheimnis nur ganz allein und für sich durchs Leben tragen, ohne es je jemandem zu offenbaren; dennoch würde auch das erst durch die Sorge seines möglichen Verrats zum Geheimnis. Geheimnisse trennen – und verbinden! – Verborgenes und Offenbares – und verbinden die, die es kennen, indem sie sie von denen trennen, die es nicht kennen.

Könnt ihr ein Geheimnis bewahren? fragt uns heute der Apostel Paulus und offenbart es uns sogleich; und er will gerade nicht, dass wir es für uns behalten; und er will es deshalb nicht, weil Ursprung und Urheber des Geheimnisses das auch nicht will. Gott will, dass sein Geheimnis offenbart wird – ach was: dass es verraten wird, ausgeplaudert, erzählt wird, dass es mit den Spatzen von den Dächern gepfiffen und mit allen Vögeln des Himmels gezwitschert, meinetwegen auch getwittert wird; er will, dass sein Geheimnis gesungen, gebetet, gerufen und sogar gepredigt wird. Jeder, der es hören will, soll es hören können – und alle anderen auch.

Könnt ihr ein Geheimnis bewahren? – Ich kann es nicht, sagt Paulus und trägt sein Geheimnis bis an die Enden der Erde, also bis an die Grenzen der damals bekannten Welt, will es – nach alter Überlieferung, bis nach Spanien bringen, an dessen äußerte Ecke im Nordwesten der Halbinsel; solche Ecken heißen noch heute vielerorts und eben auch dort Finis Terrae, Ende der Welt, Fisterra. Und so ist dieses Geheimnis auf halbem Weg auf den Apostelreisen auch in Korinth längst laut geworden und wird hier in seinem ersten Brief an die Korinther vernehmlich angesprochen als Ziel der Reise und Zweck der Übung: euch das Geheimnis Gottes zu predigen.

Es geht dem Apostel darum, zu verkünden, was die Welt im Innersten zusammenhält – und er weist darauf hin, dass das, was die Welt im Innersten zusammenhält, nicht das ist, was die Schulweisheit seiner und aller Zeiten weiß, weil da eben mehr zwischen Himmel und Erde ist, als diese sich träumen lässt. Nicht weniger als die Weltformel beansprucht Paulus als Geheimnis zu offenbaren; nicht nur ein Standardmodell der Physik sondern die große Theorie der Metaphysik; das Zauberwort, dass die Welt neu erschafft; die Formel, die den Puzzleteilen unseres chaotischen Weltwissens ihren Ort zuweist.

Man wird Paulus demnach keine übertriebene Bescheidenheit vorwerfen müssen, wenn er der herrschenden Weisheit den Fehdehandschuh hinwirft – und das ja trotz seiner Beteuerung ohne große Worte oder hoher Weisheit zu sprechen: als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten oder hoher Weisheit. Er nimmt es gerade mal so auf mit den Geistesgrößen – den Vollkommenen, den Herrschenden – seiner Zeit; von Schwachheit Furcht und großem Zittern keine Spur.

Das wäre ungefähr so, als würde man heute aus der Perspektive des Glaubens den Gelehrten unserer Zeit die Begrenztheit und Endlichkeit ihrer großartigsten und bahnbrechenden Erkenntnisse vorhalten; den Astrophysikern den Urknall, den Biologen die Evolution und etwa den Moralphilosophen Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen als letzten und höchsten Wert bestreiten – also nicht in ihrem jeweiligen Bereich bestreiten, da gelten sie natürlich, sondern als Erklärung der ersten und letzten Dinge. Aber genau das würde Paulus heute tun, weil er genau das damals getan hat – und so würde er vielleicht sprechen:

Der Urknall ist die beste und deshalb gültige Theorie für den Beginn der physischen Welt – aber sie darf nicht zu der Annahme verleiten, dass die Schöpfung ein bloßer Zufall wäre.

Die Evolution erklärt schlüssig die Entwicklung der Arten nach den Prinzipien von Mutation und Selektion – aber auch ihr gegenüber wäre es ein Fehler, das Leben insgesamt zum Spiel aus Zufall und Durchsetzungsmacht zu erklären.

Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen sind unhintergehbare menschliche Grundwerte – aber ihr Absolutsetzen verfehlt die menschliche Natur als Gemeinschaftswesen und als fehlbares Wesen.

Paulus setzt menschlicher Weisheit und Wissen geradezu unverschämt seinen Glauben entgegen: Gott als Geheimnis der Welt, der sich in Christus als dem Gekreuzigten offenbart hat; wobei der Gekreuzigte Christus Gottes bedingungslose Hinwendung zu den Menschen beschreibt und verbildlicht – und deshalb würde Paulus heute vielleicht so sprechen:

Das Bild des Gekreuzigten zeigt: Wir sind als von Gott geliebte Menschen nichts weniger als Zufall; so sehr kein Zufall, dass Gott die Mühe des eigenen Todes für uns in Kauf nimmt.

In der von Gott gewollten Welt herrscht nicht die Macht und das Recht des Stärkeren, sondern der schwache, todgeweihte und den Tod erleidende Christus ist das Maß aller Dinge. Homo mensura est – ist zuerst ein christlicher Glaubenssatz, bevor er von den Religionskritikern gekapert wurde; allein der Mensch Jesus Christus ist als Mensch Maß aller Dinge, Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, ihn, den Gekreuzigten.

Maßstab ist der Mensch aber als wirklicher und wahrer Mensch – nicht als Ideal- und Trugbild des ewig jungen, immer starken, allseitig gebildeten, strahlend schönen und nach der neuesten Ratgeberliteratur optimierten Menschen – sondern als einer, der das zwar alles auch sein kann und gerne auch sein soll; aber eben auch krank und schwach und leidend sein kann und sein wird – wie Christus der Gekreuzigte. (Und wenn ich das vergessen haben sollte, erinnern mich ein paar Tage Zahnschmerzen daran.)

Autonomie und Selbstbestimmung können daher dann zu Zerrbildern des Menschlichen werden, wenn sie die Anfälligkeit, die Fehlerhaftigkeit und die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen ausblenden. Deshalb ist es eine schlimme Verirrung des Rechts, wenn es neuerdings fordert, dass dem verzweifelten Lebensmüden in der Weise durch die Gemeinschaft beizustehen ist, ihm dabei zu helfen, sein Leben zu beenden.

Mit Paulus entdecken wir heute – und natürlich immer, wenn wir das wollen und auf ihn hören – dass Gottes Geheimnis, nämlich Christus der Gekreuzigte, der Weisheit und dem Wissen von uns Menschen entgegensteht. Das muss nicht jedem passen; aber wir haben es weiterzusagen, dieses Geheimnis: zu unserer Herrlichkeit.

