Predigttext Ostermontag, 18. April 2022

Aber der Herr ließ einen großen Fisch kommen, Jona zu verschlingen. Und 
Jona war im Leibe des Fisches drei Tage und drei Nächte.
Und Jona betete zu dem Herrn, seinem Gott, im Leibe des Fisches und sprach:
Ich rief zu dem Herrn in meiner Angst,
und er antwortete mir.
Ich schrie aus dem Rachen des Todes,
und du hörtest meine Stimme.
Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer,
dass die Fluten mich umgaben.
Alle deine Wogen und Wellen
gingen über mich,
dass ich dachte
ich würde von deinen Augen verstoßen,
ich würde deinen heiligen Tempel nicht mehr sehen.
Wasser umgaben mich bis an die Kehle,
die Tiefe umringte mich, Schilf bedeckte mein Haupt.
Ich sank hinunter zu der Berge Gründen,
der Erde Riegel schlossen sich hinter mir ewiglich.
Aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt,
Herr, mein Gott!
Und der Herr sprach zu dem Fisch, und der spie Jona aus ans Land.
(Buch des Propheten Jona 2, 1-11)

Save the whales! Rettet die Wale! Heißt es heute und zu recht so; biblisch ursprünglicher ist umgekehrt, dass ein Wal einen Menschen rettet, den Propheten Jona nämlich, wobei dahingestellt sei, ob es sich bei dem großen „Fisch“ um einen Wal gehandelt hat, was er als Säugetier nicht ist. Eine zoologische Besserwisserei ist hier jedoch nicht sonderlich ergiebig. Denn für die Alten war etwas, dass so aussah wie ein Fisch, so lebte wie ein Fisch und so schmeckte wie ein Fisch, nichts anderes als ein Fisch, und im Falle der Wale eben ein großer Fisch, ungeachtet der ihnen sicherlich unbekannten Tatsache, dass Wale ihre Nachkommen lebend gebären und eine Zeit lang säugen.

Und dass sie das immer noch tun, ist ein beinahe so großes Wunder wie das Jona- und Osterwunder zusammen. Denn trotz ihrer durch unsere Jona-Geschichte ausgewiesene Gottesfürchtigkeit und Prophetenfreundlichkeit – von ihrer Intelligenz und Geselligkeit gar nicht zu reden – wurden Wale bekanntlich lange Zeit gejagt, getötet und verwertet bis kurz vor ihrer Ausrottung. Bis zur Industrialisierung war der Walfang der größte und bedeutendste Wirtschaftszweig weltweit, vergleichbar der Energiewirtschaft heutzutage. Mittlerweile sind die Wale nicht mehr vom Aussterben durch den Walfang bedroht, der seinerseits gottseidank in den meisten Ländern ausgestorben ist, sondern bedroht durch die Vermüllung und Beschallung ihres Lebensraums, der Ozeane. Wer Wale retten will, muss ihren Lebensraum retten, die Meere natürlich. Und nur wer die Meere und die Wale rettet, rettet sich selbst: Save the whales! Rette die Wale und rette dich selbst.

Die wunderbare, wunderliche Jona-Geschichte hat schon deshalb recht und ist allein deshalb wahr, dass sie unsere Aufmerksamkeit auf die Natur lenkt, auf die natürlichen Lebensbedingungen von uns Menschen, auf die natürliche Umwelt als Matrix unseres Lebens. Was hülfe es dem Menschen, wenn er auferstünde, aber in eine tote Umwelt hinein? Nur wenn es Wale gibt, kann es den einen Wal geben, der Jona rettet; und nur wenn es intakte, lebendige und lebensvolle Meere gibt, kann es diesen Wal geben. Save the whales, rette die Welt, feiere das Leben!

Ostern als Fest des Lebens feiert seit jeher mit den Bildern des frühlingshaft auflebenden Lebens: Ei und Hase und der aus der Erde hervorkeimende Samen mit seinem zarten frischen Grün; deshalb stimmt der Blick, der heute auf die Meere als Welt der Wale gelenkt wird. Auch das nicht mehr aber auch nicht weniger als ein Bild aus der Natur für die Auferstehung, die ja eigentlich die Aufhebung der Natur meint mit deren unverrückbarem Gesetz, dass alles und nicht nur das Schöne sterben wird und sterben muss.

Aber auch das – also die übernatürliche Steigerung der Natur – leistet die Jona-Geschichte, die ja keineswegs naturalistisch und naturgetreu unseren Blick auf die Natur lenkt, sondern diese wundersam, märchenhaft überhöht. Nach Auskunft führender Walforscher neigen die meisten Wale – je größer desto eher – dazu, Menschen zu ignorieren; vermutlich weil wir aus ihrer Sicht einfach zu unbedeutend sind. Ein Verschlucken, noch dazu ein von Gott befohlenes fürsorgliches Verschlucken von Menschen durch Wale ist natürlicherweise nicht vorgesehen. Und wenn es ein Menschlein in einem allerhöchst unwahrscheinlichen Fall dann doch in den Bauch des Wales verschlüge, würde es dort keine gedeihlichen Bedingungen zum Überleben vorfinden – und schon gar nicht für drei Tage. Und selbst wenn der Mensch sich als für den Wal unverdaulich erweisen sollte – wir versteigen uns ins immer noch Unwahrscheinlichere – wäre nicht damit zu rechnen, dass er sich dann auch noch als kommodes Verkehrsmittel erweist, der seinen vorübergehend erblindeten Passagier am passenden Ort absetzt, pardon: ausspeit. Womit also hinreichend geklärt wäre, was ohnehin jedem Kind von vorneherein klar war, dass die Jona-Geschichte nicht nach der Natur sondern als Märchen erzählt wird, das die Regeln und Gesetze der Natur mühelos überschreitet – auch darin ein Bild der Auferstehung. Auferstehung ist keine von der Natur vorgesehene Option.

Sondern sie ist ganz und gar gottgemacht – wie auch die Rettung des Jona ganz und gar gottgemacht ist: Der Wal handelt im Auftrag des Herrn und Jona weiß genau, wem er seine Rettung verdankt: Aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt, Herr, mein Gott!

Die Jona-Geschichte ist eine Glaubensgeschichte vom Durchgang aus dem Leben durch den Tod ins Leben: Ich schrie aus dem Rachen des Todes, und du hörtest meine Stimme. Du warfst mich in die Tiefe, mitten ins Meer, dass die Fluten mich umgaben. Das beschreibt etwa die Logik und den Zusammenhang von Karfreitag und Ostern, von Tod und Auferstehung: die Not der Gottverlassenheit: Alle deine Wogen und Wellen gingen über mich, dass ich dachte, ich würde von deinen Augen verstoßen, ich würde deinen heiligen Tempel nicht mehr sehen; und die Erfahrung, dass das Band Gottes aus Glaube, Hoffnung und Liebe dennoch hält: Aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt, Herr, mein Gott!

Wir sind aufgefordert unsere eigenen Nahtoderlebnisse in diese Geschichte einzuzeichnen und in ihr zu deuten: Unsere Geschichten des Verlassenwerdens, des Verstoßenwerdens, des Verlusts, der Krankheit und der Not. Und wir dürfen das neue Leben als von Gott geschenkt verstehen: das Wiederfinden und Wiedergefundenwerden, die Genesung; auch das in der Folge von Krankheit eingeschränkte Leben, was mehr ist als kein Leben. Und ich finde schon auch, dass die Beispiele gefährdeter, geschädigter, schon scheintoter Natur und ihre Wiederbelebung hier dazugehören – die Renaturierung von ehemals abgestorbenen Flüssen und Seen etwa; wenn wir an den Rhein denken, der in meiner Kindheit vor 50 Jahren eine übel riechende, giftige Brühe war und nun wieder das Zuhause ist von den kleinen Verwandten oder bloß Wahlverwandten der Wale.

Auferstehung müssen wir das noch nicht nennen, so wie auch Jona nicht Jesus heißt; aber das eine, den einen als Bild des anderen zu nehmen, das geht schon an; und heute schon sagen, was morgen erst in seiner ganzen Fülle Wirklichkeit werden soll: du hast mein Leben aus dem Verderben geführt, Herr, mein Gott!

Palmsonntag, 10. April 2022

Solches redete Jesus und hob seine Augen auf zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist gekommen: Verherrliche deinen Sohn, auf dass der Sohn dich verherrliche; so wie du ihm Macht gegeben hast über alle Menschen, auf dass er ihnen alles gebe, was du ihm gegeben hast: das ewige Leben. Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen. Ich habe dich verherrlicht auf Erden und das Werk vollendet, das du mir gegeben hast, damit ich es tue.Und nun, Vater, verherrliche du mich bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war. Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein, und du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. Nun wissen sie, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie haben sie angenommen und wahrhaftig erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie glauben, dass du mich gesandt hast. (Johannesevangelium 17,1-8)

Neulich im Konfirmandenunterricht haben wir über die Schöpfung gesprochen, über Gott und den Urknall, über den Beginn von allem und über den Anfang des Alls, darüber dass mit dem allerersten Anfang Raum und Zeit begann, und dass man deshalb auch eigentlich nicht von einem „Bevor“ der Schöpfung, oder eben einem „Bevor“ des Urknalls sprechen kann. „Bevor“ und „Danach“ sind ja Kategorien der Zeit, die nicht auf einen Zustand ohne Zeit angewendet werden können. 

Die Bibel selbst hat für diesen Zustand ohne oder außerhalb der Zeit den Begriff der „Ewigkeit“ angewendet, mit der eben nicht eine endlose Zeit gemeint ist – so etwa, wenn wir sagen: das dauert ja ewig; so also eigentlich nicht – sondern ein Zustand ohne Zeit gemeint ist: die Ewigkeit dauert ja gerade nicht ewig, wenn „dauern“ eine lange Zeit bezeichnet. Ewigkeit dauert nicht, nicht einmal ewig, sie ist zeitlos. (Insofern wird man das überaus lustige Wort des großen Woody Allen aus theologischen Gründen zurückweisen müssen, der bekanntlich gesagt hat: Die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende.)

Den Faden dieses wie immer sehr anregenden Gesprächs mit unseren Konfirmanden möchte ich heute aufnehmen im Nachdenken über unseren Predigttext, in dem sich Jesus von seinen Jüngern aus der Zeit in Gottes Ewigkeit verabschiedet; er und sie – wie wir ja auch am Beginn der Karwoche – gehen auf das Ende seines irdischen, menschlichen Lebens zu. Gerade beim Evangelisten Johannes wird das katastrophische menschlich-irdische Ende Jesu, sein gewaltsamer Tod am Kreuz, als Eingang – oder Rückkehr – in Gottes Herrlichkeit gedeutet und daher treffend Erhöhung genannt. Bei Johannes wird Jesus nicht erst in seiner Auferstehung zu Gott erhöht, sondern schon in Tod und Kreuz erhöht; und darin von Gott verherrlicht.  

Jesus verabschiedet sich von seinen Jüngern mit Reden über Gott und die Welt und einem Gebet, dessen Anfang wir heute hören und das durch zwei Schlüsselbegriffe geprägt wird, die mehrfach wiederholt werden: „verherrlichen“/ „Herrlichkeit“ – gleich sechsmal – und „ewig“ – zweimal genannt aber dreimal gemeint. Beide beschreiben, was nun mit Jesus geschieht; vor allem aber kennzeichnen sie, wer oder wie Gott ist.

