Predigttext Weihnachten 2021

Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum erkennt uns die Welt nicht; denn sie hat ihn nicht erkannt. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. (Johannes 3,1f.)

Selbst der Evangelist – und der müsste es doch eigentlich wissen – scheint sich unsicher zu sein, wie das gehen soll und wie es sich zeigt: Kind Gottes zu sein; wenn er schreibt: wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Was bedeutet das also Kind Gottes zu sein? 

Also es bedeutet schon mal nicht, einfach so als mündiges, erwachsenes, volljähriges Kind Gottes die eigene Mündigkeit abzulegen und in eine falsche, altersunangemessene Kindlichkeit zu regredieren – und sei es nur zeitweise, weil gerade Weihnachten und also Fest des Kindes ist. Das wäre kindisch; eine Rolle rückwärts in die Kinderrolle mit der wir auf dem Bauch landen: Bauchlandungen, Bauchplatscher tun weh, das weiß jedes Kind. Und erlebt haben wir das auch schon, ich wette, die meisten von uns und nicht nur im Schwimmbad. Bauchplatscher tun weh, das weiß jedes Kind und als Erwachsene sollten wir es nicht vergessen.

Einer unser Lehrer, der neben der Theologie auch die Psychiatrie lehrte und selbst praktizierte, hat uns Studenten in der letzten Stunde vor Weihnachten regelmäßig davor gewarnt, nun zu Hause über die Feiertage in die Kinderrolle zu schlüpfen oder in sie gedrängt zu werden. Junge Erwachsene, die das ganze Jahr über ihren Alltag bewältigen und dabei sind, auch in geistigen Dingen, über ihre Herkunft herauszuwachsen, passen nicht einfach so wieder an den Gabentisch und unter den Weihnachtsbaum. 

Auch sonst und viel allgemeiner wird ja gelegentlich auf die raumgreifende Infantilisierung in unserer Gesellschaft geschaut, etwa das Fernsehprogramm, die Musikindustrie, die Mode, unsere Schönheitsideale. Wir halten Jugend an sich für schön, tönen unsere Haare, glätten unsere Haut und verschandeln dabei die bezaubernde Schönheit eines Gesichts, das von seinem Leben erzählt. Die Werbeindustrie terrorisiert mit der von ihr erfundenen konsumrelevanten Altersgruppe der jungen Erwachsenen als Kindchenschema unsere Schönheitsideale: „So ihr nicht werdet wie die Kindlein“ – aber so hate Jesus es nicht gemeint.   

Gottes Kinder zu sein bedeutet umgekehrt aber auch nicht, dass wir als trotzige Kinder Gottes uns auflehnen gegen alle Ordnung um jeden Preis; aufbegehren und empören, um des Aufruhrs willen: Empört euch! War der Titel eines Buches, der vor ein paar Jahren ordentlich Furore gemacht hat; offen und deshalb anschlussfähig nach allen Richtungen, die sympathischeren wie Fridays for future und die unsympathischen wie Gelbwesten oder Querdenker gleichermaßen. Der prometheushafte Widerstand gegen die Kinderrolle, bestätigt und befestigt sie nur noch mehr. Auch der Rebell ist nicht selten nur das rebellische Kind. Als Rebell gegen meinen Ursprung bin ich umso fester an ihn gefesselt.

Dagegen ist es eine Wohltat, wenn der pubertäre Familienzoff – von gesellschaftlichen Konflikten mal zu schweigen – irgendwann wieder abklingt; wenn irgendwann sogar wieder friedliche Weihnachtsfeiern zwischen Eltern und Kindern möglich sind, neue Gelassenheit einkehrt; also Erfahrungen gemacht wurden, die die Eltern wieder erträglich und die Kinder wieder verträglich gemacht haben. Nicht selten – aber vielleicht doch ziemlich selten – weicht das dann auch wieder den Adoleszenz-Atheismus auf; ohne an den Anfang unseres Kinderglaubens zurückzukehren, können wir doch wieder etwas mit Gott anfangen.   

Erwachsene Kindschaft bedeutet nun aber drittens ebenfalls nicht, dass wir unsere Kinder oder unsere Eltern – geschweige denn Gott als Vater – für Freunde oder gar Kumpels halten. Bei aller Freundschaftlichkeit und gewachsenen Gemeinsamkeiten als gemeinsam Erwachsene tun wir uns und ihnen und insbesondere unserem Verhältnis ein Unrecht an, wenn wir es für gegenseitig gleich halten. Das ist es nicht und wird es nie sein. Meine Eltern sind mein Ursprung; uns verbindet eine kausale und vektorielle Beziehung, die nicht umzukehren ist; auch nicht und schon gar nicht, wenn sich mit den Jahren die Versorgungsbedürftigkeit dreht, wir als Kinder für unser Eltern sorgen, ihnen vorlesen, ihre Steuererklärung schreiben, sie womöglich füttern und ihre Windeln wechseln. Trotz solcher elterlichen Aufgaben und obwohl es uns dann so vorkommen kann, werden wir nie und nimmer die Eltern unserer Eltern. Sie sind und bleiben – bleiben es noch als Verstorbene und in ferner, verblassender Erinnerung – unser Ursprung, das „Woher unseres Umgetriebenseins“, von denen unsere Existenz abhängig ist und abhängig bleibt.

Wer hier nun in den elterlichen Definitionen Gottesprädikate mithört, liegt richtig. Das ist sicherlich zunächst mit „Gott als Vater“ und „Kinder Gottes“ gemeint: Wir beziehen uns mit der Redeweise von Gott als unserem Vater und uns als seinen Kindern auf einen Ursprung außerhalb unserer selbst; wir benennen die Richtung aus der wir kommen und damit die Richtung, in die wir gehen; und wir fühlen durch die Abhängigkeit von unseren Eltern die geschöpfliche, also schlechthinnige Abhängigkeit von Gott.

Das erschöpft aber noch lange nicht das religiöse Sprachbild von Gott dem Vater. Wir sind bei aller kategorialer Verschiedenheit und prinzipieller Abhängigkeit eben auch in einem sehr weitreichenden Sinne unseren Eltern gleich: in Herkunft, im Aussehen und in Gewohnheiten; in unserer lange Jahre gemeinsamen Lebensgeschichte und in unseren Genen als neue Mischung alter Karten; andere Gene als unsere Eltern haben wir nicht und können wir nicht haben; nur halt anders gemischt.

Unser Predigttext überträgt auch diesen Aspekt der Gleichheit zwischen Eltern und Kindern in den religiösen Bereich: wir werden ihm – Gott dem Vater – gleich seinDas ist einerseits eine theologische Kühnheit, die natürlich vom Teufel höchstpersönlich von Anfang an in die Ur- und Erbsünde verdreht wird, indem er den Sündern verspricht: „Ihr werdet sein wie Gott!“, uns Menschlein aber in Wahrheit auf seine Seite ziehen will. 

Das Sätzchen wir werden ihm – Gott dem Vater – gleich sein verweist aber andererseits auf die biblische Begründung der Menschenwürde, der Gottebenbildlichkeit von uns Menschen; noch vor allen Verdrehungen des Teufels wird ganz am Anfang der Bibel ein für alle Mal und für alle Menschen bestimmt und festgelegt: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn“.

Was damit aber – mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen – gemeint ist, kann angesichts der unübersehbaren Regalmeter theologischer Weisheit zum Thema erstaunlich einfach gesagt werden: Es ist natürlich unser gottgegebenes, wahrhaft göttliches Talent zur Liebe, also grundsätzlich die Fähigkeit über die Grenzen unseres natürlichen Egoismus hinauszureichen. Und damit haben wir auch die Antwort auf die eingangs gestellte Frage gefunden: Was bedeutet das also Kind Gottes zu sein? 

Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!  Gott ist uns Vater, wir sind Gottes Kinder, insofern und weil er uns liebt. Alle anderen noch so akribischen und klüglichen Betrachtungen über die väterlichen und die kindlichen Verhältnisse werden zum bloßen Hintergrundrauschen – bloß tönernes Erz und klingende Schelle – hinter dem klaren Hauptton: „die Liebe ist die größte unter ihnen“ – nämlich die größte unter den gottgegeben Gaben, die uns Menschen auszeichnen.

Vater, Mutter sind wir dann, wenn wir lieben; wenn ein anderes wichtiger ist als wir selbst; wenn wir nichts für uns selbst zu sein zu vermögen. Als Kind wird uns ein Platz im Leben unserer Eltern eingeräumt; den müssten sie nicht mit uns teilen. Als Gottes Kinder räumt uns Gott einen Platz zum leben ein, Spielraum unserer Freiheit, Gelegenheit seine Liebe als unsere Liebe weiterzugeben. Darum also geht’s an Weihnachten. Amen.

Predigttext Heilig Abend 2021

Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Israeliten. Er aber wird auftreten und sie weiden in der Kraft des Herrn und in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden bis an die Enden der Erde. Und er wird der Friede sein.                                    (Buch des Propheten Micha 5,1-4a)

Dass Kleines, ja Kleinstes oder Winzigstes größte Wirkungen haben kann, wissen und erleben wir seit beinahe zwei Jahren im Bösen; ein britischer Mathematiker mit Humor und ebenso viel freier Zeit hatte schon vor Jahr und Tag ausgerechnet, dass alle Coronaviren, die zu jenem – aber vermutlich auch zu diesem – Zeitpunkt ihr Unwesen trieben und treiben, in eine schnöde Coladose passen, was für ein Hohn! Der Mikrokosmos, was sage ich: der Nanokosmos als Grausen und Nemesis des Makrokosmos.

Anders stimmt es gottseidank auch: Kleines und Kleinstes kann große Wirkung auch im Guten haben; und weil heute – trotz alledem und wieder und eben alle Jahre wieder – Weihnachten werden soll, sei uns die Weihnachtsbotschaft vom kleinen Kind, der Gottes Friedensreich aufrichten wird, gesagt; sei uns das Evangelium vom winzigen Baby aus Bethlehem verkündet, der kleinsten und unbedeutendsten Stadt eines kleinen und unbedeutenden Landes, mit einer – aus imperialer Perspektive – obskuren und unbedeutenden Religion. 

Wahrscheinlicher – nach aller Logik und Lehre der Geschichtswissenschaft, der Ökonomie und der politischen Kunst – wahrscheinlicher wäre es, heute den Sol invictus, die unbesiegte Sonne, zu feiern, wie ihn die Römer an dem Tag gefeiert haben, der viel später erst mit einer gehörigen Portion religionsevolutionärer Dreistigkeit zum Weihnachtstag auserkoren wurde. Was für eine Ironie der Geschichtsläufe: Am Tag des großen, gewaltigen, unbesiegten, unbesiegbaren Sonnengottes, geht nun ein ganz anderes Licht auf, das kleine Licht von Bethlehem, Geburtsort des kleinen Säuglings, der nach seiner Mama schreit und in die Windeln macht. 