Dieses Geheimnis jedenfalls können wir nur so bewahren, indem wir es weitersagen.

Predigttext für den 1. Sonntag nach Weihnachten, 2. Januar 2022

Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unseren Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens –

und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist -,

was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus.

Und das schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei. (1. Johannesbrief 1,1-4)

Da scheint einer vor Aufregung zu stammeln. Die Worte, die Satzteile des Johannes, den wir aus seinem Evangelium ganz gut kennen, geraten durcheinander, Wiederholungen reihen sich, Bezüge verwirren sich, Satzteile bleiben in der Luft, noch einmal und noch einmal fängt der Autor an von dem zu reden, was ihm so wichtig ist.

Wer gelegentlich zu reden, vor anderen zu reden hat, kennt das. Dass einem die vielen Gedanken im Kopf, die Worte im Mund in Unordnung bringen. Oder umgekehrt – dass eine komplexe Situation, den Kopf einfach leer macht und unseren Mund ins Stammeln bringt. Da steht einer, und will was sagen – aber es kommt nichts Gescheites raus. Da sitzt einer und will was schreiben – aber die Worte und Satzteile fügen sich kaum zu etwas Sinnvollem.

Merkwürdigerweise wird solche Rede- oder Schreibhemmung nicht selten von bedeutenden religiösen Führern überliefert. Der stotternde Mose brauchte seinen Bruder Aaron um seine Botschaft weiterzugeben. Der Apostel Paulus wir von seinen Gegnern verspottet, wegen seines wenig eindrucksvollen Auftretens und Redens.

Dabei erwartet man doch gerade von Geistlichen, dass sie einigermaßen geradeaus sprechen können, dass sie ihre Botschaft in Worte zu fassen und damit Menschen zu überzeugen in der Lage sind.

Aber es könnte ja sein, dass gerade das Besondere der religiösen Botschaft gelegentlich ihre Botschafter so sehr verwirrt, dass sie hier versagen. Dass die Größe ihre Botschaft nicht mehr in ihren Mund passt. Dass sie schlicht überfordert und überwältigt sind, von dem was sie da weitersagen sollen und weitersagen möchten. Und dass dazu noch die eigene Erwartung und die der Hörer und Leser und der besondere Anlaß ein Übriges zur Einschüchterung und Verwirrung tun.

Umso schöner, wenn dann doch noch etwas einigermaßen Verständliches, Stärkendes, Aufbauendes, Glauben und Zutrauen Weckendes dabei herauskommt. So wie bei unserem Evangelisten und Briefautor Johannes, der bei aller Verwirrung, ganz deutlich macht, um was es ihm geht. Vielleicht ist seine Stammelei ja sogar ein Hilfsmittel, ein rhetorischer Kunstgriff, den er bewusst einsetzt, um Aufmerksamkeit und Erwartung zu wecken. Das, was ich jetzt zu sagen habe, ist so wichtig und bedeutend, da muß ich jetzt erst mal stottern. Das, was ich jetzt sagen möchte, geht mir selbst so nahe, dass es meinen Sprachfluß stört, damit Euer Denken und Glauben neu in Gang kommt.

Das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist.

Weihnachtsbotschaft: Gott kommt zu uns, Gott ist mit uns, seine Gegenwart erneuert uns, macht uns heil, schenkt uns Frieden. Das Leben ist erschienen.

Sicherlich meint Johannes hier das ganze Leben und Wirken Jesu, sein Heilen und Verkünden, seine Taten und Worte, sein Versöhnen und Lehren. Ganz besonders aber den Moment, da dieses ewige, göttliche Leben in menschliches Leben trat, als das Wort Fleisch wurde und das Licht in die Dunkelheit kam. So sagt es Johannes ja an anderer Stelle in seinem Schöpfungsbericht, der zugleich Geburtsgeschichte Jesu ist:

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott.

Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.

In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.

Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.

Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.

Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht.

Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.

Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind.

Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. (Johannes 1,1-14*)

So spricht der Evangelist und Briefautor Johannes, wenn er sich Zeit nimmt für seine Formulierung, wenn er sich die Ruhe nimmt, die er für seine Besinnung braucht, wenn er ganz bei sich ist.

In beiden Fällen – der Gelegenheitsschrift wie dem wohlgesetzten Geburts- und Schöpfungslied – aber ist dasselbe gemeint.

Dass das Leben selbst erschienen ist und nun von ihm gesprochen werden soll.

Dass dieses Leben Jesu in die Gemeinschaft der Kinder Gottes führt.

Und dass dieses neue Leben Freude bereitet; mehr noch, unsere Freude vollkommen macht.

In den Worten des Briefautors Johannes läßt sich der freudige Überschwang noch hören. Die Festfreude, die Ausgelassenheit der gemeinschaftlich Feiernden.

Als immer noch Ergriffener spricht und schreibt Johannes, als einer der die Freude weitergeben geben will, die er selbst empfindet.

Das macht es ja ohnehin viel leichter, Freude weiterzugeben, wenn wir in uns diese Freudespüren. Wenn wir das selbst erlebt haben, wovon wir da sprechen. Wenn wir freudig von Freude sprechen.

Ich bin mir sicher, dass auch wir – dass alle von uns – wieder wahrhaft Weihnachtliches erlebt haben; selbst die, die ihr Fest nicht in berauschter Ausgelassenheit gefeiert haben oder feiern konnten.

Vielleicht war es ein besonders schönes Konzert in einer Kirche oder im Fernsehen.

Vielleicht war es eine Musik, die uns nach langer Zeit wieder aufleben ließ.

Vielleicht die Lieder im Weihnachtsgottesdienst oder im Familienkreis zu Hause.

Vielleicht ein Wort in einer Predigt, das uns erreicht hat.

Vielleicht ein Telefonanruf, ein Brief, ein klärendes Gespräch, eine Aufmunterung, eine Motivation, eine Perspektive.

Vielleicht das Geschenk, mit denen wir ein Kind eine Freude gemacht haben; vielleicht ein Geschenk von jemandem, von dem wir das nicht erwartet hätten.

Vielleicht die Gemeinschaft, die wir beim Essen und Trinken und Erzählen erleben durften.

Vielleicht der Spaziergang, den wir erlebten oder einer, an den wir uns erinnerten.

Vielleicht das bloße Aufatmen nach Tagen der Unruhe.

Ich bleibe dabei, dass ganz gewiß jede und jeder von uns ein solches weihnachtliches Erlebnis gehabt hat – vielleicht brauchen wir nur etwas um das Licht in der Dunkelheit zu finden. Vielleicht aber bracuhen wir ja auch ein bischen Dunkelheit um das wahre Licht im Lichtermeer zu finden.

