Meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern. (Lukasevangelium 2,30-31)

Als Großvater freue ich mich am Anblick meiner Enkelin, nicht nur weil sie natürlich die weitaus schönste Vierjährige landaus, landein ist, die klügste und begabteste ohnehin. Sondern ich freue mich, dass das Leben weitergeht, mit ihr auch etwas von meinem Leben dann in der übernächsten Generation weitergeht, Erzählungen, Gewohnheiten, Werte, etwas und manches, dass mir wichtig war und mich ausmachte. Und dabei weiß ich, dass wir damit unseren Kindern und Kindeskindern manches Gepäck aufladen, an dem sie schwer zu tragen haben, Irrtümer, Macken oder auch gravierende Lebensfehler, die nicht nur die Verantwortlichen selbst in ihrer Generation belasten, sondern auch die nachfolgenden, die damit eigentlich nichts zu tun haben. So falsch war die Rede von der „Erbsünde“ nicht (ohne deshalb richtig gewesen zu sein!). Aber allzu sehr trübt das meine Freude an meiner Enkelin nicht, denn mit den vererbten Lasten hat sie ja dennoch alle Möglichkeiten eines eigenen, eigenständigen und selbstverantwortlichen Lebens. Ein Enkel setzt dem Wunder des eigenen Kindes noch eins obendrauf:

Das Projekt geht weiter! Als Großvater meine ich daher, den großväterlichen Simeon verstehen zu können, der sich hochbetagt über den Anblick dieses Kleinkindes Jesus freut, ihn auf den Arm nimmt und sein Segenswort spricht: Meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern – sehr zum Wunder seiner Eltern, und zwar nicht so sehr des Hochhaltens wegen (was heutige Eltern vermutlich am meisten gestört hätte: Hoffentlich lässt der Greis das Kind nicht fallen!), sondern vor allem wegen seiner Worte, die doch mit ihren hohen Erwartungen weit über jedes erwartbare Lebensziel hinausschießen, als da wäre: glänzende Karriere, bedeutende Beiträge zur Entwicklung der Menschheit, Olympiasieg oder Nobelpreis – mag ja alles angehen, aber das Heil der Völker, das Licht der Heiden überspannt den Rahmen doch um einiges, oder nicht?

Als Leser heiliger Geschichten wundert uns natürlich gar nichts, Wunder sind zu erwarten; wir haben ja schon einiges über gebärende Jungfrauen und jubelnde Engel auf dem Felde in den an dieser Stelle noch nicht abgeschlossenen ersten beiden Kapiteln des Lukasevangeliums gelesen, was die hypertrophe Zuschreibung eines vielleicht schon leicht verwirrten älteren Herrn einsortieren hilft: Der alte Narr hat einen Narren gefressen an dem Kinde! (Was ich neulich beim Versteckspielen auch über mich gedacht habe, mit vollem Einsatz unter dem Bett, unter dem ich nur unter größter Mühe und Aufbietung aller mir verbliebenen Kräfte wieder hervorkriechen konnte, aber eben maßlos stolz über das fachkundige Urteil des Kindergartenkindes: Das war ein gutes Versteck! Und übrigens besser als das der um eine Generation näheren Mitspieler: Zum Narren gemacht, mit Staub bedeckt, aber mit Ruhm bekleckert.)

Was mich am meisten beeindruckt an dieser Szene mit dem alten Simeon und dem kleinen Kind ist das – natürlich mit der Bürgschaft Gottes versehene – unbedingte Zutrauen des Alten zum Jungen. Hier trifft kein nörgelnder Boomer auf einen Jammerlappen der Gen-X. Sondern ein Greis, dessen Lebenserfahrung und dessen Glauben an den Gott, bei dem alles möglich ist, gibt diese Möglichkeitszuschreibung (vulgo: Optimismus!) an den Jüngeren weiter. Nichts und niemand macht so viel möglich, wie einer – ob Großvater, Mutter, ein Lehrer oder eben Gott – der einem dieses Zutrauen zuspricht. Und damit dürften wir – zugegebenermaßen über manche Umwege – zum Sinn unseres Weihnachtsglaubens gekommen sein: Die Verkündigung ungeahnter Möglichkeiten an uns durch Gottes Sohn.