Wahrscheinlicher wäre gleichfalls – nur vom anderen Ende der Zeit betrachtet – dass wir Baal huldigten – tun wir´s nicht schon? -: nicht dem kleinen Jesulein, sondern dem groben, gefräßig-gierigen, geilen Gott der Stadt, wie ihn der Dichter Bertolt Brecht besungen hat, und der vermutlich viel eher gemeint ist, wenn in Zeiten wie den unsrigen über das ausgefallene Weihnachtsfest lamentiert wird. Und vermutlich ist dieser Baal auch gemeint, wenn dieser Tage die Freiheit der Mächtigen und das Recht der Stärkeren gegen die Schwachen gerichtet werden. Baal kennt nur sein Recht und seine Freiheit, soll doch die anderen – die Alten, die Dicken, die Kranken – das Virus fressen und der Teufel holen. 

Gegen mächtige Konkurrenz – sollen wir sie übermächtig nennen? – und gegen alle Wahrscheinlichkeit feiern wir heute unseren Gott als Kind, achten frech das Kleine höher als das Große, besingen Bethlehem die kleine Stadt, halten sie für bedeutender als Rom, Ninive, London oder New York und alle Metropolen aller Zeiten zusammen. Denn von dort – also auch von hier, wenn von ihr hier gesprochen wird – geht die neue Zeit aus, eine Herrschaft neuen Typs, nicht der Macht und der Gewalt, sondern des Rechts und des Friedens; eine Zeit nicht der Großmäuler und Schulhofschläger sondern des guten Königs aus dem Hause und in der Tradition Davids, der heutzutage seinen dynastischen Stammbaum für entbehrlich halten kann und gerne demokratisch gewählt und republikanisch gesonnen sein darf; wenn er – ja wenn er nur die Seinen – also uns – weide in der Kraft des Herrn und in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes

An Weihnachten feiern wird das Kleine, das erst Gott im Glauben und durch das für den Glauben vorgesehene Organ unseres Leibes, die Seele nämlich, groß macht: Magnificat anima mea, wie Maria damals sehr treffend mit dem Heiland im Mutterleib sang, da war er also noch etwas kleiner als später in seinen bald sauberen, bald schmutzigen Windeln: Meine Seele erhebt den Herrn, Meine Seele macht den Herrn groß, Magnificat anima mea dominum. 

Magnifique ist Weihnachten nicht, weil es so schon ist, sondern im Glauben so werden soll und so werden wird, weil Gott es will.  Denn er wird zur selben Zeit herrlich werden bis an die Enden der Erde. Und er wird der Friede sein.  Amen.            

Predigttext für den 3. Advent, 12. Dezember 2021

Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse.
Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden.
Mir aber ist’s ein Geringes, dass ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Gericht; auch richte ich mich selbst nicht.
Ich bin mir zwar nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt; der Herr ist’s aber, der mich richtet.
Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteilwerden. (1. Korinther, 4,1-5)

Die Kirche, liebe Schwestern und Brüder,
die Kirche befriedigt keine Bedürfnisse sondern feiert Gottes Geheimnisse.
So hat es sinngemäß vor nicht allzu langer Zeit ein hoher katholischer Würdenträger geäußert.
Und dem ist – meine ich – auch evangelischerseits wenig hinzuzufügen.

Denn bei aller Übersetzungsarbeit, bei allen Bemühungen um Verständlichkeit, bei allem Kontakt zur aktuellen Wirklichkeit, geht es darum, Gott und nur ihn im Gottesdienst zu feiern, ihm, Gott, treu zu bleiben, seinem Geheimnis in unserem Leben einen Platz einzuräumen, also: Gott als Geheimnis der Welt zu erleben und zu feiern.

Die Biblische Botschaft damit nicht vom Urteil und der Kritik der Gesellschaft abhängig zu machen – sondern im Gegenteil, Gottes Urteil und Gericht über uns laut werden zu lassen.

In diesem Sinne Gott bei uns Platz einzuräumen; Gott groß zu machen, wie das Maria in ihrem adventlichen Lobgesang macht: „Meine Seele erhebt den Herrn“.

Dass dabei bekannte Sichtweisen verändert werden, dass dabei Größenverhältnisse, ja sogar Herrschaftsverhältnisse umgekehrt werden, bleibt nicht aus: Gott, sein Urteil, stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.

Das, was sonst überall gilt, hat in Gottes Namen noch lange keine Geltung.
Die, die sonst überall das Wort ergreifen und ihren Willen durchsetzen, sollen in der Kirche Jesu Christi gerade nicht den Ton angeben.
Gott nämlich „zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn“.

Wenn dagegen die Kirche bloßes Spiegelbild der Gesellschaft bleibt,
ihre Äußerungen bloßes Echo dessen sind, was ohnehin gedacht, gemeint, gesagt und geschrieben wird,
und ihr Handeln bloß der Erfüllung von Bedürfnissen – und sei es von religiösen Bedürfnissen – dient,
dann hat die Kirche ihren Sinn verfehlt.
Als öffentlich-rechtliche Bedürfnisanstalt für religiöse Angelegenheiten mag sie dann noch durchgehen – zur Dienerin Christi und Haushalterin über Gottes Geheimnisse taugt sie nicht mehr. Dafür aber, sagt Paulus, halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse.

Und wir dürfen – meine ich – hinzufügen: für treue Diener und gewissenhafte Haushalter Gottes gegenüber und bisweilen auch gegen Kirche und Gesellschaft:
Dass wir uns zuerst und den anderen aber auch sagen, was uns fehlt, wenn uns etwas fehlt, wenn uns Gott fehlt.

Hier, liebe Schwestern und Brüder, an dieser Stelle wäre nun etwa die Stimme zu erheben für einen Bußruf passend zur adventlichen Bußzeit:

Ein Ruf: Gegen die Gottesvergessenheit unserer Kirche und die Gottlosigkeit unserer Gesellschaft.
Etwa gegen immer neue kirchliche Strukturreformen, die doch nur die Gemeinden in ihren Rechten und Mitteln berauben, dass am Ende – also etwa am Ende von 2030, dem großen „Kirchenzerstörungsreformwerk“ unserer hessisch-nassauischen Kirche – ein selbstermächtigter Funktionärsklerus in Verwaltung und Leitung durchregiere.
Oder gegen die Marginalisierung des christlichen Glaubens in einer sich selbst säkularisierenden Gesellschaft – in der etwa – wie in der vergangenen Woche geschehen – nur noch eine Minderheit der neuen Regierenden Gott den Herrn beim Amtseid nennt und kennt und damit zumindest dem Anschein von Selbstherrlichkeit wehrt. Was hat es uns eigentlich zu sagen, dass diesmal nur und ausgerechnet die Minister einer liberalen – und damit traditionell eher religionskritischen – Partei geschlossen Gott um Hilfe bitten – „so wahr mir Gott helfe!“; sozialdemokratische und ökologische hingegen mehrheitlich oder gleich ganz darauf verzichten zu können meinen? Ist mir da was entgangen?

Wenn ein weiterer kirchen- und kulturpessimistischer Rundumschlag, auf den vermutlich nicht alle von uns gleich viel Lust haben; wenn der also hier und heute aber dennoch ausbleibt, liegt das an einer Entdeckung, die an unserem Predigttext zu machen ist. Paulus nämlich enthält sich – zumindest und auffälligerweise gerade an dieser Stelle – solcher weitausholender Kritik.

Der Vergewisserung des Paulus, dass wir als Christenmenschen Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse sind, folgt weder die von mir unterstellte, aber wie ich finde vertretbare Gegenüberstellung von Gottes Geheimnis – und menschlichem Bedürfnis,
noch folgt beim Apostel die prophetische Kritik an gesellschaftlichen und kirchlichen Verhältnissen.

Das glatte Gegenteil passiert: Der Apostel ermahnt uns zur Zurückhaltung bei der Kritik.
Richtet nicht! Richtet nicht selbst, denn Gott ist euer Richter. Gerade in religiösen Urteilen ist Zurückhaltung gefragt.

Das Auftreten dieses oder jenes Geistlichen mag nicht das meine sein.
Bestimmte Frömmigkeitsformen mögen mich nicht ansprechen.
Auftreten und Lebensstil anderer befremden mich vielleicht.
Diese oder jene Annäherung an das Geheimnis Gottes mag uns fremd sein und fremd bleiben…

Wenn aber Religion wirklich Sinn und Geschmack für das Unendliche ist, dann muss nicht alles Unsinn sein, was mir nicht gleich in den Sinn geht; dann kann auch gelegentlich eine Frage als Geschmacksfrage offen bleiben, über die nicht zu streiten und die erst einmal nicht zu kritisieren ist. Denn erst Gott der Herr wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen.

Paulus, den wir ja auch als Polemiker, als vehementen Kritiker religiöser Zustände kennen, empfiehlt hier Zurückhaltung im religiösen Urteil.
Sicherlich nicht zuletzt aufgrund der Anfeindungen, denen er sich selbst ausgesetzt sah.
Dabei folgt diese Zurückhaltung in religiösen Fragen keinem taktischen Kalkül, sondern dem Glauben an den ankommenden Gott. Paulus und ja auch wir leben in einer Zeit, die auf ein Ziel zuläuft: Die Ankunft Gottes.

Die noch ausstehende, die zukünftige Ankunft stellt unser Leben unter einen Vorbehalt.
Das ist schon wichtig, was wir jetzt tun und lassen, was wir reden und wovon wir schweigen. Aber unser Tun und Lassen, unser Reden und Schweigen wird von dem Anspruch befreit,
wir werden von dem Anspruch befreit, perfekt sein zu müssen – jetzt schon und von uns aus perfekt sein zu müssen. Das sind wir ohnehin nicht – aber wir müssen das auch nicht anstreben. Und wir können uns deshalb auch das eine oder andere an Kritik sparen, die wenig zum Guten verändert aber viel Unfrieden schafft.
Im Kern liegt hier in den wenigen Worten des Paulus an die Korinther die Leitlinie christlich verstandener Toleranz:
Der ist es nicht egal, was gesagt und getan wird.
Die verkündet keinen religiösen Relativismus.
Die propagiert nicht das große ethische Einerlei.
Die singt schon gar nicht das Hohelied auf die moderne religions-distanzierte Gesellschaft.

