Silvester 2024

Hört mir zu, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den Herrn sucht: Schaut den Fels an, aus dem ihr gehauen seid, und des Brunnens Schacht, aus dem ihr gegraben seid. Schaut Abraham an, euren Vater, und Sara, von der ihr geboren seid. Denn als einen Einzelnen berief ich ihn, um ihn zu segnen und zu mehren. Ja, der Herr tröstet Zion, er tröstet alle ihre Trümmer und macht ihre Wüste wie Eden und ihr dürres Land wie den Garten des Herrn, dass man Wonne und Freude darin findet, Dank und Lobgesang.

Merke auf mich, mein Volk, hört mich, meine Leute! Denn Weisung wird von mir ausgehen, und mein Recht will ich gar bald zum Licht der Völker machen. Denn meine Gerechtigkeit ist nahe, mein Heil tritt hervor, und meine Arme werden die Völker richten. Die Inseln harren auf mich und warten auf meinen Arm. Hebt eure Augen auf gen Himmel und schaut unten auf die Erde! Denn der Himmel wird wie ein Rauch vergehen und die Erde wie ein Kleid zerfallen, und die darauf wohnen, werden wie Mücken dahinsterben. Aber mein Heil bleibt ewiglich, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.

Hört mir zu, die ihr die Gerechtigkeit kennt, du Volk, in dessen Herzen mein Gesetz ist! Fürchtet euch nicht, wenn euch die Leute schmähen, und entsetzt euch nicht, wenn sie euch verhöhnen! Denn die Motten werden sie fressen wie ein Kleid, und Würmer werden sie fressen wie ein wollenes Tuch. Aber meine Gerechtigkeit bleibt ewiglich und mein Heil für und für. (Buch des Propheten Jesaja 51, 1-8)

Hört zu, schaut an, schaut an, merke auf, hört, hebt eure Augen auf, schaut auf, hört zu!

Da will einer gehört, da will einer gesehen werden. Da macht einer auf sich aufmerksam. Aufmerksamkeit ist ein teures Gut. Das wird der erlebt haben, der so spricht, dass so schnell nichts unsere Panzer des Selbstinteresses und die Mauern unserer Aufmerksamkeitsdefizite durchdringt. Was könnte auch interessanter sein als ich selbst? „Nichts dringt in mein Gehirn. Meine Reflexe sind zu schnell.“ Sagt ein galaktischer Superheld auf seine entwaffnend dämliche und himmelschreiend komische Art: „Nichts dringt in mein Gehirn. Meine Reflexe sind zu schnell.“ (Drax aus den Guardians of the Galaxy)

Kollektives ADS gehört zur Diagnose unserer Zeit: Kollektives Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom allerdings bei gleichzeitiger maximaler Beschallung durch Aufmerksamkeitserreger. Die technischen Möglichkeiten, Aufmerksamkeit zu erregen, versuchen mit den Steigerungen unserer Aufmerksamkeitsdefizite Schritt zu halten, ohne große Aussicht auf Erfolg. Selbst millionenfache Gefolgschaft in den sogenannten sozialen Medien verschafft nur eine Form von vermeintlicher Aufmerksamkeit, die eigentliche Aufmerksamkeit, also Teilnahme, Anteilnahme vermeidet, verhindert. Die Filter fehlen, oder es sind die falschen. Die tatsächliche Gegenwart dringt nicht in unser Gehirn vor. Klassisch ist das Bild der Gruppe im Lokal, die alle ihr Telefon in der Hand haben, alle sprechen, ohne miteinander zu sprechen.

Hört zu, schaut an, schaut an, merke auf, hört, hebt eure Augen auf, schaut auf, hört zu!

Wenn man den Prognosen glaubt – aber es reicht ja schon den eigenen Augen zu trauen! – werden es immer weniger und immer weniger werden – jedenfalls bei uns – die dem Aufmerksamkeit schenken, der da ruft. Er scheint es gewohnt zu sein, dass ihm niemand zuhört, ihm niemand glaubt. Egal ist es ihm gleichwohl nicht. Gott schafft sich seine Wege, seine Kanäle der Kommunikation. Und es sollen schon welche auf ihn aufmerksam geworden sein auf dem Wege der sogenannten sozialen Medien. Warum denn nicht? Seine Wege sind unerforschlich, er liebt das Paradox, in ihm treffen sich die Gegensätze und sein Geheimnis offenbart er gerne einmal unter dem Gegenteil. „Nichts ist so groß, Gott ist noch größer. Nichts ist so klein, Gott ist noch kleiner.“ Warum sollte er nicht auch durch das Internet, diesem unwahrscheinlichsten Ort der Gottesrede zu uns hindurchschlupfen?

Lasst uns das Unwahrscheinliche tun, und heute auf ihn hören! Schaut den Fels an, aus dem ihr gehauen seid, und des Brunnens Schacht, aus dem ihr gegraben seid. Was macht uns zu Menschen? Was macht unsere Menschlichkeit aus? Aus welchem Holz sind wir geschnitzt? Krummes Holz, aufrechter Gang. Aufrecht mögen auch die Pinguine gehen, aber sich den aufrechten Gang als das wesentlich Menschliche zu denken, können nur Menschen. Auf dem Boden bleiben und doch nach oben sehen. Manchmal muss man einen Schritt zurückgehen, um den Ort zu sehen, zu erkennen, auf dem man steht. Und nicht jeder Fortschritt ist zu empfehlen, sagt der Mensch, der in den Abgrund blickt.

Hebt eure Augen auf gen Himmel und schaut unten auf die Erde! Denn der Himmel wird wie ein Rauch vergehen und die Erde wie ein Kleid zerfallen, und die darauf wohnen, werden wie Mücken dahinsterben. Was man für eine Reportage aus den Kriegsgebieten und den Katastrophenlagen unserer Gegenwart halten kann, soll keineswegs Zukunft beschreiben. Solche Prophezeiungen werden nicht gemacht, um die Zukunft anzusagen, sondern um sie zu verändern. So wie beschrieben soll es gerade nicht werden. Und damit es so nicht wird, müssen wir uns ändern, umkehren, unsere Wege verlassen, neue finden. Dabei Irrtümer in Kauf nehmen, Verwirrung riskieren. Aber ohne zu vergessen, wer wir sind.

Fürchtet euch nicht, wenn euch die Leute schmähen, und entsetzt euch nicht, wenn sie euch verhöhnen! Denn die Motten werden sie fressen wie ein Kleid, und Würmer werden sie fressen wie ein wollenes Tuch. Die neuen Lautsprecher in Politik und Gesellschaft, im Netz allüberall, die Schmäher und Verhöhner, klingen noch in dem Moment, in dem sie das herausplärren, was sie für Neuigkeiten halten, älter als ihre eigenen Großeltern. Es mag unvornehm sein, den Ewiggestrigen Würmer und Mottenfraß zu wünschen, unfromm ist es ausweislich unseres Propheten nicht. Ihr Verfallsdatum ist längst abgelaufen. Sie haben das bloß noch nicht gemerkt.

Und woher wissen wir das? Was gibt uns Gewissheit, dass es zwar schlimm kommen aber nicht schlimm bleiben wird? Auf Selbstheilungskräfte zu vertrauen, erscheint mir etwas leichtsinnig in einer multimorbiden Welt: Umwelt, Klima, Demokratie, Wohlstand, internationale Beziehungen, Frieden – werden nicht von allein heilen; werden nicht in einem Akt magischen Denkens einfach gut werden; werden sich nicht gutwünschen lassen. Obwohl es natürlich hilft, sich die Dinge gut und nicht etwa schlecht zu wünschen, wie es die Mächte des Bösen wohl tun. Noch kleinste Schritte – baby steps – zu Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung – wie es zu einer anderen Zeit und in einem anderen Leben hieß, aber auch nur gerade mal vierzig Jahre her so hieß – sind nötig, um den großen Schritt – vom Abgrund weg – zu tun. Was ein kleiner Schritt für mich wäre, könnte ein großer für die Menschheit sein.

Und dann brauchen unsere realen Veränderungen allerdings sehr wohl den Glauben, dass sie nicht vergeblich sein müssen, sondern gelingen können. Veränderungen gehen davon aus, dass sie sich lohnen. Umkehr braucht einen Ort wohin. Deshalb geht die Bibel davon aus, dass Gott alles gut gemacht hat und alles gut machen will und dass sich gute Taten lohnen. Dass ein moralisches Universum sei, ist die große Hypothese des biblischen Glaubens. Dafür will der Prophet unsere Aufmerksamkeit.