Klaus Neumann

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres, 19. November 2023

Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle Engel mit ihm, dann wird er sich setzen auf den Thron seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!

Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.Dann wird er auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen. Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich nicht gekleidet. Ich bin krank und im Gefängnis gewesen und ihr habt mich nicht besucht.Dann werden auch sie antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig gesehen oder als Fremden oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient? Dann wird er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan. Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben. (Matthäus 25,31-46)

All lives matter; jedes menschliche Leben zählt; alle Leben sind wichtig.

Es ist diese Botschaft, die von der gewaltigen Bühne des Weltgerichts heute zu uns gesprochen wird; von einer Bühne, die mit ihren Requisiten und Bildern von Himmel und Hölle, vom Teufel und Engeln, mit ihrer Massenszene aller je gelebten Menschen – das kann voll werden – und mit den machtvollsten Protagonisten, die Menschen glauben können, Gott selbst und seinem Sohn: von einer Bühne also, die unsere religiöse Vorstellungskraft beansprucht und herausfordert wie keine andere, von dieser Bühne wird heute zu uns gesprochen, dass alles Leben wichtig ist, jedes menschliche Leben zählt: All lives matter.

Und zwar sind unserer aller menschlichen Leben Gott so wichtig, dass mit unserem Lebensende nicht einfach die Akten geschlossen werden, so unabgeschlossen und unabgegolten unsere Aktionen gewesen sein mögen, sondern dass sie von Gott wiederaufgenommen werden, dass er sie sich ein letztes und letztgültiges Mal noch einmal vorlegt. Nichts bleibt vergessen, nichts fällt unter den Tisch. Damit verwirklicht Gott eine Gerechtigkeit, die vor unseren Gerichten – und sei es am Ende eines langen Instanzenweges – unmöglich bleibt. Vollständige und umfassende Gerechtigkeit für alle und jeden kann es nur bei Gott geben: All lives matter, alle Leben zählen.

Kein gnädiges – und schon gar kein ungnädiges, also etwa gedankenloses, erschöpftes, unwilliges – Vergessen steht am Ende aller Zeiten und Tage, sondern vollständige, umfassende und gerechte Erinnerung als dem Geheimnis der Erlösung. Kein unterschiedsloses Zudecken mit Gnade und Begraben von Schuld steht am Ende, sondern die wahrhafte Suche, lückenlose Aufklärung, genaue Benennung: die Wahrheit als Voraussetzung von Gerechtigkeit. Kein Gericht und kein gesellschaftlicher Prozess der Aufarbeitung und Widergutmachung nach Gewaltherrschaft und Krieg kann das leisten, auch wenn sie in ihren besten Momenten diesem Ideal folgen oder doch jederzeit mit aller Kraft folgen sollten – ohne es zu erreichen. Dennoch – trotz und wegen unseres Unvermögens zu Wahrheit und Gerechtigkeit – hebt Gott unser Vergessen in seiner Erinnerung auf. Das ist das Weltgericht.

Das ist das Weltgericht, von dessen zweifachem Ausgang nicht erzählt wird, um Angst zu verbreiten, sondern um Angst zu nehmen; oder anders gesagt: von dem erzählt wird, um den Angstmachern Angst zu machen und den Ängstlichen sie zu nehmen, und damit beiden erst gerecht zu werden. Ein gerechtes Urteil kann ja nicht darin bestehen allen dasselbe zukommen zu lassen; Übeltätern und Wohltätern, Tätern und Opfern allen dasselbe. Gerechtigkeit muss Unterschiede machen. Ein gerechtes Urteil vor Gericht kann ebenso wenig wie ein um Gerechtigkeit bemühter Kommentar angesichts von Konflikten und Kriegen einfach neutral von Leid auf allen Seiten sprechen. Auch Täter können leiden und Opfer können Leid zufügen, ohne damit ein Schuldgleichgewicht herbeizuführen. Das Saldieren von Leid verdirbt die historische Buchführung.