Aber diese christliche Toleranz erkennt an, dass nicht wir das letzte Wort über unser Leben, über unser Handeln, Reden und Glauben sprechen. Gott tut das. Gott wird das tun bei seiner endgültigen Ankunft. Die steht noch aus. Aber es lohnt sich, darauf zu warten.
Darum richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Herzen offenbar machen. Dann wird einem jeden von Gott sein Lob zuteilwerden.

Bis dahin geht es in Ordnung, auch anderes gelten zu lassen –
Solange wir selbst nur von jedermann für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse gehalten werden können.
Amen.

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Predigttext für den 2. Advent, 5. Dezember 2021

Predigttext für den 2. Advent, 5. Dezember 2021

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich.

Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, HERR, bist unser Vater; »Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name.

Warum lässt du uns, HERR, abirren von deinen Wegen und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten? Kehr zurück um deiner Knechte willen, um der Stämme willen, die dein Erbe sind!

Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben, unsre Widersacher haben dein Heiligtum zertreten.

Wir sind geworden wie solche, über die du niemals herrschtest, wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde. Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen,

wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten,

wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten – und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen! –

und das man von alters her nicht vernommen hat. Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.

(Buch des Propheten Jesaja 63,15 – 64,3)

Komm raus, Gott, wenn es dich gibt!
Zeige dich, damit wir dich sehen!
Zeige, was du kannst! – Wenn du was kannst!
Reiß den Himmel, den Vorhang zwischen dir und uns endlich auf, reiße ihn ein, lass dich sehen.
Zeige deine Taten!

Das Warten ist dem Propheten lang geworden, zu lang. Jetzt muss auch einmal etwas passieren. Nach so viel Passivität; nachdem so lange nichts geschah.

Das Warten ist dem Propheten lang geworden. Nach so viel Leid und Unrecht, die der Prophet miterleben musste. Nach so viel Abfall von Gott, nach Eroberung des Heiligen Landes, nach dem Verlust der heiligen Stätten, nach der Zerstörung des Tempels durch die Babylonier, nach Verschleppung und Erniedrigung – nach so vielem, das gegen Gott spricht – soll Gott endlich wieder sprechen: ein Machtwort, eindeutig, klar, machtvoll. Zeige dich Gott, damit wir an dich glauben können!

Das Warten ist dem Propheten lang geworden – und so verlangt er um des Glaubens willen Zeichen und Taten Gottes; Zeichen und Taten, wie es sie früher gab und wie es sie heute wieder geben soll. Eine Erscheinung in Macht und Herrlichkeit, mit Feuer und Rauch, mit Aufwallungen der Natur, die das Kommen des Schöpfers begleiten.

Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen,
wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden und die Völker vor dir zittern müssten,
wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten – und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen!

So hatte man sich das vorgestellt im alten Israel, im alten Orient überall, die machtvolle Niederkunft Gottes auf der Erde, seiner Erde, die er doch samt Himmel geschaffen hat. Das wollen wir glauben – so zeige uns, dass unser Glauben recht hat. Damit wir alles andere ertragen können.

Das Warten ist dem Propheten so lang geworden, dass er nun in prophetischer Ungeduld, Gott vom Himmel herab wünscht, ihn herabpredigen möchte, ihn hinunterzwingen möchte in die ganze Trostlosigkeit unserer menschlichen Existenz.

Wer könnte ihm in seinem prophetischen Eifer schon widersprechen? Wer könnte ihm sagen: das gehört sich nicht. Sei still und gib dich zufrieden! Harre des Herrn! Befiel dem Herrn deine Wege, er wird’s wohl machen! Oft genug sagen wir uns das, immer wieder sagen wir das, aber die Unheile nehmen ihren Lauf, die Verhängnisse gehen ihre Bahn, – und darüber wird das Warten länger, wer sollte da nicht auch seine Geduld verlieren?

Wenn Menschen, die wir lieb haben und lieb hatten, wenn die dann sterben müssen, aber nicht sterben können, sich quälen auf ein langes Ende hin – und das Warten lang wird.

Wenn Menschen, die wir lieb haben und für die wir Verantwortung haben, krank werden und leiden – immer wieder ja – und wir nicht wissen, ob es und wann es ein Ende haben wird, das Leiden und das eingeschränkte Leben – und das Warten darüber lang wird.

Wenn Menschen und Völker sich seit Generationen immer tiefer, immer tiefer in ihren Hass verstricken, Gewalt neue Gewalt schafft, Leben und Lebensmöglichkeiten zerstört, sogar das Wissen davon zu zerstören droht, dass auch ein anderes Leben möglich ist – und das Warten darüber unendlich, quälend lang wird.

Dann lässt sich doch gar nicht anderes tun als unserem ungeduldigen, zornigen Propheten zustimmen und mit ihm einstimmen in seine Rede:

So schau nun vom Himmel und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung! Wo ist nun dein Eifer und deine Macht? Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart gegen mich. Bist du doch unser Vater!

Solcher prophetischer Zorn ist allemal besser, als Resignation und Gleichgültigkeit, die mit Gott nicht mehr rechnet, die sich selbst säkularisiert hat wie unsere Gesellschaft, wie unsere Kirche sogar, die sich weithin mit sich selbst beschäftigt, sich organisiert und verwaltet, aber kaum noch mit ihrem Gott beschäftigt; kaum noch auf ihren Gott wartet, von dessen Kommen sie spricht aber nichts mehr weiß.

Solcher prophetischer Zorn ist aber noch nicht das Beste in unserem Warten. Zu sehr erinnert dieses Warten mit seiner Erwartung an einen tobenden, mächtigen Gott an jene andere Prophetengeschichte, damals bei Elia, in der auch auf ein Zeichen Gottes gewartet wird, in der Gott erwartet wurde, also Gott im großen, starken Wind erwartet wurde, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach; Gott aber war nicht im Wind; und Gott im Erdbeben erwartet wurde, aber er war nicht im Erdbeben; und im Feuer erwartet wurde – aber war nicht im Feuer: Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen – darin sprach Gott..

Als Wartende werden unsere Erwartungen enttäuscht. Das mag schmerzhaft sein; aber es ist ein heilsamer Schmerz.

Unsere Täuschung wird aufgehoben; Gott sei Dank!
Gott entspricht nicht unseren Erwartungen, aber ein bloß erwarteter Gott, einer der unseren Erwartungen entspricht, wäre gar nicht Gott.
Ein Gott, der unseren Wünschen – und seien es die frommsten Wünsche – ein Gott, der unseren frommen Wünschen entspricht, ist nicht Gott; sondern Einbildung, Phantasie, ein Götze, der unsere Frömmigkeit nicht verdient.
Der lebendige Gott – und auf den lebendigen Gott warten wir doch – lässt sich nicht erwarten, nicht ausrechnen in seinem Handeln und seinem Kommen. Wenn wir ihn im Getöse erwarten, dann kommt er erst recht im sanften Säuseln des Windes.

Das scheint unserem zornigen Propheten, dem das Warten lang geworden ist, beinahe aus dem Blick geraten zu sein.
Beinahe: denn er sagt es ja selbst; dass Gott so kommen möge, wie man von alters her nicht vernommen hat. Wie es kein Ohr gehört, kein Auge gesehen hat; einen solchen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.

Vielleicht fällt es diesem lebendigen Gott ein – gerade nicht in Macht und Herrlichkeit zu kommen – sondern – sagen wir mal etwas besonders Merkwürdiges, etwas besonders Gewagtes, etwas ganz und gar Unerwartbares: Vielleicht fällt es diesem Gott ein, als Mensch zu uns zu kommen; oder machen wir es noch merkwürdiger, noch gewagter, noch unerwartbarer; vielleicht gefällt es Gott als Mensch geboren zu werden, als kleines Kind zu uns zu kommen, damit er uns so aus unserem Elend erlöse.

Denn: »Unser Erlöser«, das ist doch von alters her dein Name. Und: Kein Ohr hat gehört, kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir, der so wohl tut denen, die auf ihn harren.

Darauf – das Gott kommen möge, wie er will – darauf lasst uns warten. Amen.

1. Advent, 28. November 2021

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.

Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: »Der HERR unsere Gerechtigkeit«.

Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der HERR, dass man nicht mehr sagen wird: »So wahr der HERR lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«,

sondern: »So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« Und sie sollen in ihrem Lande wohnen. (Buch des Propheten Jeremiah 23, 5-8)

Es kommt die Zeit, spricht Gott durch seinen Propheten, wenn es um das Gottesreich gehen soll, jenes Reich, in dem ein guter König – und das ist in der Tradition der Bibel ein Nachfahre des König David – Recht und Gerechtigkeit und Frieden – also den Frieden Gottes für die ganze Welt, den Schalom – für alle schaffen wird: Es kommt die Zeit.

„Es kommt die Zeit“, dichtet und singt der Volkssänger Campino von der Düsseldorfer Deutschpunk-Kombo Die Toten Hosen – die Älteren unter den Jüngeren werden sich erinnern – und bekennt dann halbironisch und ganz ernst seinen Glauben an ein zukünftiges Friedensreich, in dem Liebe und Gerechtigkeit herrschen, so – beinahe so – wie es in der Bibel steht:

„Es kommt die Zeit …

Ich glaube, dass die Welt sich noch mal ändern wird
Und dann Gut über Böse siegt …
Alle werden wieder voreinander gleich
Jeder kriegt, was er verdient

Ich glaube, dass die Menschheit Mal in Frieden lebt
Und es dann wahre Freundschaft gibt
Und der Planet der Liebe wird die Erde sein
Und die Sonne wird sich um uns drehen

Es wird ein großer Sieg für die Gerechtigkeit
Für Anstand und Moral
Es wird die Wiederauferstehung vom heiligen Geist
Und die vom Weihnachtsmann

Es kommt die Zeit …“

Wie gesagt, beinahe so wie es in der Bibel steht, sogar der weihnachtliche Bezug fehlt nicht; nur dass der Sänger mit seinen Wünschen und Träumen von einer besseren Gesellschaft und einer besseren Welt sich selber nicht ganz zu glauben scheint.

Glauben wir uns? Glauben wir unseren Propheten? Glauben wir unseren Träumen von einer besseren Gesellschaft und einer besseren Welt?

Zumindest wird man weder dem Propheten noch dem Sänger eine blauäugige Realitätsflucht nachsagen können; denn beide formulieren ja ihre Wünsche und Hoffnungen für eine bessere Welt angesichts einer miserablen Gegenwart, die ihrerseits vom guten Ende aus gesehen nur noch als „ein alter böser Traum“ erscheinen wird.