Hört zu, schaut an, schaut an, merke auf, hört, hebt eure Augen auf, schaut auf, hört zu!

Worauf? Darauf, dass Ja, dass der Herr Zion tröstet, er tröstet alle ihre Trümmer und macht ihre Wüste wie Eden und ihr dürres Land wie den Garten des Herrn, dass man Wonne und Freude darin findet, Dank und Lobgesang.

Und warum? Darum und trotz allem, weil Gott spricht und es so meint: Aber mein Heil bleibt ewiglich, und meine Gerechtigkeit wird nicht zerbrechen.

Aber meine Gerechtigkeit bleibt ewiglich und mein Heil für und für. Amen.

Erster Sonntag nach Weihnachten, 29. Dezember 2024

Als sie (die Weisen aus dem Morgenland) aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.

Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, auf dass erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht Hos 11,1: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.«

Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Knaben in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte. Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht (Jer 31,15): »In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.«

Als aber Herodes gestorben war, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum in Ägypten und sprach: Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und zieh hin in das Land Israel; sie sind gestorben, die dem Kindlein nach dem Leben getrachtet haben.

Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich und kam in das Land Israel. Als er aber hörte, dass Archelaus in Judäa König war anstatt seines Vaters Herodes, fürchtete er sich, dorthin zu gehen. Und im Traum empfing er einen Befehl und zog ins galiläische Land und kam und wohnte in einer Stadt mit Namen Nazareth, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazoräer heißen. (Matthäus 2,13-23)

Was ist das für eine schlimme Geschichte! Von Flucht und Mord an Weihnachten, will man sowas hören? Vom Mörderkönig Herodes, der auch in der wirklichen Geschichte Kinder, Thronfolger, Ehefrauen ermorden ließ. Von der Flucht der Heiligen Familie über Wüsten und Meere hinweg. Aber wir hören doch ständig solche schlimmen Geschichten von Gewalt an Kindern, Flucht und Mord, von Krieg und Gewalt gegen die Kleinsten und Schwächsten, die Kinder: in der Ukraine, in Israel, in Gaza, im Sudan, in Syrien – wer weiß nicht wo.

„Was ist das für eine Geschichte!“ Ruft Mutter Gertrud aus in der Märchenoper Hänsel und Gretel, die uns wie alle Jahre wieder als das zweite, das andere Weihnachtsoratorium in der Weihnachtszeit begleitet. Was ist das für eine Geschichte! Ruft die Mutter aus über den Tumult, den sie zu Hause vorfindet, ruft und singt sich in Wut, in Rage, solange, bis sie die beiden hinauswirft aus dem ärmlich, kärglichen Haus am Wald, hinaustreibt in den finsteren Wald hinter dem Haus, um dort Essen zu holen, um Beeren zu sammeln, aber eigentlich, so sagt es die Musik, die die Wut der Mutter orchestriert, vertreibt sie ihre Kinder, um sie vor sich selbst zu schützen, um sie vor ihrer eigenen Wut und Gewalt zu schützen. Die Kinder sollen fliehen, um sich zu schützen.

Dass Kinder fliehen müssen vor der Gewalt Erwachsener, ist der Skandal unserer schlimmen Geschichte heute. Bis nach Ägypten müssen Joseph, Maria und ihr Baby fliehen, durch die Wüste zurück in das Land der Gefangenschaft des Mose und der Israeliten. Zurück in die Ägyptische Finsternis. Die Heilsgeschichte wird – vorübergehend, wie wir in der Geschichte da noch nicht wissen, aber hoffen! – damit umgekehrt, rückgängig gemacht, aufgehoben, zurückgespült durch die Wellen des Schilfmeers, zurückgebracht in die Sklaverei. Weil es nötig ist, notwendig, um noch schlimmere, um schlimmste Not zu wenden.

Schlimmste Not ist dann, wenn Kinder leiden; wenn ihre Schwäche und Arglosigkeit ausgenutzt werden, wenn sie missbraucht werden. Pfui Teufel über die, die das tun – zu jeder Zeit, überall auf der Welt, gerade auch in der Kirche. Gewalt gegen Kinder, Kindermord ist der Gipfel des teuflischen Wütens; vom Teufel selbst kommt solche Gewalt – selbst unser postmythologisches Zeitalter kommt nicht ohne diese Symbolfigur des absoluten Bösen aus, wenn wir versuchen, uns einen Begriff davon zu machen.

„Eine Hex im Wald, vom Teufel selbst hat sie Gewalt“ – ausgerechnet dahin zu ihr, der Hexe, fliehen die Kinder Hänsel und Gretel, zum Knusperhaus mit seinen Verliesen und Höhlen, seinem Ofen, grausamer Vernichtungsort.

Der Hexe wird – anders als in der Märchenvorlage, aber einer anderen Wahrheit folgend – vom Operndichter eine ganze Mordfabrik angedichtet; ihre Lebkuchenfabrik in Wahrheit eine Lebkuchenkindermordfabrik!

Oft genug – und verständlicherweise, weil man die jugendlichen Theaterbesucher schützen zu müssen meint, und doch sehr zu Unrecht! – oft genug, wird die Hexe zur Witzfigur herunterinszeniert. Aber dann passt ihr böses Ende nicht, passen die Texte nicht, die sie singt; und passt nicht die Musik. Denn wie schon im Märchen ist diese Hexe böse, ihre Texte sind böse, ihre Musik ist böse. Rosina Leckermaul ist keine Bibi Blocksberg – und diese Märchenoper vielleicht doch nichts für Kinder. Denn ihre Gewalt ist wirklich böse – und sie verhüllt, verkleidet und offenbart sich zugleich als sexualisierte Gewalt – übrigens schon in der Märchenvorlage, in der die Hexe ihre Mordabsichten ebenfalls sexualisiert. Nur wenn wir die abgrundtiefe Bosheit der schlechthin „Bösen“ verstehen, können wir ihre Strafe und ihr grausames Ende billigen.

Ganz wie im richtigen Leben, in der richtigen Welt, an ihren dunkelschwarzen Orten, wenn etwa eine Mörderbande Babys und Kleinkinder in ihre Höhlen verschleppt und dort versteckt, immer noch nach 14 Monaten versteckt vor der befreienden und doch zerstörerischen Gewalt ihrer Eltern; kein Chanukka für Kfir und Ariel Bibas und die anderen immer noch über Hundert Geiseln der Hamas. Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen. Manchmal ist die Wirklichkeit viel schlimmer als Bibel und Oper. Was für eine schlimme Geschichte!

Auf der Bühne geht sie gut aus (aber unter welchen Opfern, welchen Kosten!). Hänsel und Gretel werden von Opfern zu Rächern in eigener Sache, und dann auch noch zu Befreiern der Kinderopfer: „Erlöst, befreit für alle Zeit“; so singt es der Kinderchor am Ende der schaurig schönen Oper; zeigt, was zu zeigen war: „Wenn die Not aufs höchste steigt, Gott der Herr die Hand euch reicht“, musikalisch, textlich und dramaturgisch der Kern der ganzen Sache.

„Erlöst, befreit für alle Zeit“ – das ist in einem noch viel umfassenderen Sinn der Sinn unserer Weihnachtsgeschichte aus der Bibel heute – wie auch übrigens des jüdischen festes Chanukka, dessen 5. von 8 Tagen heute gefeiert wird: Freude über geschehene Erlösung, Hoffnung auf zukünftige Erlösung. Selbst die größte Not vermag Gott zu wenden, den Befreier unserer Seelen und Erlöser der Welt zu erlösen und zu befreien. „Erlöst, befreit für alle Zeit“

Weihnachten 2024

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.

Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe gemacht; und die Welt erkannte es nicht. Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden: denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus menschlichem Geblüt noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren sind.

Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. (Johannes 1,1-5.9-14)

Eine andere Weihnachtsgeschichte, diese Weihnachtsgeschichte des Johannes; keine Geschichte eigentlich, sondern eher Gedicht, oder noch eher Traktat. Weihnachten ohne Krippe und Stall, ohne Hirten und Engel, ohne Ochs und Esel, ohne Klingelingeling und ohne Lametta; nicht sinnlich und märchenhaft, nicht bunt sondern schwarz-weiß, theoretisch, abstrakt, verkopft, nicht Mythos sondern Logos, das gefällt mir!