Deshalb kann das wahre Wort – all lives matter, alle Leben zählen – zur konkreten Lüge werden, wenn es nämlich das konkrete Leid der Opfer und die konkrete Schuld der Täter überdecken soll. Black lives matter – behauptet ja nicht, dass nicht alle Menschenleben wichtig wären, sondern im Gegenteil: Weil alle Leben zählen, zählen eben auch schwarze Leben, was angesichts von schwarzem Leid und weißer Schuld aber ausdrücklich benannt werden muss. Jewish lives matter – behauptet ja nicht, dass nicht auch christliche oder muslimische, nicht auch deutsche oder palästinensische Leben wichtig wären, sondern im Gegenteil: Weil alle Leben zählen, zählen eben auch jüdische Leben, was angesichts von historischem und aktuellem Leid von Juden ausdrücklich und laut gesagt werden muss. In der konkreten Notlage kann ich nur so der allgemeinen Wahrheit – all lives matter – gerecht werden; anders wird sie angesichts eines Terrorangriffs einer Gruppe auf ein Land zur zynischen Lüge. Natürlich zählen die Menschen in Oberbayern und auf den Fidschi-Inseln – aber angesichts eines Gewaltaktes im jüdischen Israel muss das nicht extra gesagt werden. Das andere schon: Jüdische Leben zählen, jetzt!

Gerechtigkeit lebt von Genauigkeit. Gerechtigkeit erweist sich in Notlagen und gegenüber Notleidenden. Gerecht ist nicht zuerst der, der den allgemeinen Weltfrieden predigt, sondern der, der genau diesen Krieg bekämpft und genau jenen Frieden bereitet. Gerecht ist nicht zuerst der, der allen Essen und allen zu trinken gibt, sondern der, der den Hungrigen Essen und den Durstigen zu trinken gibt. Unser Gerichtsgleichnis lässt den richtenden König sagen: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Es ist die in der hebräischen Sprache „Gerechtigkeitstat“ – Zedaka – genannte Tat an den Bedürftigen gemeint, die zählt. Mit solchen Wohltaten, die das Unwohlsein Leidender lindern, machen wir deutlich, dass diese für uns zählen. Die „geringsten Brüder“ bezeichnen dabei nicht zuerst eine soziologisch beschreibbare Schicht als Unterschicht oder eine Klasse der Deklassierten, sondern unseren „Nächsten“, also die Person, die Not leidet und einen konkreten Mangel hat: Hunger, Durst, Fremdheit, Nacktheit, Krankheit, Gefängnis – und beschreibt also in zweiter Linie durchaus Personen insgesamt, deren Existenz vielfältigen Mängeln ausgesetzt sind. Diese genannten Mängel – und überhaupt Mängel wie diese – sind gemeint und schließen dann selbstverständlich Armut, Gewalt und Krieg ein. Mitzudenken ist die Fortsetzung der Reihe: Ich bin arm gewesen und ihr habt mit mir geteilt; ich habe Gewalt erfahren und ihr habt mich beschützt; ich war im Krieg und ihr habt für den Frieden gekämpft.

Unser Gerichtsbild wendet unsere Aufmerksamkeit auf die Sorge für den konkreten Fall, in dem sich unsere allgemeine Sorgepflicht erfüllt. Wir werden nicht den Hunger auf der Welt besiegen, und noch nicht einmal Jesus hat alle Kranken, die ihm begegneten, geheilt; aber wenn uns ein Hungriger begegnet oder wo wir Kranke sehen, sind wir nach unseren Möglichkeiten zur Hilfe gefordert. Der eine zählt, jeder einzelne zählt, weil alle zählen.

Aus unseren Möglichkeiten und mehr noch aus unseren Unmöglichkeiten zur Hilfe ergibt sich Gottes Zuständigkeit für das Große und Ganze. Am Weltgericht müssten wir Menschen uns verheben, schon ein Weltpolizist mutet sich zu viel zu. Aber Gott können wir das Gericht über die Welt überlassen. Auf seine Gerechtigkeit und auf seine Gnade ist Verlass. Für ihn zählen alle Menschen.