Davon können wir gerade nur träumen, nämlich unsere Gegenwart endlich für einen bösen alten Traum halten zu dürfen; noch sind wir ja gefangen in der Dauerschleife dieses Corona-Alptraums, der zwar in vielen – zuerst den Ärzten und Wissenschaftlern und Pflegern – viel Gutes hervorbringt; aber in viel zu vielen anderen von uns Schlechtes und Schlechtestes. Zwei Jahre Stress haben uns verändert und eben nicht durchweg zum Besseren: in anderen Zeiten harmlose Spinnereien – was juckt es mich normalerweise, wenn andere sich nicht impfen lassen? Selbst dran schuld, wenn sie erkranken! – eigentlich für andere harmlose Spinnereien verwischen unter Seuchenbedingungen die Konturen von Wahrheit und Wirklichkeit; harmlose Spinner verwandeln sich in Randalierer und Umstürzler; die Unterschiede in der Gesellschaft verschärfen sich in schneidende Gegensätze und eine gemeinsame Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit verschwindet im Novembernebel der Pandemie.

Wehe den Hirten, die die Herde meiner Weide umkommen lassen und zerstreuen!, spricht der Herr (Jeremia 23,1) durch seinen Propheten Jeremia unmittelbar vor unserem Predigttext – und er scheint es direkt in unsere verwirrte und zerstreute Gesellschaft zu sprechen, in der so viele Menschen umkommen, den Seuchentod sterben müssen, in der vergangenen Woche – so haben wir es gehört – ist die Zahl der Coronatoten allein in unserem Land bei über 100.000 angekommen, was für eine Tragödie! Und die anderen, die sie nicht direkt trifft, müssen sich dennoch wieder einmal in das Exil des eingeschränkten Lebens begeben, mit Kontaktverminderung und dem ganzen Rest und Mist.

Und auch wenn wir die bisherige Regierung und die neue, die ja mindestens zur Hälfte die alte ist, bestimmt nicht für die bösen Hirten halten müssen, die ihre Herde umkommen lassen und zerstreuen, so tun wir ihnen – also den alten und den neuen alten Regierenden – gewiss auch kein Unrecht, wenn wir sie ebenfalls nicht für die biblisch erhofften, prophetisch angekündigten neuen guten Könige halten, die ein für alle Mal Recht und Gerechtigkeit aufrichten, dass alles gut werde, für immer und ewig.

Wir treten ihnen nicht zu nahe, wenn wir sie nicht für die gerechten Friedensherrscher halten und ihr Programm nicht für das Evangelium. Und doch müssen sie sich an dem Maßstab von Recht und Gerechtigkeit messen lassen – natürlich unter den Bedingungen und Begrenzungen fehlerhafter Menschen, die sie sind. Auch ihnen wird nach den vier Jahren ihrer Amtszeit viel zu vergeben sein – nämlich was sie uns zu einer besseren Gerechtigkeit schuldig geblieben sind.

Und hier scheint mir nicht nur der religiöse sondern auch der politische Sinn dieser prophetischen Texte eines Jeremia zu liegen, der selbst seine Worte nie nur religiös sondern immer auch politisch gemeint hat. Der gute König aus dem Hause David, der Frieden und Gerechtigkeit aufrichtet, war das Herrscherideal, vor dem sich der real existierende Herrscher messen musste. Was ja nicht einer gewissen Ironie entbehrt, da der biblisch erzählte, geschweige denn ein realer König David keineswegs seinem eigenen Idealbild entsprach. Der gute König ist also sozusagen doppelt fiktional: es gibt ihn nicht gegenwärtig als Realpolitiker und das verklärte Bild von ihm in der Rückschau ist eben genau das – eine Verklärung einer guten alten Zeit, die es nie gab. Wann hätte es die je gegeben?

Und dennoch entfaltet sein Bild Wirkung in der Wirklichkeit: die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, das Verlangen nach Frieden und die Idee eines guten Ortes zum Leben – was die biblische Sprache im Wort Schalom zusammenfasst – sind in der Welt und wirken – jetzt schon; noch der Altpunker Campino (in einem Interview 2007) muss zugestehen: „Das Lied war eigentlich ironisch gemeint, aber die Leute haben es oft nicht so interpretiert. Also habe ich mir gesagt: Bitteschön, wenn denen das Mut macht, ist es auch okay.“

Das dürfte seine Umschreibung dafür sein, dass der Glaube an eine zukünftige, andere Wirklichkeit unsere gewohnte Wirklichkeit jetzt schon verändern kann, oder wie Jesus gelegentlich gesagt hat: Glaube versetzt Berge (Matthäus 17,20). Allein der Glauben an eine zukünftige Gerechtigkeit macht jetzt schon Mut für mehr und für eine bessere Gerechtigkeit. Es kommt die Zeit!

Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres, 7. November 2021

Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande
der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk
und all ihre Sünde bedeckt hast;
der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen
und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:
Hilf uns, Gott, unser Heiland,
und lass ab von deiner Ungnade über uns!

Willst du denn ewiglich über uns zürnen
und deinen Zorn walten lassen für und für?
Willst du uns denn nicht wieder erquicken,
dass dein Volk sich über dich freuen kann?
Herr, zeige uns deine Gnade
und gib uns dein Heil!

Könnte ich doch hören,
was Gott der Herr redet,
dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen,
auf dass sie nicht in Torheit geraten.

Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,
dass in unserm Lande Ehre wohne;
dass Güte und Treue einander begegnen,
Gerechtigkeit und Friede sich küssen;
dass Treue auf der Erde wachse
und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;
dass uns auch der Herr Gutes tue
und unser Land seine Frucht gebe;
dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe
und seinen Schritten folge. (Psalm 85)

Am Tag nach dem Mauerfall – am 10. November 1989 – hatten wir neben ungläubigem Staunen und großer Freude über den Lauf der Geschichte – ausgerechnet am 9. November – auch noch erlebt und gelernt, dass uns als Land und als Volk beides, Lied und Gesang, fehlten, um diesem Staunen und dieser Freude Ausdruck zu geben. Bundeskanzler Kohl und Altkanzler Brandt – Gott hab sie selig! – und zahlreiche weitere Politiker hatten am Ende einer Kundgebung vor dem Brandenburger Tor, die den überaus erfreulichen historischen Moment würdigen sollte, die Nationalhymne angestimmt, sie auch tapfer aber ganz und gar kläglich zu Ende gebracht unter dem ohrenbetäubenden Gejohle und Gepfeife ihrer Zuhörer, während wir Zuschauer am Fernsehen doch eher peinlich berührt waren – und wären das vielleicht auch gewesen – also peinlich berührt, wenn es besser geklungen und besser geklappt hätte.

Denn jedes Schulkind – und die Älteren sowieso – kannte ja die Bilder von den Umzügen nur wenige Jahrzehnte zuvor, als am selben Ort dasselbe Lied gesungen, bzw. deutlich kraftvoller gegrölt wurde und in deren Tradition jeder Sänger dieses Liedes unweigerlich steht – wie auch in der Tradition von Missetat und Sünde, um deren Vergebung wir wie der Beter unseres Psalms bitten können, die Nachfahren unserer Opfer zuerst, aber auch Gott: der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk/ und all ihre Sünde bedeckt hast.

In diesem Zusammenhang wirkte es unschicklich – bei aller berechtigter Freude – an diesem Ort mit diesem Lied dieser Freude Ausdruck geben zu wollen. Das Lied kann nichts dafür, dass es missbraucht wurde, aber wir können seinen Missbrauch nicht ignorieren.

Dabei wäre es doch schön, ein Lied zu haben und gemeinsam singen zu können, wenn uns etwas als Volk gemeinsam bewegt, sei es nun gemeinsame Freude wie beim Mauerfall oder etwa auch gemeinsame Sorge wie in den ersten Wochen und Monaten der Pandemie letztes Jahr, als wir uns noch nicht so heillos zerstritten hatten – in Torheit geraten – wie jetzt. Ein Lied, wie unser Psalm 85 heute, das Volksklagelied, das ein Volk in seiner Klage sammelt, seiner Sorge Ausdruck verleiht und dann in der Hoffnung von der Überwindung der Krise auch ein Versprechen, ein Verpflichtung anklingen lässt, zukünftig anders und besser miteinander umzugehen: dass Güte und Treue einander begegnen,/ Gerechtigkeit und Friede sich küssen; und dabei sogar „blühende Landschaften“ herbeisehnt, und unser Land seine Frucht gebe.

Aber auch ohne ein solches Lied, geht es darum in einem Gemeinwesen, sich über die Zeitläufe zu verständigen, die Schuld der Vergangenheit zu benennen, um Vergebung zu bitten und dann auch Vorstellungen für die Zukunft zu entwickeln. Es beschädigt unsere Bemühungen in der Gegenwart und unsere Chancen für die Zukunft, wenn wir uns unserer Missetaten in der Vergangenheit nicht oder nur als Last oder nur als lästige Pflichtübung erinnern. Nicht Vergessen, sondern Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung, heißt es in vielen Ansprachen in diesen Novembertagen, sehr zu Recht und auf vielfältige Weise zu Recht: Für unseren Psalmbeter heißt das, dass er sich an Gott mit der Bitte um Erinnerung wendet, indem er sich selbst erinnert; erst das Aussprechen der eigenen Schuld ermöglicht überhaupt ihre Vergebung; erst Erinnerung schafft die Bedingung der Möglichkeit zur Erlösung: Herr, der du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande/ und hast erlöst die Gefangenen Jakobs;/ der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk/ und all ihre Sünde bedeckt hast/ der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen/ und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:/ Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!

Erinnerung ist eine Frage der Ehre; mit dem Begriff der Ehre überschreibt der Psalmbeter seine Zukunftsvision, was in unseren Ohren einigermaßen unvertraut klingen mag, wobei im hebräischen Original eigentlich Gottes Herrlichkeit, sein majestätischer Lichtglanz und insofern seine heilbringende Gegenwart gemeint ist, die Leben schafft und Lebenserneuerung ermöglicht: Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,/ dass in unserm Lande Ehre wohne . In Luthers Übersetzung klingt aber für mich auch die – ursprünglich gar nicht gemeinte – Ehre eines Volkes an, die durch Sünde, Missetat und Torheit verlorene Ehre; und die durch Erinnerung ermöglichte und durch Gott wiederhergestellte Ehre. Allerdings ist der Ehrbegriff nicht nur unvertraut sondern auch heikel; im Namen der Ehre sind die Massenmörder im schwarzen Gewand ihrem grausamen Geschäft nachgegangen unter dem Wahlspruch: Meine Ehre ist meine Treue; und noch heute werden sogenannte Ehrenmorde begangen – aus Rache für eine Kränkung der eigenen archaischen Lebensvorstellungen. Ohne den Bezug auf die Herrlichkeit Gottes, die auch uns bescheint und darin glänzen lässt, scheint mir der Ehrbegriff religiös untauglich zu sein.