Abstrakt wie das Bild von Richard Serra, Dead Weight III (Coptic) von 1991, im Museum Wiesbaden, in das man sich versenken kann, wie die Menschen früher, die Mönche zumal, in die Texte der Bibel sich versenkt haben. Schwarze Ölkreide auf weißem Papier, mehr nicht, aber darin die ganze Welt.

Richard Serra, Dead Weight III (Coptic)
Richard Serra, Dead Weight III (Coptic)

Viel schwarze Farbe, dick aufgetragen, sichtbar schwer auf edlem Papier, nicht industrieweiß, sondern edles, altes Weiß. Zweigeteilt, zwei Flächen, zweimal ein großes Rechteck übereinander, quadratisch das obere, das untere genauso hoch, aber etwas schmaler; dahinter, darunter, daneben weißer Rand, oben sehr schmal, unten etwas breiter rechts und links. Das untere Rechteck scheint das obere zu tragen, schwere Last.

Für „dead weight“ lesen wir im Wörterbuch: ganze Last, volles Gewicht, schwere Bürde, Leergewicht, Eigengewicht, totes Gewicht, Nutzlast; Dead Weight – schwere Last, passt für mich am besten.

Den in Klammern gesetzten Namenszusatz des Bildes (Coptic) kann ich nicht recht deuten, vielleicht ist eine ferne Ähnlichkeit der Gestalt mit dem koptischen Kreuz gemeint, dem Anch, Lebenssymbol, Hieroglyphe für das Weiterleben im Jenseits. Der Künstler verwendet oft solche historischen, persönlichen oder mythologischen Bezüge für seine Werke, ohne dass der jeweilige Bezug für den Betrachter offensichtlich wäre. Er scheint hier auf Sprache und Kultur der Kopten zu verweisen, das uralte ägyptische Christentum, das sich bis heute gegen die Übermacht des Islams im Land behauptet, im besten Fall geduldet, oft verfolgt, nicht selten voller Gewalt. Mich beginnt dieser konkrete Titel des abstrakten Bildes zu stören. Vielleicht weil es auf eine bestimmte Weise zu gut mit dem von mir gewählten Bezug auf Weihnachten passt.

Das Schwarz überwiegt bei weitem, dominiert, bestimmt das Bild, bestimmt nicht selten unser Weltbild, dieses „Wir leben in finsteren Zeiten.“ Dem kann sich kaum einer entziehen. Zuviel spricht dafür; Zeitungen und Nachrichten jedenfalls, Tag für Tag. Finsternis überall.

Aber dagegen stehen die weißen Ränder, das sich vom Rand her aufmachende Licht: „Mache dich auf, werde Licht, denn dein Licht kommt“ Ich komme nicht los, von meiner ursprünglichen Idee, dass dieses Bild – wahrscheinlich ohne jede Absicht – einen Weihnachtsgedanken formuliert, nämlich den vom Licht in der Finsternis. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.

Johannes verfolgt und entwickelt ihn sein ganzes Evangelium und seine Briefe entlang: „Jesus Christus spricht: Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern das Licht des Lebens haben“. Weihnachtlicher Glauben ist für Johannes: das Leben und die Welt nicht von der Finsternis, sondern vom Licht her zu sehen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.

Nicht die Finsternis wird das Licht verschlingen, sondern das Licht breitet sich in der Finsternis aus. Das versteht sich keineswegs von selbst und es versteht sich auch nicht von selbst aus dem Blick auf unser Bild. Denkbar – und so oft denken wir es doch auch – dass sich nicht das Licht, sondern die Finsternis ausbreitet und die Finsternis irgendwann das Licht ganz und gar verschluckt wird. Ägyptische Finsternis – vielleicht ist da doch was dran an der Koptischen Deutung.

Wir – aber – folgen Johannes, wenn wir nicht die Finsternis, sondern das Licht für die Dominante halten. Wir folgen Johannes, wenn wir das Licht erkennen in der Finsternis. Wir folgen Johannes, wenn wir der Mehrheitsdeutung die Gefolgschaft verweigern, wenn wir anders als alle Welt (die Welt erkannte es nicht, die Seinen nahmen ihn nicht auf) das Licht aufnehmen. Die Welt von ihrem zarten Lichtrand zu verstehen, das ist Weihnachten – im eigentlichen Sinne.

Ein letzter Gedanke: Auf eine bestimmte Weise setzt Johannes die Lichtmetapher mit dem berühmten Wort „Wort“, griechisch „Logos“ in Beziehung, womöglich gleich. Das ist uns geläufig, wenn wir davon sprechen, dass uns ein Licht aufgeht, und damit meinen, dass wir etwas verstanden, begriffen haben. Das kann die Finsternis nicht: die Finsternis hat’s nicht ergriffen. Erleuchtung, Aufklärung heißt dagegen: etwas verstehen, etwas einen Sinn geben. Logos ist deutendes Wort, Bedeutung und Sinn.

Darum haben wir uns doch die ganze Zeit schon bemüht, wenn wir versuchen, dem abstrakten Bild einen konkreten Inhalt, eine Geschichte, einen Sinn zu geben: Das Bild zu deuten, es zu verstehen, es zu lesen. Für etwas Worte finden, um etwas Worte zu machen, heißt, ihm Sinn zu geben. Johannes behauptet nun, dass diese Gabe, die Welt zu verstehen, überhaupt irgendetwas zu verstehen, aus Gott kommt: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.

Dieses Wort – also in seinem umfassenden Sinn, die Fähigkeit, Worte zu machen und damit den Dingen Bedeutung und Sinn zu geben – behält Gott nicht für sich, sondern sendet es in die Welt, als konkretes Leben, als Licht, das uns im Chaos der Finsternis eine Ordnung aus Licht stiftet. Das Licht begrenzt die Finsternis. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen. Weihnachten!

Heilig Abend 2024

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.

Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth. (Buch des Propheten Jesaja 9, 1-6)

Krippenszene
Weihnachtskrippe Thomaskirche, Wolf Spemann ca. 1960, Pflaumenholz geschliffen

Jauchzen und Seufzen,
Frohlocken und Klagen
Laut Rufen und ganz zart Reimen:
Alles zwischen O du Fröhliche und Stille Nacht, alles zwischen Fröhlichkeit und Besinnung, das gehört alles gleichermaßen zu unserem Weihnachtsfest dazu: Alle Jahre wieder, alle Jahre wieder neu! Heute klingt lauter Jubel, große Freude über den neugeborenen Messias an, Jauchzet, Frohlocket! – und mitten hinein auch Seufzer und Klage über Welt und Zeit.

Heute bekommt unsere Freude einen Namen, viele Namen: Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst – klingende, singende, vielfach jubelnd besungene Namen des neugeborenen Kindes, des zukünftigen Herrschers, des Messias! Namen voller Versprechen und Hoffnung, voller Zuversicht und Stärke; alles was der Prophet und sein Volk noch vermissen, schmerzlich vermissen müssen, scheint hier in diesen Namen hineingesteckt zu sein. Mit einem, der so heißt, soll endlich alles, alles gut werden. Namen als Programm, als Diagnose aber auch.

Wie kommen wir zu unseren Namen? Und wie geben wir als Eltern eigentlich unseren Kindern Namen? Schön klingen sollte er, eine vorteilhafte Bedeutung sollte er haben, wichtiger noch ist vielleicht eine Person als Beispiel, die diesen Namen erfolgreich trägt oder trug, verbunden mit der Hoffnung, dass der vorbildliche Namensträger seine Kräfte auf den Nachfolger überträgt. Umgekehrt schließen manche Beispiele die Verwendung ihres Namens aus, sei es, dass er uns damals in der Schule geärgert oder sei es, dass er gleich ganze Völker massakriert hätte; Schulhofbullies wie Diktatoren geben keine guten Namensvorbilder ab.

Nicht zu häufig sollte der Name sein, aber auch nicht gar zu selten. Frühere Generationen hatten es scheinbar leichter, wenn der Namenstag des Tagesheiligen oder der Name des Vorfahren die Wahl des Namens bestimmte. Keine Frage, dass unser überaus verdienstvoller und gut katholischer Mitarbeiter Andras am 29. November (am Andreastag!) geboren ist – und bei Knaben mit dem klingenden Namen Friedrich Wilhelm wäre eine Verbindung zum preußischen Königshaus zumindest nicht völlig abwegig. Aber damit ist natürlich auch die Freiheit bei der Namensgebung eingeschränkt.