Jüdischer Friedhof Schöne Aussicht

Die Führung am 7. November 2023 mit Steve Landau, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden und Leiter der jüdischen Lehrhauses, und Dr. Katherine Lukat vom Stadtarchiv Wiesbaden fand großen Zuspruch. Unter https://schoene-aussicht.juedische-geschichte-wiesbaden.de finden Sie die sehenswerte Online-Ausstellung zu dieser besonderen Gedenkstätte in der Nachbarschaft unserer beider Gemeinden, dem kath. Kirchort St. Mauritius und der ev. Thomasgemeinde. Die jüdische Gemeinde bietet mehrmals im Jahr weitere Führungen an: http://www.jg-wi.de

21. Sonntag nach Trinitatis, 29.10.2023

So zog Abram herauf aus Ägypten mit seiner Frau und mit allem, was er hatte, und Lot mit ihm ins Südland. Abram aber war sehr reich an Vieh, Silber und Gold. Und er zog immer weiter vom Südland bis nach Bethel, an die Stätte, wo zuerst sein Zelt war, zwischen Bethel und Ai, eben an den Ort, wo er früher den Altar errichtet hatte. Dort rief er den Namen des Herrn an. Lot aber, der mit Abram zog, hatte auch Schafe und Rinder und Zelte. Und das Land konnte es nicht ertragen, dass sie beieinander wohnten; denn ihre Habe war groß und sie konnten nicht beieinander wohnen. Und es war immer Zank zwischen den Hirten von Abrams Vieh und den Hirten von Lots Vieh. Es wohnten auch zu der Zeit die Kanaaniter und Perisiter im Lande. Da sprach Abram zu Lot: Es soll kein Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind Brüder. Steht dir nicht alles Land offen? Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken. Da hob Lot seine Augen auf und sah die ganze Gegend am Jordan, dass sie wasserreich war. Denn bevor der Herr Sodom und Gomorra vernichtete, war sie bis nach Zoar hin wie der Garten des Herrn, gleichwie Ägyptenland. Da erwählte sich Lot die ganze Gegend am Jordan und zog nach Osten. Also trennte sich ein Bruder von dem andern, sodass Abram wohnte im Lande Kanaan und Lot in den Städten jener Gegend. Und Lot zog mit seinen Zelten bis nach Sodom. Aber die Leute zu Sodom waren böse und sündigten sehr wider den Herrn. (Mose 13,1-12)

Wie lässt sich ein Streit schlichten, wie Konflikte lösen, wie Kriege wenigstens begrenzen? Das dürfte die 1 Millionen-Schekel-Frage sein, nicht nur in unserer Zeit, sondern immer und zu allen Zeiten – aber eben auch gerade jetzt.

Und unser Predigttext schlägt zur Lösung des Streits vor, dass sich die Konfliktparteien um Lot und Abram, der später Abraham heißen wird, trennen: Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken. Klingt vernünftig, denn manche Konflikte lassen sich wohl nicht anders als durch Trennung lösen, im Privaten, etwa in zerrütteten Ehen; im Beruflichen, etwa in ungedeihlichen Arbeitsverhältnissen; oder – wie wir heute hören – unter Nachbarn, wobei von Vorteil ist, wenn die Konfliktparteien mobil und nomadisch sind und die Gegend groß und weit.

Ausgerechnet die von unserer Geschichte erzählte Konfliktlösung scheint aber nicht hilfreich und nicht anwendbar zu sein auf den großen Konflikt um ein und dasselbe kleine, ja winzige Land, der uns gerade so erschüttert. Seit drei Wochen lässt uns das Geschehen in Israel und Palästina nicht los, die unfassbare Gewalt einer Mörderbande vornehmlich gegen Kinder und Frauen, gegen feiernde Jugendliche und freundliche Greise, gegen Juden im Staat der Juden; der sich seit dem Terroranschlag am 7. Oktober nun gegen diese Gewalt wehrt, wie es jeder Staat tut und tun würde, um die Täter zu bestrafen und es ihnen unmöglich zu machen, ihre Taten zu wiederholen. Und weil diese Täter sich mitten in der Bevölkerung aufhalten, sich zwischen Wohnungen und unter Krankenhäusern verstecken, gefährden und schädigen sie Leben und Güter derer, die sie zu vertreten vorgeben. Während das Leid der Opfer in Israel und Palästina gleich viel zählt und in gleicher Weise zu beklagen ist, sind die Mörder der Hamas für beides verantwortlich und für beides verantwortlich zu machen.