Wie gesagt: im hebräischen Original ist ohnehin eigentlich Gottes Herrlichkeit, sein majestätischer Lichtglanz und insofern seine heilbringende Gegenwart gemeint, die Leben schafft und Lebenserneuerung ermöglicht. Der Psalmbeter versammelt die in seiner Tradition wichtigsten Sozialbegriffe: Güte, Treue, Gerechtigkeit, Frieden – religiöse Buzzwords, um das heilvolle Wirken Gottes zu beschreiben, dass er sich wünscht, dass er erbittet und das er von niemand anders erwarten kann als von Gott alleine: Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,/ dass in unserm Lande – Gottes! – Ehre wohne;/ dass Güte und Treue einander begegnen,/ Gerechtigkeit und Friede sich küssen;/ dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;/ dass uns auch der Herr Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe;/ dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge.

Predigttext für den Reformationstag, 31. Oktober 2021

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. (Brief des Paulus an die Galater 5,1-6)

Welche Freiheit meinen wir, wenn wir von Freiheit sprechen?

Die Freiheit der Autofahrer? – freie Fahrt für freie Bürger! – Oder die Freiheit der Radfahrer? – Immer diese Radfahrer! Fand schon Heinz Erhard. Und neuerdings immer diese Fahrer von Lastenrädern, den SUVs unter den Zweirädern, unter die kann man nicht nur als älterer Mensch leicht geraten. – Oder die Freiheit der Fußgänger? – Gerade in größeren Gruppen beherrschen sie spielend die Technik der nur unmerklichen sich bewegenden Straßensperre.

Die Freiheit der Hundebesitzer oder die Freiheit der Vorgartenhüter? – Ich wurde schon gelegentlich darüber aufgeklärt, dass die Entrichtung der Kirchensteuer doch wohl zur Benutzung des Kirchgartens als Hundeklo befreie. Welche Freiheit? Die Freiheit der Aktionäre oder die Befreiung der Armen? Die Freiheit dieser oder der nächsten Generationen? Freiheit wovon oder Freiheit wozu? Die Freiheit der Regeln oder der Regellosigkeit? Die Freiheit in Bindungen oder die Unfreiheit der Bindungslosigkeit.

Glauben wir noch an die liberale Lüge vom freien Spiel der Kräfte oder an den müden Mythos der Befreiung der Unfreien durch die Umverteilung der Güter – oder dann doch lieber gleich an den Weihnachtsmann? Die Gedanken sind frei.

Bin ich frei, wenn ich alles darf, oder dann, wenn ich manches muss – und ist das vielleicht sogar dasselbe, also dass der, der alles darf, auch alles muss, weil er es kann? Ist die Freiheit als Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit nicht der Eingang in die Unfreiheit der eigenen grenzenlosen Verantwortung unter den engen Bedingungen meiner endlichen Existenz? Ist die Freiheit eine Lust oder eine Last? So viele Fragen – aber allein sie zu stellen und nach den eigenen Antworten leben, heißt frei sein – trotz und in allen Ambivalenzen des befreiten Lebens.

Und welche Freiheit meint überhaupt Paulus, wenn er hier von Freiheit spricht; und welches Joch der Knechtschaft? Er sagt es ja: Paulus meint, dass die Befolgung des jüdischen Ritualgesetzes und also die Beschneidung nicht nur keine Voraussetzung für die Teilhabe an der Gnade Gottes sei, sondern geradezu ihre Verhinderung, weil allein in Christus allein der Glaube Gnade verleiht. Paulus hält die Beschneidung für religiöse Freiheitsberaubung, weil sie den Weg zu Christus auf einen Umweg, nein sogar auf einen Abweg führt.

Nun hat sich zwar diese Fragestellung im engeren Sinne seit längerem für Christen überholt – die allerwenigsten Christen kommen auf die Idee, sie müssten ihre Söhne oder sich selbst beschneiden lassen, um zu Gott zu gehören; und eigentlich ist es eher umgekehrt ein Beispiel von Freiheit, nämlich von Religionsfreiheit, wenn Staat und Gesellschaft trotz gelegentlicher antisemitischer Kampagnen den jüdischen Gemeinden die Beschneidung nicht verwehren – aber die hier von Paulus im Prinzip formulierte Freiheit des Glaubens besteht fort, aktuell wie eh und je; auch angefochten und bedrängt wie eh und je.

Die Freiheit des Glaubens besagt, dass sich keine Autorität, keine Behörde – und noch die wohlwollendste nicht -, auch keine Kirche zwischen mich und meinen Glauben stellen darf. Hilfestellung, Ermöglichung, Unterricht, Vermittlung, Formulierungshilfen – das alles ja: aber kein Zwang in Dingen des Glaubens, denn im Glauben sind wir christus-unmittelbar.

Martin Luther, an den wir uns heute erinnern, war ein treuer Schüler des Apostels und hat dessen Lehre von der christusunmittelbaren Glaubensfreiheit auf die Probleme seiner Zeit angewendet, die für Luther im Wesentlichen in der Gestalt der spätmittelalterlichen-katholischen Kirche begründet lagen. Für ihn und für erstaunlich viele andere (die Reformation war ein unvorstellbar erfolgreiches Massenereignis und ohne die ebenso unvorstellbare Gewalt der Gegenreformation hätte Luthers Reform zumindest nördlich der Alpen die Kirche als Ganze reformiert und nicht nur die beiden Kirchentümer hervorgebracht, die wir heute als die evangelische und die katholische Kirche kennen und sich viel ähnlicher sind, als wir bisweilen meinen) waren insbesondere das unbiblische priesterliche Amtsverständnis, die Lehre vom Abendmahl als priesterliches Opfer und der Mangel an biblischer Bildung der Kern des Anstoßes und der Grund seiner Kritik, weil sie je für sich und zusammen gegenseitig verstärkend Christus verdunkelten und nicht erhellten.

Dagegen setzte Luther seine Kernbotschaften

  • Von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben – kein Regeln oder Rituale bringen mich näher zu Gott, allein der Glaube
  • vom „allgemeinen Priestertum“ – alle Glaubenden und Getauften sind christusunmittelbar und bedürfen eines Priesters nicht,
  • vom Abendmahl für alle in beiderlei Gestalt,
  • und seine Bibelübersetzung in der Volkssprache, deren 500. Geburtstag wir dieses Jahr feiern.

In der von Paulus geforderten Standfestigkeit – So steht nun fest! – hat Luther der Forderung, diese Lehren zu widerrufen und damit unter das Joch (symbolisiert in der priesterlichen Stola, die mittlerweile und merkwürdigerweise auch viele Evangelische tragen) zurückzukehren, widerstanden – lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Denn: Zur Freiheit hat uns Christus befreit!

Ein Denkmal, das uns zum gedenken und zum nachdenken auffordert: Gedenke! Denk mal! Denk mal bloß! (wie Karlsson vom Dach als freier Geist zu sagen pflegte), ja, denk mal bloß! – also ein Denkmal der Reformation wird diesen Moment zu verbildlichen suchen – so wie es das Lutherdenkmal in Worms versucht.

Lutherdenkmal in Worms

In der heroischen Bildsprache des wilhelminischen Kaiserreiches droht allerdings dem Geehrten in den Augen von uns nachgeborenen – also besserwissenden und besserwisserischen – Betrachtern leicht eine Verfälschung, oder sogar Fälschung, zumal der von mir gewählten Ausschnitt große Teile des Gruppendenkmals ausblendet und den Betrachter in Untersicht auch noch dem „Helden“ Luther unterwirft (was aber vor allem meinem fotografischen Unvermögen geschuldet ist). Bei den gelegentlichen Besuchen im vergangenen Jahr und zuletzt bei der Gemeindepilgerwanderung Anfang des Monats habe ich aber auch andere Seiten am Denkmal wahrgenommen. Dabei ist mir das Machwerk, dass man doch eigentlich schon immer schön scheußlich gefunden hat, ans Herz gewachsen, wieso?