Und jedes mal wird dieses Freudenereignis mit der Beziehung zu anderen Menschen zu tun gehabt haben, mit Menschen, deren Gegenwart – und sei es die indirekte Gegenwart der Erinnerung oder eines Telefongesprächs – die Gegenwart Gottes in unserer Welt erahnen, vielleicht sogar erleben läßt. Gott will, dass wir ihn in der Nähe eines anderen Menschen wahrnehmen; dass wir Gott im Antlitz unseres menschlichen Gegenübers sehen. Deswegen ist er für uns Mensch geworden.

Und deswegen wird gerade der Evangelist und Briefautor Johannes nicht müde, die Liebe unter den Menschen als Erfahrung Gottes darzustellen. An anderer Stelle unseres Briefes schreibt er: Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.

So hat die Liebe unter den Menschen etwas ganz und gar Weihnachtliches: Denn in der Liebe zwischen Menschen zeigt sich Gott, in der Liebe wird Gott menschlich, kommt zu uns und will bei uns bleiben.

Und wie die Weihnachtsbotschaft vermag ja auch die Liebe bisweilen unsere Sprache in Unordnung zu versetzen, uns ins Stammeln zu bringen.

Das muss sie beide – weder die Liebe noch Weihnachtsbotschaft – schlechter machen.

Hauptsache sie kommen beide von Herzen – und das heißt für Johannes von Gott.

Predigttext Silvester 2021

Er legte ihnen ein anderes Gleichnis vor und sprach: Das Himmelreich gleicht einem Menschen, der guten Samen auf seinen Acker säte. Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut zwischen den Weizen und ging davon. Als nun die Halme wuchsen und Frucht brachten, da fand sich auch das Unkraut. Da traten die Knechte des Hausherrn hinzu und sprachen zu ihm: Herr, hast du nicht guten Samen auf deinen Acker gesät? Woher hat er denn das Unkraut? Er sprach zu ihnen: Das hat ein Feind getan. Da sprachen die Knechte: Willst du also, dass wir hingehen und es ausjäten? Er sprach: Nein, auf dass ihr nicht zugleich den Weizen mit ausrauft, wenn ihr das Unkraut ausjätet. Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte; und um die Erntezeit will ich zu den Schnittern sagen: Sammelt zuerst das Unkraut und bindet es in Bündel, damit man es verbrenne; aber den Weizen sammelt in meine Scheune.

(Matthäusevangelium 13,24-30)

Unkraut verdirbt nicht: Was ja meistens einen Trost bei Krankheit und Plage zum Ausdruck bringt; – sagt der eine, dass das ja eine ziemliche Sache gewesen ist mit Krankheit und Plage eben, vielleicht eine große Operation oder so; sagt der andere, ach du weißt doch, man kann mehr überstehen, als man vorher denkt: Unkraut verdirbt nicht.

Das tut das Unkraut auch in unserer Geschichte nicht, aber hier ist es kaum tröstlich gemeint, wenn das Unkraut unbehelligt unter dem guten Korn mitwächst und damit die ganze Ernte zu verderben droht; aber vielleicht liegt immerhin darin ein Trost, dass bis zur Ernte erstmal kein Handeln erforderlich ist, es ihm dann aber an den Kragen geht: auch dieses Unkraut vergeht nicht von selbst, aber zu der richtigen Zeit wird es gejätet, gesammelt, verbrannt

Leider unterschlagen die deutschen Übersetzungen an dieser Stelle den Namen des im Text immer wieder ausdrücklich und namentlich genannten Unkrauts, griechisch Zizania, also Taumel-Lolch (Lolium temulentum), auch Rauschgras, Schwindelweizen, Tollgerste, Tollkorn, Schwindelkorn, Tobkraut, Giftstroh, Haferschwindel, Droonkart, Taubkraut, Schlafweizen, Teufelskraut oder Hennentöter.

Diese Namen beruhen auf den Vergiftungserscheinungen, die in der Vergangenheit – das Pflänzlein ist nämlich weitgehend ausgestorben bzw. verschollen, mithin auch die Vergiftungserscheinungen – die also nach dem Verzehr von mit Taumel-Lolch verunreinigtem Getreide auftraten. Dabei produziert die Pflanze nicht selbst das Gift sondern eigentlich ein mit ihr in Gemeinschaft lebender Pilz, wie das Mutterkorn im Roggen, das ja ebenfalls durch einen Pilz produziert wird, der das ähnlich rauschhafte, aber wohl ungleich gefährlichere Antoniusfeuer hervorruft – und dem wir mittelbar den Isenheimer Altar des Matthias Grünewald verdanken, der sein Werk im Auftrag und für das Kloster des Antoniterordens in Isenheim schuf, der sich im Mittelalter der Pflege der am Antoniusfeuer Erkrankten widmete.

In geringeren Mengen – die Dosis macht das Gift – kann man die Pflanze – den Taumel-Lolch, aber auch das Mutterkorn – absichtlich als Rauschmittel verwenden, wie das wohl schon bei den Elysischen Mysterien im alten Griechenland der Fall war; wovon aber auch die phantasievollen volkstümlichen Namen zeugen. Allein deren Vielfalt könnte dafür sprechen, dass das Pflänzlein neben seinem Schrecken auch eine gehörige Faszination ausgelöst und der eine oder andere absichtlich davon genascht hat. Auch wir werden heute Nacht in nicht unbeträchtlicher Zahl willentlich herbeigeführte Rauscherfahrungen machen, ohne dabei auf den Taumel-Lolch zurückzugreifen – obwohl: in der DDR etwa scheint es unter Jugendlichen den Brauch gegeben zu haben, in Ermangelung anderer Rauschmittel auf solche heimischen Schwindelkräuter zurückzugreifen um die Partystimmung zu heben – wie es etwa im wunderbaren Film „Sonnenalle“ von Leander Haußmann gezeigt wird. Davon – also nicht vom Film aber von solchen Stoffen – lassen wir mal besser die Finger.

Dem gleichniserzählenden Jesus und seinem Biografen Matthäus war dieses Kraut jedenfalls so wichtig, dass er es gleich sechs Mal mit seinem auffälligen Namen Zizania benennt; der ist das Signal, das seiner Geschichte Aufmerksamkeit verschafft, weil er dazu einlädt, ja auffordert, nach den Taumel-Lolchen zu fragen – und gleichzeitig sowohl eigene Nachforschungen als auch eigenhändige Beseitigung verbietet. Es gilt, das Unkraut auszuhalten, das im Schutz und Schatten des guten Korns wächst, in diesem Fall Zizania, das dem Weizenhalm nicht unähnlich ist und somit die im Text genannte Sorge durchaus verständlich sein lässt, man könnte den Weizen mit dem Unkraut ausrupfen. Deshalb den Taumel-Lolch einstweilen stehen lassen!