Allerdings wird deren Beseitigung kaum zum Ende der Gewalt führen – nicht nur aber auch, weil die Gegner dieses Streits ein und dasselbe Land beanspruchen und weil dieses Land selbst so winzig klein ist (etwas größer als Hessen und nicht halb so groß wie Bayern). Denn die berühmte Zwei-Staaten-Lösung, die eine Trennung der Streitenden ganz im Sinne unserer Trennungsgeschichte von Abraham und Lot vorsieht, scheitert nicht erst am Willen zum Frieden sondern am schieren Mangel an Platz, der eine Aufforderung zur friedlichen Trennung unmöglich erscheinen lässt: Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken. Wie soll das gehen, wenn sich Streitende auch nach der Trennung täglich sehen und über den Weg laufen? Trennung, aber, in ein und demselben Land wäre Apartheid, die Israel jetzt schon von vielen Verleumdern zu Unrecht vorgeworfen wird.

Auch unsere Geschichte weiß von den Kontexten der Gewalt, in denen die jeweiligen Gewaltgeschichten eingebettet sind, von wo sie kommen und wohin sie führen. Wie ein Fluch liegt der Satz über Sodom über ihr: Aber die Leute zu Sodom waren böse und sündigten sehr wider den Herrn. Was neuen Ärger und neuen Streit mit den neuen Nachbarn von Lot bedeutet – und was sich bewahrheitet. Anders als für Abraham, der zum Stammvater vieler Völker wird, geht die Geschichte für Lot übel weiter und übel aus. Die Frau erstarrt auf der Flucht beim Zurückblicken zur Salzsäule, die Töchter erschleichen sich inzestuöse Nachkommen von ihrem saufenden Vater, was ein Elend! Und selbst diesen Nachkommen als Moabiter und Ammoniter bleiben die Nachfahren Abrahams untrennbar verbunden, selten zum Guten, meistens zum Schlechten.

Wenn sich Segen und Fluch so sichtbar wie bei Abraham und Lot – oder eben so sichtbar am Lebensstandard und Entwicklungsstand wie in Israel und Palästina – ablesen lassen, wird das genug Grund für neuen Streit geben: um Güter und Lebensmöglichkeiten, um Ansehen und Einfluss. Wir scheinen an unsere Nachbarn als unsere möglichen oder eben als unsere wirklichen Feinde unlösbar gekettet zu sein. Nachbarn zeigen uns nämlich, wie wir sein könnten und wie es uns gehen könnte – im Guten wie im Schlechten. Und deshalb ist die alttestamentliche Forderung zur Nächstenliebe nicht das fromme Sätzchen, für das wir es vielleicht halten, sondern bekommt in der Verschärfung durch Jesus, noch Nächsten zu lieben, wenn er mein Feind ist, von der wir heute in der Lesung gehört haben, ihren Sinn.

Erst wenn ich – so scheint es Jesus im Sinne seiner jüdischen Lehrer zu fordern: erst wenn ich im Feind mich selbst sehe und dieser sich in mir, besteht Aussicht auf ein Ende des Streits. Umgekehrt wird der Mangel an Empathie für das Leid der anderen mein eigenes Leid auf Dauer nur vergrößern. Angewendet auf unseren tragischen aktuellen Fall: Selbstverständlich hat das Land Israel jedes Recht sich zu verteidigen – und dennoch wird die Ausübung dieses Rechts neues eigenes Leid nicht verhindern, vom unermesslichen Leid palästinensischer Zivilisten, unzähliger unschuldiger Kinder zu schweigen. Und selbstverständlich haben die Palästinenser jedes Recht ihr Leid zu beklagen und die Ursachen zu bekämpfen, aber auch das wird unweigerlich zu neuem Leid führen.

