22. Sonntag nach Trinitatis, 27. Oktober 2024

Hört doch, was der Herr sagt: »Mach dich auf, führe einen Rechtsstreit mit den Bergen, auf dass die Hügel deine Stimme hören!«

Hört, ihr Berge, den Rechtsstreit des Herrn, ihr starken Grundfesten der Erde; denn der Herr will mit seinem Volk rechten und mit Israel ins Gericht gehen! »Was habe ich dir getan, mein Volk, und womit habe ich dich beschwert? Das sage mir! Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam. Mein Volk, denke doch daran, was Balak, der König von Moab, vorhatte und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete; wie du hinüberzogst von Schittim bis nach Gilgal, damit du erkennst, wie der Herr dir alles Gute getan hat.«

»Womit soll ich mich dem Herrn nahen, mich beugen vor dem Gott in der Höhe? Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen, mit einjährigen Kälbern? Wird wohl der Herr Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?«

Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. (Buch des Propheten Micha 6,1-8)

Weil den Menschen aus der alttestamentlich-jüdischen Tradition das gesagt ist, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott, freuen sie sich an Wort und Gesetz Gottes und feiern das jährlich in einem frohen, fröhlichen, ausgelassenen Fest, dem Fest der Freude an der Tora, Simchat Tora. Es ist gut, dass dem Menschen von Gott gesagt ist, was gut ist. Und das muss gefeiert werden.

Vor etlichen Jahren bin ich mehr oder weniger durch Zufall in dieses Fest hineingeraten, in Jerusalem im Herbst und habe das miterleben können: Ausgelassenheit und Trunkenheit, Musik auf den Straßen, Singen und Tanzen, Torarollen in die Luft gehalten und Männer in religiöser Kleidung im Kinderreigen, reine und ansteckende Freude! Freude darüber, dass gesagt ist, von Gott gesagt ist, was gut ist.

Letztes Jahr an Simchat Tora war alles anders, als ausgerechnet an diesem Tag, genau an diesem Tag die schlimmsten Feinde der Juden – aber es gibt ja so viele Judenfeinde – das Land überfielen und seine Menschen massakrierten und die Festfreude in eine Totenklage verwandelten. Die ist bis heute nicht verklungen, sondern nur umso lauter und verstörender geworden über der sich aus dem Massaker der Hamas herausentwickelnden Gewalt und Gegengewalt, der Schläge und Gegenschläge, der Kriege und Gegenkriege, die uns – als hätten wir das nötig – gezeigt haben, was böse und abgrundtief böse ist.

Und so war dieses wunderbare Fest der Freude über das Gesetz Gottes in diesem Jahr beinahe zerrissen oder beinahe erdrückt zwischen seiner Idee und der Wirklichkeit, auf die sie traf; zwischen dem Bösen, das sich zeigt, und dem Guten, was uns gesagt ist. Als vergangenen Donnerstag Simchat Torah in Jerusalem und überall, wo jüdische Menschen leben, gefeiert wurde, geschah das ausweislich der Meldungen und Berichte nur gleichsam unter einem Schleier, einer Decke der Trauer, der Unsicherheit und des Zorns – vom Iron Dome darüber, ohne den Feier und Leben in Israel angesichts der fortdauernden Angriffe gar nicht möglich wären, zu schweigen .

Und dennoch haben sich offenkundig die wenigsten von der Feier dieses Festes abhalten lassen, haben dennoch und trotz allem im Getöse des Bösen die Stimme des Guten vernommen und gehört und sich sagen lassen, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.

Dem kommt zu Gute, dass unser schönes Prophetenwort ja selbst aus einer Streitsituation entsteht, in einen Streit hineingesprochen ist und diesen Streit erst beendet. Ein Streit, ein Rechtstreit wird geführt, es geht um Israel – wem sonst, ist man versucht zu fragen. Seine Lebensführung wird kritisiert. Niemand ist so israelkritisch wie die Propheten des alten Israel – da können selbst die modernen Antisemiten noch etwas lernen. Und der Streit sucht sich das größte mögliche Forum, die ganze Welt, die Grundfesten der Erde, alle sollen es mitbekommen und alle bekommen es mit. Gott selbst wird als Richter angerufen und sagt als Zeuge aus. Er rekapituliert seine Geschichte der Wohltaten am Volk Israel, Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei und Übereignung des neuen Landes, in dem Milch und Honig fließen. Das Land ist bekanntlich noch heute Gegenstand des Streits; und schon damals ist – grausig genug – von den eigenen Kindern als Opfer und Lösegeld die Rede. Mit ihnen zu bezahlen, ist Gottes Willen ausdrücklich nicht!

Sondern Gottes Willen an sein Volk und alle Menschen ist: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott. Wie so oft in einem Streit führt ein Wechsel der Perspektive weiter. Die aufeinander fixierten Konfliktparteien sollen ihren Blick heben, sollen prüfen – nicht was sie schon immer gemeint und gesagt haben – sondern, was ihr Leben trägt, wie Gott ihr Leben trägt. Aber weil einem in dem in Rede stehenden Konflikt sofort einfällt, dass hier nicht ein Zuwenig sondern ein Zuviel der Religion das eigentliche Problem sein könnte – scheint sich hier doch ein völlig irre laufender religiöser Eifer und Wahn Bahn zu brechen: Wird wohl der Herr Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde? – deswegen und dagegen spricht die prophetische Weisheit von der Demut vor Gott. Damit sei hier nicht Unterwerfung sondern Selbstprüfung gemeint, also eine ehrliche Antwort auf die ehrliche Frage, ob das Gott jetzt wirklich so gemeint hat, wie ich es meine. Religiöse Demut wäre dann die Haltung, die zwischen Gottes und meinem Willen zu unterscheiden vermag und sich im Zweifel für Gottes Willen entscheidet. Nicht mein sondern dein Wille geschehe!

So wenig wir im Nahostkonflikt nur Beobachter sind, bleiben wir als Leser der Propheten des Alten Testaments bloße unbeteiligte Mithörer. Das Hört doch, was der Herr sagt ist auch zu uns gesagt, wenn wir es hören und wenn wir es denn hören wollen. Herausreden gilt dann nicht. Auf Nichtwissen können wir nicht plädieren. Denn: Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.

Genau dieses berühmte doppelte Gebot der Liebe, der Liebe zu Gott und der Liebe zum Nächsten, empfiehlt uns Jesus aus seiner jüdischen Tradition der Toralehre als Zusammenfassung des Gesetzes, ja mehr noch, als Zusammenfassung des Glaubens und der Religion, und zwar ebenfalls in der offenen Haltung des Suchens und Empfangens, was der Prophet Micha hier Demut nennt. Wissen, dass ich nicht alles weiß. Schon gar nicht besserwissen, was andere vor uns wussten und doch Gott am besten weiß. Und gleichzeitig nicht so tun, als hätte ich davon nix gehört, was Gott uns gesagt hat, was uns gesagt ist.

17. Sonntag nach Trinitatis, 22. September 2024

Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben. (Galater 3,26-29)

„Jeder Mensch ist anders und darin sind wir gleich; und jeder hat das gleiche Recht auf seinen eigenen Willen und seine eigene Meinung“ – Das dürfte einer der ganz wenigen Glaubenssätze sein, auf den sich Heranwachsende einigen können; ein Glaubenssatz, dem man etwa in der Schule tagtäglich begegnet, vorzugsweise beim Vortrag noch der merkwürdigsten Ansichten in beinahe allen Fächern diesseits der Mathematik – da wird es schwierig mit dem Anders- und Eigensein. Multiplikation und Kurvendiskussion bieten wenig Raum für Individualität. Aber vielleicht ist auch das bloß ein individueller Irrtum meinerseits als Meinung getarnt, wenn doch mit der höheren Mathematik die Individualität überhaupt erst anfängt. So jedenfalls die Meinung eines alten Studienfreundes, der es immerhin zum Matheprofessor gebracht hat.

Den Höhen – und Tiefen – menschlicher Individualität entgehen wir scheinbar nicht; noch im Gewimmel eines Schulfestes wie am vergangenen Freitag bei herrlichstem Sonnenschein und entsprechend gut besucht, zeigt sich die scheinbar unendliche Vielfalt unserer menschlichen Individualität, obwohl sie doch dort sogar schon vorsortiert ist in Alters- und Berufsgruppen, in Schüler, Eltern und Lehrer, nach Wohnort und Lebensmittelpunkt, nach Altersstufen und Klassen, nach Moden und Anhängerschaften. Jeder Mensch ist anders. Jeder Jeck ist anders. Und jeder ist ein Jeck in den Augen der anderen. Das ist ok.

Das ist so lange ok, wie wir uns gegenseitig das Recht einräumen, anders und eigen zu sein, sich selbst eigen und anders als andere. Auf dem Schulfest ging das ganz gut – man soll sogar Bayernfans gesehen haben, die mit Anhängern von Dortmund sprachen; aber im Schulalltag ist das Aushalten der anderen schon schwieriger, umso mehr außerhalb des geschützten Raums einer höheren Lehranstalt. Andere Meinungen können ganz schön nerven, vor allem, wenn sie anders als meine sind. Toleranz ist schön, macht aber viel Arbeit. Insbesondere wenn die andere Meinung als Angriff verstanden wird; noch mehr wenn die andere Meinung als Angriff – als Angriff auf mich – gemeint ist. Wie soll man Intoleranz tolerieren?