Unser Prophet lässt seiner Phantasie jedenfalls ungehemmt freien Lauf, was den Namen des Erlösers angeht, ohne dass sich seine Kreationen durchgesetzt hätten. Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst haben insgesamt keine Verwendung durch werdende Eltern gefunden; keine direkte jedenfalls, aber von der Idee her vielleicht schon:

In der heute als Namen überaus populären Sophia – der göttlichen Weisheit – mag man etwas vom Wunder-Rat hören, in der gleichfalls beliebten Mathilda – der mächtigen Kämpferin – den Gott-Held; beim Ewig-Vater weiß ich nicht so recht, der Name Abraham, ist ja selten geworden; aber schon der Friede-Fürst wieder klingt sowohl im hebräischen Salomo wie im deutschen Friedrich unmissverständlich an. Weisheit, Mut, Kreativität und die Fähigkeit zum Frieden sprechen die Namen dem neugeborenen Herrscher zu. Die wird er brauchen.

Denn wie diese Namen des Messias sein Programm umreißen, stellen sie auch indirekt eine Diagnose – jetzt also nicht des Namensträgers wie bei dem bösen Wort über unglückliche Schüler mit dem falschen Namen, vielleicht aber auch bloß mit dem falschen Lehrer – sondern eine Diagnose der Weltzeit, in die er hineingeboren wird: Ein dunkles Zeitalter, Dark Ages, finsteres Land, in dem Dummheit, Grausamkeit und Krieg herrschen: drückendes Joch, dröhnender Stiefel, blutige Kleidung, verzehrendes Feuer.

Der Prophet Jesaja malt mit sprechenden – was sage ich: schreienden! – Bildern und schockierendem Detail den ganzen Schrecken seiner Zeit, jeder Kriegszeit in unsere Vorstellungskraft, Imaginationen der Gewalt, von der wir annahmen – wie konnten wir das annehmen? – dass sie überwunden sei.

Auf die Seufzer des Propheten hören wir – durch seine Jauchzer hindurch; auch auf einen anderen Kriegs-Angst-Seuffzer, den des Dichters Johan Hildebrand, der 1645, 31jährig nichts anderes als Krieg kannte und erlebt hatte, lasst uns heute hören. Er schreibt damals und berührt damit noch uns – mit seiner Not über seine Zeit und mit seiner Hoffnung auf den Gott des Friedens:

„Ach Gott! Wir haben´s nicht gewusst, was Krieg für eine Plage ist. Nun erfahren wir es leider allzu sehr, leider, leider allzu sehr, dass Krieg eine Plage über alle Plagen ist. Denn da gehet Gut weg, da gehet Mut weg, da gehet Blut weg, da gehet alles weg, alles weg. Da muss man sein Brot mit Sorge im Elende essen. Da muss man sein Wasser mit Beben trinken. Da höret man nichts als auf allen, allen Straßen: Weh! Weh! Ach! Ach! Wie sind wir so verderbet.

O du Gott des Friedens, gönne uns doch wieder deinen himmlischen Frieden. Lass Kirchen und Schulen nicht zerstöret, lass den Gottesdienst und gute Ordnung nicht vertilget werden. Hilf uns mit deinem ausgestreckten Arm. Beschere uns ein Ortlein, da wir bleiben, ein Hüttlein, darinne wir uns aufhalten, ein Räumlein, da wir sicher sein und deinem Namen dienen können, dass wir in Friede deinen Tempel besuchen, in Friede dich loben und preisen, in Friede selig, selig, selig sterben mögen.“ (Johann Hildebrand 1614 – 1684: V. Kriegs-Angst-Seufftzer 1645)

Auch beim Propheten Jesaja reimen sich Jubel und Klage auf die Anrufung des Friedens: sie teilen ihre Pointe, setzen denselben Ton: auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit.

Zwei Bedingungen des Friedens höre ich da heraus. Eine, die wir uns selben sagen könnten und die andere, die uns gesagt werden muss, von außen, von oben.

Eigentlich selbst sagen können wir uns, dass Recht und Gerechtigkeit zugleich Ursache und Folge des Friedens sind, wie er hier gemeint und gewollt ist. Dass also ungerechte Friedlichkeit zwar sicherlich meistens besser als offene Gewalt ist, aber eben noch kein Frieden, wie er hier gemeint ist. Welche Ungerechtigkeit auszuhalten und welche zu bekämpfen ist, wann genau – mit den Worten Bonhoeffers – „dem Rad in die Speichen zu greifen“ ist, bleibt der persönlichen Entscheidung des Gewissens, dem gesellschaftlichen Diskurs und dem politischen Willen der gewählten Verantwortlichen vorbehalten. Wen immer wir im nächsten Jahr für diese Aufgabe wählen, es wird aber keiner sein, den wir Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst nennen müssten und der uns den ewigen Frieden brächte. Was keine Kritik der gewählten Person, sondern eine unserer Erwartung an ihn ist.

Und zweitens hören wir, dass der wahre, ewige, güldene Frieden ein himmlischer Frieden ist und aus Gott sein wird: Der große Gottesfrieden, der aus dem Himmel kommt und alle Menschen und die ganze Schöpfung umschließt – kleiner sollten wir vom Frieden nicht denken; der uns aber jetzt schon – gerade heute – verkündet wird, also keine vage Hoffnung sondern Gewissheit ist, vom Propheten verkündet und den Engeln – im jubelnden Chor – gesungen:

Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden, den Menschen seines Wohlgefallens.

2. Sonntag im Advent, 8. Dezember 2024

Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien. Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude. Die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, die Pracht von Karmel und Scharon. Sie sehen die Herrlichkeit des Herrn, die Pracht unsres Gottes. 

Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! Sagt den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.«

Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.

Und es wird dort eine Bahn sein und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren. Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen. Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.
(Buch des Propheten Jesaja 35, 1-10)

„Jauchzet! frohlocket!“ – Fordert es in dieser Zeit allüberall, auch aus unserem Predigttext.

Aber:Es ist ein Wort, ein Wörtchen nur, liebe Schwestern und Brüder, das mir und vielen den Jubel beschwert: Ich meine das Wort „Rache“; vielleicht geht es Ihnen genauso. Frohlocken, Jubel, Lust und Freude, Pracht und Herrlichkeit, Jauchzen und Wonne; das ist doch, worum es gehen soll – gerade in dieser Zeit: „Jauchzet! frohlocket!“ Aber mittenhinein in die Galerie der Jubelworte setzt der Prophet „Rache“ und „Vergeltung“ – und vergilt uns die Freude. Sollten nicht „Rache“ und „Vergeltung“ zu Unwörtern der Bibel erklärt werden? Aber hier stehen sie und machen uns die Freude am Jubel und dem Ausleger das Auslegen schwer.

Wir erleben es an diesem Jubeltext, wie wir es so oft in den Geschichten der Bibel erleben, dass uns der Jubel im Halse stecken bleibt. Erst neulich als ich mit meinen Schülern das Heilsereignis der Bibel schlechthin, den Auszug der Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft besprochen habe, also wieder mal besprochen habe, beschrieben in der Bibel, besungen im Lied des Mose und dem noch ursprünglicheren Lied seiner Schwester Mirjam: „Hoch erhaben ist der Herr, Ross und Reiter warf ins Meer“; auch ein Jubellied, vielleicht das erste und älteste der Bibel; aber auch in diesem Jubellied ist von der Vergeltung durch Gott und vom Untergang der Feinde die Rede. Muss das so sein? Haben sich auch die Schülerinnen und Schüler gedacht und gefragt. Muss das so sein?

Und sie fragen natürlich weiter – und zurecht weiter – wie das damals mit Noah und der Sintflut war – um nur ein besonders krasses Beispiel zu nennen -Noah und die Sintflut und der Vernichtung allen Lebens auf der Erde zur Vergeltung für die bösen Taten ihrer Bewohner. Man muss das nicht für einen historischen Bericht aus uralter Zeit halten, um sich an der Gewalt der Geschichte zu stören. Geht’s nicht auch anders? Jubel ohne Vergeltung. Einfach nur Frohlocken, Jubel, Lust und Freude, Pracht und Herrlichkeit, Jauchzen und Wonne – uneingeschränkt, ungestört, ohne Reserve, ohne Hintergedanken.