  • Recht betrachtet und richtig fotografiert ist es eben kein Lutherdenkmal, sondern ein Reformationsdenkmal; das viele Figuren und Ereignisse abbildet und viele Sichtweisen erlaubt. Der Betrachter eignet sich durch sein Betrachten und Begehen des Denkmals in ziemlicher Freiheit höchstpersönliche Erfahrungen mit dem Denkmal an. Und je näher man dem dreieinhalbmetergroßen Luther kommt, desto weniger ist von ihm zu erkennen. Er befreit sich aus unserem Zugriff.
  • Auf unserem Bildausschnitt sind links und rechts große Skulpturen der Vorreformatoren Girolamo Savonarola und Jan Hus, dessen grausamer Märtyrertod auf dem Scheiterhaufen in Konstanz zeitlebens auch Luther vor Augen führte, dass die römische Kirche nicht mit ihm reden sondern ihn verbrennen wollte: Recht und Freiheit seines Lebens standen immer unter der Drohung des päpstlichen Mordauftrags.
  • Außer diesen und anderen Skulpturen zeigt das Denkmal in zahlreichen Inschriften und Reliefs weitere Aspekte der Reformation, wie in einer multiperspektivischen begehbaren bronzenen Graphic Novel der Reformation, virtuell realer Rundgang durch eine Epoche: Für uns auf dem Bild sichtbar den berühmten Satz Luthers in Worms vor Kaiser und Reich: Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen. Darunter Bilder zweier seiner politischen Unterstützer mit sprechenden Namen, auch wenn diese dem Betrachter nicht geläufig sein mögen: Johann der Beständige und Johann Friedrich der Großmütige – was für ein Wunder, dass es in solchen bewegten Zeiten Fürsten gab, denen solche Namen angeheftet werden konnten – und dann ein vielfiguriges Relief der Wormser Reichstagsszene, die weit über Kirche und Religion hinaus für die Freiheit des Einzelnen gegenüber den Mächtigen steht.
  • Um den auf unserem Bild sichtbaren Teil des Denkmals legt sich rechteckig eine äußere Mauer mit weiteren Akteuren und Ereignissen jener Zeit, genug Stoff für mehrere Besuche und neue Entdeckungen, beim letzten Mal hatte es mir die Personifikation der „Trauernden Magdeburg“ angetan, die als wunderschöne, aber todtraurige Frau, die unfassbare Gewalt darstellt, die ohne Zweifel auch in den Religionskriegen vor allem und unschuldigerweise als Nichtkombattanten damals wie heute Frauen und Kinder traf – und wenn die Opfer evangelisch waren typischerweise mit Glockengeläut im Vatikan bejubelt wurden. Freiheit ist immer die Freiheit der Schwächsten.
  • Ebenfalls in der äußeren Mauer befinden sich die großen Skulpturen zweier großer und weithin berühmter humanistischer Gelehrter ihrer Zeit: Johannes Reuchlin und seines entfernten Verwandten Philipp Melanchthon; beide aus dem noch heute bildungsprivilegierten deutschsprachigen Südwesten, wo sie in Heidelberg, Tübingen, Freiburg, Basel und Straßburg gelebt und gewirkt haben. Beide verweisen darauf, dass die Reformation eine Befreiung durch Bildung und zur Bildung hin gewesen ist – und lassen gerade durch ihre Anwesenheit die Abwesenheit des berühmtesten aller damaligen Humanisten Erasmus von Rotterdam noch viel schmerzhafter wirken. Der fehlt unserem Denkmal weil er eben auch der Reformation gefehlt hat, seinem freien Willen, über den er sich mit Luther publikumswirksam gestritten hat, gefolgt ist und im Schoß der katholischen Kirche sitzen geblieben ist!
  • Wer oder was fehlt noch? Sicherlich viele Opfer der Reformation, die tatsächlichen wie Bauern und Täufer; aber auch die Opfer übler Rhetorik, wie die Juden, denen Luther fürchterliche und unverzeihliche Tiraden entgegengeschickt und damit jüdischen Menschen über Jahrhunderte hinweg geschadet aber auch seinen eigenen Ruf nachhaltig beschädigt hat. Am auffälligsten – gerade für den wiederkehrenden Betrachter – ist aber die Abwesenheit dessen, um den es allein! in Luthers Freiheitsbotschaft geht: allein aus Christus her und allein zu Christus hin soll die Reform der Kirche nach Luther geschehen; da kann man ihr Gedächtnis eigentlich schlecht als Hagiographie alter Männer in Stein meißeln und zu Bronze schmieden.
  • Und was spricht überraschenderweise für das Denkmal? Dass es einer der wenigen einladenden Orte in einer nicht gerade durch Schönheit verwöhnten Stadt ist, an dem der Pilgerwanderer auf den Spuren Luthers sich beim Dönerschmaus stärken kann und den die Kinder vor allem der Einwanderer längst als Spielplatz der Freiheit für sich entdeckt haben, ballspielend zwischen Friedrich dem Weisen und Johannes Calvin. Erst reizt einen der hausmeisterliche Reflex, dieses Kinderspiel nervig zu finden, etwa weil er die Andacht stört – bis zu dem Moment der Einsicht, dass nichts besser passen könnte: Ein Lutherdenkmal als Ort kindlicher Freiheit! Die Idee der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes besiegt noch allen wilhelminischen Pomp alter, was sage ich, längst verblichener weißer Männer.

Martin Luther hat irgendwann seinen nicht gerade vornehmen Nachnamen gräzisiert und damit aufgewertet: Er verwandelt das schäbige Luder seiner Vorfahren in Luther – und verbindet sich so mit dem griechischen Eleutherius: d.h: der Freie. Als erster Freigelassene des kirchlichen Mittelalters ruft er uns noch heute das Pauluswort zu: Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!

Amen.

17. Sonntag nach Trinitatis, 26. September 2021

Brüder und Schwestern [Im Original sind nur die „Brüder“ genannt!], meines Herzens Wunsch ist und ich flehe auch zu Gott für sie [nämlich seine jüdischen Brüder und Schwestern], dass sie gerettet werden. Denn ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer für Gott haben, aber ohne Einsicht. Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt, und suchen, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan. Denn Christus ist des Gesetzes Ende, zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt. Mose schreibt von der Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt (3. Mose 18,5): »Der Mensch, der dies tut, wird dadurch leben.« Aber die Gerechtigkeit aus dem Glauben spricht so (5. Mose 30,11-14): »Sprich nicht in deinem Herzen: Wer will hinauf gen Himmel fahren?« – nämlich um Christus herabzuholen; oder: »Wer will hinab in die Tiefe fahren?« – nämlich um Christus von den Toten heraufzuholen. Aber was sagt sie? »Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen.« Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen. Denn wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und glaubst in deinem Herzen, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet. Denn wer mit dem Herzen glaubt, wird gerecht; und wer mit dem Munde bekennt, wird selig. Denn die Schrift spricht (Jesaja 28,16): »Wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden.« Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen; es ist über alle derselbe Herr, reich für alle, die ihn anrufen. Denn »wer den Namen des Herrn anruft, wird selig werden« (Joel 3,5). Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? 

Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden? Wie denn geschrieben steht (Jes 52,7): »Wie lieblich sind die Füße der Freudenboten, die das Gute verkündigen!« Aber nicht alle waren dem Evangelium gehorsam. Denn Jesaja spricht (Jesaja 53,1): »Herr, wer glaubte unserm Predigen?« So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi. (Brief des Paulus an die Römer 10, 1-17)

Einen Regierungschef, der vor den Vereinten Nationen in der Klimadebatte Kermit den Frosch aus der Muppet-Show zitiert („Es ist nicht leicht, grün zu sein“) nur um ihm gleich zu wiedersprechen („Ist es eben doch!“) und ihn dann obendrein noch der übertriebenen Grobheit an Miss Piggy schilt, was merkwürdig ist, weil meiner Erinnerung nach sie die viel gröbere in ihrer komplizierten Beziehung war – einen Regierungschef, der im selben Atemzug den antiken Dramatiker Sophokles im altgriechischen Original interpretiert und andere Interpreten verbessert; der darüber hinaus spaßhaft erwägt, seinen Namen Boris in Boreas zu verändern, seiner Leidenschaft für die Windkraft wegen und zu Ehren also des nördlichen Gottes des Windes – klar, dass ich vom britischen Premierminister Boris Johnson spreche – einen solchen Bundeskanzler voller verspielter Gelehrsamkeit und windiger Rhetorik und absurdem Humor werden wir uns auch am heutigen Abend nicht gewählt haben; vielleicht besser so, denn es warten ja genug ernsthafte Anliegen auf ihn oder sie, denen er gerecht werden soll. 

Überhaupt: Eifer für die Gerechtigkeit für alle und in allen Belangen, das scheint doch eine ganz passende Kurzfassung seiner – oder wie wir in den vergangenen 16 Jahren erlebt haben: ihrer! – Dienstbeschreibung zu sein. 

Was aber schon unter Menschen immer wieder und oft neu errungen werden muss – was ist gerecht? Was kommt jedem gerechterweise zu? Was ist das Meine und was das Deine? – das ist zwischen Gott und den Menschen noch um einiges strittiger, meinte wenigstens der Apostel Paulus, meint auch der Reformator Martin Luther und das trifft auch heute noch zu: Wie erlange ich Gerechtigkeit vor Gott? Wenn es schon manchmal schwierig genug ist, oder sogar unlösbar scheint, zwischen Menschen – also etwa z.B. zwischen Radfahrern und Autofahrern, zwischen Hausbesitzern und Mietern, zwischen Einwanderern und Einheimischen, zwischen Alten und Jungen, zwischen Reichen und Armen – Gerechtigkeit zu finden und zu erwirken; um wieviel mehr zwischen Gott und den Menschen, die wie wir wissen einen unheilbaren Drang und Zwang von Gott weg, in die Ungerechtigkeit zum eigenen Vorteil hin haben; oder wie die alten Theologen, wie Paulus und Luther und der ganze Rest davon sagen: der Sünde. Wie erlange ich Gerechtigkeit vor Gott – trotz meiner Sünde?  

Paulus übernimmt diese Fragestellung aus seiner – und über die Generationen hinweg ja auch unserer – Mutterreligion, dem jüdischen Glauben seines Volkes Israel, dem er – und also wir – bleibend verbunden sind. Darum geht es im Zusammenhang unserer Bibelstelle: um die bleibende Verbundenheit zwischen Juden und Christen und – viel mehr noch – um die bleibende Erwählung seines Volkes Israel durch Gott.

Paulus insistiert mit der ihm eigenen Beharrlichkeit auf die bleibende Erwählung seines Volkes Israel durch Gott – auch wenn sie, sehr zu seinem Bedauern und sehr zu seinem Unwillen – nicht die gute Botschaft von Jesus Christus annehmen – zumindest nicht in ihrer großen Mehrheit annehmen: und das obwohl Paulus ihnen den Eifer für Gott attestiert.

Für Paulus ist dieser Eifer nämlich fehlgeleitet: statt nach Glauben und Vertrauen in Gott durch Jesus Christus zu streben – eifern sie nach der genauen und pünktlichen Erfüllung des Gesetzes des Mose. 

Für Paulus, den ehemaligen und rechtskundigen Pharisäer, erlangen Juden durch die genaue Erfüllung des mosaischen Gesetzes Gerechtigkeit vor Gott, also Heil und Rettung; beziehungsweise: Sie bemühen sich darum voller Eifer, müssen aber – nach Paulus – daran scheitern, weil ihnen die Sünde ein Schnippchen schlägt. Das Gesetz kann nach Paulus nur die Aufgabe haben, diese Sünde aufzudecken: Ich soll nicht das begehren, was meinem Nachbarn gehört, sagt das Gesetz; ich tue es aber trotzdem, ich elender Sünder; oder wie Paulus an anderer Stelle sagt: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; und das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (Römer 7, 19; oder wie der englische Premierminister, der die Wälder von Windrädern über den Wellen des Ärmelkanals preist aber gleichzeitig erwägt, darunter die Schürfrechte für fossile Brennstoffe zu verscherbeln) 

Für Paulus, den bei Damaskus zum Apostel Christi konvertierten – also gedrehten und gewendeten – ehemaligen Juden, ist Jesus Christus das Ende des Gesetzes als Weg zu Gott. Nicht meine ohnehin zum Scheitern verurteilten Gerechtigkeitsbemühungen um das Gesetz führen zu Gott – sondern allein der Glaube daran, dass Jesus Christus das Gesetz für mich erfüllt hat: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ (Römer 3,28; das „allein“ steht nicht im Text des Paulus und ist eine der berühmtesten oder – je nach Sichtweise – berüchtigtsten Textergänzungen Martin Luthers)

Sola fide! Der Glaube ist alles, was ich vor Gott brauche. Allein der Glaube an Jesus Christus, der uns durch das Wort Gottes in der Bibel und in ihrer Auslegung vermittelt wird, führt uns zu Gott. Der Glaube allein reicht zum Seelenheil: Denn wenn du mit deinem Munde bekennst, dass Jesus der Herr ist, und glaubst in deinem Herzen, dass ihn Gott von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet. Denn wer mit dem Herzen glaubt, wird gerecht; und wer mit dem Munde bekennt, wird selig.