Der Apostel Paulus schreibt seine Zeilen, die ich als Aufruf zu Einheit und Einigkeit angesichts und trotz unserer Verschiedenheiten verstehe, in einem Brief voller Beschuldigungen und Verdächtigungen, in einem Brief der Abwehr von Angriffen und eigener Angriffe.

Im Grunde scheint er fertig zu sein mit denen in Galatien. Die haben sich seiner Meinung nach zu weit entfernt vom christlichen Glauben, sie vertreten Meinungen außerhalb des Spektrums, das Paulus tolerieren kann, weil sie ihn – den christlichen Glauben – fundamental verfehlen. Wie soll man mit denen reden, die doch selbst nur noch schreien, beschimpfen und beleidigen? Und dennoch dieser Brief.

Ich muss gestehen, dass ich in vergleichbaren, oder sogar weit weniger schlimmen Situationen den Kontakt abgebrochen und keinen Brief geschrieben habe. Keinen Sinn mehr im Fortgang einer Kommunikation, einer Beziehung gesehen habe, die nur noch im Austausch von Gemeinheiten und Feindseligkeiten bestand. Das Hin-und-her der Vorwürfe und Beleidigungen irgendwann abgebrochen habe. Das Unerträgliche nicht mehr ertragen wollte. Stolz bin ich darauf nicht – aber auch nicht stark genug, es zu ändern.

Trotz allen Streits schreibt Paulus einen Brief, vielleicht einen letzten an diese Gemeinden in Galatien, weitere Korrespondenz kennen wir nicht, aber aus dieser Leerstelle den Schluss zu ziehen, das mit ihm ein Ende der Kommunikation erreicht ist, wäre doch mehr als wir wissen können. Zumindest schlägt Paulus bei aller Deutlichkeit die Tür nicht zu. Und gerade an unserer Stelle entwirft er ein Modell versöhnter Verschiedenheit, des gegenseitigen Andersseins, das die christliche Gemeinschaft seiner Meinung nach auszeichnet.

Mit Recht heben die Interpreten darauf ab, dass Paulus von einer umfassenden, alle Trennungen überwindenden Gemeinschaft in Christus spricht. Wer die christliche Botschaft wirklich ernstnimmt, kann und darf nicht nach Herkunft, Geschlecht oder Stand diskriminieren: Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Mit dieser Aussage ist Paulus seiner Zeit – und man muss sagen: sich selbst – weit voraus, wenn hier die Gleichheit aller Christenmenschen behauptet wird. Und alle unsere kirchlichen Unternehmungen, die hier passen müssen, sind unserer und jeder Zeit hoffnungslos zurück.

Indem Paulus aber die Gleichheit in Christus ausdrücklich dieser Verschiedenen – der Juden und Griechen, der Sklaven und Freien, der Männer und Frauen – nennt, würdigt er gerade deren Verschiedenheiten und ihre Gegensätze. Er benennt hier keineswegs zufällig – als ginge es um Äpfel und Birnen, blau und rot, hell und dunkel – sondern die seiner Meinung nach unser Menschsein definierenden Unterschiede der Herkunft, des Stands und des Geschlechts; und lädt uns damit ein, hier weiterzudenken.

Die Summe der Gleichen entsteht aus ihrer Vielfalt. Insgesamt fehlt uns etwas, wenn uns die einzelnen, eigenen auch gegensätzlichen Perspektiven fehlen. Das gilt besonders für von Paulus genannten Gegensätze der Herkunft, des Standes und des Geschlechts.

Was Wirtschaftsorganisationen und Gesellschaften erst langsam gelernt haben und immer wieder lernen müssen, dass sie von solcher gegensätzlichen Vielfalt profitieren, hat die christliche Kirche seit jeher erlebt:

  • Die Bewahrung ihres jüdischen Ursprungs, der Strom der biblischen Erzählung, das religiöse Leben der Gebete, der Lieder, der Festzeiten, des Feiertags, die kostbare Kultur der Barmherzigkeit – es gibt wenig, was wir für christlich halten, was nicht schon jüdisch wäre
  • Der Kontakt mit anderen Kulturen und Denkweisen, der Griechen zuerst, auch der Römer, der Afrikaner, der Germanen, die durchaus mehr als Bier, Bratwurst und Sauerkraut zum christlichen Leben beigetragen haben (ohne das geringzuschätzen!)
  • Die unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven der Geschlechter und ihrer Begegnung, die wir für ein Gleichnis Gottes halten dürfen: Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
  • Die Gegensätze von Arm und Reich, Herr und Knecht; christliche Theologie ist notwendig immer Befreiungstheologie; aber sie lebt auch von der Lebensart der Wohlhabenden, die ihren Wohlstand nicht im Geiz behaupten, sondern als Großzügigkeit vermehren – zum eigenen Vorteil wie zum Wohl der anderen.

Paulus lädt uns in Gottes Namen ein, unsere Vielfalt zu entdecken, sie zu benennen und gegenseitig in Beziehung zu setzen. Jeder Mensch ist anders – und das ist gut so. Jeder Mensch ist gleich, auch das ist sehr gut so.

14. Sonntag nach Trinitatis, 1. September 2024, Begrüßung der Konfirmanden

Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, da wir ja mit ihm leiden, damit wir auch mit ihm zur Herrlichkeit erhoben werden. (Römer 8, 14-17)

„Nimm hin den Heiligen Geist, Schutz und Schirm vor allem Argen, Stärke und Hilfe zu allem Guten, aus der gnädigen Hand Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“

So, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, werden wir euch bei eurer Konfirmation Gottes Segen zusprechen und seinen Geist erbitten, am 1. Juni des 2025, am Sonntag Exaudi, dem Konfirmationssonntag unserer Thomasgemeinde, ungefähr zur selben Uhrzeit wie jetzt gerade, also ziemlich genau neun Monate von jetzt ab; ist das jetzt kurz oder lang?

Kommt darauf an! Kommt darauf an, was für diese Zeit vorgesehen ist. Ungefähr so lange habt ihr und haben wir alle im Mutterleib verbracht, um zu werden, was wir sind; und so lange bleibt uns also gemeinsam, um das zu fühlen, zu denken und zu sagen, was der Psalmbeter auf seine Weise sagt und singt: „Ich danke dir – Gott – dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Es war dir mein Gebein nicht verborgen, da ich im Verborgenen gemacht wurde, da ich gebildet wurde unten in der Erde. Deine Augen sahen mich, da ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war.“ (Psalm 139, 14.13.15-16)

Das ist doch wohl aus diesem Geist gesprochen, der uns zu Gottes Kindern macht, uns also glauben lässt, dass wir nicht mehr oder weniger zufällige Produkte eines evolutionären Prozesses sind, nicht unterworfen unter die „Knechtschaft“ der Natur sind, sondern dass im Wunsch unserer Eltern, uns auf die Welt zu bringen, sich – bewusst oder unbewusst – der freie Wille Gottes spiegelt, uns unser Leben zu geben, oder eben in den Worten eines herrlich kitschigen Taufliedes: „Du bist gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur, ganz egal, ob du dein Lebenslied in Moll singst oder Dur. Du bist ein Gedanke Gottes, ein genialer noch dazu. Du bist Du.“ (Jürgen Werth 1976, EG+ 60)

Damit wäre eigentlich schon alles gesagt – allein, Ihr habt es schon vermutet – alles gesagt ist erst dann, wenn dem Pfarrer nichts mehr einfällt. Denn auch wenn ich mit der Botschaft – jetzt mal diese Botschaft in den Worten Martin Luthers: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mit Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält … mit allem, was not tut für Leib und Leben, mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel bewahrt; und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn´ all mein Verdienst und Würdigkeit …“; wenn ich auch mit dieser Botschaft ganz und gar einverstanden bin – über Form und Formulierung lässt sich und werden wir reden – stört mich die in unserem Predigttext des Apostel Paulus beinahe selbstverständliche Gegenüberstellung des Geistes der Knechtschaft, den wir hinter uns lassen, mit dem Geist der Kindschaft, den wir empfangen: Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen.

Warum steht hier nicht, warum stellt Paulus nicht den Geist der Freiheit gegen den der Knechtschaft? Warum scheint uns Gott aus der Knechtschaft der natürlichen Zwänge in die elterlichen Zwänge der Kindschaft zu „befreien“ – und nicht gleich und nicht richtig in die erwachsene Freiheit freier Menschen? Gerade für Jugendliche geht es doch um neu zu gewinnende Freiheit aus der Kindlichkeit heraus. Konfirmation ist doch eigentlich als ein erster Schritt in die Freiheit der Erwachsenen gemeint, oder etwa nicht? Wie attraktiv wäre die Botschaft zur Konfirmation, jetzt für immer Kind zu sein und zu bleiben?

Diese Fragen sind umso berechtigter, da Paulus an anderer Stelle – genauer: immer wieder und an zahlreichen Stellen seiner Korrespondenz – die Freiheit von uns Christenmenschen beschreibt und geradezu der Apostel der Freiheit genannt zu werden verdient: „Wo der Geist Gottes weht, da ist Freiheit“; „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ „Alles ist erlaubt“.