Herrlichkeit ist das Wesen Gottes, mit der er die Welt erfüllt. „Heilig, heilig, heilig ist der Herr, alle Lande sind seiner Ehre voll – eigentlich seiner Herrlichkeit voll“ heißt es beim Propheten Jesaja (Jesaja 6,3). „Herrlichkeit“ bezeichnet den Lichtglanz Gottes, den Lichtglanz, in dem Gott lebt, der ihn umgibt und der von ihm ausstrahlt, der also nach den Worten des Jesaja auf seiner ganzen Schöpfung liegt. Gott wohnt im Licht – Licht ist göttlich– Licht ist Leben – ohne Licht kein Leben; das Licht hat die Menschen seit jeher über alle Maße fasziniert – und noch heute sind es die faszinierenden Eigenschaften des Lichts – seine Geschwindigkeit, seine Struktur, seine Wirkungen – denen die Forscher nachgehen, um die innersten Geheimnisse der Natur zu ergründen.

Wenn also unser Text gerade diesen Lichtglanz und diese Herrlichkeit hervorhebt, geht es ihm zunächst genau darum, den Lichtglanz, und zwar den Lichtglanz Gottes auf Jesus den Sohn zu lenken, der zu Gott im Gebet spricht: Verherrliche deinen Sohn, auf dass der Sohn dich verherrlicheIhnen beiden, Gott Vater und Gott Sohn, soll unsere ganze, ungeteilte Aufmerksamkeit gelten, sie sollen ins Scheinwerferlicht getaucht werden, das die Finsternis unterbricht und erhellt. So beginnt ja schon das Johannesevangelium, mit seiner ganz eigenen Geburtsgeschichte: „Das Licht scheint in der Finsternis“ (Johannes 1,5), „Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet“ (V.9), „und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit, als des eingeborenen Sohnes vom Vater“ (V.14). 

Dieses Licht auf Jesus Christus ist das Licht Gottes; es dient dazu, diesen Menschen Jesus als Gottes Sohn, als Gott zu identifizieren, ihn zu verherrlichen, ihn zu vergöttlichen: „Ich und der Vater sind eins“ (Johannes 10,30), sagt Jesus, und an anderer Stelle: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Johannes 8,12)

Wer sich zu Jesus in das göttliche Licht stellt, wird mit dem Sohn mitverherrlicht und hat so Anteil an der Ewigkeit Gottes; Jesus wird von Gott in seinen Lichtstrahl gestellt, um auch uns zu erleuchten: auf dass er ihnen alles gebe, was du ihm gegeben hast: das ewige Leben. Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.

Immer und immer wieder spricht Jesus im Johannesevangelium davon, dass der Glaube an Jesus Christus, an Gottes Sohn das ewige Leben ist; also jetzt schon ist; nicht erst zukünftig durch ihn sein werde oder erworben würde, sondern wie gesagt: schon ist: „Wer glaubt, hat das ewige Leben“ (Johannes 6,47, und öfter). Leuchtet uns das ein? Erhellt uns das? Trifft uns ein Strahl des göttlichen Lichts?

Man muss an dieser Stelle die Worte Jesu und die Lehre des Johannes nicht unnötig komplizieren. Trotz der häufigen Verwendung von Vokabeln der Erkenntnis und der Weisheit – auch hier in unserem Textabschnitt ist von „wahrhaftigem Erkennen“ die Rede – geht es glaube ich nicht um komplizierte Spekulationen oder Geheimlehren (wie lange angenommen wurde), sondern eher um das Verstehen als Geistesblitz oder, dass uns ein Licht aufgeht; es geht nicht so sehr um die Anstrengung des Denkens sondern um die Leichtigkeit des einen, aber entscheidenden Gedankens; nicht um die Erkenntnis als mühevolles Werk sondern als Gabe und Geschenk. 

Wir kennen das aus unseren eigenen Erfahrungen des Verstehens, das natürlich mit Mühe und Anstrengungen verbunden ist – sonst müssten wir ja nicht 13 oder mehr Jahre die Schulbank drücken – aber das uns in den raren Momenten der Erkenntnis mühelos erscheinen kann; wenn uns einmal doch der Groschen gefallen und das Licht wie angeschaltet aufgegangen sein sollte, dann liegt das Ergebnis vor uns, es bietet sich als offensichtlich dar, als könne esgar nicht anders sein.

In den Jesusgeschichten – insbesondere aus der Hand des Johannes – erleben wir immer wieder diesen Vorgang des plötzlichen Verstehens – wie auch den des dauerhaften Nichtverstehens. Auch darüber macht sich Johannes und sein Jesus keine Illusionen, dass es nämlich Menschen gibt und geben wird, die im Dunkeln bleiben und denen kein Licht aufgeht. Aber es gibt eben auch die, auf die das Licht trifft, die mitverherrlicht werden durch den Lichtglanz Gottes in Jesus Christus – und darin das ewige Leben haben.

Wer nämlich dieses Licht auf unserer Welt und in seinem Nächsten erkennt; wer wahrnimmt, dass die Natur nicht nur sinnloser Zufall ist, sondern Gottes Schönheit an sich trägt – noch unter dem Elektronenmikroskop oder im Teilchenbeschleuniger an sich träg; und wer im menschlichen Gegenüber Gott selbst erkennt – nach dem Johanneswort: „Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1. Johannesbrief 4,16), der lebt „ewig“, wie Johannes und sein Jesus es hier meinen. Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen.       

Nochmal: Wer in der Welt und im Nächsten Gott erkennt, der erlebt jetzt schon „Ewigkeit“; wer in diesem Sinne glaubt, der hat das „ewige Leben“, der weiß sich von Gott geborgen. Wer weiß, dass Gott da ist, der weiß, dass Gott für ihn da ist; auch in den Stunden des Leidens und Sterbens wird Gott für uns da sein; auch dann wenn die Mächte der Finsternis ihr menschenfressendes Haupt erheben.

Diese Zuversicht trotz aller Bedrängnis strahlt Jesus hier kurz vor seinem Tod aus. Gott, da ist er sich sicher, lässt ihn nicht im Tod, sondern erhöht ihn zu sich, hat das schon getan, wie er sagt: „Ich bin nicht mehr in der Welt; sie aber sind in der Welt, und ich komme zu dir.“ (Johannes 17,11). Mit dieser Zuversicht wollen wir mit ihm in diese Woche gehen.

Judika, 5. Sonntag in der Passionszeit, 3. April 2022

Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen zu ihm: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, was wir dich bitten werden. Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, dass ich für euch tue? Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben steht mir nicht zu, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist. Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.
(Markus 10,35-45)

Was ist hier los?
Scheint sich um einen unappetitlichen Fall irgendwo in der Grauzone zwischen religiöser Streberei und kirchlichem Karrierismus zu handeln. Da will sich jemand einen Vorteil erschleichen, da schleimt sich jemand an den Meister heran, da will jemand mehr als ihm von Rechts wegen zukommt, um größer als die anderen zu sein. Schön ist das nicht, auf so unbillige Weise die teuren Plätze ergattern zu wollen, und der Evangelistenkollege Matthäus erzählt die Episode noch um einiges unschöner und krasser:

Da sind es nicht die beiden Apostelbrüder selbst sondern ihre Mutter – die ich mir als frühchristliche „tiger mom“, also als „Tigermutti“ vorstelle, (sie erinnern sich vielleicht an die chinesisch-amerikanische Professorin, die ihren Kindern mit harter Hand die Karriere befiehlt, jede 1- mit Hausarrest bestraft und darüber auch noch Bücher schreibt: Amy Chua, Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte; noch besser im amerikanischen Original: Battle Hymn of the Tiger Mother von 2011; die darin beschreibt, wie sie ihren Kindern, den prachtvollen Töchterchen Sophia und Lulu, koste es was es wolle, das Siegen beibringt) – und die also hier als zurück in die Zeit Reisende in unserer Parallel-Geschichte den unfrommen Wunsch äußert, ja, die Forderung nach Beförderung stellt, dass ihre beiden Prachtjungs Johannes und Jakobus, die Donnersöhne, wie Jesus sie an anderer Stelle nennt, doch bitte sehr stets und immer in der ersten Reihe sitzen mögen; Platz da, ruft sie donnernd und dröhnend (jedenfalls in meiner Phantasie): hier komm ich mit meinen beiden prachtvollen Siegersöhnen!

Schade eigentlich, dass Markus in seiner Version unsere Phantasie beschneidet und die beiden das selbst sagen lässt: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit.

Kann man das auch anders sehen? Vielleicht. Vielleicht ist das hier zunächst nicht mehr als der Wunsch der beiden nach Nähe zu ihrem Heiland; also die verständliche und nicht unsympathische Sehnsucht, ihm immer nahe zu sein und nahe zu bleiben, ihm nachzufolgen, wohin auch immer – „wo du hingehst, da will auch ich hingehen“ – auch wenn sich die Zeiten und die Verhältnisse ändern, was sie ja – das jedenfalls war die gemeinsame und weit verbreitete und sichere Erwartung – unmittelbar bald tun würden. Sie erwarteten ja mit ihrem Meister jeden Augenblick die große Zeitenwende, das endgültige Ende dieses Zeitalters und den Einbruch des neuen Äons, das Ende vom Ende und den Anfang eines ganz neuen Anfangs. Wenn das Reich Gottes nahe herbeigekommen ist, wollen sie jedenfalls weiterhin ganz nahe bei ihm sein, in seinem Licht und von ihm erleuchtet: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit.

Jesus hält dieses Verhalten für anderes als eine etwas übertriebene Sympathiebekundung und für mehr als eine bloße Geschmacksverirrung und versucht seinen beiden Apostel, den Zebedäussöhnen Johannes und Jakobus, die zum innersten Kreis – dem inner circle – seiner Jünger gehören, den Ernst der Lage zu vermitteln, den sie offensichtlich trotz ihrer Nähe und Vertrautheit zu ihrem Meister noch nicht begriffen haben: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?

Mit dem Wort von Kelch und Taufe meint Jesus nicht nur seine bleibende Gegenwart in den Sakramenten der christlichen Gemeinde – die auch natürlich – sondern er meint vor allem sein Leiden und Sterben, das ihm bevorsteht und das die, die seine Nähe suchen, ebenso erwartet. Wenn Herrlichkeit, dann ist es die Herrlichkeit des Kreuzes. Könnt ihr das? Wisst ihr was ihr bittet?

Aber so leicht lassen die beiden Donnersöhne sich nicht abschütteln: Ja, das wissen wir und Ja, das können wir; meinen sie, nämlich aushalten. Und dann muss Jesus halt noch deutlicher werden, dass bei aller Nähe zu ihm und aller Leidensbereitschaft seiner Jünger, die Verhältnisse im Reich Gottes unverfügbar bleiben, dass noch nicht einmal er die Plätze an der Sonne verteilt und dass sich jede Rangelei und jedes Geschacher darum verbietet: zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben steht mir nicht zu, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist. Ein Vorteil vor Gott lässt sich nicht ausrechnen, der Platz in der ersten Reihe lässt sich nicht reservieren, die tickets für die besten Plätze im Gottesreich sind nicht verfügbar – und schon gar nicht für den, der darauf Anspruch erhebt, im Gegenteil!