Was also nun hier als landwirtschaftlicher oder gärtnerischer Rat nicht unbedingt verallgemeinerbar erscheint – in meinem Gärtchen hat das Unkraut längst die Herrschaft übernommen – , das ist als Gleichnis sowieso nicht an den Gärtner gerichtet sondern an Hörer und Leser der christlichen Gemeinde.

Es geht natürlich auch nicht um den Landbau sondern um das Reich Gottes, in dessen Erwartung wir das Unkraut in den eigenen Reihen stehen lassen und keine eigenen Säuberungs- oder Reinigungsaktionen unternehmen sollen. Die christliche Kirche ist in ihrer äußeren Gestalt seit jeher eine höchst gemischte Körperschaft – ein corpus permixtum, wie schon die Reformatoren erklärten – mit Taumel-Lolchen, also Schwindlern (!) in den eigenen Reihen ist zu rechnen und – und das ist die Pointe unserer Gleichnisgeschichte – das muss uns auch nicht weiter beunruhigen, denn Gott selbst wird sich zur rechten Zeit ihrer annehmen.

Bis dahin sollen wir frei nach den Worten des Großen Vorsitzenden Mao „100 Blumen blühen lassen“, es im Gegensatz zu diesem aber auch ernst meinen, also sie nicht einfach bei nächster Gelegenheit wieder ausrupfen. „Lasst hundert Blumen blühen, lasst hundert Schulen miteinander wetteifern“ hat Mao 1956 bei einer Rede vor Funktionären gesagt, hat den Streit der Meinungen und Richtungen aber nur kurze Zeit ausgehalten und die Kritiker zu Hunderten in Arbeitslager gesteckt, wo sie schnell verblüht sind.

Die Konkurrenz der Schulen, den Streit der Meinungen zulassen, andere Kräutlein stehen lassen, das Unkraut aushalten; gar „das Wort Häresie wieder zu Ehren bringen“ (Schleiermacher) – so wird es Jesus kaum gemeint haben, aber vielleicht würde er sich an einem solchen kreativen Missverständnis, wenn es das ist, dennoch freuen.

Nichts ist langweiliger als eine erstarrte Orthodoxie; der ewig reiche Gott wird aber gar nicht gedacht, wenn er als langweilig gedacht wird; und was Jesus angeht: selbst seine ärgsten Kritiker haben ihm nie den Vorwurf gemacht, dass er sie gelangweilt hätte.

Warum sein großzügiges Wort über den Taumel-Lolch, mit dem zu rechnen und der von uns auszuhalten ist, nicht im Sinne konfessioneller Diversität oder religiöser Artenvielfalt deuten, die andere Glaubensweisen und andere Erlösungshoffnungen als die eigene aushält, sie erträgt und toleriert? Vielleicht ist der andere gar kein so schlimmer Taumel-Lolch, kein Rauschgras, Schwindelweizen, keine Tollgerste, Tollkorn, Schwindelkorn, kein Tobkraut, Giftstroh, Haferschwindel, kein Droonkart, Taubkraut, Schlafweizen, kein Teufelskraut oder Hennentöter; vielleicht ist er ja einfach nur ungenießbar, oder bloß schwer verdaulich; vielleicht muss ich nur lernen, wie ich mit ihm umgehen kann; vielleicht ist er nur anders und vielleicht überlasse ich bis auf weiteres einfach Gott das Urteil darüber. Und da hätten wir doch schon einen Prima-Vorsatz für mich für das neue Jahr: Leben lernen mit Taumel-Lolchen aller Art.

Das Kraut mit den vielen Namen ist übrigens längst dem Artensterben zum Opfer gefallen, als ausgestorben oder verschollen gilt es; verdrängt durch eine Form des Landbaus, die solche wie den Taumel-Lolch eben nicht aushält. Auch dazu haben wir Jesus heute gehört in seiner ökologischen Parabel, in der viel mehr steckt als unsere Schulweisheit meint. Unkraut verdirbt doch – und dann wird es uns sogar leidtun. Amen.

Predigttext Weihnachten 2021

Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum erkennt uns die Welt nicht; denn sie hat ihn nicht erkannt. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. (Johannes 3,1f.)

Selbst der Evangelist – und der müsste es doch eigentlich wissen – scheint sich unsicher zu sein, wie das gehen soll und wie es sich zeigt: Kind Gottes zu sein; wenn er schreibt: wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Was bedeutet das also Kind Gottes zu sein? 

Also es bedeutet schon mal nicht, einfach so als mündiges, erwachsenes, volljähriges Kind Gottes die eigene Mündigkeit abzulegen und in eine falsche, altersunangemessene Kindlichkeit zu regredieren – und sei es nur zeitweise, weil gerade Weihnachten und also Fest des Kindes ist. Das wäre kindisch; eine Rolle rückwärts in die Kinderrolle mit der wir auf dem Bauch landen: Bauchlandungen, Bauchplatscher tun weh, das weiß jedes Kind. Und erlebt haben wir das auch schon, ich wette, die meisten von uns und nicht nur im Schwimmbad. Bauchplatscher tun weh, das weiß jedes Kind und als Erwachsene sollten wir es nicht vergessen.

Einer unser Lehrer, der neben der Theologie auch die Psychiatrie lehrte und selbst praktizierte, hat uns Studenten in der letzten Stunde vor Weihnachten regelmäßig davor gewarnt, nun zu Hause über die Feiertage in die Kinderrolle zu schlüpfen oder in sie gedrängt zu werden. Junge Erwachsene, die das ganze Jahr über ihren Alltag bewältigen und dabei sind, auch in geistigen Dingen, über ihre Herkunft herauszuwachsen, passen nicht einfach so wieder an den Gabentisch und unter den Weihnachtsbaum. 

Auch sonst und viel allgemeiner wird ja gelegentlich auf die raumgreifende Infantilisierung in unserer Gesellschaft geschaut, etwa das Fernsehprogramm, die Musikindustrie, die Mode, unsere Schönheitsideale. Wir halten Jugend an sich für schön, tönen unsere Haare, glätten unsere Haut und verschandeln dabei die bezaubernde Schönheit eines Gesichts, das von seinem Leben erzählt. Die Werbeindustrie terrorisiert mit der von ihr erfundenen konsumrelevanten Altersgruppe der jungen Erwachsenen als Kindchenschema unsere Schönheitsideale: „So ihr nicht werdet wie die Kindlein“ – aber so hate Jesus es nicht gemeint.   