Und so hören wir heute in Lesung und Predigttext von zwei genialen, aber streng gegensätzlichen Konfliktstrategien – von der pragmatischen Trennung von Feinden einerseits und andrerseits von der utopischen Liebe unter Feinden, die aber beide mit demselben Fehler behaftet sind, dass sie großartig in der Theorie aber untauglich in der Praxis – und dreimal untauglich in der Realität des Landes Israel sind. Jedes Schulkind weiß sofort, dass Liebe unter Feinden und das Hinhalten der anderen Backe nicht funktionieren und im Desaster enden werden, muss es das eigentlich? Und jeder kann sich einen Schulatlas nehmen und nachschauen, dass da kein Land für zwei Staaten ist, wo ja kaum Land für einen da ist. Was bleibt?

Es bleibt unsere Möglichkeit zu Empathie und Solidarität mit den Opfern und Hilfe für sie auf beiden Seiten dieses garstigen Grabens.

Es bleibt unsere Verantwortung für Gerechtigkeit, zu der auch die Einsicht in eigene Verstrickung und Schuld gehört.

Und es bleibt die Hoffnung, von der wir auch heute lesen, dass Gott Lösungen für Probleme findet, die für uns viel zu groß und zu schwer sind.

„Haus der Ewigkeit“ – Führung über den jüdischen Friedhof Schöne Aussicht

Dienstag, 7. November 2023, 15.30-16.45 Uhr

Ev. Thomasgemeinde und Kath. Kirchort St. Mauritius

Jüdischer Friedhof Schöne Aussicht (Foto: privat)

1750 fand die erste Beisetzung auf dem Jüdischen Friedhof an der Schönen Aussicht statt. Gemeindevorsteher Eli Jizchak ha-Levi war der erste, der in diesem „Haus der Ewigkeit“ bestattet wurde; er hatte sich für die Errichtung eines eigenen Friedhofs bei der Stadt eingesetzt. Denn bis dahin hatten die jüdischen Familien Wiesbadens und auch die der Vororte ihre Verstorbenen im weit entfernten Wehen zu bestatten. Damals hieß das Landstück zwischen Liszt- und Hergenhahnstraße noch „Auf dem Kuhberg“, in der Nähe des bis 1774 genutzten Galgens. Bis 1850 durfte der Friedhof erweitert werden, dann sollte er auf Drängen von Anwohnern verlegt werden. 1890 bekam die jüdische Gemeinde ein Teilstück des Nordfriedhofs zugesprochen. Heute ist der Friedhof Schöne Aussicht nur bei Führungen zu besichtigen. Bei unserem Besuch der Wiesbadener Synagoge vor einiger Zeit bot uns Steve Landau, der Geschäftsführer der jüdischen Gemeinde, einen Rundgang über den Friedhof Schöne Aussicht an. Gemeinsam mit Dr. Katherine Lukat vom Stadtarchiv, mit der er 2020 auch eine sehenswerte Online-Ausstellung zum 270. Jahrestag kuratiert hat (https://schoene-aussicht.juedische-geschichte-wiesbaden.de), wird er anhand der Biografien einiger dort beigesetzter Persönlichkeiten die Geschichte jüdischen Lebens in Wiesbaden damals und heute beleuchten. 

Wir freuen uns auf Ihre Anmeldung bis Sonntag, 5.11., unter asmeine@gmx.de oder Tel. 0162 7474131! (Bei Regen wird die Veranstaltung verschoben.)

Rückblick zur Gemeindefahrt nach Speyer am 23.9.23

Ev. Thomasgemeinde und Ev. Versöhnungsgemeinde

Auf nach Speyer! Die Gemeindefahrt unserer beiden Gemeinden mit Pfarrerin Petra Hartmann und Pfarrer Dr. Klaus Neumann fand großen Zuspruch und führte uns bei bestem Septemberwetter vom katholischen Dom mit der Krypta über das UNESCO-Welterbe Judenhof mit seiner fast tausendjährigen Mikwe zur protestantischen Dreifaltigkeitskirche. Auf der Rückfahrt kehrten wir noch zu einem gemütlichen Abendbrot in Schwabenheim ein.