Und jetzt kommt es richtig bitter für die eben noch siegessicheren Donnersöhne, denn Jesus wendet die Verhältnisse im Gottesreich – „die ersten werden die letzten sein“ – auf die Zeit davor an. Was sich dort dann definitiv umkehren wird, soll auch schon hier gelten: wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein – wie übrigens schon die Mutter Jesu, keine Tigermutti sondern Lämmermama noch vor dessen Geburt gesungen hat in ihrer unvergleichlichen Battle-Hymn gegen die Sieger und Krieger und von den unmittelbar bevorstehenden Umwälzungen durch Gott:

„Meine Seele erhebt den Herrn
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.
Und seine Barmherzigkeit währet für und für
bei denen, die ihn fürchten.
Er übt Gewalt mit seinem Arm
und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
Er stößt die Gewaltigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen.
… “ (Lukas 1,46-53)

Es geht für uns darum, mit dem eigenen Verhalten diesen großen Umwälzungen Gottes entgegen zu kommen, ihnen zu entsprechen. Jesus macht sich keine Illusionen über die Verhältnisse dieser Welt, aber er erwartet, dass wir diesen Verhältnissen nicht einfach entsprechen, sondern dass wir diesen mit unserem eigenen Verhalten widersprechen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht! So soll es unter uns nicht sein!

Auch wenn wir in diesen Jesusworten wieder einmal nicht anders können, als einen erstaunlich hellsichtigen Kommentar zu den Ereignissen unserer Tage hören – Ja, so ist es immer noch, dass die Autokraten ihre Völker niederhalten und die autoritären Regime nach innen und außen mit Gewalt herrschen – geht es Jesus an dieser Stelle eigentlich um die inneren Verhältnisse in der christlichen Gemeinde: Aber so ist es unter euch nicht. Wir hören heute nicht mehr aber auch nicht weniger als eine Absage aller Machtstrukturen in der Kirche, ein Ende kirchlicher Hierarchie, als scheinbar heiliger, göttlicher, gottgewollter Ordnung. Aber so ist es unter euch nicht.

Vor einiger Zeit offenbarte mir ein vergleichsweise verständiger Vertreter unserer evangelischen Kirche nach einer wie so häufig unerfreulichen Sitzung – die vergangene Woche war voll davon! – , dass die Evangelischen erst wieder den Umgang mit Macht und also Hierarchie lernen müssten. Wenn er sich da nicht irrt! Abgesehen davon, dass die Evangelischen ohnehin nur die farbenfrohe und glitzernde Hierarchie der Ämter und Gewänder, der Seidenschläppchen und Samthütchen, des von den Decken triefenden Goldes und des berauschenden Räucherwerks zugunsten der grauen und bis heute grauenerregenden Hinterzimmer-Hierarchie der Verwaltung eingetauscht haben – kein fröhlicher Wechsel! – können sich beide jedenfalls nicht auf Jesus berufen. Kein katholischer Bling-Bling und keine protestantischen Nieten in Nadelstreifen – was ist nur aus den Donnersöhnen geworden! – können sich als in der Wolle unterschiedlich gefärbte kirchliche Karrieristen auf Jesus berufen, der klar und deutlich fordert: Aber so ist es unter euch nicht.

So soll es nicht unter uns sein – und zwar nicht, weil ein demokratischer Zeitgeist das so wollte (wie demokratisch der ist, sei dahingestellt!) – sondern weil Jesus selbst das so will und weil Jesus selbst so war. Das ganze Wesen dessen, „der es nicht für einen Raub hielt Gott gleich zu sein, sondern sich selbst entäußerte und Knechtsgestalt annahm“ (Philipper 2), war nicht auf Herrschaft sondern auf Dienst gerichtet; nicht herrschend sondern nur dienend kann man ihm folglich nachfolgen: Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele. Auch für uns. Amen.

Predigttext für den Sonntag Okuli, 3. Sonntag in der Passionszeit, 20. März 2022

Und Ahab sagte Isebel alles, was Elia getan hatte und wie er alle Propheten Baals mit dem Schwert umgebracht hatte.
Da sandte Isebel einen Boten zu Elia und ließ ihm sagen: Die Götter sollen mir dies und das tun, wenn ich nicht morgen um diese Zeit dir tue, wie du diesen getan hast!
Da fürchtete er sich, machte sich auf und lief um sein Leben und kam nach Beerscheba in Juda und ließ seinen Diener dort.
Er aber ging hin in die Wüste eine Tagereise weit und kam und setzte sich unter einen Wacholder und wünschte sich zu sterben und sprach: Es ist genug, so nimm nun, HERR, meine Seele; ich bin nicht besser als meine Väter.
Und er legte sich hin und schlief unter dem Wacholder. Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iss!
Und er sah sich um, und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen.
Und der Engel des HERRN kam zum zweiten Mal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir.
Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb.
Und er kam dort in eine Höhle und blieb dort über Nacht. Und siehe, das Wort des HERRN kam zu ihm: Was machst du hier, Elia?
Er sprach: Ich habe geeifert für den HERRN, den Gott Zebaoth; denn Israel hat deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert getötet, und ich bin allein übriggeblieben, und sie trachten danach, dass sie mir mein Leben nehmen.
Der Herr sprach: Geh heraus und tritt hin auf den Berg vor den HERRN! Und siehe, der HERR wird vorübergehen.
Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben.
Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen.
Als das Elia hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und ging hinaus und trat in den Eingang der Höhle. (1. Könige 19, 1-13)

„Mögest du in interessanten Zeiten leben!“ – dass dieser chinesische Gruß, der wohl gar nicht aus China kommt – das sei jetzt aber mal dahingestellt – eher als Fluch denn als Segen gemeint ist, leuchtet in Zeiten wie diesen unmittelbar ein. Interessant sind die Zeiten gerade sehr, aber eher als Fluch und recht betrachtet wären uns etwas langweiligere Zeiten deutlich lieber. Krisen gab es schon vorher genug, die verdammte Pandemie ist noch lange nicht vorbei und jetzt hat auch noch ein Gewaltherrscher seinen Nachbarn und unserer Nachbarn Nachbarn überfallen und einen verfluchten Krieg vom Zaun gebrochen. Eigentlich längst Zeit für uns, eine Auszeit zu nehmen, den Rückzug in die Wüste anzutreten. Wer kennt eine dunkle Höhle, in die man sich wie Elia verkriechen könnte? Wer einen Ort ohne Viren, ohne Bomben und ohne Nachrichten von beiden?

Interessant, verflucht interessant, sind unsere Zeiten auch, weil sie uns zu Zeitreisenden machen. Das Zeitalter der Seuchen schien doch längst vorbei und die Epoche der Kriegstreiber und ihrer blindwütigen Überfälle auf Nachbarstaaten hatten wir doch hinter uns gelassen. Und indem wir uns gegen die Pandemie behaupten und das Kriegsgedröhn wieder hören müssen, scheinen wir zurück in dunkle, längst vergangene, eher: lange verdrängte Zeiten zu reisen. Unsere journalistischen Zeitreiseführer dahin sind dieselben, die uns vor dreißig Jahren mit dem Ende des Sowjetreiches das Ende der Geschichte verkündet haben und uns heute einen neuen Anfang derselben predigen: nämlich die Wiederkehr der Machtpolitik, die sich in Sturm, Beben und Feuer durchzusetzen hätte gegen das sanfte Säuseln von Diplomatie und Demokratie.

Apropos Zeitreise: In der Höhle, in die wir als Familie uns abends verkriechen, läuft gerade eine völlig abgedrehte norwegische Fernsehserie von Zeitreisenden, die dort „Beforeigners“ heißen, also aus einem Wortspiel von „before“ und „foreigners“ Menschen bezeichnen, die aus drei Epochen früherer Zeiten, nämlich der Steinzeit, der Wikingerzeit und aus dem 19. Jahrhundert, in der Jetztzeit auftauchen, und zwar buchstäblich aus den Wassern des Oslofjords auftauchen und als Zeitmigranten die Stadt bevölkern. Die Stadt verwandelt sich darüber bis zur Unkenntlichkeit in ein einziges, riesiges, brodelndes Flüchtlingslager, in welchem sich Fremde, Zeitmigranten verschiedener Zeiten begegnen, aufeinanderprallen in einem absurden und dennoch einleuchtenden „clash of cultures“, sich gegenseitig fremd sind und dabei doch nicht alle sich gegenseitig fremd bleiben. Das ist genauso abgedreht, wie es klingt, aber eben auch lustig und spannend und ziemlich interessant.

Interessant nicht zuletzt ist der Zusammenprall der Religionen der Wikinger auf der einen Seite mit dem Glauben der pietistischen Frömmler aus dem 19. Jahrhundert auf der anderen Seite, wobei es den kirchlichen Zuschauer betrüben kann, dass die Serie eindeutig mit den altnordischen Odingläubigen sympathisiert und die Christen ein bisschen zu sehr ihr Fett wegbekommen. In einer dennoch köstlichen Szene suchen zwei wilde Wikingerfrauen Zuflucht in einer Kirche und mokieren sich unter einem Kruzifix über den schwachen Gott, der dort hängt, und die erbärmlichen Christen, die an einen Gott glauben, der noch nicht einmal seinen eigenen Sohn retten konnte, geschweige denn sie. Irgendwie geht es auch in dem schrillen Panoptikum dieser norwegischen Fernsehserie um die Stärke der Religionen und die Gewalt der Götter. Und darum ging es doch auch in unserer Elia-Geschichte.

Auch Elia, der Diener des Herrn seines Gottes, dessen Name, gepriesen sei er, unaussprechlich ist, sieht sich in einem Kampf der Religionen, einem „clash of cultures“; er auf der Seite der nomadischen Migranten, der Hebräer nämlich und die Philister mit ihren Baalspriestern auf der Seite der Sesshaften, Besitzenden, die ihren angestammten Besitz zu verteidigen trachten. Wir betreten die Bühne dieser Auseinandersetzungen, als der große blutige Kampf Elias gegen die Baalspriester im Namen ihrer Götter gerade gekämpft war und der Nebel des Krieges sich gerade lichtet: wie er alle Propheten Baals mit dem Schwert umgebracht hatte. Vor der Rache der bösen Philisterkönigin Isebel: Die Götter sollen mir dies und das tun, wenn ich nicht morgen um diese Zeit dir tue, wie du diesen getan hast! – flieht Elia in den Süden erst in das Grenzland nach Beerscheba, noch begleitet von seinem Diener, und dann ganz allein weiter, immer weiter in die Wüste.