Gerade dieses Wort „Alles ist erlaubt“, das man vielleicht nicht in der Bibel vermutet hätte – es ist zu erwarten, dass wir in den kommenden neun Monaten lauter unerwartete Entdeckungen in der Bibel machen werden – gerade das paulinische „Alles ist erlaubt“ klingt zunächst eher nach Willkürfreiheit als verantwortlicher Gottesrede. Zu der wird es aber sogleich, wenn der Apostel ergänzt und entgegensetzt: „Alles ist erlaubt – aber nicht alles ist zuträglich“. Er führt uns sofort die Ambivalenzen und die Dialektik der Freiheit vor, z.B. dass die Freiheit der Stärkeren die Unfreiheit der Schwächeren bedingt, dass umso größere Freiheit in umso größere Unfreiheit führen kann, dass also Freiheit zu begrenzen sei, weil meine Freiheit durch deine Freiheit immer schon begrenzt ist; dass aber umgekehrt Grenzen und Regeln nur insoweit berechtigt sind, als dass sie Freiheit ermöglichen. Solange es niemanden juckt, drehe ich meine Musik auf und fahre, so schnell ich kann – sonst eben nicht.

Um Mensch zu sein, zum Menschsein gehört es dazu, gemeinsam freiheitsermöglichende Regeln des Zusammenlebens zu finden und sie zu befolgen. Falls das stimmen sollte – und ich meine natürlich, dass da was dran ist – wird allerdings der Begriff „Autonomie“, also „Selbstgesetzlichkeit“ oder „Eigengesetzlichkeit“ ganz problematisch. Er taugt viel besser für die Leute, die „Autonomen“ halt, die früher am 1. Mai Innenstädte verwüstet und Polizisten verhauen haben, als zum scheinbaren Inbegriff der Menschenwürde, zu dem es höchste Gerichte jüngst gemacht haben – unter völliger Missachtung, dass mein Wunsch und Wille keineswegs durchweg meinem besten eigenen Interesse entspricht, wie schon – na wer schon – Paulus erkannte: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; aber das Böse, das ich nicht will, das tue ich“.

Freiheit ist schön – macht aber viel Arbeit. Und Autonomie und Selbstbestimmung führen nur dann Richtung Menschenwürde, wenn wir diese menschliche Fehlbarkeit – die Theologen früher Sünde genannt haben – mit einrechnen und sie gemeinsam – im gemeinsamen Gespräch bearbeiten, auch im Gespräch am Donnerstagnachmittag zur Konfizeit; und auch mit denen, die uns als Väter und Mütter des Glaubens vorangegangen sind, Paulus etwa.

Zu entdecken wäre dabei, dass für Christenmenschen kein Widerspruch darin bestehen muss, die eigene Selbstbestimmung in Gottes Willen begründet zu sehen, meine und aller Menschen Würde: „Ich danke dir – Gott – dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.“

Sommerkirche mit der Predigtreihe „Bilder aus dem Paradies“, Sonntag 21. Juli 2024

„Nacktheit als Freiheit“

Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Du darfst essen von allen Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tage, da du von ihm isst, musst du des Todes sterben. (1. Mose 2,15-17) 

Und die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu der Frau: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten? Da sprach die Frau zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet! Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. (1. Mose 3, 1-7) 

Zur neuen Theatersaison werden wir Wiesbadener – also ein paar Dutzend von uns – per öffentlicher Ausschreibung zur Teilnahme an einer Performance der österreichischen Künstlerin Doris Uhlich eingeladen; der Performance „Habitat“, die auch schon an anderen Orten zwischen Trondheim in Norwegen und Marseille in Südfrankreich stattgefunden hat, und zu der es heißt: „Habitat ist eine Utopie. Eine schamlose, aber auch schambefreite Hymne auf den nackten Körper jenseits von kulturellen Einschreibungen und gängigen Schönheitsidealen. Der Körper wird nicht zum Fetisch, zum Objekt, degradiert und Fleischlichkeit nicht metaphorisch oder poetisch ideologisiert, sondern materiell aufgefasst und dabei mit seiner ganzen Masse und Wucht, aber auch seiner Fragilität gezeigt.“ (dorisuhlich.at)

Mir scheint es auch in dieser Perfomance um Darstellung und Spiel mit dem nackten Menschen – also um Nacktheit als Freiheit – zu gehen im Kontext des Paradieses, das auch als Utopie gedacht war; ganz anders und ganz genauso wie in unserem Bild, unseren Bildern von Albrecht Dürer aus dem Jahr 1507.

Adam und Eva, Albrecht Dürer Werkstatt, Herkunft/Rechte: Landesmuseum Mainz / Ursula Rudischer (CC BY-NC-SA)

(Allerdings sehen wir Dürers Bild hier „nur“ in einer exzellenten, sehr frühen Kopie, möglicherweise einer Werkstattkopie, die heute für uns gut erreichbar im Mainzer Landesmuseum hängt, als Teil der berühmten „Napoleonischen Schenkung“, die eine ganze Reihe zusammengeraubter Bilder unter anderem nach Mainz geführt hat. Das Original hingegen befindet sich im Prado in Madrid, ist also für uns um einiges aufwendiger zu besuchen, aber ebenfalls ein Stück Raubkunst, das in den Wirren der Kriege, hier des Dreißigjährigen Krieges nach Schweden entführt und von dort durch die zum Katholizismus konvertierte Königstochter Christina dem König von Spanien geschenkt worden war.)

Der Künstler feiert die menschlichen Körper, wie er sie sieht und wie er sie auf seinen Reisen in Italien zu sehen gelernt hat. Bis in die Körperhaltung und die Stellung der Füße hinein spiegeln seine Bilder das Schönheitsideal der Antike, das in der Renaissance wiederentdeckt und wiedererweckt wurde und in dem wir bis heute klassische Schönheit erkennen. Es ist damit mehr als nur ein „gängiges Schönheitsideal“ und Ergebnis „kultureller Einschreibung“ sondern über Zeiten und Räume hinwegweisender und wiedererkennbarer Inbegriff der Schönheit – wie auch Inbegriff der Freiheit, sie zu zeigen und darzustellen. Wenn es das Paradies gibt, so lässt sich vorstellen, dann sehen die Menschen dort aus wie dieser Adam und diese Eva des Malers Dürer.

Sicherlich um unsere Aufmerksamkeit auf die beiden zu konzentrieren präsentiert er die beiden vor schwarzem Hintergrund und mit nur wenigen Requisiten: dem Baum und seinen grazil wachsenden Ästlein, die das Allernötigste bedecken; außerdem dem Apfel, der Schlange. Damit ist die ganze Geschichte erzählt – oder lässt sie uns im Kopf und in Gedanken nacherzählen. Man kann glauben, dass sie sich hier noch gerade im paradiesischen Urzustand befinden: schamlos und frei. Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht.

Das wird sich ändern – und wir können sie uns vorstellen, wie sie nach dem Biss in den Apfel in das Dunkel der Geschichte hinein verschwinden und uns die Mühen des Daseins vererben. Nur die?

Einen Schritt weiter – ihr Schicksal hat sich schon beinahe gewendet – erleben wir Adam und Eva auf der Federzeichnung aus dem Jahr 1510, ein paar Jahre später. Je zarter hier die zeichnerische Ausführung, umso muskulöser, fleischlicher die nun auch für uns Betrachter gänzlich unbekleideten Körper. Bein- und Fußhaltung bleiben klassisch orientiert, aber Oberkörper und vor allem die Haltung seines rechten und ihres linken Armes signalisieren zärtliche Zugewandtheit und intime Nähe des Menschenpaares, das wir uns weniger als erstes, sondern als exemplarisches Paar zu denken haben. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren.

Wir müssen uns nicht denken – und der Zeichner lässt uns das bestimmt nicht denken – dass das gegenseitige Erkennen ausschließlich Gefühle der Scham und der Schuld produziert hat – und sie flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. Vielmehr begründet die Intimität von Mann und Frau – die Bibel kennt keine andere als die binäre biologische Ordnung – die menschliche Geschichte von Anfang an. Deshalb wird sie unmittelbar als schützenswert erkannt. Die Freiheit der Nacktheit erfordert ihren Schutz.

Und gerade darin – im Umgang des Menschen mit seiner Nacktheit im Unterschied zu allen anderen Lebewesen, die offensichtlich nichts dabei finden, nackt zu sein – vollzieht der Mensch eine Freiheit höherer Ordnung.

In seiner Auslegung der Paradiesgeschichte und unserer Stelle formuliert der philosophische Jubilar dieses Jahres: „Der Mensch entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen.“ (Immanuel Kant, Muthmasslicher Anfang der Menschengeschichte, 1786) Das soll für uns heißen, dass die paradiesische Entdeckung der gegenseitigen Nacktheit – Huch, ich bin ja nackt und du auch – nicht nur zu deren Bekleidung geführt hat, sondern überhaupt zur Ausübung von der unser Menschensein begründenden Freiheit „sich selbst eine Lebensweise auszuwählen“.

Nacktheit lässt sich als Freiheit erleben – Bekleidung aber auch. Und gerade das zeichnet „die ersten Freigelassenen der Schöpfung“ (Herder) aus, dass sie, dass wir selbst entscheiden, wann und wo uns Freiheit als Nacktheit erscheint. Im Museum jedenfalls. Ob das im Theater so ist, sei dahingestellt. In der Kirche eher nicht.