Für meine Schüler naheliegend – und für viele naheliegend zu allen Zeiten – ist die Erklärung, dass sich hier ein Gott der Rache offenbart, der rachsüchtige Gott einer Religion der Vergeltung, die das Aug um Auge zu ihrem Prinzip gemacht hat. Kaum einen Schritt weiter liegt dann die Behauptung, dass das eben der Unterschied sei zwischen Altem Testament und Neuem Testament, einem Gott des Hasses und dem Gott der Liebe, zwischen dem Gott der Juden und Jesus Christus, überhaupt: zwischen Juden und Christen. Aus der naheliegenden Erklärung entsteht – schwupps – das wohlfeile antijüdische Klischee, dessen sich noch heute Antisemiten aller Art bedienen.

Es kostet so viel Mühe – und ist gleichzeitig kinderleicht – darauf hinzuweisen, dass das Gottesbild im Alten Testament komplex ist, aber dass schon das Alte Israel an den allmächtigen als liebenden und barmherzigen Gott glaubt, dass im Alten Testament zuerst das Liebesgebot formuliert und die Nächstenliebe gefordert wird – kurz: dass die Liebesreligion Jesu ganz und gar alttestamentlich-jüdisch geprägt ist; wie auch nicht, Jesus war eben Jude.

Und man muss fragen, ob nicht die legitime Komplexität des alttestamentlich-jüdischen Gottesbildes durch Vereindeutigungen und Verharmlosungen zu seinem Schaden reduziert wurde; ob nicht durch diese Vereindeutigungen und Verharmlosungen, die aus dem allmächtigen irgendwann nur den lieben Gott gemacht haben, dabei die Wirklichkeit Gottes – aber auch die Wirklichkeit der Welt, die sich nicht ohne weiteres harmonisieren lässt – verloren ging; kurz: Muss nicht auch der „liebe Gott“ stark genug gedacht und geglaubt werden, um die Bösen abzuwehren und zu bestrafen?

Wenn nicht jeder Schurke zum Wohltäter umerzogen werden kann, wovon auszugehen ist, muss ihm Einhalt geboten werden. Unrecht muss wiedergutgemacht werden. Zukünftiges Unrecht muss verhindert werden. Beim biblischen Konzept der Vergeltung geht es nicht um die Befriedigung niederer Instinkte, sondern die nötigenfalls gewaltsame Umkehrung von Unrechtssituationen in Rechtsverhältnisse. Und so wendet sich das Opfer von Gewalt, das sich aus Schwäche nicht selbst helfen kann, an seinen Gott, der ihm helfen soll.

Wie in unserem Jubeltext zum Advent erheben in der Bibel die Opfer von Gewalt, Krieg und Verschleppung die Stimme. Sie rufen zu Gott und erbitten sich Hilfe von Gott gegen ihre Feinde. Hier sind es die Exulanten, die das Ende ihrer Verbannung schon absehen können; die sich schon auf den Weg gemacht haben, auf dem Weg sind durch die Wüste, die in ihren Vorstellungen zu blühen beginnt: Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien. Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude.

Aber noch ist keineswegs sicher, wie das hier ausgehen wird. Es gibt ja noch Feinde, die jederzeit zu Gewalt bereit sind. Denen ist Einhalt zu gebieten. Im Hinblick auf diese immer noch lauernde Gefahr ermutigt und tröstet der Beter die Fliehenden: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.«

Unter der Voraussetzung der starken Hilfe eines starken Gottes soll tatsächlich Erlösung geschehen und die Wüste blühen, soll alles heil und gut werden: Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.

Dieses zunächst einmalige Erlösungsgeschehen ist mit den Jahren und Jahrhunderten zum Beispiel und zum Vorbild für die Hoffnung auf Gottes Hilfe und Erlösung an anderen Orten und zu anderen Zeiten geworden. Noch aus verzweifelten Lagen soll Gott uns erlösen, wie damals das Volk Israel aus dem Exil in Babylon: Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.

Die Rede ist hier vom lieben Gott – wie denn nicht? – aber vom lieben Gott, der stark genug ist, sich für uns durchzusetzen. Darüber: „Jauchzet! frohlocket!“

Ewigkeitssonntag, 24. November 2024

EIN LIED FÜR DIE PILGERREISE.
Wir waren wie in einem Traum,
als der Herr das Schicksal Zions zum Guten wendete:
Da füllte Lachen unseren Mund,
und Jubel löste uns die Zunge.
Da sagte man unter den Völkern:
»Der Herr hat Großes an ihnen getan!«
Ja, der Herr hat Großes an uns getan!
Wir waren in einem Freudentaumel.

Herr, wende unser Schicksal zum Guten,
so wie du die Bäche in der Wüste füllst
nach langer Trockenzeit.
Wer unter Tränen mit der Saat beginnt,
wird unter Jubel die Ernte einbringen.
Noch geht er, geht weinend aufs Feld,
wenn er den Beutel zur Aussaat trägt.
Dann kommt er, kommt jubelnd zurück,
wenn er seine Garben nach Hause trägt.
(Psalm 126, nach der Basis Bibel)

In der Erinnerung an einen geliebten Menschen geht es – auch – um die ganz besonderen Ereignisse, die Höhepunkte und Glücksmomente eines Lebens, dieses Lebens. Bestimmt auch um den Alltag, das Alltägliche, das normale Leben, das sich so oder so eingerichtet hat, das seinen Gang geht, die Mühen und Freuden der Ebene; aber eben auch und noch mehr die Gipfel oder Tiefpunkte, wenn das Leben seine bisherige Gangart verlässt; in Bewegung gerät, sich beschleunigt, oder eben umgekehrt: an einen Halt kommt, eine Zäsur markiert, eine Epoche definiert. Ich meine diese markanten Daten in einer Lebensgeschichte, wie Geburt und Tod meiner Lieben, Examen und Hochzeit; Diagnose und Genesung; Unfall, tiefes Unglück und großes Glück; die eine Reise, die meinen Horizont erweitert; das eine Buch, das mich sammelt; die Begegnung, die mich bereichert.

Es gehört zu den großen Privilegien meines Berufs, mit den Angehörigen von Verstorbenen, deren Leben nachzuerzählen, nachzuzeichnen, sei es in groben Zügen, sei es in reichem Detail; immer jedoch um dieses eine Leben wahrzunehmen in seiner Eigenart und Kostbarkeit, seinem Wert und seiner Würde, die beide gleichermaßen unendlich sind und wenn es auch uns noch so unscheinbar erscheinen sollte.

Zu den definierenden Momenten eines Lebens, meines Lebens können auch Ereignisse der Geschichte und der Gesellschaft werden, Ereignisse, die nicht privat oder familiär sind, sondern von vielen, einer ganzen Generation in Glück und Unglück geteilt werden, kollektive Momente: Kriegsbeginn und Friedensschluss, Halte- und Wendepunkte der Geschichte; auch Sportereignisse oder solche in der populären Kultur. In solchen Momenten scheinen ungeahnte Möglichkeiten auf und wir sagen, könnten doch jedenfalls sagen: Wir waren wie in einem Traum.

„Ich habe kaum etwas gelesen, wochenlang gab es für mich keine Filme mehr, kein Theater. Unter publizistischen Gesichtspunkten war es die glücklichste Phase meines Lebens. Zum ersten und einzigen Mal hatte ich das Gefühl, dass die Wirklichkeit interessanter ist als alle Literatur und Kultur.“ Eine „enorme“, eine „verwunschene“ Zeit: „Der Zauber der Aktualität war so stark, dass nichts daneben bestehen konnte. Alle Fernsehkameras der Welt wurden benötigt, um Menschen zu filmen, die sich umarmten.“ „Die Wirklichkeit war viel poetischer als das Fiktive“

Auch wenn der Schriftsteller und Philosoph Peter Sloterdijk, der so in einem Interview seine Erinnerung an die Ereignisse des Mauerfalls von vor 35 Jahren beschreibt, von einer kurz darauf eintretenden Enttäuschung spricht, dass er schon an Weihnachten bemerkt habe: „Es ist vorbei“ und er nach beiden Seiten enttäuscht gewesen sei „von mir selbst und von der Geschichte“ – bleibt doch dieses Ereignis nicht nur in seinem sondern im gemeinsamen Gedächtnis als unerhörter, einzigartiger Überschuss an Möglichkeiten bestehen; als großer Glücksfall der jüngeren Geschichte, von dem wir sagen können, wie sind dabei gewesen.

Ein solches Ereignis beschreibt der Psalm, auf den wir heute hören.