In der Wüste, dem Ort der Gottesbegegnung, begegnet Elia seinem Gott. Ich stelle mir vor, dass ihm schon während der schrecklichen Prophetenschlacht gedämmert hatte, dass das Gottes Wille nicht sein kann, so wie wir heute doch auch glauben, dass Krieg eben nach Gottes Willen nicht sein soll. Ich stelle mir vor, dass die Lektion, die Elia zu lernen hat, genau die ist, die bis heute und gerade heute zu lernen ist, dass das Recht der Selbstverteidigung nicht in das gewaltige Unrecht des Krieges umschlagen darf; und dass dieser Umschlag, dieser „tipping-point“ immer umstritten bleibt und bleiben muss. Im grausig-blutigen Kampf der Propheten war dieser Punkt jedenfalls weit überschritten.

Der geflohene Elia erfährt humanitäre Hilfe: einen sicheren Ort, an dem er sich ausruhen kann, dazu ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Freundliche Hilfe und ein freundliches Wort; und dazu – er ist ja ein Prophet – den Auftrag, die Höhle am Gottesberg aufzusuchen, um Gott zu begegnen. Es waren sicherlich die schrecklichen Erfahrungen und Bilder des Prophetenkampfes, die ihn auf die nun folgende, alle seine Gewissheiten umstürzende Gottesbegegnung vorbereitet hatten. Gott selbst verweigert sich der Logik von Gewalt und Macht, erscheint nicht in Donner und Blitz sondern in einem sanften Sausen. Welche Zeit wäre bereit für diese Botschaft eines gewaltlosen Gottes?

Die biblische Tradition hat Elia als Zeitreisenden verstanden, als einen der ersten seiner Art, von dem man es für möglich hielt, dass er Zeitgrenzen überwinden und zu ganz anderen Zeiten wiedererscheinen, wiederauftauchen kann. Nur wenige Kapitel nach unseren Ereignissen, stirbt Elia – eben nicht!, sondern wird in einer spektakulären Aktion zu Gott entrückt: „Siehe, da kam ein feuriger Wagen mit feurigen Rossen, … und Elia fuhr im Wetter gen Himmel“ (2. Könige 2,11). Als zu Gott Entrückter und also nie Gestorbener wird Elia in der religiösen Phantasie der Bibel, aber vor allem in der spekulativen Literatur der nachbiblischen Zeit zum Zeitreisenden, dessen Auftauchen zu anderen Zeiten und an anderen Orten – vor allem da, wo es brennt und raucht – für möglich gehalten wird.

Noch in den Worten des machtlosen Gottes am Kreuz kann von den unterm Kreuz Stehenden der Ruf nach Elia gehört werden, obwohl dieser doch bloß seinen Schmerz in die Welt hinausschreit: „Eli, Eli, lama asabthani? Das ist verdolmetscht: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Und etliche, die dabeistanden, da sie das hörten, sprachen: Siehe, er ruft den Elia.“ (Markus 15,34f.) Jesus ruft nicht nach Elia, aber er ruft dessen erschütternde Erkenntnis vom gewaltfreien Gott in Erinnerung, zu dem ihn selbst erst ein Weg voller Gewalt geführt hatte:
Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben.
Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen.

Solche Worte der Bibel sind auch Zeitreisende, sind geeignet unsere Verhältnisse durcheinander zu bringen, klingen als Fluch und Segen über die Jahrhunderte hinweg, vermögen unsere allzu interessanten Zeiten, ertragen zu helfen, indem sie uns an den Gott erinnern, der sich selbst seiner Macht entäußert und darin in den Schwachen mächtig ist.

Amen.

Sonntag Invokavit, erster Sonntag der Passionszeit, 6. März 2022

Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfangt. Denn er spricht (Jes 49,8): »Ich habe dich zur willkommenen Zeit erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.« Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit dieser Dienst nicht verlästert werde; sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen, im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben. (2. Korinther 6, 1-10)

Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Selten scheint ein Predigttext so daneben zu liegen wie heute; viel falscher geht es nicht, denn wann wenn nicht jetzt erleben wir Tage des Unheils und wann wäre das Zeitgeschehen unwillkommener gewesen als gerade jetzt. Beinahe sehnen wir uns in die Zeit zurück als nur Corona unsere Sorge war, von Migrationsproblemen oder Finanzkrisen zu schweigen und selbst der Klimawandel scheint hinter dem schrecklichen Krieg in unserer Nähe viel von seinem Schrecken zu verlieren. Unheil überall und von überall her. Es läuft gerade nicht so gut. Und dann hören wir das:

Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!

Im weiteren Verlauf unseres Textabschnitts wird deutlich, dass auch für Paulus das Heilswort nicht als Beschreibung der von ihm erlebten Wirklichkeit gemeint ist; sondern – wie bei uns gerade – unter seinem äußerlich sichtbaren Gegenteil auf ihn trifft: in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten, in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen. Dennoch und trotzdem und gegen allen Augenschein ist jetzt die willkommene Zeit, ist der Tag des Heils! Wie unter dem Kreuz ist das Heil unter den Umständen und Zeitläufen verborgen – aber nicht weniger wahr. Alles ist schrecklich, aber alles wird gut – weil Gott alles gut gemacht hat und wieder gut machen wird.

Was unterscheidet eine solche Botschaft von einer bloßen Durchhalteparole, in Zeiten der Seuche, der Krise und nun des Krieges auszuhalten in großer Geduld? Was sollte uns dazu bringen, auf solche Worte zu hören, ihnen Glauben zu schenken? Was könnte uns davon überzeugen, dass trotz allem, was uns Sorgen macht und was uns bedrängt, auch heute ein Tag des Heils ist?

Nun, Durchhalteparolen sind gewöhnlich an andere gerichtet, die zu leiden haben, während man sich selbst schont; ganz anders der Apostel Paulus – und um den geht es zunächst in unserem Predigttext und eigentlich in seinem ganzen 2. Brief an die Korinther – der an sich zeigt, was es ihn kostet so zu glauben, wie er glaubt, und so zu leben, wie er lebt; wenn er von Bedrängnissen, Nöten, Ängsten, Schlägen, Gefängnissen, Aufruhr, Mühen spricht, dann von seinen eigenen, dann davon, dass er sie selbst erlebt hat und noch erlebt; was alles nicht wünschenswert, aber eben unvermeidbar ist, um Gottes Wort von der willkommenen Zeit, vom Tag des Heils auszurichten und selbst danach zu leben im Wachen, im Fasten, in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe, in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken.

Man muss sich hüten vor allzu vorschnellen Anknüpfungen oder kurzschlüssigen Bezügen, aber ich jedenfalls kann nicht anders als an den Präsidenten und den Bürgermeister in dieser fernen, nahen Stadt Kiew zu denken – gerade mal knapp zweitausend Kilometer von Wiesbaden entfernt und nach Google-Maps in 20 Stunden und angeblich ohne Stau – das dürfte ein Irrtum sein – auf Autobahnen über Ostdeutschland und Polen erreichbar. Seine, ihre Botschaften aus Bedrängnis und höchster Not sind ebenso wenig Durchhalteparolen sondern durch ihr Beispiel und das erhebliche Risiko für ihren eigenen Leib und ihr eigenes Leben beglaubigt.

Keine Mitfahrgelegenheit wolle er, auf das Angebot hin, ihn auszufliegen, keine Mitfahrgelegenheit wolle er, sondern Mittel zur Selbstverteidigung, Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, also Schwerter – rechts – zum Zurückschlagen und Schilder – links – zur Abwehr die Paulus nur metaphorisch und geistlich gemeint hat, die nun aber ein Gewaltherrscher die Angegriffenen im Wortsinn zu verstehen nötigt. Bei aller Undurchsichtigkeit im Nebel des Kriegsgeschehens, in dem bekanntlich die Wahrheit das erste Opfer ist, klingt in den Worten des hoffnungslos Unterlegenen das Wort der Wahrheit durch, dass ein solcher Überfall nicht gerecht sein kann und dass Selbstverteidigung ein Recht ist.

Im Weiteren skizziert Paulus die Unsicherheiten und Mehrdeutigkeiten, denen wir Menschen zeitlebens im eigenen und im Urteil der anderen ausgesetzt sind, besonders aber in Zeiten der Krise und des Krieges: Was ist die Wahrheit über mich? Was ist überhaupt Wahrheit? Und welches ist das Wort der Wahrheit? „Die einen sagen so, die anderen sagen so“, sagt der freundliche Kassierer im Tegut – selbst mutmaßlich kriegs- und fluchterfahren – und weiß nicht, was er aus den Nachrichten machen soll, außer sie mit Vorsicht zu genießen. Jedenfalls warnt er den Kunden, der eigentlich nur das Abendbrot einkaufen wollte, vor der Verwechslung der Wirklichkeit mit der Nachricht von ihr. So kann es im Land des Gewaltherrschers, der den jüdischen Präsidenten seines Nachbarlandes einen Nazi nennt, bis zu 15 Jahre Haft kosten, den Krieg Krieg zu nennen: Je nach Standpunkt und Blickrichtung kann sich Wahrheit in Lüge verwandeln und umgekehrt, wobei ich der altmodischen Vorstellung anhänge, dass nur eine gemeinsame Wahrheit diesen Namen verdient.

Paulus jedenfalls kennt diese unterschiedlichen, miteinander streitenden Sichtweisen auf dieselbe Sache, sieht sich ihnen selbst ausgesetzt, sieht sich und die seinen in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet; als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben.

Hin- und hergerissen aber nicht zerrissen; brennend aber nicht verbrennend; zerbrechlich aber nicht zerbrochen; ein tönernes Gefäß, das nichtsdestotrotz einen Schatz in sich trägt, von dem Paulus im selben Brief an anderer Stelle sagt: „Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen, auf dass die überschwängliche Kraft von Gott sei und nicht von uns. Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht.“ (2. Korinther 4,7f.)

Dieses Vexierbild unserer Existenz kann uns schwindelig machen; unser Leben mag schwanken in den Ambivalenzen und wanken in den Ambiguitäten der wirklichen Welt, unsere Sicherheiten mag durch böse Mächte und finstere Gestalten, den Wiedergängern des Teufels, den wir doch längst abgeschafft hatten, erschüttert werden, aber wir fallen nicht, weil Gottes Wort an uns nicht fällt, sondern uns aufrichtet.

Sein Zuspruch, dass jetzt wie stets die willkommene Zeit, der Tag des Heils ist, weil eben jede Zeit gleich unmittelbar zu Gott ist, erfüllt uns mit dem Heiligen Geist, der Kraft Gottes und befähigt uns zu Wahrheit und Gerechtigkeit in ungefärbter Liebe. So wenig der Apostel seinen Glauben und sein Leben vom Urteil der anderen abhängig gemacht hat, und so wenig er verzagt, obwohl ihm bange ist, so sehr sollen auch wir gerade in Bedrängnis und Not auf Gott und sein Wort hören. Nicht vor den bösen Mächten sollen wir uns beherrschen lassen, sondern von den guten Mächten geborgen wissen. Amen.