Womit zugleich prägnant der Unterschied zwischen Religion und Politik genannt ist. Für die, nämlich für die Politik, reichen Herzensglaube und Lippenbekenntnis nicht. Da sollten schon Taten folgen und es sollten besser Taten der Gerechtigkeit sein. 

Auch wenn wir wissen und nicht vergessen dürfen, dass jedes menschliche Bemühen um Gerechtigkeit – nun vielleicht nicht, wie Paulus meint, zum Scheitern verurteilt ist, aber doch – vom Scheitern bedroht ist; allein deshalb, weil es fehlbare, also sündhafte Menschen sind, die sich im politischen Leben um Gerechtigkeit bemühen. Aber das sollten wir von unseren Politikern verlangen und nur solchen eine Stimme geben, von denen wir annehmen können, dass sie sich mit vollem Eifer für das Gesetz um Gerechtigkeit in dieser Welt bemühen.   

Damit erhöht der Glaube den Anspruch an die Politiker, nicht nur Ansprüche zu vertreten oder Interessen zu kanalisieren, sondern für die Gerechtigkeit aller zu eifern. 

Und damit entlastet er sie gleichzeitig, wenn er ihre Fehlbarkeit noch vor ihrer Wahl einpreist; ja, auch diese Politiker, die wir heute wählen, werden Fehler machen, hoffentlich nicht allzu schlimme.

Für Rettung und Heil unserer Seelen ist gottseidank ein anderer zuständig. Amen

15. Sonntag nach Trinitatis, 12. September 2021, Konfirmation

Und die Apostel sprachen zu dem Herrn: „Stärke unseren Glauben!“ Der aber sprach: „Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und verpflanze dich ins Meer! und er würde euch gehorsam sein.“ (Lukasevangelium 17, 5f.)

Manchmal fühle ich mich, als könnte ich Bäume ausreißen – sagen wir, wenn wir uns groß und stark fühlen, was wir ja immer werden wollten und unsere Konfirmanden in erstaunlicher Weise geworden sind: groß und stark! – Aber wir tun gut daran, die Bäume stehen und der Natur ihren Lauf zu lassen. Eingriffe in die Natur durch den Menschen müssen keine Vorteile und können erhebliche Nachteile bringen – was man auch schon vor dem menschengemachten Klimawandel hätte wissen können.

Die großen Eingriffe in die Geographie, wie sie etwa die Kanalbauten in Panama oder der Suezkanal in Ägypten darstellen, sind spektakuläre Beispiele für einen starken Glauben, eine weite Vorstellungskraft und das feste Vertrauen in das eigene Vermögen, die vorfindliche Natur zu unserem vermeintlichen Vorteil zu verändern. An beiden Kanalbauten war der visionäre französische Ingenieur – dem Ingenieur ist nichts zu schwör – Ferdinand de Lesseps maßgeblich beteiligt, in Ägypten erfolgreich, in Mittelamerika – er selbst zumindest – erfolglos. Seither – also seit der Eröffnung des Suezkanals 1869 – verbindet der von ihm geplante und unter ihm gebaute Kanal das Rote Meer und den Indischen Ozean mit dem Mittelmeer – und fördert damit nicht nur Handel und Wandel von uns Menschen über die Kontinente und Ozeane hinweg sondern auch die Wanderung von Pflanzen- und Tierarten zwischen den Meeren.

Lessepssche Migration wird folglich der Austausch von Lebewesen zwischen dem Mittelmehr und dem Roten Meer genannt. Es handelt sich um einen invasionsbiologischen Vorgang, der so illustre Arten wie den Gestreiften Korallenwels, den Rotstreifen-Husarenfisch oder den Gepunkteten Igelfisch in das Mittelmeer brachte – nicht unbedingt zum Vorteil der ansässigen Fauna und Flora, die sich nicht immer der Neuankömmlinge erwehren kann, sondern ihnen Futter und Beute und von ihnen verdrängt wird.

Das Verpflanzen von Arten, der Eingriff in die Natur und ihre Veränderung durch uns Menschen – darauf will meine kleine Abschweifung, sozusagen als Lessepssche „Redemigration“ hinaus – muss kein Vorteil sein und kann erhebliche Nachteile nach sich ziehen: Warum nur sollte jemand zu einem Maulbeerbaum, der ganz prima auf dem Land gedeiht, sagen, dass er sich ins Meer verpflanzen möge; dorthin ins Meer, wo doch andere Wesen mit älteren Rechten ganz gut und vermutlich ganz gerne blühen, wachsen und gedeihen.

Der wichtigste Hinweis zum Verständnis unserer reichlich seltsamen Bibelstelle ergibt sich aus ihrem offenkundigen Unsinn: Wer um alles in der Welt sollte und wollte einen Maulbeerbaum ins Meer verpflanzen? Lass den Baum doch in Ruhe und an Land! Verschwende deine Kräfte nicht an der Veränderung der Natur, sondern verwende sie an ihrer Pflege! Der Glaube ist doch unvergleichlich größer, der die Natur um ihretwillen schützt, als der, der sie um seinetwillen verändert.

Jesus selbst hat im Unterschied zu zahlreichen anderen Wundertätern seiner Zeit niemals seine Wunderkräfte um ihrer selbst willen – sozusagen als Muskelspiele des Glaubens – eingesetzt, sondern immer, wirklich immer!, um eine Not zu beheben, also um Hunger zu lindern, ein Gebrechen zu heilen oder die für Menschen gefährliche Seite der Natur zu zähmen. Warum nur scheint Jesus hier – entgegen aller anderen Beispiele und Gelegenheiten – Glaubenskraft als Zauberkraft zu verstehen? Was könnte ihn dazu verleitet haben, so zu antworten?

Ich glaube, dass er mit seiner Antwort die Frage seiner Apostel auf eine starke Weise zurückweisen will: „Stärke unseren Glauben!“ fordern diese – aber er will ihnen durchaus polemisch verdeutlichen, dass sie ihn doch nach all der Zeit gut genug kennen müssten; dass sie nach seinen Taten und Worten genug wissen müssten, was der Glauben ist und was nicht; und was den Glauben stärkt und was eher schwächt. Fragt nicht so verstockt, ihr wisst es doch besser! Für den Glauben braucht niemand in eine Muckibude zu gehen, um das Sixpäck des Glaubens zu trainieren. Glauben ist keine Leistung, die von uns verlangt würde oder von uns zu erbringen wäre. Glauben wird uns geschenkt, ganz umsonst wo und wann Gott will, ohne Maß und ohne unser Zutun: Die christliche Gemeinde ist kein Fitnessstudio, in dem wir uns unsere Zweifel abtrainieren und unseren Glauben antrainieren könnten oder sollten; der ist so stark, wie er ist, nämlich so stark, dass er Bäume verpflanzen und Berge versetzen könnte – ohne dass wir das tun sollten und ohne dass das zu tun von irgendjemandem in der Bibel empfohlen würde. Umpflanzaktionen als Demonstrationen der Glaubenskraft werden von Jesus nicht erzählt und von uns nicht erwartet!

Ganz zu Beginn dieses merkwürdigen Konfirmandenjahres, als wir uns noch live und in Farbe und allerdings coronahalber hier in der Kirche zum Unterricht getroffen haben, hat eine von Euch Zweifel über ihren eigenen Glauben geäußert, ob der für Konfiunterricht und Konfirmation überhaupt reichen würde, auch eine Relilehrerin in der Schule habe diesen Zweifel bestärkt und die Latte des Glaubens ziemlich hochgelegt – ob sie sie selbst überspringt? Die Fragestellerin ist jedenfalls dabeigeblieben und wird heute konfirmiert – wenn sie es sich im letzten Moment nicht noch anders überlegt.

Wir haben damals natürlich etwas höflicher reagiert als der Jesus unseres Predigttextes, haben uns natürlich über eine solche Frage gefreut, aber inhaltlich doch dasselbe geantwortet; dass es kein Maß des Glaubens gibt und schon gar keins, dass von anderen Menschen zu wiegen oder zu werten wäre; dass der Glauben, den wir selbst für schwach halten, gerade deshalb stark ist; und dass es ihre – und also unser aller! – höchstpersönliche, freie und eigene Entscheidung ist, die Sache des Glaubens weiterzuverfolgen oder eben zu verwerfen.

Eine unverzichtbare Entscheidungshilfe ist die Kenntnis des Glaubens, wie sie im Unterricht vermittelt wird; aber auch seine Praxis in Gemeinde und im alltäglichen Leben; auch seine Bewährung angesichts der Prüfungen des Lebens – so vieles bildet und verändert unseren Glauben.

Vielen von uns scheint es so, als sei gerade unsere Zeit besonders von solchen Prüfungen geplagt – angesichts der Pandemie, die so viel Leid über so viele Menschen gebracht hat und Woche für Woche allein in den USA immer noch mehr Menschen tötet als der Terror vom 11. September; – aber auch angesichts des menschlichen Bösen, das wir durch den Jahrestag der Terroranschläge in New York und anderen Orten in den USA vor zwanzig Jahren fast unerträglich vor Augen haben: scheinbares Zeugnis eines angeblich starken Glaubens, der sich in verschwurbelten Pamphleten noch posthum selbst rechtfertigt – in Wirklichkeit aber die wahrhaft atheistische Perversion der Religion, als Anstiftung und Rechtfertigung menschenverachtender und gotteslästerlicher Gewalt, ein grausamer Kult der Rache, ein Hochamt des totalen Nihilismus: ein starker Glaube an – gar nichts! Und der uns, die er sich zu seinen Gegnern erwählte, viel zu lange in die Irre geführt hat – bis an die Enden der Erde; ob am Hindukusch unsere Werte, auch die des Glaubens, verteidigt werden können, ist sehr zweifelhaft, dass man sie dort verlieren kann, nicht.

Schon die scheinfromme Bitte um einen starken Glauben kann in die Irre führen und unseren Blick weg von dem lenken, der sich am Kreuz als unser Gott offenbart hat und der sagt: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2. Korinther 12,9).