Fünfter Sonntag nach Trinitatis, 30. Juni 2024, Konfirmationsjubiläum

Da viele sich rühmen nach dem Fleisch, will ich mich auch rühmen. 

Ich habe mehr gearbeitet, ich bin öfter gefangen gewesen, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin oft in Todesnöten gewesen. Von Juden habe ich fünfmal erhalten vierzig Geißelhiebe weniger einen; ich bin dreimal mit Stöcken geschlagen, einmal gesteinigt worden; dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, einen Tag und eine Nacht trieb ich auf dem tiefen Meer. Ich bin oft gereist, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, in Gefahr unter Räubern, in Gefahr von meinem Volk, in Gefahr von Heiden, in Gefahr in Städten, in Gefahr in Wüsten, in Gefahr auf dem Meer, in Gefahr unter falschen Brüdern; in Mühe und Arbeit, in viel Wachen, in Hunger und Durst, in viel Fasten, in Frost und Blöße; und außer all dem noch das, was täglich auf mich einstürmt, die Sorge für alle Gemeinden. Wer ist schwach, und ich werde nicht schwach? Wer wird zu Fall gebracht, und ich brenne nicht? Wenn ich mich denn rühmen soll, will ich mich meiner Schwachheit rühmen.

Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn. Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel.

Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –, der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann. Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört. Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

(2. Brief des Paulus an die Korinther 11, 18 – 12.10*)

Ehre, wem Ehre gebührt! Jahrestage und Jubiläen, runde Geburtstage und Wendepunkte im Leben laden ein, Rechenschaft zu geben, Bilanz zu ziehen, Versäumnisse nicht zu verschweigen, Leistungen zu loben, Herausragendes zu rühmen: Gerühmt muss werden, sagt der Apostel Paulus. Ehre, wem Ehre gebührt!

Allerdings ist die Ruhmrede, insbesondere wenn sie in eigener Sache geschieht, ein schmaler Grat, von dem man leicht abstürzen kann, oder ein dünnes Brett, das unter der Last unseres Ruhms zu brechen droht. Stimmt´s überhaupt – was wir über uns sagen oder hören? Und sind wir wirklich so toll wie behauptet? Und wie verhält sich mein Ruhm zu dem der anderen? So lässt sich vermutlich jede solcher Reden befragen – und so befragt sich unser Apostel gleich selbst.

Paulus scheint sich dabei selbst auf die Schippe zu nehmen – und legt gleich noch ein zwei Schippen drauf; zweifelt seine eigenen Erinnerungen an, steigert sich in die Prahlerei über seine Missgeschicke und Leiden hinein, wird ganz närrisch darüber – und vergisst nicht, dass an sich schon der Selbstruhm die reinste Narrenrede ist: für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich würde die Wahrheit sagen.

Er erinnert sich – versucht sich zu erinnern, an ein Erlebnis, das vierzehn Jahre zurück liegt; nicht so weit entfernt, dass es ganz vergessen wäre, aber auch nicht so nah, dass man es ganz genau wissen müsste. Von heute 14 Jahre zurück, dass wäre für uns das Jahr 2010: Wie genau erinnern wir uns an die Ereignisse dieses Jahres – eine schrecklich ferne Zeit mit anderem Fußball, anderer Regierung, anderen Problemen; vor Corona, vor dem Krieg in der Ukraine, ja sogar vor dem russischen Überfall auf die Krim, vor dem 7. Oktober, dem Aufflammen von Judenhass weltweit auch bei uns, vor dem Krieg in Gaza; so weit weg und so nah dran?

Wie genau erinnern wir uns an das, was uns damals, lange zuvor berührt, wohlmöglich erschüttert hat – entrückt bis in den dritten Himmel, entrückt in das Paradies : und wir dort Gott begegnet sind, denn das meint Paulus doch – und was uns damit neue Einsichten gebracht, neue Erkenntnisse verschafft hätte, uns eine neue Richtung gegeben hätte, unser Leben verändert hätte? Gab´s das damals – oder wann haben wir das letzte Mal in den Himmel geschaut und das Paradies gesehen? Wann standen wir vor Gott? Bei der Geburt unseres jüngsten Töchterchens? Beim allmählichen Weggang der Mutter aus diesem Leben? Und was davon – von unseren Erinnerungen – könnten, können wir mit Recht Realität nennen, was aber Interpretation, was Deutung – und was dagegen schlicht Irrtum und was sogar Selbstbetrug?

Als Jubilare blicken Sie heute noch weiter zurück: 25, 50, 60 und noch mehr Jahre; in die Jahre 1964, 1974, 1999, – wenn ich richtig rechne – in eine andere, noch fernere Zeit: Ein anderer Fußball jedenfalls, wenn wir etwa 74 nehmen, damals die WM in Deutschland, die für viele das Initiationserlebnis war, diesen Sport zu lieben, ihn aber auch zu fürchten und zu scheuen, wie dann in den langen 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Anders als unser verklärter Blick es zeichnet, brauchte man auch damals schon Glück zum gewinnen, und das waren nicht immer die Besseren, die mehr Glück hatten; auch nicht, wenn es gegen Dänemark ging so wie gestern.

Auch die politische Mannschaft war eine andere, die Weltlage ebenfalls – vor der Wende 1989-90 ganz bestimmt, und wir doch auch. Ich frage mich manchmal, was und wieviel des damals – sagen wir – Vierzehnjährigen, also des Konfirmanden, ich heute noch bin. Gibt es irgendetwas in meinem Körper, ein Organ, eine Zelle, die oder das damals schon bestand; das meiste dürfte sich ja in den vergangenen Jahrzehnten erneuert haben – und vieles eben auch nicht, wovon uns unser Arzt mit sorgenvoller Miene bei den häufiger werdenden Besuchen berichtet. Wenn ich vor 14, 25 oder 50 Jahren körperlich in den Himmel entrückt worden wäre – was ich meines Wissens nicht bin – wäre es jedenfalls nicht in diesem Körper gewesen – ehrlich gesagt würde der das gar nicht mehr hinbekommen, wenn doch schon Flugreisen beschwerliche Strapazen geworden sind.

Und außerhalb dieses Leibes – im Geist, im Bewusstsein, in Gedanken vielleicht? Wenn das geschehen wäre – Himmelsreise und Gottesschau – und wem das geschehen wäre – es wäre einem anderen geschehen, der heute vor ihnen steht, auch ein anderer, der heute Morgen vor ihnen im Spiegel stand. Denn der pubertierende Vierzehnjährige, der noch lange nicht erwachsene Jugendliche, der Konfirmand, der wir damals waren, sind wir nicht mehr. Erlebnisse und Erfahrungen, Erfolge und Niederlagen, Begegnungen und Beziehungen, Zerwürfnisse und Versäumnisse, Freud und Leid über Jahre und Jahrzehnte haben sich ins Bewusstsein gelegt, nein: haben dieses Bewusstsein erst geformt.

Wir sind unsere Geschichte – und in dem Maße, in dem unsere Geschichte sich verändert, wandeln wir uns.

Paulus hält neben dem einen schwierig zu fassenden, in der Erinnerung verblassenden, kaum zu verstehenden, und noch weniger kommunizierbaren Erweckungs-, Bekehrungs- und Berufungsmoment – denn als nichts anderes haben wir seine Himmelsreise und Gottesschau zu verstehen – er hält daneben die unzähligen Kränkungen, Verletzungen, Beschädigungen und Einschränkungen seines Lebens für das, was es prägt und seine Person ausmacht. Und zwar nicht die Kette von kleinen und nicht so kleinen Katastrophen an sich – sondern wie er sie überstehen und in seiner Sicht mit Gottes Hilfe überstehen konnte. So definiert sich sein Leben, er definiert sein Leben als von Gott gegeben – und immer wieder von Gott gegeben, von Gott beschützt, befreit, gerettet, getröstet, erlöst. Nicht Krise und Niederlage selbst machen sein Leben aus, sondern wie Gott ihn daraus errettet hat, der zu ihm sagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.

Ist da was dran? Können wir damit etwas anfangen? Die Konfirmation selbst ist ja bei den wenigsten von uns der tatsächliche Moment unserer Gottesbegegnung, wäre ja auch unwahrscheinlich, beinahe komisch, dass ausgerechnet an diesem Tag in der Thomaskirche Gottes Geist in eine Gruppe von Jugendlichen fährt, um sie in den Himmel zu führen, um ihr Leben zu verändern.

Gemeint ist natürlich, dass wir an diesem Datum gemeinsam unseren höchst persönlichen Moment der Gottesbegegnung feiern; die mag schon zurückgelegen haben, die mag noch vor uns gelegen haben, die mag noch vor uns liegen: diese Reise in den Himmel, dieses Ansehen des Paradieses, dieses Verstehen, wie Gott diese Welt gemeint hat und wie er es mit uns meint, nämlich gut; was sage ich: sehr gut!