Noch will das alte unsre Herzen quälen, noch drückt uns böser Tage schwere Last. Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen das Heil, für das du uns geschaffen hast.
Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so lass uns hören jenen vollen Klang der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner Kinder hohen Lobgesang.
Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

(Dietrich Bonhoeffer 1944)

Predigttext für den Sonntag Estomihi, letzter Sonntag vor der Passionszeit, 27. Februar 2022 

Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohenpriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen. Und er redete das Wort frei und offen. Und Petrus nahm ihn beiseite und fing an, ihm zu wehren. Er aber wandte sich um, sah seine Jünger an und bedrohte Petrus und sprach: Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Will mir jemand nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten. Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele? Denn was kann der Mensch geben, womit er seine Seele auslöse? Wer sich aber meiner und meiner Worte schämt unter diesem abtrünnigen und sündigen Geschlecht, dessen wird sich auch der Menschensohn schämen, wenn er kommen wird in der Herrlichkeit seines Vaters mit den heiligen Engeln. (Markus 8, 34-38)

Unter dem Eindruck der grässlichen Nachrichten aus der Ukraine hören wir heute in der Bibel davon, dass es das Leben in der Nachfolge Jesu, dass es das gute und wahre Leben nicht umsonst gibt, sondern dass das neue Leben uns etwas kosten kann und kosten wird, nicht weniger nämlich als das alte falsche Leben.

Unter dem Eindruck eines, der die Welt gewinnen will und darüber längst seine Seele verloren hat – aber was interessiert mich eigentlich dessen nachtschwarze Seele, wenn darüber so viele andere Seelen Schaden nehmen? – unter dem Eindruck eines, der sich nicht nur die übelsten Gewaltherrscher zum Vorbild nimmt, sondern gleich den Satan selbst mit seinem Lügen und Morden höchstpersönlich zum Beispiel zu nehmen scheint – Geh weg von mir, Satan! Aber so schnell wird man ihn nicht los – unter diesem Eindruck lesen und hören wir vom angekündigten Leiden, vom Verworfen werden, von den Kosten des gerechten und wahren Lebens, vom abtrünnigen und sündigen Geschlecht, und können doch gar nicht anders, als beides aufeinander zu beziehen:

Ja, der Satan hat immer wieder, auch heute Wiedergänger in der wirklich gelebten Welt, und dieser, der uns gerade plagt, vermag nach all den Jahren seines Unwesens – politische Meuchelmorde, Abschüsse ziviler Flugzeuge, getarnte Invasionen, rechtswidrige Annektionen, Unterstützung anderer Diktatoren, Manipulationen von Wahlen im eigenen und in fremden Ländern und so vieles mehr an Grausamkeiten und Scheußlichkeiten – dieser Unmensch vermag immer noch, erstaunlicherweise immer noch uns allzu harmlos Arglose zu überraschen mit seiner Heimtücke und seiner Bosheit, seinem Lügen und seinem Morden; und ja, es kostet etwas, ihn loszuwerden oder ihn zumindest auf Abstand zu halten: Geh weg von mir, Satan!

Aber wenn er sich als bösartiger Bär im Schafspelz erstmal eingenistet und unentbehrlich gemacht hat, kostet es umso mehr, ihn wieder loszuwerden; und es wird ein Vielfaches davon kosten – und es kostet die Menschen in der Ukraine jetzt schon ein Vielfaches – ihn nicht losgeworden zu haben und sich nicht aus seiner Abhängigkeit befreien zu können. Genau davon spricht unser Text: Von den Kosten des gerechten und wahren und letztlich des guten Lebens: Denn wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren.  

Natürlich weiß unser Bibeltext nichts von russischen Gewaltherrschern, aber er weiß von dem Wunsch, von der Gier von uns Menschen die Welt zu gewinnen, koste es was es wolle. Und der Text interessiert sich nicht für die armen Seelen in der Ukraine oder anderer überfallener Staaten, die solches gewalttätiges Weltgewinnen-Wollen kosten – andere Texte der Bibel natürlich sehr wohl – sondern unser Text interessiert sich für die Kosten für die eigene Seele selbst: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele? Er richtet sich also an uns, die wir im Durchschnitt weniger Schaden nach außen anrichten können als Diktatoren, aber deren Seele ganz genauso gefährdet ist wie die jener.

Dabei ist hier ja überhaupt nicht gemeint, dass jeder Wunsch, die Welt zu gewinnen, der Seele Schaden müsste. Wenn damit das Streben nach Erfolg gemeint ist, im Beruf, im Sport, in der Gesellschaft, auch im Wettbewerb der Staaten untereinander, dann darf man sich sicher sein, dass Gott seine Freude an uns hat, wenn wir mit den von ihm an uns gegebenen Gaben wirken. Unser Bibelwort richtet sich keineswegs mit einer generellen Warnung oder gar einem Verbot an die begnadeten Musiker, die Sportler, die Geschäftsleute, die Forscher oder die Politiker, keinen gerechten Gebrauch ihrer besonderen Gaben und Fähigkeiten zu machen – sondern es richtet sich an sie und uns alle, es bei unserem Erfolgsstreben nicht zu übertreiben, es also bei allen äußeren Erfolgen nicht gegen die Seele zu wenden, der Seele nicht zu schaden; unser Inneres nicht verhärten oder vereisen oder ausbrennen zu lassen. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele?

Jesus belässt es nicht bei diesem Wort, das – meine ich – auch den religiös Unmusikalischen verständlich sein müsste, sondern er fügt es ein in seinen Ruf in die Nachfolge. Dadurch verliert es nicht unbedingt an Allgemeinverständlichkeit, gewinnt aber an Konkretheit und an Konturen. Die Rücksicht auf das eigene Seelenheil besteht und geschieht in der Absage an die wahrscheinlich naturgegebene Rücksichtslosigkeit des natürlichen Menschen. Während dieser sich im immerwährenden Kampf ums Dasein befindet, in dem der Stärkste – und nur der Stärkste – überlebt, fordert Jesus uns auf, sein Lebensmodell zu übernehmen, das von der Rücksichtnahme für andere lebt und in der Hingabe für andere seine Erfüllung findet: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Nur die Hingabe an den anderen, also die Gabe, nichts für sich selbst zu sein zu vermögen, lässt mich – nach Jesus – das Leben und das Seelenheil finden.

Das erklärt dann auch den paradox formulierten Satz: Denn wer sein Leben behalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten.Nur wer bereit ist, die Gewaltlogik des natürlichen Menschen mit seinem Kampf ums Dasein zu verlassen, kann das wahre, gerechte und gute Leben erringen; er muss aber damit rechnen, das Leben zu verlieren. Sein Kreuz auf sich zu nehmen, heißt: das Leben am Kreuz verlieren zu können. Eine unerwartet harte Botschaft, die aber zu diesen unerwartet harten Zeiten passt.

Und man ist beinahe versucht, sie auch im Krieg in der Ukraine abgebildet zu finden, wenn die ukrainische Führung in ihrer Hauptstadt aushält und dabei droht ihr eigenes Leben zu verlieren, um dem Land ein besseres Leben zu ermöglichen; ein besseres als das miserable Leben unter der Gewaltherrschaft ihrer übermächtigen Nachbarn. Aber eine Versuchung und Täuschung wäre eine solche Deutung allein schon deshalb, weil das angegriffene und überfallene Land ja keineswegs freiwillig sondern aus äußerem Zwang das Schwächere ist und seine Selbstbestimmung verlieren wird. Wenn sie könnten, würden sie sich wehren – was sie ja auch noch tun.  

So bleibt uns das überaus unbefriedigende Fazit, dass das Wort vom Kreuz und der Ruf in die Nachfolge eben doch nicht zur Deutung solcher kriegerischer Konflikte geeignet ist, selbst wenn es in diesen Zeiten erklingt. Nach dem überwiegenden Zeugnis der christlichen Tradition lässt sich die Botschaft Jesu darauf – also auf staatliche oder zwischenstaatliche Konflikte – einfach nicht anwenden. Sondern wenn seine Botschaft eine Wahrheit hat, erweist sie sich in uns selbst: dort, wo die Seele sitzt: Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele? Amen.

Predigttext für den Sonntag Sexagesimä, zweiter Sonntag vor der Passionszeit, 20. Februar 2022

Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen. (Hebräer 4,12-13)

Als ob sich das Wort vom „Wort als Schwert“ nicht von selbst verstünde, verweist die Lutherbibel zur Erklärung unserer Verse auf eine Bibelstelle im Buch der Richter im Alten Testament, in der der Richter und Retter Ehud dem – wie die Bibel schreibt – „sehr fetten“ Moabiterkönig Eglon ein Wort von Gott überbringt und dann linkshändig seinen Dolch in dessen mächtigen Bauch stößt: „Und Ehud sprach: Ich habe ein Wort von Gott an dich. Da stand er auf von seinem Thron. Ehud aber streckte seine linke Hand aus und nahm den Dolch von seiner rechten Hüfte und stieß ihm den in den Bauch, dass nach der Schneide noch der Griff hineinfuhr und das Fett die Schneide umschloss; denn er zog den Dolch nicht aus seinem Bauch.“ (Richter 3,20-22)

Diesen irritierenden Bezug auf diese drastische Begebenheit müsste man hier an unserer Stelle im Hebräerbrief eigentlich nicht bringen, da unser Autor an die Hebräer wohl kaum an den dicken König Eglon und den linkshändigen Richter Ehud gedacht hat, als er vom Wort Gottes als zweischneidigem Schwert sprach. Angebracht wäre für diesen Verweis schon eher eine sogenannte Triggerwarnung: Achtung, dieser Text enthält diskriminierende und gewalttätige Aussagen und Szenen, die Menschen verstören könnten. So wünscht sich das bekanntlich die „Schneeflöckchen“- Generation bei Inhalten in Büchern, Filmen oder Vorträgen, die Gewalt oder Diskriminierung enthalten: ein dicker, was sage ich: ein als sehr fett bezeichneter König wird brutal gemeuchelt und das auch noch aus womöglich rassistischen Gründen, oh Graus! Wenn schon vor „Dem dicken König Kalle Wirsch“ im Kinderbuch gewarnt werden muss.

Im Sinne solcher zartbeseiteter Schneeflöckchen – oder „snowflakes“, denn natürlich kommt sowohl das Phänomen als auch sein Name aus den Vereinigten Staaten zu uns herüber – müsste dann allerdings die ganze Bibel mit einer sehr, sehr großen Triggerwarnung versehen werden, da sie von Bruder- über Massenmord, von ethnischer Säuberung bis zu göttlich gefordertem Völkermord, von Darstellung sexueller Gewalt bis zur minutiös geschilderten Qual des Gottessohnes wenig auslässt. Andererseits bringe ich natürlich solche Scheußlichkeiten nicht dadurch aus der Welt, in dem ich meine Augen und Ohren vor ihnen verschließe. Man könnte eher umgekehrt von einer Wertsteigerung der Bibel durch ihren schonungslosen und alle Schneeflöckchen überfordernden Realismus sprechen: Sie spricht von der Welt, wie sie ist, aber wie sie nach Gottes Willen und Wirken nicht bleiben soll und nicht bleibt; darin liegt ihr Wert, und zwar gerade weil sie uns bisweilen wehtut.