Das ist die religiöse Wahrheit der allgemeinen Lebensweisheit, dass ich dort am ehesten ich selbst sein kann, wo ich meine Schwäche nicht verbergen muss – bei Eltern und Familie, guten Freunden, dem Liebsten, denen allen ich nicht den Starken – der Bäume ausreißen kann – vorspielen muss, der ich nicht bin; genauso wenig wie vor Gott, der es in Ordnung findet, wenn wir uns in unserer Schwäche an ihn wenden und sagen: „Herr, ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ (Markusevangelium 9,24)

Unsere Schwäche jedenfalls, auch unsere Glaubensschwäche, ist schon mal kein Argument für Gott gegen uns – und auch keins von uns gegen ihn. Amen.

6. Sonntag nach Trinitatis, 11. Juli 2021

Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. (Matthäusevangelium 28,16-20)

Noch bei den vertrautesten Texten wie diesem hier mit dem Taufbefehl erleben wir Überraschungen. So oft haben wir das als Gemeinde schon gehört und je nach Aufgabe im Gottesdienst gesprochen – bei jeder Taufe nämlich, also sicherlich ein paar 100 Mal pro Pfarrer in all den Dienstjahren; aber meistens ohne den einen Einleitungssatz, über den ich diesmal stolpere: einige aber zweifelten.

Zweifel? Wie kann das sein an dieser Stelle, die doch Gewissheit verlangt und Vertrauen fordert: von dem Täufling, der in der Taufe seinen Glauben bekennt; von denen die als Zeugen und Paten mit und für den Täufling ihren Glauben bekennen und seinen Glauben Versprechen; und natürlich vom Taufenden, der doch wissen muss, was er tut, und viel mehr noch, der dem glauben und vertrauen muss, auf dessen Namen er tauft: nämlich auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Einige aber zweifelten: Es mag Gelegenheiten geben, in denen der Zweifel – also das Wackeln in der Festigkeit des Glaubens erlaubt ist („Wackeln ist erlaubt“ wie unsere Online-Gymnastiktrainerin im Lockdown nicht müde wurde zu verkünden); das mag in Glaubensdingen sogar insgesamt erlaubt und unvermeidlich sein, weil es ja etwas betrifft, was man hofft und was man nicht sieht. Gerade wir in der Thomasgemeinde sind schon namenshalber Experten des Zweifels und berufen uns auf Thomas den Zweifler, der erst sozusagen auf dem zweiten Bildungsweg zum Glauben an der Auferstandenen gefunden hat. Gerade wir Evangelische erkennen mit Martin Luther den existentiellen Zweifel der Anfechtung, in der der Glaube erschüttert aber letztlich – durch die Anfechtung hindurch – gestärkt wird, so gestärkt wird, wie es ein bloß glückliches aber letztlich taubes Erleben nie könnte (so wie erst beim gymnastischen Wackeln die Tiefenmuskeln gestärkt werden: Zweifel stärken die Faszien des Glaubens!). Nur ein in seinen Überzeugungen einbetonierter Fundamentalist kannte keinen, kennt keinen und wird keinen Zweifel kennen.

Aber nun Zweifel ausgerechnet im Zusammenhang der Taufe, der Lehre, der Mission, des abschließenden Vermächtnisses Jesu, als beinahe letztes Wort über die Jünger: einen unpassenderen Ort für den Zweifel scheint es nicht zu geben; wann, wenn nicht hier, brauche ich Gewissheit, Überzeugung und Überzeugungskraft, die über alle Zweifel erhaben sind. Dennoch steht da: einige aber zweifelten. Und dabei ist diese Übersetzung des Theologen der Anfechtung, also Martin Luthers, noch zu milde, beinahe schönfärberisch, denn das griechische Original macht gar keine zahlenmäßige Einschränkung und Milderung. Statt einige aber zweifelten, was dann heißen könnte, nein heißen müsste, dass andere, sogar die Mehrheit der Jünger nicht zweifelte; stattdessen muss es wohl heißen: sie aber zweifelten. Der zweifelnde Thomas also nicht als Ausnahme sondern als Regel; die Jünger begegnen ihrem Jesus und hören ihn bei der letzten Gelegenheit und bei Entgegennahme des letzten Auftrags, dem Tauf- und Missionsbefehl insgesamt als – Zweifelnde, wie kann das sein?

Vielleicht so: Das Symbol des Wassers der Taufe kann uns einen Hinweis geben, zumal die einzige andere Stelle, an der Matthäus genau diese Vokabel „zweifeln“ verwendet, eine Wassergeschichte und zwar der berühmte missglückte Seewandel des Petrus ist; dieser kann zunächst seinem Meister Jesus über das Wasser nachgehen, aber als er daran zweifelt, versinkt er im Wasser. Petrus zweifelt und seine Zweifel lassen ihn im Wasser versinken, in demselben Wasser, das ihn vorher im Glauben getragen hat.

Wenn auch das „Auf dem Wasser Wandeln“ eher eine Spezialdisziplin der Nachfolger Petri, also dann wohl der Kirchenleitung, sein mag und auch dort eher eine Randerscheinung geblieben sein soll, begegnet der Zusammenhang von Glauben, Zweifel und Wasser jedem, der Schwimmen lernen will. Denn was ist eigentlich der entscheidende Schritt vom Nichtschwimmen zum Schwimmen? Erst kürzlich in einem Radiofeature zum ausgefallenen Schwimmunterricht in Zeiten der Pandemie, konnte man hören und erfahren, dass der eigentliche Durchbruch im Schwimmunterricht nicht die Technik ist, die man lernt und auch nicht das Training der richtigen Muskeln, die man aufbaut, obwohl beide, Kraft und Technik, natürlich superwichtig und unerlässlich sind. Sondern das Entscheidende – so die bestimmt namhafte Schwimmforscherin im Radio, deren Namen ich leider vergessen habe – das Entscheidende ist die Überwindung meiner Wasserangst und die Erfahrung, dass das Wasser – das bekanntlich keine Balken hat – mich dennoch trägt.

Das alles Entscheidende beim Schwimmen ist also das Vertrauen in den Auftrieb des Wassers. Deshalb können Säuglinge von Geburt an Schwimmen, nämlich weil sie noch keine Wasserangst ausgebildet haben; für sie ist es ja eine Rückkehr ins vertraute, gerade erst verlassene Element. Ohne Praxis verlernen sie das Schwimmen bloß recht bald wieder, um es irgendwann neu und mühsam lernen zu müssen. Auch in späteren Phasen, etwa bei der Verfeinerung der Schwimmtechnik kommt es immer darauf an, den Auftrieb des Wassers – wie ein Fisch im Wasser – vertrauensvoll erst ganz bewusst, dann selbstverständlich und ohne darüber weiter nachzudenken, zu nutzen; die Schwimmzüge, die Atmung, die Wasserlage nach den Gesetzen von Verdrängung und Auftrieb aquadynamisch zu optimieren. Das Gegenteil dazu ist, wenn ich in Angst und Wasserzweifel gegen das Element ankämpfe, es wild trete und schlage und dann darin unweigerlich versinke.

Wir müssen nicht annehmen, dass Jesus und die Seinen über die Zusammenhänge des Schwimmerwerbs grübelten; aber das hindert uns nicht, solches Wasserwissen für den Glauben zu nutzen und dabei die feine Logik ausgerechnet des Zweifels im Zusammenhang mit der Taufe zu durchschauen. Mit dem Hinweis auf den Zweifel der hörenden Jünger – einige, besser: sie aber zweifelten – wird uns angezeigt, dass der Moment der Taufe nicht einen der felsenfesten Gewissheit markiert, sondern dass die Taufe den fließenden Übergang vom Zweifel zum Glauben in Szene setzt, ihn zeigt, darstellt, und darin feiert – also den Moment inszeniert, in dem wir – bildlich gesprochen – das Schwimmen lernen. Zum Glauben, den wir in der Taufe feiern, gehört keine einfache Zweifellosigkeit des Glaubenden und keine schlichte Unbezweifelbarkeit des Glaubensgegenstandes – wer hat denn mehr Zweifel auszuhalten als Gott selbst – sondern zum Glauben gehört die Überwindung des Zweifels und das Leben-Können mit dem wiederkehrenden Zweifel: Glauben ist eigentlich das immer wieder zum Glauben Kommen.

Getauft sein, heißt, ich habe gezeigt, ich habe es mir gezeigt, ich habe es mir durch Gott zeigen lassen, dass ich schwimmen, also dass ich glauben kann. Deshalb hat es Sinn, mich in Zeiten des Zweifels und der Anfechtung dieses Moments zu versichern, so wie Luther, der von Anfechtungen berichtet, in denen er sich vom Teufel bedroht sah und diesem ein trotzig gewisses „Ich bin getauft“ entgegengeschleuderte; ungefähr so wie man sich vor dem Sprung ins tiefe Wasser ein kräftiges „Ich kann schwimmen“ sagt.

Es spricht nur für unsere Analogie, dass sowohl bei der Taufe als auch beim Schwimmenlernen die Säuglinge eine gewisse Sonderrolle einnehmen; eigentlich können sie schon von Anfang an, was sie später wieder lernen müssen, was Unterricht auf der einen und Tauffeier auf der anderen Seite überflüssig erscheinen lassen. Ich erinnere mich an heiße Diskussionen mit unserem lieben Gemeindeglied und Kirchenvorsteher Hartmut Visbeck – Gott hab ihn selig – der vehement die Kindertaufe abgelehnt hat, nicht etwa wegen eines „noch nicht“ (wie bei den Baptisten, die sagen, dass Kinder noch nicht über ihren Glauben entscheiden können) sondern wegen eines „schon längst“ und eines „viel mehr“; seiner Meinung hatten Kleinkinder schon längst und viel mehr davon, was ihnen in der Taufe erst noch zugesprochen wird.

Von unserer Schwimmanalogie könnte man nun entgegnen, dass gerade die Säuglingstaufe den besonderen Moment einer starken Ursprungsgewissheit – das Urvertrauen – nutzt, um uns im Rückblick und durch die Erinnerung umso besser gegen die unvermeidlichen Stürme und Fluten des Zweifels zu schützen, um also dem Teufel in allen seinen Verkleidungen entgegenzuschleudern: Ich bin getauft! Ich weiß Gott von Anfang an auf meiner Seite.

Dieses Bekenntnis: Ich bin getauft! ist die kurze Antwort auf ein langes – ein lange und weit reichendes – Versprechen: Siehe ich bin euch alle Tage bis an der Welt Ende. Amen.