Wir waren wie in einem Traum,
als der Herr unser Schicksal zum Guten wendete:
Da füllte Lachen unseren Mund,
und Jubel löste uns die Zunge.
Da sagte man unter den Völkern:
»Der Herr hat Großes an ihnen getan!«
Ja, der Herr hat Großes an uns getan!
Wir waren in einem Freudentaumel.

Und an solche enorme, verwunschene Zeiten, an solche Traumzeiten sollen wir uns – so der Psalm – erinnern, wenn wir in Schmerz und Leidenszeiten unsere Hoffnung denken. Erkenntnistheoretisch muss es zweifelhaft sein, vom Ausnahmezustand auszugehen, das Einzigartige für wiederholbar zu halten, das Enorme zur Norm zu machen und den Traum zu erwarten. Aber genau dazu will uns der Sänger des Psalms animieren. Es geht ihm also nicht darum, alltägliche Wirklichkeit abzubilden oder Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, sondern auf Gottes Möglichkeiten zu verweisen. Die verhalten sich zu unserer Wirklichkeit wie der historische Ausnahmefall – wie die Rückkehr der Gefangenen nach Zion, wie der Fall der Mauer – zu unserem Alltag. Glauben und Hoffen in unserem Kummer heiß also: alles für möglich zu halten bei Gott.

Im Rückgriff auf den glücklichen Ausnahmefall formuliert der Sänger glückliche Ausgänge des Unglücks; sammelt sozusagen Evidenzen für Wendungen des Geschicks aus der Natur, aus dem Alltag seiner Hörer. Uns – mir jedenfalls – geht es schon manchmal so, dass mir das, was ich eigentlich weiß und zigmal erlebt habe, erst unwahrscheinlich war, ja unmöglich erschien, bevor es eintritt – und sei es die Wiederbelebung der Natur nach der Winterpause, oder Heilung nach schlimmem Schmerz. Solche guten Ausgänge, die wir immer schonmal erlebt haben und die wir sehr zurecht Gott zuschreiben, besingt der Sänger:

Herr, wende unser Schicksal zum Guten,
so wie du die Bäche in der Wüste füllst
nach langer Trockenzeit.
Wer unter Tränen mit der Saat beginnt,
wird unter Jubel die Ernte einbringen.
Noch geht er, geht weinend aufs Feld,
wenn er den Beutel zur Aussaat trägt.
Dann kommt er, kommt jubelnd zurück,
wenn er seine Garben nach Hause trägt.

Wie so oft legt die Bibel uns nahe, gegenwärtiges Leid von einem zukünftigen glücklichen Ausgang zu denken. Wir sollen, wie die Propheten das taten, unsere jetzige Lage im Licht unserer Erfahrungen glücklicher Ausgänge deuten: Regen nach der Dürre, Freude nach Tränen, haben wir schon erlebt – und sollen wir wieder erleben – wenn Gott will, warum sollte er nicht?

Manchmal trifft uns solcher Trost zu früh, er findet uns noch in der Lage der Untröstlichkeit, er klingt dann hohl und leer und wir hören ihn womöglich als bloße Vertröstung. Auch davon scheint unser Psalm zu wissen, wenn in seinen Bildern die Zeit vorausgesetzt wird, die Trost braucht. Saat und Ernte trennen Wochen, oft Monate; und selbst wenn unser Trost ein Jahr oder Jahre braucht – früher gab es das Trauerjahr, um uns die Zeit, die wir brauchen, einzuräumen – und selbst wenn unsere Trauer viel länger braucht: die Zeit des wirksamen Trostes soll nach Gottes Willen kommen.

Getröstet von der Aussicht auf Trost? Getröstet also von der bloßen Aussicht auf Trost, das könnte man für zu wenig halten. Was ist, spricht der Zauderer und Zweifler in mir, was ist, wenn uns noch am Ende, an jedem Ende, Trostlosigkeit gefangen hält und uns im Alptraum ungetrösteter Trauer fesselt? Wir wären wie in einem Alptraum, weil niemand unser Schicksal zum Guten wendete.

Dagegen steht außer unseren Erlösungserfahrungen, denen wir nur zu glauben haben, das Wort unseres Gottes wie in diesem Lied eines seiner Sänger. Aber das steht dagegen und darauf lasst uns hören: „Selig sind die Leidtragenden, denn sie sollen getröstet werden.“ Amen.

22. Sonntag nach Trinitatis, 27. Oktober 2024

Hört doch, was der Herr sagt: »Mach dich auf, führe einen Rechtsstreit mit den Bergen, auf dass die Hügel deine Stimme hören!«

Hört, ihr Berge, den Rechtsstreit des Herrn, ihr starken Grundfesten der Erde; denn der Herr will mit seinem Volk rechten und mit Israel ins Gericht gehen! »Was habe ich dir getan, mein Volk, und womit habe ich dich beschwert? Das sage mir! Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam. Mein Volk, denke doch daran, was Balak, der König von Moab, vorhatte und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete; wie du hinüberzogst von Schittim bis nach Gilgal, damit du erkennst, wie der Herr dir alles Gute getan hat.«

»Womit soll ich mich dem Herrn nahen, mich beugen vor dem Gott in der Höhe? Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen, mit einjährigen Kälbern? Wird wohl der Herr Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?«

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. (Buch des Propheten Micha 6,1-8)

Weil den Menschen aus der alttestamentlich-jüdischen Tradition das gesagt ist, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott, freuen sie sich an Wort und Gesetz Gottes und feiern das jährlich in einem frohen, fröhlichen, ausgelassenen Fest, dem Fest der Freude an der Tora, Simchat Tora. Es ist gut, dass dem Menschen von Gott gesagt ist, was gut ist. Und das muss gefeiert werden.

Vor etlichen Jahren bin ich mehr oder weniger durch Zufall in dieses Fest hineingeraten, in Jerusalem im Herbst und habe das miterleben können: Ausgelassenheit und Trunkenheit, Musik auf den Straßen, Singen und Tanzen, Torarollen in die Luft gehalten und Männer in religiöser Kleidung im Kinderreigen, reine und ansteckende Freude! Freude darüber, dass gesagt ist, von Gott gesagt ist, was gut ist.

Letztes Jahr an Simchat Tora war alles anders, als ausgerechnet an diesem Tag, genau an diesem Tag die schlimmsten Feinde der Juden – aber es gibt ja so viele Judenfeinde – das Land überfielen und seine Menschen massakrierten und die Festfreude in eine Totenklage verwandelten. Die ist bis heute nicht verklungen, sondern nur umso lauter und verstörender geworden über der sich aus dem Massaker der Hamas herausentwickelnden Gewalt und Gegengewalt, der Schläge und Gegenschläge, der Kriege und Gegenkriege, die uns – als hätten wir das nötig – gezeigt haben, was böse und abgrundtief böse ist.

Und so war dieses wunderbare Fest der Freude über das Gesetz Gottes in diesem Jahr beinahe zerrissen oder beinahe erdrückt zwischen seiner Idee und der Wirklichkeit, auf die sie traf; zwischen dem Bösen, das sich zeigt, und dem Guten, was uns gesagt ist. Als vergangenen Donnerstag Simchat Torah in Jerusalem und überall, wo jüdische Menschen leben, gefeiert wurde, geschah das ausweislich der Meldungen und Berichte nur gleichsam unter einem Schleier, einer Decke der Trauer, der Unsicherheit und des Zorns – vom Iron Dome darüber, ohne den Feier und Leben in Israel angesichts der fortdauernden Angriffe gar nicht möglich wären, zu schweigen .

Und dennoch haben sich offenkundig die wenigsten von der Feier dieses Festes abhalten lassen, haben dennoch und trotz allem im Getöse des Bösen die Stimme des Guten vernommen und gehört und sich sagen lassen, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.

Dem kommt zu Gute, dass unser schönes Prophetenwort ja selbst aus einer Streitsituation entsteht, in einen Streit hineingesprochen ist und diesen Streit erst beendet. Ein Streit, ein Rechtstreit wird geführt, es geht um Israel – wem sonst, ist man versucht zu fragen. Seine Lebensführung wird kritisiert. Niemand ist so israelkritisch wie die Propheten des alten Israel – da können selbst die modernen Antisemiten noch etwas lernen. Und der Streit sucht sich das größte mögliche Forum, die ganze Welt, die Grundfesten der Erde, alle sollen es mitbekommen und alle bekommen es mit. Gott selbst wird als Richter angerufen und sagt als Zeuge aus. Er rekapituliert seine Geschichte der Wohltaten am Volk Israel, Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei und Übereignung des neuen Landes, in dem Milch und Honig fließen. Das Land ist bekanntlich noch heute Gegenstand des Streits; und schon damals ist – grausig genug – von den eigenen Kindern als Opfer und Lösegeld die Rede. Mit ihnen zu bezahlen, ist Gottes Willen ausdrücklich nicht!