Franz Kafka schreibt in einem Brief nicht über die Bibel, aber er meint etwas sehr Ähnliches:

“Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.” (Franz Kafka in einem Brief am 27. Januar 1904)

Das Buch wie eine Axt und das Wort wie ein Schwert – fordernd und richtend, nur dann besteht eine Chance, dass nicht alles so bleibt wie es ist. Und genau so sind und genau das wollen die Bücher und Worte der Bibel; allerdings nicht alle Bücher in der gleichen Weise und nicht von allen ihren Autoren. Während die Propheten und in ihrer Nachfolge die Apostel wie Paulus das Wort Gottes – ganz im Sinne unseres Predigtwortes – vielfach als richterliches Schwert führen, um nämlich unhaltbare, gottlose Missstände zu benennen und zu kritisieren; selbst Jesus kann so sprechen, wenn er spricht: „Ich bin nicht gekommen den Frieden zu bringen sondern das Schwert“; während hier also die Schwerthaftigkeit des Wortes zur Geltung gebracht wird, wird es viel öfter doch ganz anders, geradezu gegenteilig gebraucht, als liebevolles, tröstendes, heilendes Wort, als Vokabel einer Sprache von Liebenden.

Selbst solche Sprache der Liebenden kann ja zum Schwert werden, in toxischen Beziehungen zumal, in denen dann auch jedes Wort, selbst das lieb-klingende Wort zum verletzenden Schwerthieb wird. Aber das ist natürlich nicht gemeint; sondern das Gegenteil ist gemeint, die liebevolle Verwendung von Sprache die nicht verletzt und nicht verletzen will; keinem Schwertstreich oder Axthieb gleicht, sondern einer zärtlichen Berührung oder einem sanften Streicheln; kein Angriff, auch kein Übergriff – sondern zartes Tasten im gegenseitigen Einverständnis.

Ausgerechnet der Apostel Paulus, den die Tradition mit dem Schwert verbindet und mit ihm darstellt und dem ja auch traditionell unser Hebräerbrief zugerechnet wurde, ausgerechnet also der schwerttragende und das Wort Gottes als Schwert bezeichnende Paulus also, hat uns unvergleichliche Worte der Liebe geschrieben, sein Hohes Lied der Liebe in seinem Brief an die Korinther, der freilich insgesamt und im Ganzen alles andere als ein Liebesbrief ist, hier aber schon:

„Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“ (1. Korinther 13,4-7)

Die hier gemeinte – agapische oder gottförmige – Liebe als Selbstlosigkeit – „sie sucht nicht das Ihre“ – mit dem ausdrücklichen Schicklichkeitshinweis – „sie verhält sich nicht ungehörig“ – schützt die Liebe und bewahrt die Liebenden vor Grenzüberschreitung, die die Liebe zwar einerseits immer ist – sie überschreitet ja mich zu dir hin, und dich zu mir hin; aber sie darf unsere Grenzen eben nicht verletzen: „die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen“.

Denn das Wort als Schwert und das Wort als Liebkosung, beides, zielt auf unser Innerstes, auf mein innerstes intimstes Selbst, das ich selbst gar nicht erreiche, über das ich nicht verfüge, zu dem nur der Liebende vordringt, und letztlich nur Gott vordringt (was aber nach dem Wort der Bibel kein Unterschied und schon gar kein Gegensatz sein muss); Gott kommt mir in seinem Wort näher als ich mir selbst nahe zu sein vermag („interior intimo meo“, wie Augustinus sagte).

Das richtende und das liebende Wort Gottes dringt in unser Herz ein, indem es unsere Gedanken und Sinne richtet – und aufrichtet, wie Gott seinem Volk nach Gericht und Unheil wieder Heil verheißt und ihm seine Liebe erklärt; Gott spricht: „Ich habe dich je und geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. Ich will dich wiederum bauen, dass du gebaut sein sollst, du Jungfrau Israel; du sollst dich wieder schmücken und mit Pauken anziehen im fröhlichen Tanz. Du sollst wiederum Weinberge pflanzen an den Bergen Samarias; pflanzen wird man sie und ihre Früchte genießen.“ (Jeremia 31,3-5)

Mir tut es jedenfalls gut, dass Gottes Wort nicht vor allem Axt und Schwert ist, das mich haut und sticht, das auch; aber zuerst und zuletzt das Wort, das mich erschaffen hat samt allen Kreaturen und mich in Liebe erhält, mich aufbaut und gelegentlich – bei aller Leibesfülle – sogar tanzen lässt.

Predigttext für den Vierten Sonntag vor der Passionszeit, 6. Februar 2022

Und alsbald drängte Jesus die Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm ans andere Ufer zu fahren, bis er das Volk gehen ließe. Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er auf einen Berg, um für sich zu sein und zu beten. Und am Abend war er dort allein. Das Boot aber war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer. Und da ihn die Jünger sahen auf dem Meer gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!

Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, rette mich! Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Und sie stiegen in das Boot und der Wind legte sich. Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn. (Matthäus 14,22-33)

Heute müssen wir uns als Geisterjäger betätigen, als Ghostbusters in der Tradition der großen – und wie wir neuerdings wissen unsterblichen – Dr. Peter Venkman alias Bill Murray, Dr. Raymond „Ray“ Stantz alias Dan Ackroyd und Dr. Egon Spengler alias Harold Ramis, die die Geister jagten und die Gespenster dingfest machten; und die wenn sie aufs Meer gefahren wären, noch dort den Heiligen Klabautermann mit ihren nichtlizensierten Protonenbeschleunigern gefesselt und in ihrer Geisterfallen gesteckt hätten; aber darauf, dass es bei uns heute so lustig wird wie bei diesen drei, sollten wir nicht hoffen. Denn heute jagen wir die Geister unseres Unglaubens, die Gespenster unsere Ängste und die Phantasmen unserer heimlichsten, ungutesten Wünsche – in der Nachfolge des Petrus, der uns – als er einmal seinen Herrn Jesus für ein Gespenst hielt – einen gewaltigen Schritt vorausging und beinahe ertrank.

Nicht in die Geisterstunde – was ja passend wäre – entführt uns der heutige Predigttext sondern – noch viel passender – in die sogenannte Wolfstunde zwischen 3 und 6 Uhr, wie unsere Spukgeschichte uns in geradezu pedantischem, aber keineswegs überflüssigem Detail berichtet: in der vierten Nachtwache. In die Wolfstunde, wenn sich nach altertümlicher Vorstellung nur noch die Wölfe herumtreiben, bevor es zu Morgen dämmert, wenn die Glücklichen und die Gerechten ihren Schlaf schlafen, aber die weniger Glücklichen unter uns sich wach in ihren Kissen und in ihren Sorgen wälzen; das Gemüt geschwächt wie die psychologische Medizin weiß von einem Ungleichgewicht der Hormone: Melatonin, Serotonin und Cortisol, das eine zu viel, die anderen zu wenig; also beinahe so wie schon die Alten raunten, dass eine Krankheit einer unvorteilhaften Mischung unserer Körpersäfte geschuldet wäre. Wenn die Mischung nicht mehr stimmt, ist unsere Geisterabwehr geschwächt, unser Geist kann sich unserer Sorgen und Probleme nicht mehr erwehren, wir werden in unseren Nachtgesichten dorthin entführt, „wo die wilden Kerle wohnen“, wie schon das Kinderbuch erzählt; oder wovon das Morgenlied singt: „Heut als die dunklen Schatten/mich ganz umgeben hatten/hat Satan mein begehret/Gott aber hats gewehret“ (EG 446)

Nicht an einen sicheren Ort mit sicherem Halt und festem Boden unter den Füßen führt unsere Geschichte, sondern aufs Meer hinaus, aufs Galiläische Meer, wie der See Genezareth auch genannt wird; tagsüber meist idyllisch aber keineswegs immer und nachts unheimlich wie die große Tiefe, Tehom oder Tiamat, das Urmeer als Macht des Chaos, gegen das Gott in der allerersten unvordenklichen Zeit gekämpft hat und nach uralter mythischer Vorstellung Nacht für Nacht immer wieder neu kämpft. Dieser Kampf mit dem Urmeer hat ein fernes Echo in unserer Urangst vor dem Ertrinken. „Gott hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist; ich bin in tiefe Wasser geraten und die Flut will mich ersäufen.“ Betet der Psalmbeter (Psalm 69) Noch der moderne Folterknecht nutzt die Wasserangst des Menschen in der teuflischen Qual des Waterboardings.

Und nicht bei sicherem, ruhigem Wetter geschieht das alles, sondern bei Wind und Wetter, wenn es vom Libanon und von den Golan-Höhen herunterstürmt und den idyllischen See in das chaotische Urmeer verwandelt, aufwühlt – so sehr aufwühlt, wie wir in den aufgewühltesten, schlaflosesten Nächten sein können. Selbst unser Fischer Torben an der auch nicht immer braven Ostsee mag sich bei Wind nicht auf See wagen, dann gibt’s eben keinen Dorsch und keine Scholle am Morgen, das lässt sich verschmerzen; besser als in Seenot zu geraten, wie es den Jüngern Jesu nun nicht zum ersten Mal passiert.

In diesen dreifach schaurigen Rahmen – aus grausiger Zeit, unheimlichen Ort, und wildem, windigen Wetter – malt unsere Geschichte das Bild, in dem man selbst Jesus für ein Gespenst halten könnte und Petrus ihn für ein Gespenst gehalten hat. Er und die Seinen meinen, ein über das Wasser wandelndes Phantasma, ein plastisches Nebelbild, einen voll-beweglicher Klasse-5-Dunst, eine torsohafte Erscheinung zu sehen: Es ist ein Gespenst!, und sie schrien vor Furcht.

Zünftig, furchtloses Geisterjagen geht anders, wie wir durch die einschlägigen, eingangs genannten Aufklärungsfilme wissen. Unsere Geschichte gönnt uns den Spuk aber nicht und löst ihn zum phantastischen Wunder hin auf: Ihr Zufolge ist es tatsächlich Jesus, der, wie nach antiker und nach biblischer Tradition nur Götter das können, über das Wasser geht und seine Freunde zu beruhigen versucht: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!

Und dann setzt unsere Geschichte in der Fassung des Matthäus – die anderen Evangelisten dürften das für eine unzulässige Übertreibung gehalten haben und schweigen davon – noch einen drauf, spinnt sie weiter und lässt erzählerisch gewagt aber psychologisch nicht unplausibel den Petrus in einer Mischung aus Zweifel, Übermut und Streberei um freies Geleit durch Wind und über Wellen bitten: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.

Jesus reagiert mit einem reichlich lakonischen und wenig begeisterten: Komm her! Also: Na komm schon, wenn es sein muss; du wirst schon sehen, was du davon hast. Und muss einen Augenblick später den schon wieder schreienden, und nun pitschnassen Petrus – wie ein aus Neugier und Ungeschicklichkeit in jeden erreichbaren Brunnen fallendes Kleinkind, ich kannte mal so eins – mit starker Hand und ausgestrecktem Arm aus dem Wasser fischen: Jesus, ein Menschenfischer auch hier; während Petrus auf die unsanfte Art daran erinnert wird, dass es Menschen nicht zukommt, wie die Götter über das Wasser zu wandeln zu begehren. Du wirst nicht sein wie Gott!