Und dass wir von diesem Moment aus nicht nur unser Leben verstehen, wie Gott es für uns meint, sondern dass wir von diesem Moment aus unser Leben bestehen können, in allen Widrigkeiten und Zumutungen. Dass wir es nicht aus eigener Kraft sondern durch die Kraft Gottes bestehen, die unserer Schwäche aufhilft. Dass wir unser Leben aus Gottes Gnade haben und leben. Dass wir mit Paulus sprechen können:

Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

Pfingsten, 19. Mai 2024

Des HERRN Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des HERRN und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: HERR, mein Gott, du weißt es. Und er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des HERRN Wort! So spricht Gott der HERR zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet. Ich will euch Sehnen geben und lasse Fleisch über euch wachsen und überziehe euch mit Haut und will euch Odem geben, dass ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. Und ich weissagte, wie mir befohlen war. Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich und die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen. Und er sprach zu mir: Weissage zum Odem; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Odem: So spricht Gott der HERR: Odem, komm herzu von den vier Winden und blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden! Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel.

Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns. Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels. Und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole. Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der HERR.
(Buch des Propheten Hesekiel 37, 1-14)

Atem des Lebens: Der Prophet Hesekiel beschwört den Atem des Lebens, den Geist des Friedens in seiner grandiosen, aber auch verstörenden Vision.

Bevor überhaupt der Atem des Lebens über die Gräberfelder gehen kann, wehte doch der Hauch des Todes über ihnen, hatte im Fall der verwüsteten Schlachtfelder der Sturm der Vernichtung über ihnen getobt. In Verdun oder in Flandern und sicherlich an vielen anderen Orten, an denen Krieg war, lässt sich das nachvollziehen, was Hesekiel als Traum beschreibt: Gottes Geist stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt.

Als vielleicht 12jähriger Junge habe ich das erste Mal – wie in einem Alptraum – auf einem solchen Feld gestanden, in Verdun, wo mein Onkel, eigentlich Großonkel Karl gekämpft hatte und nun glücklicherweise nicht lag, sondern – darf ich das glauben? – durch Gottes Geist nach Hause geführt worden war; in Verdun, wo aber unzählige Menschen den Tod gefunden haben und deren Gebeine nun auf den Feldern liegen, oder – für das Kind und nicht nur für Kinder nicht weniger verstörend – in Beinhäusern gesammelt, aufgeschichtet liegen, als Erinnerung, als Warnung, als Mahnung.

Vor 110 Jahren brach die Furie des Krieges in Europa hinein, die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, die aus Feldern erst Schlachtfelder und dann Grabfelder gemacht hat – nur um gut zwanzig Jahre später noch einmal, noch furchtbarer entfesselt zu werden. Als sich dann abermals nach dem großen Schrecken Stille über den Feldern ausbreitete – Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt – sollte, so formulierten es die Christen in einer Schrecksekunde nach dem Krieg: Nach Gottes Willen nie wieder Krieg sein! Sollten keine neuen Schlachtfelder gepflügt und Grabfelder bereitet werden. Sollten Orte des Alptraums zumindest nicht mehr dazukommen. Sollte nicht mehr der Hauch des Todes, sondern der Atem des Lebens wehen.

Versöhnungen haben stattgefunden, Freundschaften wurden gestiftet. Vielfach stehen die Nachfahren der Feinde gemeinsam auf den Gräbern ihrer Eltern und Großeltern.

Auch wenn es zu keiner Zeit gar keinen Krieg in der Welt gab, schienen aber die Nachkriegsgeborenen sich doch weitgehend einig darüber, dass es so sein soll, so sein sollte: Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Meiner Generation war das ein Bekenntnis des Glaubens; dass sich der Alptraum des Krieges in den Traum vom ewigen Frieden wandelt.

So wie in dieser Vision des Hesekiel das Grabfeld der Totengebeine vom Atem des Lebens angeweht zum Ort der Wiedergeburt wird; in einem Traum vom neuen Leben, der so grotesk, so absurd, so surreal ist wie jeder Traum vom Frieden im Krieg: Dass Gebeine zusammenrücken, Gebein zu Gebein. Dass Sehnen und Fleisch darauf wuchsen und sie mit Haut überzogen wurden; dass der Odem in sie kam, und sie wieder lebendig wurden und sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer stellten? Der Traum erfüllt – im Traum! – den Wunsch nach neuem Leben und Frieden. Wenn Frieden kommt, dann ist das vom Krieg her gesehen so unwahrscheinlich und weithergeholt wie der Tanz der Gebeine auf ihren Gräbern, aber nicht weniger als gottgewollt.

Außerhalb unserer Träume – allerdings – folgt die Wirklichkeit unseren Wünschen nicht. Bloß den Frieden zu wünschen, schafft keinen Frieden, sondern macht uns zu Gefangenen unserer Träume. Andererseits den Krieg bloß mit Krieg zu bekämpfen, wird den Frieden auch nicht erreichen. Ohne Vorstellung von einem gerechten Frieden, der zu erkämpfen wäre, gibt es keinen gerechten Krieg; noch der gerechteste Krieg – nämlich der zur Verteidigung nach einem Überfall – droht sich zu verkehren. So wie wir es gerade erleben.

Die Propheten der Bibel haben die Vorstellungen eines gerechten Friedens der Kraft des Geistes Gottes zugeschrieben. Sie haben dabei Konzepte der Geistwirkung entwickelt wie Trost und Hoffnung inmitten maximaler Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit – wie Hesekiel hier in seiner Gräberfeldvision: Gottes Geist des Lebens schafft ungeahnte Lebensmöglichkeiten noch in der scheinbar überwältigenden Wirklichkeit des Todes; das Gräberfeld, das Trümmerfeld ersteht zu neuem Leben.

Die Propheten haben weitere für künftige Friedensordnungen nützliche Wirkungen des Geistes beschrieben, wie Recht und Gerechtigkeit, wie Versöhnung und Vergebung, wie Großzügigkeit und Freizügigkeit. Insbesondere die Fähigkeit zur Empathie – also im Anderen, im Nächsten mich selbst zu erkennen – wird Gottes Geist zugeschrieben. Jede dieser Wirkungen kann uns selbstverständlich, ja trivial erscheinen; angewendet auf Gegner und Feind klingen sie beinahe wie ein Skandal. Aber Frieden ohne Gerechtigkeit für den ehemaligen Feind, wird es nicht geben. Und nur wenn ich ihn irgendwann für einen Menschen wie mich halte, wird er Frieden halten.

Wenn es auch richtig ist, sich nicht zum Gefangenen seiner Träume zu machen, bestehen die Propheten darauf, sich gleichfalls nicht zum Gefangenen einer vorfindlichen Wirklichkeit zu machen, sondern diese für veränderlich zu halten. So wie es jetzt ist, muss es nicht bleiben. Und die Bedingungen der Möglichkeit solcher Veränderungen bezeichnet die Bibel als Geist, Gottes Geist in uns, Atem des Lebens.

Predigt zur Konfirmation, 12. Mai 2024

Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus. Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten in der Liebe; er hat uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens, zum Lob seiner herrlichen Gnade, mit der er uns begnadet hat in dem Geliebten. In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden, nach dem Reichtum seiner Gnade, die er uns reichlich hat widerfahren lassen in aller Weisheit und Klugheit. Gott hat uns wissen lassen das Geheimnis seines Willens nach seinem Ratschluss, den er zuvor in Christus gefasst hatte, um die Fülle der Zeiten heraufzuführen, auf dass alles zusammengefasst würde in Christus, was im Himmel und auf Erden ist, durch ihn. In ihm sind wir auch zu Erben eingesetzt worden, die wir dazu vorherbestimmt sind nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt, nach dem Ratschluss seines Willens, damit wir zum Lob seiner Herrlichkeit leben, die wir zuvor auf Christus gehofft haben. In ihm seid auch ihr, die ihr das Wort der Wahrheit gehört habt, nämlich das Evangelium von eurer Rettung in ihm seid auch ihr, als ihr gläubig wurdet, versiegelt worden mit dem Heiligen Geist, der verheißen ist, welcher ist das Unterpfand unsres Erbes, zu unsrer Erlösung, dass wir sein Eigentum würden zum Lob seiner Herrlichkeit. (Brief des Paulus an die Epheser 1,3-14) 

Ein bisschen aufgeregt scheint der Autor unserer Zeilen zu sein. Geradezu hastig packt er alles, was er sagen möchte, zusammen, anscheinend um nichts zu vergessen: So viele der großen Wörter unseres Glaubens dicht gepackt. Alles was Gott am Ende durch Christus zusammenfassen wird, scheint – in Worten – jetzt schon der eifrige Autor unserer Zeilen, wohl ein übereifriger Schüler des Apostels Paulus, zusammen fassen zu wollen: Siegel, Segen und Lob; Himmel und Erde; Liebe und Wohlgefallen; Gnade und Erlösung; Erwählung und Vergebung der Sünden; Weisheit, Klugheit, Wahrheit; Erbe und Hoffnung. Voller Koffer, schweres Gepäck.

Aufgeregt wie ich bin an diesem aufregenden Tag, geht es mir ähnlich, möchte ich auch alles, alles sagen, was heute zu sagen ist, nichts vergessen – und am besten auch noch alles dazu packen, was im vergangenen Jahr zu kurz gekommen sein könnte; möchte selbst gerne als eifriger Apostelschüler gefunden werden, der nichts vergisst und nichts verpasst.