Sondern Gottes Willen an sein Volk und alle Menschen ist: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. Wie so oft in einem Streit führt ein Wechsel der Perspektive weiter. Die aufeinander fixierten Konfliktparteien sollen ihren Blick heben, sollen prüfen – nicht was sie schon immer gemeint und gesagt haben – sondern, was ihr Leben trägt, wie Gott ihr Leben trägt. Aber weil einem in dem in Rede stehenden Konflikt sofort einfällt, dass hier nicht ein Zuwenig sondern ein Zuviel der Religion das eigentliche Problem sein könnte – scheint sich hier doch ein völlig irre laufender religiöser Eifer und Wahn Bahn zu brechen: Wird wohl der Herr Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde? – deswegen und dagegen spricht die prophetische Weisheit von der Demut vor Gott. Damit sei hier nicht Unterwerfung sondern Selbstprüfung gemeint, also eine ehrliche Antwort auf die ehrliche Frage, ob das Gott jetzt wirklich so gemeint hat, wie ich es meine. Religiöse Demut wäre dann die Haltung, die zwischen Gottes und meinem Willen zu unterscheiden vermag und sich im Zweifel für Gottes Willen entscheidet. Nicht mein sondern dein Wille geschehe!

So wenig wir im Nahostkonflikt nur Beobachter sind, bleiben wir als Leser der Propheten des Alten Testaments bloße unbeteiligte Mithörer. Das Hört doch, was der Herr sagt ist auch zu uns gesagt, wenn wir es hören und wenn wir es denn hören wollen. Herausreden gilt dann nicht. Auf Nichtwissen können wir nicht plädieren. Denn: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.

Genau dieses berühmte doppelte Gebot der Liebe, der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten, empfiehlt uns Jesus aus seiner jüdischen Tradition der Toralehre als Zusammenfassung des Gesetzes, ja mehr noch, als Zusammenfassung des Glaubens und der Religion, und zwar ebenfalls in der offenen Haltung des Suchens und Empfangens, was der Prophet Micha hier Demut nennt. Wissen, dass ich nicht alles weiß. Schon gar nicht besserwissen, was andere vor uns wussten und doch Gott am besten weiß. Und gleichzeitig nicht so tun, als hätte ich davon nix gehört, was Gott uns gesagt hat, was uns gesagt ist.

17. Sonntag nach Trinitatis, 22. September 2024

Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben. (Galater 3,26-29)

„Jeder Mensch ist anders und darin sind wir gleich; und jeder hat das gleiche Recht auf seinen eigenen Willen und seine eigene Meinung“ – Das dürfte einer der ganz wenigen Glaubenssätze sein, auf den sich Heranwachsende einigen können; ein Glaubenssatz, dem man etwa in der Schule tagtäglich begegnet, vorzugsweise beim Vortrag noch der merkwürdigsten Ansichten in beinahe allen Fächern diesseits der Mathematik – da wird es schwierig mit dem Anders- und Eigensein. Multiplikation und Kurvendiskussion bieten wenig Raum für Individualität. Aber vielleicht ist auch das bloß ein individueller Irrtum meinerseits als Meinung getarnt, wenn doch mit der höheren Mathematik die Individualität überhaupt erst anfängt. So jedenfalls die Meinung eines alten Studienfreundes, der es immerhin zum Matheprofessor gebracht hat.

Den Höhen – und Tiefen – menschlicher Individualität entgehen wir scheinbar nicht; noch im Gewimmel eines Schulfestes wie am vergangenen Freitag bei herrlichstem Sonnenschein und entsprechend gut besucht, zeigt sich die scheinbar unendliche Vielfalt unserer menschlichen Individualität, obwohl sie doch dort sogar schon vorsortiert ist in Alters- und Berufsgruppen, in Schüler, Eltern und Lehrer, nach Wohnort und Lebensmittelpunkt, nach Altersstufen und Klassen, nach Moden und Anhängerschaften. Jeder Mensch ist anders. Jeder Jeck ist anders. Und jeder ist ein Jeck in den Augen der anderen. Das ist ok.

Das ist so lange ok, wie wir uns gegenseitig das Recht einräumen, anders und eigen zu sein, sich selbst eigen und anders als andere. Auf dem Schulfest ging das ganz gut – man soll sogar Bayernfans gesehen haben, die mit Anhängern von Dortmund sprachen; aber im Schulalltag ist das Aushalten der anderen schon schwieriger, umso mehr außerhalb des geschützten Raums einer höheren Lehranstalt. Andere Meinungen können ganz schön nerven, vor allem, wenn sie anders als meine sind. Toleranz ist schön, macht aber viel Arbeit. Insbesondere wenn die andere Meinung als Angriff verstanden wird; noch mehr wenn die andere Meinung als Angriff – als Angriff auf mich – gemeint ist. Wie soll man Intoleranz tolerieren?

Der Apostel Paulus schreibt seine Zeilen, die ich als Aufruf zu Einheit und Einigkeit angesichts und trotz unserer Verschiedenheiten verstehe, in einem Brief voller Beschuldigungen und Verdächtigungen, in einem Brief der Abwehr von Angriffen und eigener Angriffe.

Im Grunde scheint er fertig zu sein mit denen in Galatien. Die haben sich seiner Meinung nach zu weit entfernt vom christlichen Glauben, sie vertreten Meinungen außerhalb des Spektrums, das Paulus tolerieren kann, weil sie ihn – den christlichen Glauben – fundamental verfehlen. Wie soll man mit denen reden, die doch selbst nur noch schreien, beschimpfen und beleidigen? Und dennoch dieser Brief.

Ich muss gestehen, dass ich in vergleichbaren, oder sogar weit weniger schlimmen Situationen den Kontakt abgebrochen und keinen Brief geschrieben habe. Keinen Sinn mehr im Fortgang einer Kommunikation, einer Beziehung gesehen habe, die nur noch im Austausch von Gemeinheiten und Feindseligkeiten bestand. Das Hin-und-her der Vorwürfe und Beleidigungen irgendwann abgebrochen habe. Das Unerträgliche nicht mehr ertragen wollte. Stolz bin ich darauf nicht – aber auch nicht stark genug, es zu ändern.

Trotz allen Streits schreibt Paulus einen Brief, vielleicht einen letzten an diese Gemeinden in Galatien, weitere Korrespondenz kennen wir nicht, aber aus dieser Leerstelle den Schluss zu ziehen, das mit ihm ein Ende der Kommunikation erreicht ist, wäre doch mehr als wir wissen können. Zumindest schlägt Paulus bei aller Deutlichkeit die Tür nicht zu. Und gerade an unserer Stelle entwirft er ein Modell versöhnter Verschiedenheit, des gegenseitigen Andersseins, das die christliche Gemeinschaft seiner Meinung nach auszeichnet.

Mit Recht heben die Interpreten darauf ab, dass Paulus von einer umfassenden, alle Trennungen überwindenden Gemeinschaft in Christus spricht. Wer die christliche Botschaft wirklich ernstnimmt, kann und darf nicht nach Herkunft, Geschlecht oder Stand diskriminieren: Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Mit dieser Aussage ist Paulus seiner Zeit – und man muss sagen: sich selbst – weit voraus, wenn hier die Gleichheit aller Christenmenschen behauptet wird. Und alle unsere kirchlichen Unternehmungen, die hier passen müssen, sind unserer und jeder Zeit hoffnungslos zurück.

Indem Paulus aber die Gleichheit in Christus ausdrücklich dieser Verschiedenen – der Juden und Griechen, der Sklaven und Freien, der Männer und Frauen – nennt, würdigt er gerade deren Verschiedenheiten und ihre Gegensätze. Er benennt hier keineswegs zufällig – als ginge es um Äpfel und Birnen, blau und rot, hell und dunkel – sondern die seiner Meinung nach unser Menschsein definierenden Unterschiede der Herkunft, des Stands und des Geschlechts; und lädt uns damit ein, hier weiterzudenken.

Die Summe der Gleichen entsteht aus ihrer Vielfalt. Insgesamt fehlt uns etwas, wenn uns die einzelnen, eigenen auch gegensätzlichen Perspektiven fehlen. Das gilt besonders für von Paulus genannten Gegensätze der Herkunft, des Standes und des Geschlechts.