Gottes Kinder zu sein bedeutet umgekehrt aber auch nicht, dass wir als trotzige Kinder Gottes uns auflehnen gegen alle Ordnung um jeden Preis; aufbegehren und empören, um des Aufruhrs willen: Empört euch! War der Titel eines Buches, der vor ein paar Jahren ordentlich Furore gemacht hat; offen und deshalb anschlussfähig nach allen Richtungen, die sympathischeren wie Fridays for future und die unsympathischen wie Gelbwesten oder Querdenker gleichermaßen. Der prometheushafte Widerstand gegen die Kinderrolle, bestätigt und befestigt sie nur noch mehr. Auch der Rebell ist nicht selten nur das rebellische Kind. Als Rebell gegen meinen Ursprung bin ich umso fester an ihn gefesselt.

Dagegen ist es eine Wohltat, wenn der pubertäre Familienzoff – von gesellschaftlichen Konflikten mal zu schweigen – irgendwann wieder abklingt; wenn irgendwann sogar wieder friedliche Weihnachtsfeiern zwischen Eltern und Kindern möglich sind, neue Gelassenheit einkehrt; also Erfahrungen gemacht wurden, die die Eltern wieder erträglich und die Kinder wieder verträglich gemacht haben. Nicht selten – aber vielleicht doch ziemlich selten – weicht das dann auch wieder den Adoleszenz-Atheismus auf; ohne an den Anfang unseres Kinderglaubens zurückzukehren, können wir doch wieder etwas mit Gott anfangen.   

Erwachsene Kindschaft bedeutet nun aber drittens ebenfalls nicht, dass wir unsere Kinder oder unsere Eltern – geschweige denn Gott als Vater – für Freunde oder gar Kumpels halten. Bei aller Freundschaftlichkeit und gewachsenen Gemeinsamkeiten als gemeinsam Erwachsene tun wir uns und ihnen und insbesondere unserem Verhältnis ein Unrecht an, wenn wir es für gegenseitig gleich halten. Das ist es nicht und wird es nie sein. Meine Eltern sind mein Ursprung; uns verbindet eine kausale und vektorielle Beziehung, die nicht umzukehren ist; auch nicht und schon gar nicht, wenn sich mit den Jahren die Versorgungsbedürftigkeit dreht, wir als Kinder für unser Eltern sorgen, ihnen vorlesen, ihre Steuererklärung schreiben, sie womöglich füttern und ihre Windeln wechseln. Trotz solcher elterlichen Aufgaben und obwohl es uns dann so vorkommen kann, werden wir nie und nimmer die Eltern unserer Eltern. Sie sind und bleiben – bleiben es noch als Verstorbene und in ferner, verblassender Erinnerung – unser Ursprung, das „Woher unseres Umgetriebenseins“, von denen unsere Existenz abhängig ist und abhängig bleibt.

Wer hier nun in den elterlichen Definitionen Gottesprädikate mithört, liegt richtig. Das ist sicherlich zunächst mit „Gott als Vater“ und „Kinder Gottes“ gemeint: Wir beziehen uns mit der Redeweise von Gott als unserem Vater und uns als seinen Kindern auf einen Ursprung außerhalb unserer selbst; wir benennen die Richtung aus der wir kommen und damit die Richtung, in die wir gehen; und wir fühlen durch die Abhängigkeit von unseren Eltern die geschöpfliche, also schlechthinnige Abhängigkeit von Gott.

Das erschöpft aber noch lange nicht das religiöse Sprachbild von Gott dem Vater. Wir sind bei aller kategorialer Verschiedenheit und prinzipieller Abhängigkeit eben auch in einem sehr weitreichenden Sinne unseren Eltern gleich: in Herkunft, im Aussehen und in Gewohnheiten; in unserer lange Jahre gemeinsamen Lebensgeschichte und in unseren Genen als neue Mischung alter Karten; andere Gene als unsere Eltern haben wir nicht und können wir nicht haben; nur halt anders gemischt.

Unser Predigttext überträgt auch diesen Aspekt der Gleichheit zwischen Eltern und Kindern in den religiösen Bereich: wir werden ihm – Gott dem Vater – gleich seinDas ist einerseits eine theologische Kühnheit, die natürlich vom Teufel höchstpersönlich von Anfang an in die Ur- und Erbsünde verdreht wird, indem er den Sündern verspricht: „Ihr werdet sein wie Gott!“, uns Menschlein aber in Wahrheit auf seine Seite ziehen will. 

Das Sätzchen wir werden ihm – Gott dem Vater – gleich sein verweist aber andererseits auf die biblische Begründung der Menschenwürde, der Gottebenbildlichkeit von uns Menschen; noch vor allen Verdrehungen des Teufels wird ganz am Anfang der Bibel ein für alle Mal und für alle Menschen bestimmt und festgelegt: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn“.

Was damit aber – mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen – gemeint ist, kann angesichts der unübersehbaren Regalmeter theologischer Weisheit zum Thema erstaunlich einfach gesagt werden: Es ist natürlich unser gottgegebenes, wahrhaft göttliches Talent zur Liebe, also grundsätzlich die Fähigkeit über die Grenzen unseres natürlichen Egoismus hinauszureichen. Und damit haben wir auch die Antwort auf die eingangs gestellte Frage gefunden: Was bedeutet das also Kind Gottes zu sein? 

Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!  Gott ist uns Vater, wir sind Gottes Kinder, insofern und weil er uns liebt. Alle anderen noch so akribischen und klüglichen Betrachtungen über die väterlichen und die kindlichen Verhältnisse werden zum bloßen Hintergrundrauschen – bloß tönernes Erz und klingende Schelle – hinter dem klaren Hauptton: „die Liebe ist die größte unter ihnen“ – nämlich die größte unter den gottgegeben Gaben, die uns Menschen auszeichnen.

Vater, Mutter sind wir dann, wenn wir lieben; wenn ein anderes wichtiger ist als wir selbst; wenn wir nichts für uns selbst zu sein zu vermögen. Als Kind wird uns ein Platz im Leben unserer Eltern eingeräumt; den müssten sie nicht mit uns teilen. Als Gottes Kinder räumt uns Gott einen Platz zum leben ein, Spielraum unserer Freiheit, Gelegenheit seine Liebe als unsere Liebe weiterzugeben. Darum also geht’s an Weihnachten. Amen.