Ob sich, wie es der Erzählverlauf zunächst nahezulegen scheint, die Vorhaltung Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? nur – oder überhaupt – auf das Irrewerden des Petrus an seiner vermeintlichen neuen Fähigkeit des Über-Wasser-Laufens bezieht, muss also sehr bezweifelt werden. Es scheint doch vielmehr ein globaler Vorwurf an Petrus und die Jünger zu sein, die immer wieder in Zaudern, Zweifeln und Zagen verfallen und bis zum bitteren Ende der Jesusgeschichte unsichere Kantonisten bleiben. Nur ganz gelegentlich gelingt ihnen wie hier zum ersten Mal das Christusbekenntnis: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn.

Mit beidem – dem Bedenken und dem Bekenntnis – richtet sich die Geschichte an uns; Denn sie weiß von den beständigen Rückfällen in die Nacht der Ängste, auf das Meer der Zweifel und in das Unwetter unserer übertriebenen Wünsche, die uns nicht weniger als die Jünger plagen. Aber sie kennt eben auch das Licht dieses Bekenntnisses, das uns empfohlen sei, wenn uns die Schrecken unserer Verzweiflung und die Schatten unserer Sünde den Seelenfrieden rauben. Wie die Schlaftherapeuten, die uns dazu raten, nicht allzu lange im Dunkeln mit den Dämonen zu ringen, sondern lieber im Licht der Nachttischlampe ein schönes Buch zu lesen, es muss ja nicht gerade eine Gespenstergeschichte sein.

Das hat sich der Evangelist Lukas wohl auch so gedacht, denn er wird die phantastische Seewandelgeschichte wie seine evangelistischen Kollegen gekannt haben und hat sich dennoch gegen ihre Aufnahme in seine Jesusbiographie entschieden. Vielleicht hat er geahnt, wieviel ungläubigen Spott sie auf sich ziehen wird – keine Sammlung von Jesuskarikaturen ohne seinen berühmten Gang übers Meer! – und dass sie, wenn sie im gläubigen Ernst nicht als Gespenstergeschichte erkannt wird, mehr Ärgernis als Glaubenszeugnis ist. Denn Gespenst will uns Jesus ja gerade nicht sein! Jesus ist kein Phantasma – darin hat unsere Geschichte recht; und gleicht auch keinem – darin hat sie sehr unrecht.

Sondern Jesus ist wahrhaftig Sohn Gottes, des Schöpfers des Himmels und der Erde, „der den Himmel ausgespannt hat und auf den Wogen des Meeres einherschritt“ (Hiob 9,8)

Predigttext für den letzten Sonntag nach Epiphanias, 30. Januar 2022

Als nun Mose vom Berge Sinai herabstieg, hatte er die zwei Tafeln des Gesetzes in seiner Hand und wusste nicht, dass die Haut seines Angesichts glänzte, weil er mit Gott geredet hatte. Als aber Aaron und alle Israeliten sahen, dass die Haut seines Angesichts glänzte, fürchteten sie sich, ihm zu nahen. Da rief sie Mose, und sie wandten sich wieder zu ihm, Aaron und alle Obersten der Gemeinde, und er redete mit ihnen. Danach nahten sich ihm auch alle Israeliten. Und er gebot ihnen alles, was der Herr mit ihm geredet hatte auf dem Berg Sinai. Und als er dies alles mit ihnen geredet hatte, legte er eine Decke auf sein Angesicht. Und wenn er hineinging vor den Herrn, mit ihm zu reden, tat er die Decke ab, bis er wieder herausging. Und wenn er herauskam und zu den Israeliten redete, was ihm geboten war, sahen die Israeliten, wie die Haut seines Angesichts glänzte. Dann tat er die Decke auf sein Angesicht, bis er wieder hineinging, mit ihm zu reden. (2. Mose 34,29-35)

Mose trägt Maske. Er schützt damit nicht zuerst sich selbst sondern seine vulnerablen Mitmenschen. Wir kennen das; nur dass bei Mose der Groschen schneller gefallen ist als bei uns.

Mose trägt Maske, bedeckt sein Antlitz, legt sich eine Decke aufs Gesicht, einen Schleier über den Kopf (übrigens keinen Aluhut; angestrahlt, aber nicht verstrahlt) – und zwar nicht um sich selbst vor einer zu hohen göttlichen Strahlenbelastung zu schützen; sondern um die anderen nicht seinem strahlenden Gesicht auszusetzen; denn das war es, weswegen sie sich fürchteten, ihm zu nahen. Nur von weitem und für einen kurzen Moment sehen sie sein strahlendes Angesicht sahen die Israeliten, wie die Haut seines Angesichts glänzte. Aber sie sehen es.

Mose trägt Maske, weil er strahlt und glänzt. Seine Gottesbegegnung – schon im brennenden Dornbusch hatte er die Stimme Gottes gehört – und nun die Begegnung hier am Sinai hat ihn verändert, auch sichtbar verändert. Er erscheint nun in einem neuen Licht, mit neuer Ausstrahlung, die alles und alle in den Schatten stellt, stellen würde. Es ehrt ihn doppelt, dass er als Träger göttlicher Ehre und Herrlichkeit – das hebräische Wort für Ehre meint zuerst die Herrlichkeit, den Lichtglanz Gottes; dass er damit die anderen nicht blenden will, kein Blender sein will. Er soll und will nicht als Chef verehrt und gefürchtet werden, sondern er will und soll als Diener seines Gottes und als Diener seines Volkes dessen Weg ausleuchten.

Mose trägt Maske, weil er glänzt, aber er will nicht auf anderer Leute Kosten glänzen, um die geht es ihm ja – um die anderen Leute – denen soll durch ihn ein Licht aufgehen; sie sollen durch ihn gestärkt, geleitet, geführt und befreit werden; denn so viel liegt hinter ihnen – die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, der Zug durchs Meer – und so viel liegt noch vor ihnen – das verheißene Land, in dem Milch und Honig fließen – und vor allem – eine gute Ordnung für das neue Leben, Gesetze und Regeln der Freiheit.

Mose trägt keine Maske auf dem berühmten Marmorbildnis des Michelangelo, dafür trägt er Hörner, die sich durch einen Übersetzungsfehler in die mittelalterlich lateinische Version der Bibel geschlichen und auf den Moseskopf gepflanzt haben. Eigentlich und ursprünglich steht da was von Strahlen und nicht von Hörnern – gehörnt statt strahlend, darauf muss man erstmal kommen. Natürlich wird der Besucher – so wie wir als Gemeindegruppe vor fünf unendlich langen Jahren in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom – von jedem Reiseführer auf diesen berühmten Kunstfehler des Renaissancegenies hingewiesen, der übrigens leicht vermeidbar gewesen wäre, wenn Michelangelo sein Werk ein paar Jährchen später hätte schaffen können und durch die dann fertiggestellte Lutherbibel besser informiert gewesen wäre: strahlend statt gehörnt, ist doch klar!

Moses von Michelangelo
(c) Dino Quinzani from Brescia, Italy, Mosé (2475015425)CC BY-SA 2.0

Noch leichter vermeidbar gewesen wäre eigentlich der andere, deutlich schwerwiegendere Fehler, nämlich die fehlende Maske seiner Moseskulptur; aber vielleicht auch nicht. Bei Michelangelo trägt Mose keine Maske; dieses Zeichen der persönlichen Zurücknahme, der Selbstbeschränkung und Rücksicht auf die Schwachen passt nicht zum marmornen Herrscherportrait eines religiösen Genies der Renaissance, wie Michelangelo seinen Mose sich vorstellt und verbildlicht; also des Künstlers, der sogar den auferstandenen Christus als muskulösen Helden der Antike dargestellt hat – mit trainiertem Sixpack und elegantem Kontrapost (in der Kirche Santa Maria sopra Minerva nur einen Spaziergang in Rom von unserem Mose entfernt).

Was die Theologen meckern lässt, begeistert die Kunsthistoriker nichtsdestoweniger von Anfang an. Giorgio Vasari lobt und preist seinen etwas älteren Zeitgenossen Michelangelo in höchsten Tönen: „Er (Michelangelo) vollendete den 5 Ellen (also 2,35 m) hohen Moses aus Marmor, einer Statue, der kein modernes Werk an Schönheit je gleichkommen wird, wie es gleichermaßen von den antiken gesagt werden kann. In sitzender Position, von unsagbar würdiger Haltung, legt er einen Arm auf die Tafeln, während er sich mit der anderen in den Bart greift, der wallend und lang in einer Weise in Marmor ausgeführt ist, dass die Haare – womit die Bildhauerei große Schwierigkeiten hat – unendlich fein, flaumig weich und mit einzelnen Strähnen auf eine Weise wiedergegeben sind, dass es unmöglich scheint, wie der Meißel hier zum Pinsel wurde.“ (G. Vasari, Das Leben des Michelangelo 1550/1568; zitiert nach Wikipedia: Artikel zum Mose des Michelangelo)

Aber auch Vasari fällt auf, dass etwas, nämlich die Maske fehlt und wünscht sie sich – beinahe – dazu: „In seiner Schönheit besitzt das Gesicht in der Tat die Ausstrahlung eines wahren Fürsten, heilig und gewaltig, weshalb man ihn, während man ihn betrachtet, fast um einen Schleier bitten möchte, der sein Gesicht verhüllt, so strahlend und hell leuchtend wirkt es.“ (ebd.)

Während also Herrscherideal und Geniekult dem Mose die Maske verweigern, soll sie uns hingegen zum Zeichen des guten Fürsten werden, der als erster Diener seines Gottes und seines Volkes Rücksicht nimmt auf die Stärke des einen und die Schwäche der anderen. Es geht in der Bibel anders als bei unserem Künstler nicht um die Verherrlichung herrscherlicher Würde sondern um die von Gott verliehene Menschenwürde aller.

Ohne dass das im Bibeltext ausdrücklich vermerkt würde, kann man doch aus der Andeutung: als er dies alles mit ihnen geredet hatte, legte er eine Decke auf sein Angesicht – und aus dem Zusammenhang schließen, dass des Mose Rücksicht und Zurückhaltung seinem Auftrag entsprach und ihm zugutekam. Er sollte ja schließlich einem aufmüpfigen, streitlustigen und irregeleiteten Volk die Regeln für ein Leben in Freiheit vermitteln. Und es wird dem Mose eingeleuchtet haben – wie es ja auch uns einleuchten sollte – dass da ein zwingender, innerer Zusammenhang besteht, zwischen der Rücksicht gegenüber den Schwachen und den Freiheitsgesetzen einer Gesellschaft.

Gebote, Regeln und Gesetze, wenn sie denn taugen, schränken entgegen anderslautender Propaganda die Freiheit nicht ein, sondern ermöglichen sie erst – aber eben allen und auch den Schwächeren. Die propagandistisch verherrlichte Willkürfreiheit: frei ist der, und nur der, der seinen Willen durchzusetzen vermag – solche Willkürfreiheit ist dagegen gar keine, indem sie ausschließlich den Starken von der Rücksicht gegenüber Schwächeren befreit und zu einer Herrschaft der Starken und nicht zu einer Herrschaft des Rechts verleitet.