Allein, das kann ich nicht für mich, nicht für uns in Anspruch nehmen: jetzt nichts zu vergessen und übers Jahr nichts verpasst zu haben. Konfirmandenunterricht und Konfirmation müssen da eher Fahrstunden und Fahrprüfung gleichen in dem Sinne, dass sie – wie mein geduldiger Fahrlehrer damals nicht müde wurde zu betonen – nur gerade so die Fahrtüchtigkeit bescheinigen und mehr zum Weiterlernen befähigen und ermutigen sollen. Sie stellen eigentlich keinen Abschluss dar, sondern erteilen die Lizenz, nun selbständig weiter zu lernen – und hier bei uns dann doch: selbständig weiter zu glauben.

Konfirmation bezeichnet also – um es beinahe mit den Worten eines berühmten Jubilars zu sagen – nur den Anfang vom Ausgang des Menschen aus seiner unverschuldeten religiösen Unmündigkeit. Es geht darum, die Aufforderung – Habe Mut dich deines Glaubens zu bedienen: Credere aude! – diese Aufforderung weiter zu verfolgen, ihr im Leben und durch das Leben zu folgen; auf sie zu hören, auch wenn sie kaum zu vernehmen ist und wir sie kaum vernehmen wollen – in dem ganzen Getöse und Gebrabbel um uns herum und in uns drin.

Glaube bezieht sich auf das, was sich nicht selbst versteht und was sich unserem Verstand entzieht, auf das Geheimnis also, von dem in unserem aufgeregt aufregenden Text die Rede ist. Was einigermaßen interessant ist, versteht sich nicht von selbst, sondern kostet Mühe, es verstehen zu wollen. Damit wäre also auch der einjährige Konfirmandenunterricht gerechtfertigt. Aber das wirklich Interessante – also was die Welt im Innersten zusammenhält – kostet richtig große Mühe, lange Mühe, manchmal auch vergebliche Mühe. Es sind ja so viele von uns, die wir nicht fertig werden mit dem Interessanten und uns deshalb mit dem Uninteressanten zufrieden geben; das Falsche glauben, das falsche Leben. Glaube als die Suche nach dem Weltgeheimnis kostet Mühe und Mut. Die Mühe und den Mut, sich nicht mit dem Zweitbesten in unserem Leben abzugeben, dürfte sich lohnen. Wenn der ewige Vizemeister endlich gewinnt, das ist doch was, oder?

Wir haben uns bemüht im vergangenen Jahr damit anzufangen. Haben dabei gemerkt, dass das auch in einer kleinen aber feinen Gruppe gehen kann – oder eben wie in großen Gruppen bisweilen scheitert. Wo zwei oder drei – oder eben vier – beisammen sind, da bin ich mitten unter euch, sagt Jesus. Auch mit vier Windrichtungen lässt sich der ganze Erdkreis und mit vier Jahreszeiten ein ganzes Jahr beschreiben; wie es vier Evangelisten gelingt, ein lebendiges Bild des Christus zu zeichnen. Und es soll Augenblicke geben – durchaus auch mal donnerstags am späten Nachmittag, da sind vier nicht zu wenig, sondern beinahe zu viel. „Vier fahr´n. Da sind also vier Menschen unterwegs. Und wer sind diese vier? Sind es die vier Jahreszeiten? Die vier Musketiere? Oder sind es vier alle“ In dieser bis heute gültigen Parodie auf Reden, wie wir sie gerade hören, Ottos berühmten „Wort zum Montag“, stolpert der Meister des Albernen, der Virtuose des zappeligen Klamauks und Tröster unserer Seelen über die Vierzahl als Vielzahl, über die Vierzahl als Ausdruck von Vollständigkeit und Vollkommenheit. Vier sind viele – auch wenn es anders aussieht. Noch so ein Geheimnis, dass sich nicht jedem sofort erschließt.

Wenn aber Gott das Geheimnis der Welt bezeichnet, ist mit einem moralischen Universum zu rechnen, in dem jeder Mensch und jede Tat zählt – übrigens auch, wenn mich keiner sieht, wenn ich nicht erwischt werde oder wenn es sowieso alle machen. Weil es nicht egal ist, wer wir sind und was wir tun, sind wir aufgefordert heilig und untadelig zu leben und zu unseren Taten und Untaten zu stehen: Ja, das war ich! zu sagen – anstatt: Das war ich nicht. Weil das nicht nur nicht jedem sondern keinem immer gelingt, bleiben wir angewiesen auf die Vergebung unserer Sünden – und aufgefordert bei anderen ebenso zu verfahren; so zu handeln, dass die Maxime meines Handelns ein allgemeines Gesetz sein könnte – weil es das universale Gesetz ist: „Alles was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen ebenso.“ (Jesus in der Bergpredigt, Matthäus 7,12)

Darauf heute Siegel und Segen. Amen.

Palmsonntag, 24. März 2024

Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht:
Er, der in göttlicher Gestalt war,
hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein,
sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an,
ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.
Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.
(Brief des Paulus an die Philipper 2, 5-11)

Zitate sind Glückssache: So schmückt die Kuppel des wieder aufgebauten Berliner Stadtschlosses ein Spruchband mit folgendem, die Bibel zitierenden Text: „Es ist in keinem anderen Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zu Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“

Wie wir gerade gehört haben stammt der zweite Teil des Spruchs aus unserem Predigttext, diesem kleinen Stückchen aus dem Philipperbrief über den Weg des Gottessohnes in das Leiden und Mitleiden mit uns Menschen hinab. Dieses Pauluszitat über Machtverzicht und Selbsterniedrigung wird in den immer mal wieder aufflammenden Debatten über Rechtmäßigkeit und Symbolwert dieses Schlosses der Preußenkönige diskutiert.

Erst in der vergangenen Woche überschlugen sich wieder die Schlagzeilen darüber, als nämlich – Sie haben es in der Zeitung gelesen – acht Prophetenfiguren: Jesaja, Hosea, Zephania, Zacharias, Jonas, Daniel, Jeremias, Hesekiel auf das selbige Dach gehievt wurden, um dieses wie das erwähnte Spruchband zu schmücken. Während sich die einen über den wiederaufgebauten Touristenmagnet und insgesamt doch ziemlich ansehnlichen Hingucker in ihrer sonst nicht gerade durch Schönheit auffallenden Stadt freuen, kritisieren andere hart den Zierrat auf dem Dach des Schlosses und poltern: „Man muss inzwischen von einer bewussten fundamental-christlichen Unterwanderung des Stadtschlosses ausgehen, die sich bestens in die islamophoben Tendenzen der Zeit einfügt.“ (in einer Pressemitteilung der „Schlosskritiker“ Oswalt und Zimmerer, zitiert nach berliner-zeitung.de vom 19.3.2024) Für meinen Geschmack schießt diese unfreiwillig komische Kritik angesichts von acht Propheten des Alten Israel, die zuerst von Juden, erst viel später von Christen gehört und überdies weithin im Islam verehrt und teils sogar im Koran als Vorbild gelobt und empfohlen werden, deutlich über das Ziel hinaus: Zitate sind Glückssache, aber ihre Kritik eben manchmal auch.

Übrigens ist der auf dem Berliner Schlossdach zitierte Bibelvers nach Meinung der Gelehrten ebenfalls schon ein Zitat, als Schlussvers eines frommen Liedes der ersten Christen, das der Apostel Paulus hier zitiert – um die christliche Ethik des Verzichts, der Selbstbeschränkung, der Rücksichtnahme und des freiwilligen Ablegens von Privilegien am Geschick Jesu zu illustrieren.

Nach christlichem Glauben hätte es sich der Gottessohn gewiss gemütlicher machen können, eben zur Rechten Gottes sitzend, dort bleibend und alle Vorrechte seines göttlichen Geblüts genießend.

Das hat er nicht gemacht. Er hat nicht an seinem göttlichen Vorrecht wie an einem durch Raub erlangten Besitz festgehalten, Gottes Sohn zu sein und zu bleiben. Sondern er ist als erster Diener der Menschheit selbst Mensch geworden unter Verzicht auf seine göttlichen Vorrechte. Um es mit den Worten unseres Praktikanten Mattis Krauth zu sagen: „Obwohl Jesus alle Möglichkeiten hatte, die einem Gott zur Verfügung stehen, hat er darauf verzichtet, diese Möglichkeiten auch voll auszuschöpfen, d.h. er hat alle seine Rechte aufgegeben.“

Das ist ein unerhörter Gedanke, dass der Gottessohn, also Gott selbst auf seine Göttlichkeit verzichtet, mehr noch: auf sein Leben verzichtet und gleich wie wir Menschen stirbt; mehr noch: den schmählichsten, qualvollsten Tod, den sich die Folterer und Totschläger des alten Rom ausdenken konnten, auf sich nimmt: den Tod am Kreuz.

Mit dem Kreuz als Fluchtpunkt liest sich die Passionsgeschichte, insbesondere die Geschichte der heute beginnenden Karwoche als Geschichte der freiwilligen Entäußerung und der Selbsterniedrigung: Der Einzug des Gottessohnes als Bettlerkönig des gemeinen Volkes auf einem Esel; die Fußwaschung als Demutsgeste; schließlich die Duldung von Verleugnung, Verrat und Gewalt. Am Ende hängt Gott nackt, aller Rechte und Werte entkleidet, seiner Würde entblößt am Kreuz. Der, der ganz oben sein sollte, ganz unten; der Hohe ganz niedrig; der Allmächtige machtlos; der Gerechte rechtlos; der das Leben schuf, tot.