Predigttext Heilig Abend 2021

Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Israeliten. Er aber wird auftreten und sie weiden in der Kraft des Herrn und in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden bis an die Enden der Erde. Und er wird der Friede sein.                                    (Buch des Propheten Micha 5,1-4a)

Dass Kleines, ja Kleinstes oder Winzigstes größte Wirkungen haben kann, wissen und erleben wir seit beinahe zwei Jahren im Bösen; ein britischer Mathematiker mit Humor und ebenso viel freier Zeit hatte schon vor Jahr und Tag ausgerechnet, dass alle Coronaviren, die zu jenem – aber vermutlich auch zu diesem – Zeitpunkt ihr Unwesen trieben und treiben, in eine schnöde Coladose passen, was für ein Hohn! Der Mikrokosmos, was sage ich: der Nanokosmos als Grausen und Nemesis des Makrokosmos.

Anders stimmt es gottseidank auch: Kleines und Kleinstes kann große Wirkung auch im Guten haben; und weil heute – trotz alledem und wieder und eben alle Jahre wieder – Weihnachten werden soll, sei uns die Weihnachtsbotschaft vom kleinen Kind, der Gottes Friedensreich aufrichten wird, gesagt; sei uns das Evangelium vom winzigen Baby aus Bethlehem verkündet, der kleinsten und unbedeutendsten Stadt eines kleinen und unbedeutenden Landes, mit einer – aus imperialer Perspektive – obskuren und unbedeutenden Religion. 

Wahrscheinlicher – nach aller Logik und Lehre der Geschichtswissenschaft, der Ökonomie und der politischen Kunst – wahrscheinlicher wäre es, heute den Sol invictus, die unbesiegte Sonne, zu feiern, wie ihn die Römer an dem Tag gefeiert haben, der viel später erst mit einer gehörigen Portion religionsevolutionärer Dreistigkeit zum Weihnachtstag auserkoren wurde. Was für eine Ironie der Geschichtsläufe: Am Tag des großen, gewaltigen, unbesiegten, unbesiegbaren Sonnengottes, geht nun ein ganz anderes Licht auf, das kleine Licht von Bethlehem, Geburtsort des kleinen Säuglings, der nach seiner Mama schreit und in die Windeln macht. 

Wahrscheinlicher wäre gleichfalls – nur vom anderen Ende der Zeit betrachtet – dass wir Baal huldigten – tun wir´s nicht schon? -: nicht dem kleinen Jesulein, sondern dem groben, gefräßig-gierigen, geilen Gott der Stadt, wie ihn der Dichter Bertolt Brecht besungen hat, und der vermutlich viel eher gemeint ist, wenn in Zeiten wie den unsrigen über das ausgefallene Weihnachtsfest lamentiert wird. Und vermutlich ist dieser Baal auch gemeint, wenn dieser Tage die Freiheit der Mächtigen und das Recht der Stärkeren gegen die Schwachen gerichtet werden. Baal kennt nur sein Recht und seine Freiheit, soll doch die anderen – die Alten, die Dicken, die Kranken – das Virus fressen und der Teufel holen. 

Gegen mächtige Konkurrenz – sollen wir sie übermächtig nennen? – und gegen alle Wahrscheinlichkeit feiern wir heute unseren Gott als Kind, achten frech das Kleine höher als das Große, besingen Bethlehem die kleine Stadt, halten sie für bedeutender als Rom, Ninive, London oder New York und alle Metropolen aller Zeiten zusammen. Denn von dort – also auch von hier, wenn von ihr hier gesprochen wird – geht die neue Zeit aus, eine Herrschaft neuen Typs, nicht der Macht und der Gewalt, sondern des Rechts und des Friedens; eine Zeit nicht der Großmäuler und Schulhofschläger sondern des guten Königs aus dem Hause und in der Tradition Davids, der heutzutage seinen dynastischen Stammbaum für entbehrlich halten kann und gerne demokratisch gewählt und republikanisch gesonnen sein darf; wenn er – ja wenn er nur die Seinen – also uns – weide in der Kraft des Herrn und in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes

An Weihnachten feiern wird das Kleine, das erst Gott im Glauben und durch das für den Glauben vorgesehene Organ unseres Leibes, die Seele nämlich, groß macht: Magnificat anima mea, wie Maria damals sehr treffend mit dem Heiland im Mutterleib sang, da war er also noch etwas kleiner als später in seinen bald sauberen, bald schmutzigen Windeln: Meine Seele erhebt den Herrn, Meine Seele macht den Herrn groß, Magnificat anima mea dominum. 

Magnifique ist Weihnachten nicht, weil es so schon ist, sondern im Glauben so werden soll und so werden wird, weil Gott es will.  Denn er wird zur selben Zeit herrlich werden bis an die Enden der Erde. Und er wird der Friede sein.  Amen.            

Predigttext für den 3. Advent, 12. Dezember 2021

Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse.
Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden.
Mir aber ist’s ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht.
Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist’s aber, der mich richtet.
Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteilwerden. (1. Korinther, 4,1-5)

Die Kirche, liebe Schwestern und Brüder,
die Kirche befriedigt keine Bedürfnisse sondern feiert Gottes Geheimnisse.
So hat es sinngemäß vor nicht allzu langer Zeit ein hoher katholischer Würdenträger geäußert.
Und dem ist – meine ich – auch evangelischerseits wenig hinzuzufügen.

Denn bei aller Übersetzungsarbeit, bei allen Bemühungen um Verständlichkeit, bei allem Kontakt zur aktuellen Wirklichkeit, geht es darum, Gott und nur ihn im Gottesdienst zu feiern, ihm, Gott, treu zu bleiben, seinem Geheimnis in unserem Leben einen Platz einzuräumen, also: Gott als Geheimnis der Welt zu erleben und zu feiern.

Die Biblische Botschaft damit nicht vom Urteil und der Kritik der Gesellschaft abhängig zu machen – sondern im Gegenteil, Gottes Urteil und Gericht über uns laut werden zu lassen.

In diesem Sinne Gott bei uns Platz einzuräumen; Gott groß zu machen, wie das Maria in ihrem adventlichen Lobgesang macht: „Meine Seele erhebt den Herrn“.

Dass dabei bekannte Sichtweisen verändert werden, dass dabei Größenverhältnisse, ja sogar Herrschaftsverhältnisse umgekehrt werden, bleibt nicht aus: Gott, sein Urteil, stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.

Das, was sonst überall gilt, hat in Gottes Namen noch lange keine Geltung.
Die, die sonst überall das Wort ergreifen und ihren Willen durchsetzen, sollen in der Kirche Jesu Christi gerade nicht den Ton angeben.
Gott nämlich „zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn“.