Was Wirtschaftsorganisationen und Gesellschaften erst langsam gelernt haben und immer wieder lernen müssen, dass sie von solcher gegensätzlichen Vielfalt profitieren, hat die christliche Kirche seit jeher erlebt:

  • Die Bewahrung ihres jüdischen Ursprungs, der Strom der biblischen Erzählung, das religiöse Leben der Gebete, der Lieder, der Festzeiten, des Feiertags, die kostbare Kultur der Barmherzigkeit – es gibt wenig, was wir für christlich halten, was nicht schon jüdisch wäre
  • Der Kontakt mit anderen Kulturen und Denkweisen, der Griechen zuerst, auch der Römer, der Afrikaner, der Germanen, die durchaus mehr als Bier, Bratwurst und Sauerkraut zum christlichen Leben beigetragen haben (ohne das geringzuschätzen!)
  • Die unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven der Geschlechter und ihrer Begegnung, die wir für ein Gleichnis Gottes halten dürfen: Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
  • Die Gegensätze von Arm und Reich, Herr und Knecht; christliche Theologie ist notwendig immer Befreiungstheologie; aber sie lebt auch von der Lebensart der Wohlhabenden, die ihren Wohlstand nicht im Geiz behaupten, sondern als Großzügigkeit vermehren – zum eigenen Vorteil wie zum Wohl der anderen.

Paulus lädt uns in Gottes Namen ein, unsere Vielfalt zu entdecken, sie zu benennen und gegenseitig in Beziehung zu setzen. Jeder Mensch ist anders – und das ist gut so. Jeder Mensch ist gleich, auch das ist sehr gut so.

14. Sonntag nach Trinitatis, 1. September 2024, Begrüßung der Konfirmanden

Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden. (Römer 8, 14-17)

„Nimm hin den Heiligen Geist, Schutz und Schirm vor allem Argen, Stärke und Hilfe zu allem Guten, aus der gnädigen Hand Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“

So, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, werden wir euch bei eurer Konfirmation Gottes Segen zusprechen und seinen Geist erbitten, am 1. Juni des 2025, am Sonntag Exaudi, dem Konfirmationssonntag unserer Thomasgemeinde, ungefähr zur selben Uhrzeit wie jetzt gerade, also ziemlich genau neun Monate von jetzt ab; ist das jetzt kurz oder lang?

Kommt darauf an! Kommt darauf an, was für diese Zeit vorgesehen ist. Ungefähr so lange habt ihr und haben wir alle im Mutterleib verbracht, um zu werden, was wir sind; und so lange bleibt uns also gemeinsam, um das zu fühlen, zu denken und zu sagen, was der Psalmbeter auf seine Weise sagt und singt: „Ich danke dir – Gott – dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Es war dir mein Gebein nicht verborgen, da ich im Verborgenen gemacht wurde, da ich gebildet wurde unten in der Erde. Deine Augen sahen mich, da ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.“ (Psalm 139, 14.13.15-16)

Das ist doch wohl aus diesem Geist gesprochen, der uns zu Gottes Kindern macht, uns also glauben lässt, dass wir nicht mehr oder weniger zufällige Produkte eines evolutionären Prozesses sind, nicht unterworfen unter die „Knechtschaft“ der Natur sind, sondern dass im Wunsch unserer Eltern, uns auf die Welt zu bringen, sich – bewusst oder unbewusst – der freie Wille Gottes spiegelt, uns unser Leben zu geben, oder eben in den Worten eines herrlich kitschigen Taufliedes: „Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur, ganz egal, ob du dein Lebenslied in Moll singst oder Dur. Du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu. Du bist Du.“ (Jürgen Werth 1976, EG+ 60)

Damit wäre eigentlich schon alles gesagt – allein, Ihr habt es schon vermutet – alles gesagt ist erst dann, wenn dem Pfarrer nichts mehr einfällt. Denn auch wenn ich mit der Botschaft – jetzt mal diese Botschaft in den Worten Martin Luthers: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mit Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält … mit allem, was not tut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn´ all mein Verdienst und Würdigkeit …“; wenn ich auch mit dieser Botschaft ganz und gar einverstanden bin – über Form und Formulierung lässt sich und werden wir reden – stört mich die in unserem Predigttext des Apostel Paulus beinahe selbstverständliche Gegenüberstellung des Geistes der Knechtschaft, den wir hinter uns lassen, mit dem Geist der Kindschaft, den wir empfangen: Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen.

Warum steht hier nicht, warum stellt Paulus nicht den Geist der Freiheit gegen den der Knechtschaft? Warum scheint uns Gott aus der Knechtschaft der natürlichen Zwänge in die elterlichen Zwänge der Kindschaft zu „befreien“ – und nicht gleich und nicht richtig in die erwachsene Freiheit freier Menschen? Gerade für Jugendliche geht es doch um neu zu gewinnende Freiheit aus der Kindlichkeit heraus. Konfirmation ist doch eigentlich als ein erster Schritt in die Freiheit der Erwachsenen gemeint, oder etwa nicht? Wie attraktiv wäre die Botschaft zur Konfirmation, jetzt für immer Kind zu sein und zu bleiben?

Diese Fragen sind umso berechtigter, da Paulus an anderer Stelle – genauer: immer wieder und an zahlreichen Stellen seiner Korrespondenz – die Freiheit von uns Christenmenschen beschreibt und geradezu der Apostel der Freiheit genannt zu werden verdient: „Wo der Geist Gottes weht, da ist Freiheit“; „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ „Alles ist erlaubt“.

Gerade dieses Wort „Alles ist erlaubt“, das man vielleicht nicht in der Bibel vermutet hätte – es ist zu erwarten, dass wir in den kommenden neun Monaten lauter unerwartete Entdeckungen in der Bibel machen werden – gerade das paulinische „Alles ist erlaubt“ klingt zunächst eher nach Willkürfreiheit als verantwortlicher Gottesrede. Zu der wird es aber sogleich, wenn der Apostel ergänzt und entgegensetzt: „Alles ist erlaubt – aber nicht alles ist zuträglich“. Er führt uns sofort die Ambivalenzen und die Dialektik der Freiheit vor, z.B. dass die Freiheit der Stärkeren die Unfreiheit der Schwächeren bedingt, dass umso größere Freiheit in umso größere Unfreiheit führen kann, dass also Freiheit zu begrenzen sei, weil meine Freiheit durch deine Freiheit immer schon begrenzt ist; dass aber umgekehrt Grenzen und Regeln nur insoweit berechtigt sind, als dass sie Freiheit ermöglichen. Solange es niemanden juckt, drehe ich meine Musik auf und fahre, so schnell ich kann – sonst eben nicht.

Um Mensch zu sein, zum Menschsein gehört es dazu, gemeinsam freiheitsermöglichende Regeln des Zusammenlebens zu finden und sie zu befolgen. Falls das stimmen sollte – und ich meine natürlich, dass da was dran ist – wird allerdings der Begriff „Autonomie“, also „Selbstgesetzlichkeit“ oder „Eigengesetzlichkeit“ ganz problematisch. Er taugt viel besser für die Leute, die „Autonomen“ halt, die früher am 1. Mai Innenstädte verwüstet und Polizisten verhauen haben, als zum scheinbaren Inbegriff der Menschenwürde, zu dem es höchste Gerichte jüngst gemacht haben – unter völliger Missachtung, dass mein Wunsch und Wille keineswegs durchweg meinem besten eigenen Interesse entspricht, wie schon – na wer schon – Paulus erkannte: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; aber das Böse, das ich nicht will, das tue ich“.

Freiheit ist schön – macht aber viel Arbeit. Und Autonomie und Selbstbestimmung führen nur dann Richtung Menschenwürde, wenn wir diese menschliche Fehlbarkeit – die Theologen früher Sünde genannt haben – mit einrechnen und sie gemeinsam – im gemeinsamen Gespräch bearbeiten, auch im Gespräch am Donnerstagnachmittag zur Konfizeit; und auch mit denen, die uns als Väter und Mütter des Glaubens vorangegangen sind, Paulus etwa.

Zu entdecken wäre dabei, dass für Christenmenschen kein Widerspruch darin bestehen muss, die eigene Selbstbestimmung in Gottes Willen begründet zu sehen, meine und aller Menschen Würde: „Ich danke dir – Gott – dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“