Und das soll nun uns – die wir es schon als Zumutung empfinden, einem anderen Vorfahrt zu gewähren, oder an der Tür Vortritt zu lassen – Beispiel und Vorbild sein? Verzichten auf unser gutes Recht? Verzichten auf das bisschen Macht, das wir haben? Abschied vom Grundrecht der Autonomie? Ohne Selbstbehauptung, ohne Selbstbestimmung leben? Statt sich nichts gefallen lassen – alles gefallen lassen? Wie soll das gehen in einer wie schon immer aggressiven Welt, in der der Frömmste nicht im Frieden leben kann, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Ausdrücklich geht es dem Paulus hier in seiner Empfehlung – oder ist es eine Forderung? – zunächst um die Gesinnung der Christenmenschen untereinander, um die Gemeinschaft in der Gemeinde, die Verfassung der Kirche – und ganz bestimmt auch um die Beratungen zwischen den Gemeinden, wie wir sie jetzt im schnellen Takt mit unseren Nachbarn führen, um in den nächsten Jahren eine neue Gestalt für unsere Kirche zu finden. Wenigstens das Miteinander der Christen soll – laut Paulus, laut Christus – nicht als Machtfrage behandelt oder als Rechtsbeziehung betrachtet werden. Sondern: Der Stärkere hat was davon, wenn er dem Schwächeren Platz macht.

Und wie ist es nun mit dem preußischen König und dem Spruchband auf seinem Schloss? Wie eigentlich meistens kompliziert – und jedenfalls komplizierter als es seine Ankläger und auch seine Verteidiger wollen. Einerseits kann das Bibelwort schwerlich als Ausdruck eines chauvinistischen Machtanspruchs gedeutet werden, wenn es doch ganz im Gegenteil den größten denkbaren Machtverzicht zum Ausdruck bringt. Andererseits lässt sich kaum von Hand weisen, dass die preußischen Könige, deren berühmtester sich selbst als erster Diener seines Staates bezeichnete und gleichzeitig reine Machtpolitik betreiben konnte, wenig dafür taten, dieses Wort mit Leben zu erfüllen. Was vielleicht auch zu viel verlangt wäre, wenn noch der beste König zur Verwirklichung des Rechts auch die Macht dazu haben muss.

Deshalb gibt es die Propheten, die ja jetzt wieder steinern neben unserem Bibelvers auf dem Schlossdach stehen und deren vornehmste Aufgabe das Wächteramt gegenüber den Königen war und ist. Die königskritischen Texte eines Jesaja, Jeremia oder Hosea gehören jedenfalls zum Radikalsten, das sich die Mächtigen aller Zeiten anhören mussten. Sie haben gewusst und laut verkündet, dass Macht nicht als Raub betrachtet und Recht nicht als Vorrecht missbraucht werden soll. Amen.

Laetare, 10. März 2024

Sie ergriffen ihn aber und führten ihn ab und brachten ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus aber folgte von ferne. Da zündeten sie ein Feuer an mitten im Hof und setzten sich zusammen; und Petrus setzte sich mitten unter sie. Da sah ihn eine Magd im Licht sitzen und sah ihn genau an und sprach: Dieser war auch mit ihm. Er aber leugnete und sprach: Frau, ich kenne ihn nicht. Und nach einer kleinen Weile sah ihn ein anderer und sprach: Du bist auch einer von denen. Petrus aber sprach: Mensch, ich bin’s nicht. Und nach einer Weile, etwa nach einer Stunde, bekräftigte es ein anderer und sprach: Wahrhaftig, dieser war auch mit ihm; denn er ist auch ein Galiläer. Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was du sagst. Und alsbald, während er noch redete, krähte der Hahn. Und der Herr wandte sich und sah Petrus an. Und Petrus gedachte an des Herrn Wort, wie er zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich. (Lukas 22, 54-62)

Keine Freudentränen, trotz des heutigen Freudensonntags, auch wohl keine des Schmerzes oder der Wut, sondern Tränen der Scham, dürfen wir annehmen, die dem Petrus bitter die Wangen hinunterlaufen.

„Den kenne ich nicht“, „das habe ich nicht gewusst“, „das haben wir nicht gewusst“ – mit dieser Urformel der Verantwortungsverweigerer verweigert heute Petrus, der Möchtegernmusterschüler unter den Aposteln seine Verantwortung für das Geschick seines Freundes und Meisters, seines Herrn und Heilandes.

Frau, ich kenne ihn nicht – Mensch, ich bin’s nicht – Mensch, ich weiß nicht, was du sagst: Dreimal aus Schwäche kraftvoll verleugnet – und schon ist diese grauenvolle Nacht vorbei, der Morgen graut und der Hahn kräht. Wenn es nicht so schrecklich wäre, könnte man darüber lachen, über das Versagen des Petrus mit Ansagen – lachen wie die Hühner, oder krähen wie der Hahn. Aber das Lachen bleibt im Halse stecken über die Gemeinheit des Apostels, die Feigheit eines Freundes, die Niedrigkeit eines Stellvertreters gegenüber seinem Original, das er doch vertreten soll.

Wenn Stellvertreter, dann doch wohl von uns in seinen hochfliegenden Ambitionen und seinem krachenden Scheitern, die wir so gut kennen, seinem vorlauten Bekenntnis an anderer Stelle und seiner zum Schweigen zwingenden Scham, seinem schwächlichen Willen zur Wahrheit und seinem Hang zur Lüge. Unser Stellvertreter darin; denn natürlich kennen wir das von uns selbst und aus unserer Umgebung, dass wir nicht die Kraft zur Wahrheit finden und in unserer Not den Ausweg in einer Lüge suchen. Notlügen seien erlaubt, biegen wir uns das dann zurecht. Und die Lüge des Petrus, die dem Verleugneten doch keinen weiteren Schaden zufüge und nur auf den Leugner den Schaden seiner tränenreichen Scham schütte, wäre doch genau das: eine Lüge aus Not, die sie entschuldigt. Oder etwa nicht?

Der philosophische Jubilar dieses Jahres, Immanuel Kant, ist einer der wenigen Denker, die eine absolute – durch keine Not eingeschränkte oder durch Not einzuschränkende – Pflicht zur Wahrheit vertreten. Wahrhaftig zu sprechen, fordert der eine Gesprächspartner des Petrus, und eben auch der Philosoph, und zwar nicht aus protestantischer Beschränktheit, der schlicht die Phantasie zur Lüge fehlte, sondern aus der vernünftigen Einsicht, dass schon die eine Lüge die Fähigkeit zur Wahrheit insgesamt und damit unser menschliches Zusammenleben bedroht. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht“ – spricht der Volksmund, der seinen Kant vermutlich nicht gelesen, aber umso besser verstanden hat. Die eine Lüge stellt Wahrheit insgesamt infrage und bedroht damit die Verlässlichkeit unserer Beziehungen. Wenn ich anfangen muss zu fragen, ob ein ansonsten glaubwürdiger Partner diesmal aus Not oder Laune heraus lügen könnte, ist bereits alles verloren.

Dasselbe gilt übrigens für die sich ausweitende Grauzone zwischen Wahrheit und Lüge, in der überhaupt das Interesse an Wahrheit verschwimmt und allmählich verschwindet – in Ausflüchten und Ausschmückungen, durch Worthülsen, mit sprachlichen Nebelkerzen und Wunderkerzen aller Art, „fake news“ und „alternative facts“ – und die lange vor Donald Trump „bullshit“ genannt wurde – Sie verzeihen die grobe Sprache. Während die Lüge ja zumindest einen negativen Bezug zur Wahrheit hat, ist dem „bullshit“ Lüge wie Wahrheit gleichermaßen – wir bleiben bei der groben Sprache – „scheißegal“; und wir müssen befürchten, dass sich auch im Raum der Kirche diese unerfreuliche Sprachform ausbreitet. (vgl. den amerikanischen Philosophen Harry G. Frankfurt, On Bullshit 2005)

Immerhin das – also die sprachliche Ungenauigkeit in Sachen Lüge und Wahrheit – können wir dem Petrus nicht vorwerfen, der ja gleich dreimal glasklar lügt. Damit entschuldigen wir ihn natürlich keineswegs – im Gegenteil! – , zumal seine feigen Lügen deutlich zeigen, dass Wahrhaftigkeit keine philosophische Frage ist, sondern eine ethische Forderung darstellt. Der Verleugnete kommt oder bleibt durch unser Leugnen in Gefahr. Wer weiß: Vielleicht wäre ja der gefangene Jesus durch ein kräftiges Zeugnis seiner Anhänger und Sympathisanten zu retten gewesen. Und selbst wenn wir das aus historischen Gründen oder aus theologischen Vorstellungen verneinen, vielleicht könnte bei anderer Gelegenheit solches Zeugnis aus Wahrhaftigkeit und Courage Menschen retten.

Es muss uns beschämen – und heute zu Beginn der Woche der Brüderlichkeit – umso mehr beschämen, dass immer noch und gerade wieder ausgerechnet jüdische Menschen in unserer Nähe bedroht und gefährdet sind, ohne dass sie in uns Christen verlässliche, entschiedene und deutlich hörbare Fürsprecher haben. Es darf einfach nicht sein, dass 79 Jahre nach dem Krieg, der vor allem auch ein Krieg gegen die Juden war, immer noch und wieder jüdische Menschen unter uns um Leib und Leben fürchten müssen.

„Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen“ schreibt Dietrich Bonhoeffer in seiner Zeit und verschärft so das Wahrhaftigkeitsgebot um einiges. Keine Not erlaubt die Lüge und sei es die Lüge des Schweigens, wenn Reden und Bekennen verlangt ist. Nur wenn wir uns für die Nöte der Bedrohten und Gefährdeten einsetzen – und wenn wir gerade dabei sind – für die Nöte aller(!) Bedrohten und Gefährdeten nach unseren Möglichkeiten einsetzen, haben wir das Recht, unser Seelenheil zu pflegen und Gottes Ordnung in unseren schönen Liedern zu preisen.

Wenn wir also noch letzte Woche zur Nachfolge Jesu aufgefordert wurden, sollen wir heute – und das ist kein Widerspruch! – dem Petrus die Nachfolge verweigern. Und zwar so, dass wir uns in Petrus selbst erkennen, den feigen Leugner in uns selbst. Aber so, dass wir uns damit nicht zufrieden geben, – nach dem Motto: Wenn Petrus das nicht hinbekommen hat, wie soll ich das von mir erwarten – , sondern uns geradezu selbst die Nachfolge des Leugnens und Schweigens verweigern und uns zu Jesus in unserem Nächsten bekennen. Ob uns das dann auf die Straßen treibt oder etwa den Mund öffnet bei blöden Sprüchen am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis, muss jeder für sich entscheiden.

Vielleicht hilft uns dazu ja das stolze Wort dieses anderen Erzapostels Paulus:„Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Hab 2,4): ´Der Gerechte wird aus Glauben leben.´“

Sonntag Invokavit, 18. Februar 2024

Da wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde. Und da er vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet hatte, hungerte ihn. Und der Versucher trat herzu und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so sprich, dass diese Steine Brot werden. Er aber antwortete und sprach: Es steht geschrieben (5. Mose 8,3): »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.« Da führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab; denn es steht geschrieben (Psalm 91,11-12): »Er wird seinen Engeln für dich Befehl geben; und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.« Da sprach Jesus zu ihm: Wiederum steht auch geschrieben (5. Mose 6,16): »Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.« Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben (5. Mose 6,13): »Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.« Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel herzu und dienten ihm. (Matthäus 4,1-11)

Einiges spricht dafür, dass die Versuchungen in der Stadt verlockender und die Dämonen dort aktiver, auch attraktiver sind als auf dem Land.

Dennoch führt der Geist Jesus nicht in die Spelunken der levantinischen Hafenstädte – weit waren die nicht und werden noch heute besungen in den unsterblichen Versen des Viktor von Scheffel: „Im schwarzen Walfisch zu Askalon“; dorthin führt der Geist Jesus also nicht, genauso wenig ins teuflische Babylon selbst. Sondern: In der Wüste soll der Gottessohn seinen Gegengott treffen, ganz so wie man an besseren Tagen auch Gott selbst in der Wüste trifft – und Mose, mit dessen Worten Jesus heute dem Teufel widersteht, ja auch Gott dort gelegentlich getroffen hat. Gerade der Mangel an Ablenkung in der Wüste scheint die Konzentration auf die Begegnung mit höheren Wesen aller Art, heute also dem Teufel, zu befördern.

Kein Entschluss oder eigener Wille führt Jesus in die Wüste – hier ganz am Anfang seines Wirkens, die Haare sind noch feucht von der Taufe – sondern der Geist; genauer heißt es dort: „unter dem Geist“ wird Jesus geführt. Eine höhere Macht hat sich seiner bemächtigt und so richtig scheint Jesus nicht zu wissen, wie ihm geschieht; vorbereitet hat er sich jedenfalls nicht, kein Proviant führt er mit, vierzig lange Tage und vierzig noch längere Nächte zieht er durch die Wüste, geführt zwar – aber nicht wissend wohin.

In einer anderen Kultur als der jüdisch-christlich-biblischen finden Schamanen zu Beginn ihres Wirkens den Weg zu Geistern und Dämonen eben so wie Jesus hier durch Einsamkeit, Nacht und Hunger – weit weg von Familie und Freunden, weit weg von anderen Menschen, ohne Ansprache, tagelang, nächtelang isoliert, ohne Schlafplatz, ohne Essen. Die Sicherheit des Alltags, ihre alltägliche Wirklichkeit würde sie blind und taub machen für die jenseitige Realität, die sie suchen. So aber – losgelöst von allem – begegnen sie dem Absoluten, dem Heiligen, dem Mysterium tremendum et fascinosum – als dem Heiligen in seiner Ambivalenz aus Schrecken und Glanz.

Etwa die Jakobsepisoden der Bibel lassen sich nach dieser schamanistischen Interpretation lesen: der nächtliche Traum des jugendlichen Ausreißers ohne Abendbrot ganz allein auf freiem Feld, der Traum von der Himmelsleiter mit den göttlichen Wesen, den Engeln, auf ihr, Gottes Verheißung; oder auch der nächtliche Kampf am Bach Jabbok mit dem Dämon, der ihn verletzt und in dem Jakob am Ende Gott selbst erkennen muss, mit dem man kämpfen, den man aber nicht besiegen kann, dessen Verletzungen noch zum Segen werden.

Jesus begegnet in seiner „schamanistischen“ Episode dem dämonischen Schrecken in seinem ganzen unheiligen Glanz. Vom Geist in die Wüste geführt, 40 Tage und Nächte ohne Essen und Obdach ist er bereit für den Teufel, ihn zu erkennen und ihm zu wehren. Dieser erweist sich als arroganter Angeber, der das Blaue vom Himmel verspricht; als grober Vereinfacher – als Populist, würden wir heute sagen – mit den einfachen Lösungen für die schwierigen Probleme; als Bote der reinen Macht, die um ihrer selbst Willen verehrt werden will.

Das scheinen Menschheitsversuchungen zu sein, denen Jesus ausgesetzt ist, also Versuchungen die uns Menschen, vielleicht alle Menschen, betreffen, nur weil wir Menschen sind. Von solchen Versuchungen mag es mehr als diese drei geben, aber die hier, die der Teufel an Jesus ausprobiert, gehören bestimmt dazu, nämlich: Dass wir uns auf unsere biologischen Lebensfunktionen reduzieren, den Körper optimieren aber den Geist verkümmern lassen; dass wir Dinge ausprobieren und machen, nur weil sie machbar sind, ohne die Bereitschaft, dafür Verantwortung zu übernehmen; dass wir einen Menschen, oder den Menschen verherrlichen, um uns durch ihn zu ermächtigen, und dabei Gottes Herrlichkeit beschädigen.

Die mythologische Sprache der Bibel findet den Teufel als Bild für die Ursache solcher Versuchung. Aber es ist ja klar, dass der Teufel das Symbol gleichzeitig für Gegengott und Gegenmensch ist, also Gegenteil und Antithese zu uns Menschen und zu unserem Gott zugleich ist. Der Teufel predigt den Übermenschen, will uns aus unserer menschlichen Natur befreien und uns unsere Religion nehmen. Das macht ihn so modern. Der modische Transhumanismus hält sich für aktuell, wenn er die uralten faulen Versprechen des Satans wiederholt: Ihr werdet ewig leben, ihr werdet alles wissen, alles ist euch möglich: Ihr werdet sein wie Gott. Was hilft dagegen? Hilft was dagegen?

Die Zeiten sind nicht mehr so, dass es reichen würde, wie Jesus den richtigen Bibelvers vorzuhalten – mal abgesehen davon, dass er uns vermutlich im entscheidenden Moment nicht einfiele. Knoblauch, Rosenkranz und Kruzifix dürften den Teufel und seine Bande ebenfalls kaum noch beeindrucken. Und das ja nicht zuletzt deshalb, weil der entscheidende Angriff gegen unsere Menschlichkeit nicht von außen, sondern von innen, von uns selbst kommt, wenn wir uns über die Jahre eingeredet haben und es zu glauben gelernt haben, dass wir als Menschen doch eigentlich an die Stelle Gottes treten könnten, weil wir selbst so stark, und so weise und so mächtig sind. Wir – viel zu viele von uns – sind allzu bereit und ganz einverstanden, den Verheißungen von ewigem Leben und bis ins Universum reichender Macht zu glauben, wenn sie von den Herrschern dieser Welt – das war mal ein Name für den Teufel! -, den Masters of the Universe, von den strong men autoritärer Staaten oder von den High-Tech-Milliardären geäußert werden. Hilft was? Was hilft?

Es mag sich nicht für jeden anbieten, den Weg des Schamanen in die Wüste ohne Nahrung und Obdach zu gehen, um sich seinen Dämonen zu stellen und darüber Gott zu finden – auch wenn das Angebot der Kirche steht, in den nächsten sieben Wochen ohne etwas, was uns sonst so wichtig erscheint, bis Ostern auszuhalten, und damit den symbolischen Weg in die Wüste in die eigene Wirklichkeit zu ziehen.

Im besten Fall finden wir etwas heraus – über uns selbst, über Gott und die Welt – was uns weiterhilft; etwas, dass wir dem Teufel, in welcher Gestalt er uns auch trifft, entgegenhalten könnten, damit wir ihm nicht mit leeren Händen begegnen.