Wenn dagegen die Kirche bloßes Spiegelbild der Gesellschaft bleibt,
ihre Äußerungen bloßes Echo dessen sind, was ohnehin gedacht, gemeint, gesagt und geschrieben wird,
und ihr Handeln bloß der Erfüllung von Bedürfnissen – und sei es von religiösen Bedürfnissen – dient,
dann hat die Kirche ihren Sinn verfehlt.
Als öffentlich-rechtliche Bedürfnisanstalt für religiöse Angelegenheiten mag sie dann noch durchgehen – zur Dienerin Christi und Haushalterin über Gottes Geheimnisse taugt sie nicht mehr. Dafür aber, sagt Paulus, halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse.

Und wir dürfen – meine ich – hinzufügen: für treue Diener und gewissenhafte Haushalter Gottes gegenüber und bisweilen auch gegen Kirche und Gesellschaft:
Dass wir uns zuerst und den anderen aber auch sagen, was uns fehlt, wenn uns etwas fehlt, wenn uns Gott fehlt.

Hier, liebe Schwestern und Brüder, an dieser Stelle wäre nun etwa die Stimme zu erheben für einen Bußruf passend zur adventlichen Bußzeit:

Ein Ruf: Gegen die Gottesvergessenheit unserer Kirche und die Gottlosigkeit unserer Gesellschaft.
Etwa gegen immer neue kirchliche Strukturreformen, die doch nur die Gemeinden in ihren Rechten und Mitteln berauben, dass am Ende – also etwa am Ende von 2030, dem großen „Kirchenzerstörungsreformwerk“ unserer hessisch-nassauischen Kirche – ein selbstermächtigter Funktionärsklerus in Verwaltung und Leitung durchregiere.
Oder gegen die Marginalisierung des christlichen Glaubens in einer sich selbst säkularisierenden Gesellschaft – in der etwa – wie in der vergangenen Woche geschehen – nur noch eine Minderheit der neuen Regierenden Gott den Herrn beim Amtseid nennt und kennt und damit zumindest dem Anschein von Selbstherrlichkeit wehrt. Was hat es uns eigentlich zu sagen, dass diesmal nur und ausgerechnet die Minister einer liberalen – und damit traditionell eher religionskritischen – Partei geschlossen Gott um Hilfe bitten – „so wahr mir Gott helfe!“; sozialdemokratische und ökologische hingegen mehrheitlich oder gleich ganz darauf verzichten zu können meinen? Ist mir da was entgangen?

Wenn ein weiterer kirchen- und kulturpessimistischer Rundumschlag, auf den vermutlich nicht alle von uns gleich viel Lust haben; wenn der also hier und heute aber dennoch ausbleibt, liegt das an einer Entdeckung, die an unserem Predigttext zu machen ist. Paulus nämlich enthält sich – zumindest und auffälligerweise gerade an dieser Stelle – solcher weitausholender Kritik.

Der Vergewisserung des Paulus, dass wir als Christenmenschen Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse sind, folgt weder die von mir unterstellte, aber wie ich finde vertretbare Gegenüberstellung von Gottes Geheimnis – und menschlichem Bedürfnis,
noch folgt beim Apostel die prophetische Kritik an gesellschaftlichen und kirchlichen Verhältnissen.

Das glatte Gegenteil passiert: Der Apostel ermahnt uns zur Zurückhaltung bei der Kritik.
Richtet nicht! Richtet nicht selbst, denn Gott ist euer Richter. Gerade in religiösen Urteilen ist Zurückhaltung gefragt.

Das Auftreten dieses oder jenes Geistlichen mag nicht das meine sein.
Bestimmte Frömmigkeitsformen mögen mich nicht ansprechen.
Auftreten und Lebensstil anderer befremden mich vielleicht.
Diese oder jene Annäherung an das Geheimnis Gottes mag uns fremd sein und fremd bleiben…

Wenn aber Religion wirklich Sinn und Geschmack für das Unendliche ist, dann muss nicht alles Unsinn sein, was mir nicht gleich in den Sinn geht; dann kann auch gelegentlich eine Frage als Geschmacksfrage offen bleiben, über die nicht zu streiten und die erst einmal nicht zu kritisieren ist. Denn erst Gott der Herr wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen.

Paulus, den wir ja auch als Polemiker, als vehementen Kritiker religiöser Zustände kennen, empfiehlt hier Zurückhaltung im religiösen Urteil.
Sicherlich nicht zuletzt aufgrund der Anfeindungen, denen er sich selbst ausgesetzt sah.
Dabei folgt diese Zurückhaltung in religiösen Fragen keinem taktischen Kalkül, sondern dem Glauben an den ankommenden Gott. Paulus und ja auch wir leben in einer Zeit, die auf ein Ziel zuläuft: Die Ankunft Gottes.

Die noch ausstehende, die zukünftige Ankunft stellt unser Leben unter einen Vorbehalt.
Das ist schon wichtig, was wir jetzt tun und lassen, was wir reden und wovon wir schweigen. Aber unser Tun und Lassen, unser Reden und Schweigen wird von dem Anspruch befreit,
wir werden von dem Anspruch befreit, perfekt sein zu müssen – jetzt schon und von uns aus perfekt sein zu müssen. Das sind wir ohnehin nicht – aber wir müssen das auch nicht anstreben. Und wir können uns deshalb auch das eine oder andere an Kritik sparen, die wenig zum Guten verändert aber viel Unfrieden schafft.
Im Kern liegt hier in den wenigen Worten des Paulus an die Korinther die Leitlinie christlich verstandener Toleranz:
Der ist es nicht egal, was gesagt und getan wird.
Die verkündet keinen religiösen Relativismus.
Die propagiert nicht das große ethische Einerlei.
Die singt schon gar nicht das Hohelied auf die moderne religions-distanzierte Gesellschaft.

Aber diese christliche Toleranz erkennt an, dass nicht wir das letzte Wort über unser Leben, über unser Handeln, Reden und Glauben sprechen. Gott tut das. Gott wird das tun bei seiner endgültigen Ankunft. Die steht noch aus. Aber es lohnt sich, darauf zu warten.
Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteilwerden.

Bis dahin geht es in Ordnung, auch anderes gelten zu lassen –
Solange wir selbst nur von jedermann für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse gehalten werden können.
Amen.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Predigttext für den 2. Advent, 5. Dezember 2021

Predigttext für den 2. Advent, 5. Dezember 2021

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.

Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name.

Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind!

Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten.

Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen,

wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten,

wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten – und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! –

und das man von alters her nicht vernommen hat. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.