Mose und sein Werk sind weit über die von ihm gegründete Religion hinaus ein Symbol für die Freiheitlichkeit einer rechtsförmigen Gesellschaftsordnung. Gegen das Murren und Maulen seines Volkes und gegen größte innere und äußere Widerstände setzt er durch, dass das Zusammenleben seines Volkes Regeln folgt, dass diese Regeln das Erbarmen einschließen und die Schwächeren schützen und dass nur mit verbindlichen für alle geltenden Regeln ein Leben in Freiheit zu ermöglichen ist.

Für dieses Symbol passt natürlich – bei aller Bewunderung und Verehrung für das überwältigende Kunstwerk Michelangelos – sein Mose nicht; um einem solchen aus der Hand des Michelangelo zu begegnen, müssten wir unseren Spaziergang in der ewigen Stadt noch um ein gutes Stück verlängern, etwa über den Tiber hinweg zum Petersdom, in dem dann gleich rechts neben dem Eingang in einer Seitenkapelle die nicht minder berühmte Pieta unseres Künstlers steht, bei der sich in unüberbietbarer Zartheit eine mädchenhafte Maria liebevoll über den verstorbenen und von Gott aufzuerweckenden Jesus beugt und uns so das Gesetz des Erbarmens unmittelbar anschaulich verbildlicht – ganz ohne Maske.

Höchste Zeit mal wieder hinzufahren und nachzuschauen.

Predigttext für den 3. Sonntag nach Epiphanias, 23. Januar 2022

Als aber Jesus nach Kapernaum hineinging, trat ein Hauptmann zu ihm; der bat ihn und sprach: Herr, mein Knecht liegt zu Hause und ist gelähmt und leidet große Qualen. Jesus sprach zu ihm: Ich will kommen und ihn gesund machen. Der Hauptmann antwortete und sprach: Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst, sondern sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund. Denn auch ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan, und habe Soldaten unter mir; und wenn ich zu einem sage: Geh hin!, so geht er; und zu einem andern: Komm her!, so kommt er; und zu meinem Knecht: Tu das!, so tut er’s. Als das Jesus hörte, wunderte er sich und sprach zu denen, die ihm nachfolgten: Wahrlich, ich sage euch: Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden! Aber ich sage euch: Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen; aber die Kinder des Reichs werden hinausgestoßen in die Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern. Und Jesus sprach zu dem Hauptmann: Geh hin; dir geschehe, wie du geglaubt hast. Und sein Knecht wurde gesund zu derselben Stunde. (Matthäus 8,5-13)

Nicht nur in diesen pandemischen Zeiten, in denen sich so ziemlich alles um Gesundheit und Krankheit dreht, kommt der gesundheitlichen Aufklärung ein besonderer Wert zu – und gerade darum hat sich die sogenannte Rentner-Bravo, alias Apotheken-Umschau seit nunmehr 66 Jahren Verdienste erworben, die kaum abschätzbar sind.

Mein lieber Vater – Gott hab ihn selig – hat sie im Alter vierzehntäglich durchgearbeitet und konnte dann beim nächsten Arztbesuch ordentlich glänzen, also dem staunenden Doktor haarklein erklären, was ihm fehlt und was zu tun sei. Und nur in den Fällen, in denen der behandelnde Arzt noch nicht auf dem gleichen Kenntnisstand war, konnte es zu unerfreulichen Diskussionen kommen, die nicht durchweg dem Heilungsprozess förderlich waren.

Der Hauptmann von Kapernaum folgt der gegensätzlichen Strategie und erstaunt mit seinem unerschütterlichen Vertrauen und ohne jedes medizinische Vor-Urteil den sich wundernden Jesus: Sprich nur ein Wort, so wird mein Knecht gesund! Er leitet sein Vertrauen aus dem ihm als Militär vertrauten Lebenszusammenhang von Befehl und Gehorsam ab: ich bin ein Mensch, der Obrigkeit untertan, und habe Soldaten unter mir; und wenn ich zu einem sage: Geh hin!, so geht er; und zu einem andern: Komm her!, so kommt er; und zu meinem Knecht: Tu das!, so tut er’s. Ob das mal so gestimmt hat; es gab ja auch immer schon Deserteure – wie den kürzlich hochbetagt verstorbenen Hardy Krüger – gegen die böse und um der guten Sache willen.

Zumindest scheint – nebenbei gesagt – eine nicht unähnliche Hoffnung noch heute bei manchen dazu zu führen, in medizinischen Krisen wie der gegenwärtigen Pandemie militärischem Fachpersonal – keinem Hauptmann bloß, sondern einem General! – ihre Lösung anzuvertrauen und zuzutrauen. Höchst merkwürdig, aber wir kennen das. Im Kleinen haben viele von uns das auch schon erlebt, ich meine natürlich die Begegnungen mit den Bundeswehrsoldaten im Impfzentrum, in deren Obhut man sich gleich etwas sicherer vor dem Virus gefühlt hat. Aber ich schweife ab.

Als kurze lebenspraktische Zwischenbilanz wäre an dieser Stelle festzuhalten, dass sich – wie so oft im Leben – ein Mittelweg für den Umgang mit der eigenen Gesundheit empfiehlt: allgemeinverständliche Hintergrundinformationen und Empfehlungen zur Lebensweise gerne aus der Apotheken-Umschau, bei Konkreterem fragen wir unseren Arzt oder Apotheker. Noch der schlechteste Arzt dürfte unendlich viel bessere medizinische Kenntnisse haben als wir – womit dann auch zur Impffrage alles gesagt ist.

Für das Verständnis unseres Predigttextes ergibt sich, dass es weniger um ein Heilungswunder als um ein Glaubenswunder geht – nicht medizinische und therapeutische Fragen stehen im Vordergrund sondern solche des Glaubens und des Vertrauens: Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden!

Dabei ist doch auch und gerade der hier vorgestellte und von Jesus gelobte unerschütterliche, von keinem Zweifel gestörte Glaube, der sich Gott wie einen General gegenüber den Mächten der Natur denkt, höchst fragwürdig und mindestens erklärungsbedürftig; kein Wunder, dass Jesus solchen Glauben in Israel bei keinem gefunden hat, denn Israel leitet seinen Glauben ja nicht aus Praxis und Psychologie seiner Militärs ab, sondern aus seinen jahrhundertelangen Erfahrungen mit Gott; aus der Geschichte und den Geschichten des Heils; von Adam und Eva oder mindestens von Abraham und Sara her. Solcher Glaube findet sich in Israel.

Das Gottesbild unseres Hauptmanns ist hingegen mit gutem Recht kritisiert worden als das von einem „General, der seine Truppen sieht, obgleich sie ihn nicht oder selten sehen. Er befiehlt, sie gehorchen; bei ihm laufen alle Fäden zusammen. Er ist der große, männliche Herrscher, der Chef, der Manager, der, der den Überblick hat und für alles zeichnet.“ Dieser General-Gott hat uns, wenn wir ihm denn anhängen – nach Meinung des Theologen Dietrich Ritschl – im Griff, sogar unsere Gedanken, ein General, „der uns zwingt, alles umzuinterpretieren: Leiden in verstecktes Glück, Tod in vermeintlichen Sinn, Diffamierung und Unterdrückung in gottgeplantes und -gewolltes pädagogisches Planen – Satan-Gott, wirklich! Ein Gott zum Hassen. Oft sind die Gläubigen wirklich so unterwürfig gewesen, dass sie bereit waren, alles umzuinterpretieren, das Leid, den Tod, den totalen Sinnverlust, die Liebe Gottes – alles waren sie bereit umzuinterpretieren, solange sie ihr Generalsbild von Gott aufrechterhalten konnten, die abstrakte Idee von seiner Allmacht.“ (Dietrich Ritschl, Auf der Suche nach dem verlorenen Gott, 1988)

Demgegenüber sollte es – ebenso nach Ritschl – darum gehen, solchen Glauben, wie er in Israel gefunden wurde und wird, neu zu hören und neu hören zu lassen; sich hineinzustellen in die Geschichten und die Geschichte von Gott und den Menschen. „Hineinschlüpfen müssten wir nachträglich in diese Geschichte Gottes mit Israel, Jesus und mit den frühen Christen, so sehr sie auch geirrt haben und so wenig vorbildlich sie auch gewesen sein mögen.“ (ebd.)

Apropos Irrtum: Was wäre, wenn wir es hier bei unserem Predigttext gleich mit einem doppelten Irrtum zu tun hätten; also zum ersten mit dem Irrtum des Hauptmanns von Kapernaum, der sich Gott als gleichsam stärkere Ausgabe seiner selbst denkt, als kosmischen General, der über die Kräfte des Kosmos befiehlt – aber eben einem produktiven Irrtum, der durch die Barmherzigkeit Jesu nicht beschämt wird, nicht bloßgestellt wird – wie es schlechte Lehrer mit unseren Irrtümern machen; sondern die Wahrheitsmomente unter allem Irrtum hervorheben, wie es die guten Lehrer machen, die nicht die Fehler bewerten sondern das, was richtig ist. Wahr wäre am Irrtum des Hauptmanns, dass er und wir uns auf Gott verlassen können, dass er über Kräfte der Heilung verfügt, von denen wir nichts ahnen und von denen noch nicht einmal die Apotheken-Umschau weiß. Wahr am Irrtum des Hauptmanns ist sein enthusiastischer, naiver, forscher, fordernder Glauben, alles von Gott zu erbitten, „denn er wird´s wohl machen“ (Psalm 37).

Und dann ist da noch der zweite Irrtum, den Jesus leider nicht mehr wie den ersten ausbügeln konnte, weil ihn seine Jünger und Biografen erst posthum notiert haben; der so stehen geblieben ist und nun durch unsere – hoffentlich nicht selber allzu irrtümliche – Deutung zurechtgebogen werden muss: ich meine die hässlichen, antijüdisch klingenden Worte vom Austausch des Gottesvolkes, vom Hinausst0ßen der Kinder des Reichs, also der Kinder Israels in die Finsternis; da wird sein Heulen und Zähneklappern. Ich will nicht glauben, dass Jesus selbst das gesagt hat und schon gar nicht, dass er es selbst so gemeint haben könnte; wie hätte er nur als geborener und jüdisch lebender Jude.

Viel eher dürfte er sich hier auf die uralte, alttestamentlich-jüdische Hoffnung der Völkerwallfahrt zum Zion, zur heiligen Stadt Jerusalem beziehen, wenn er verheißt: Aber ich sage euch: Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen. Von diesem Glauben war in Israel schon seit Jahrhunderten die Rede; jeder dort dürfte von diesem Glauben in Israel gehört haben:

„Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. 

Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ (Sowas hören Generäle nicht gerne; damit es nicht überhört werden kann, zur Sicherheit gleich doppelt überliefert: Jesaja 2,2-4; Micha 4,1-5)

Und das wäre dann auch Pointe und Evangelium unseres Predigttextes: Alle können zu Gott, niemand wird abgewiesen; jeder kann sich in die Geschichte seines Volkes stellen und seine Geschichten hören; alle können zu Gott aus allen Ländern dieser Erde – mit ihrem Glauben und mit ihren Irrtümern; und noch unsere größten Irrtümer vermag Gott in Glaubenswahrheit zu verwandeln. Gott beschämt niemanden, der zu ihm kommt.

Oder mit den Worten unserer Jahreslosung: „Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ (Johannes 6,37).