(Buch des Propheten Jesaja 63,15 – 64,3)

Komm raus, Gott, wenn es dich gibt!
Zeige dich, damit wir dich sehen!
Zeige, was du kannst! – Wenn du was kannst!
Reiß den Himmel, den Vorhang zwischen dir und uns endlich auf, reiße ihn ein, lass dich sehen.
Zeige deine Taten!

Das Warten ist dem Propheten lang geworden, zu lang. Jetzt muss auch einmal etwas passieren. Nach so viel Passivität; nachdem so lange nichts geschah.

Das Warten ist dem Propheten lang geworden. Nach so viel Leid und Unrecht, die der Prophet miterleben musste. Nach so viel Abfall von Gott, nach Eroberung des Heiligen Landes, nach dem Verlust der heiligen Stätten, nach der Zerstörung des Tempels durch die Babylonier, nach Verschleppung und Erniedrigung – nach so vielem, das gegen Gott spricht – soll Gott endlich wieder sprechen: ein Machtwort, eindeutig, klar, machtvoll. Zeige dich Gott, damit wir an dich glauben können!

Das Warten ist dem Propheten lang geworden – und so verlangt er um des Glaubens willen Zeichen und Taten Gottes; Zeichen und Taten, wie es sie früher gab und wie es sie heute wieder geben soll. Eine Erscheinung in Macht und Herrlichkeit, mit Feuer und Rauch, mit Aufwallungen der Natur, die das Kommen des Schöpfers begleiten.

Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen,
wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten,
wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten – und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen!

So hatte man sich das vorgestellt im alten Israel, im alten Orient überall, die machtvolle Niederkunft Gottes auf der Erde, seiner Erde, die er doch samt Himmel geschaffen hat. Das wollen wir glauben – so zeige uns, dass unser Glauben recht hat. Damit wir alles andere ertragen können.

Das Warten ist dem Propheten so lang geworden, dass er nun in prophetischer Ungeduld, Gott vom Himmel herab wünscht, ihn herabpredigen möchte, ihn hinunterzwingen möchte in die ganze Trostlosigkeit unserer menschlichen Existenz.

Wer könnte ihm in seinem prophetischen Eifer schon widersprechen? Wer könnte ihm sagen: das gehört sich nicht. Sei still und gib dich zufrieden! Harre des Herrn! Befiel dem Herrn deine Wege, er wird’s wohl machen! Oft genug sagen wir uns das, immer wieder sagen wir das, aber die Unheile nehmen ihren Lauf, die Verhängnisse gehen ihre Bahn, – und darüber wird das Warten länger, wer sollte da nicht auch seine Geduld verlieren?

Wenn Menschen, die wir lieb haben und lieb hatten, wenn die dann sterben müssen, aber nicht sterben können, sich quälen auf ein langes Ende hin – und das Warten lang wird.

Wenn Menschen, die wir lieb haben und für die wir Verantwortung haben, krank werden und leiden – immer wieder ja – und wir nicht wissen, ob es und wann es ein Ende haben wird, das Leiden und das eingeschränkte Leben – und das Warten darüber lang wird.

Wenn Menschen und Völker sich seit Generationen immer tiefer, immer tiefer in ihren Hass verstricken, Gewalt neue Gewalt schafft, Leben und Lebensmöglichkeiten zerstört, sogar das Wissen davon zu zerstören droht, dass auch ein anderes Leben möglich ist – und das Warten darüber unendlich, quälend lang wird.

Dann lässt sich doch gar nicht anderes tun als unserem ungeduldigen, zornigen Propheten zustimmen und mit ihm einstimmen in seine Rede:

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist du doch unser Vater!

Solcher prophetischer Zorn ist allemal besser, als Resignation und Gleichgültigkeit, die mit Gott nicht mehr rechnet, die sich selbst säkularisiert hat wie unsere Gesellschaft, wie unsere Kirche sogar, die sich weithin mit sich selbst beschäftigt, sich organisiert und verwaltet, aber kaum noch mit ihrem Gott beschäftigt; kaum noch auf ihren Gott wartet, von dessen Kommen sie spricht aber nichts mehr weiß.

Solcher prophetischer Zorn ist aber noch nicht das Beste in unserem Warten. Zu sehr erinnert dieses Warten mit seiner Erwartung an einen tobenden, mächtigen Gott an jene andere Prophetengeschichte, damals bei Elia, in der auch auf ein Zeichen Gottes gewartet wird, in der Gott erwartet wurde, also Gott im großen, starken Wind erwartet wurde, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach; Gott aber war nicht im Wind; und Gott im Erdbeben erwartet wurde, aber er war nicht im Erdbeben; und im Feuer erwartet wurde – aber war nicht im Feuer: Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen – darin sprach Gott..

Als Wartende werden unsere Erwartungen enttäuscht. Das mag schmerzhaft sein; aber es ist ein heilsamer Schmerz.

Unsere Täuschung wird aufgehoben; Gott sei Dank!
Gott entspricht nicht unseren Erwartungen, aber ein bloß erwarteter Gott, einer der unseren Erwartungen entspricht, wäre gar nicht Gott.
Ein Gott, der unseren Wünschen – und seien es die frommsten Wünsche – ein Gott, der unseren frommen Wünschen entspricht, ist nicht Gott; sondern Einbildung, Phantasie, ein Götze, der unsere Frömmigkeit nicht verdient.
Der lebendige Gott – und auf den lebendigen Gott warten wir doch – lässt sich nicht erwarten, nicht ausrechnen in seinem Handeln und seinem Kommen. Wenn wir ihn im Getöse erwarten, dann kommt er erst recht im sanften Säuseln des Windes.

Das scheint unserem zornigen Propheten, dem das Warten lang geworden ist, beinahe aus dem Blick geraten zu sein.
Beinahe: denn er sagt es ja selbst; dass Gott so kommen möge, wie man von alters her nicht vernommen hat. Wie es kein Ohr gehört, kein Auge gesehen hat; einen solchen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.

Vielleicht fällt es diesem lebendigen Gott ein – gerade nicht in Macht und Herrlichkeit zu kommen – sondern – sagen wir mal etwas besonders Merkwürdiges, etwas besonders Gewagtes, etwas ganz und gar Unerwartbares: Vielleicht fällt es diesem Gott ein, als Mensch zu uns zu kommen; oder machen wir es noch merkwürdiger, noch gewagter, noch unerwartbarer; vielleicht gefällt es Gott als Mensch geboren zu werden, als kleines Kind zu uns zu kommen, damit er uns so aus unserem Elend erlöse.

Denn: »Unser Erlöser«, das ist doch von alters her dein Name. Und: Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.

Darauf – das Gott kommen möge, wie er will – darauf lasst uns warten. Amen.