(Fotos: K. Neumann, H. Fröhlich u. G. Westenburger)

Rückblick zum Gemeindefest am 1.10.23

(Fotos: A. Neumann, B. Sauer)

Am ersten Oktobersonntag fand unser Gemeindefest zu Erntedank mit vielen bekannten Gesichtern und zahlreichen Gästen, dem Kinderchor unter der Leitung von Gabriela Blaudow und „Jazz&more“ mit Steph Winzen, Saxophon, und Gabriela Blaudow am Flügel auf dem Kirchvorplatz statt. Beim Familiengottesdienst wurde außerdem unser Gärtner, Herr Hermann Stock, in den Ruhestand verabschiedet und ihm sehr herzlich für seinen langjährigen tatkräftigen Einsatz in der Thomasgemeinde gedankt.

16. Sonntag nach Trinitatis, 24. September 2023

Darum werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld aber habt ihr nötig, auf dass ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt. Denn „nur noch eine kleine Weile, so wird kommen, der da kommen soll, und wird nicht lange ausbleiben. Mein Gerechter aber wird aus Glauben leben. Wenn er aber zurückweicht, hat meine Seele kein Gefallen an ihm“ (Habakuk 2,3-4). Wir aber sind nicht solche, die zurückweichen und verdammt werden, sondern solche, die glauben und die Seele erretten. (Brief an die Hebräer 10,35-39)

„Ruhig-Geduldig“ prangte es auf den leicht überdimensionierten Schildern einer Wiesbadener Fahrschule in den 70er und 80er Jahren, an die sich sicherlich noch manche Ureinwohner erinnern, besonders die, die wie ich, dort ihr Fahrdiplom erwarben. Die Geduld zahlte sich aus, zuerst für den geduldigen Inhaber Manfred Hardel, der lieber noch ein paar mehr Fahrstunden empfahl, wie auch für die zwar teuer aber bestens unterrichteten Fahrstudenten wie mich und doch auch nicht zuletzt für die verkehrsteilnehmende Allgemeinheit. Gerade in unserer schönen Heimatstadt dürfte Geduld die eine Kernkompetenz sein, die ob nun vor der Pförtnerampel oder im dicksten Innenstadtgewühl, nun zwar nicht weiter aber den Alltag bestehen hilft. „Ruhig-Geduldig“ – der Fahrlehrer nicht nur als philosophischer Freund der Weisheit sondern auch als Prophet – ein echter Habakuk.

Geduld ist keine unumstrittene Tugend. Wenn uns einer sagt: „Jetzt gedulden Sie sich, bitte!“ kann das ja auch unseren Unwillen hervorrufen und damit eine vielleicht schon vorhandene Ungeduld noch vergrößern, insbesondere wenn uns der Grund des Aufschubs nicht einleuchtet. Manchmal – das lehrt die Erfahrung – hilft ja gerade nicht Geduld, um zu seinem Recht zu kommen, sondern eher ein energisches Auftreten, klare Forderungen oder gleich selbst die Sache in die Hand zu nehmen. Was natürlich nicht überall möglich ist, da ich mich im Supermarkt nicht selbst abkassieren – zumindest noch nicht überall – und im Wartezimmer schlecht selbst behandeln kann. Aber es gibt sicherlich Fälle, in denen ich nicht geduldig die Lösung meiner Probleme anderen überlassen, sondern selbst angehen sollte. Solche Ungeduld könnte dann sogar für eine Tugend gehalten werden – zum „nützlichen Fehler“ werden – wie sie in schlauen Bewerbungsmanuals empfohlen wird: Wenn nach den eigenen Fehlern gefragt würde, dann sei es hilfreich, sich selbst der Ungeduld zu bezichtigen. Ob das der Einstellungskommission wirklich mehr sagt, als dass der Kandidat die einschlägigen Ratgeber zur Kenntnis genommen hat, sei dahingestellt.

In jedem Fall empfiehlt es sich, genau zu prüfen, zu unterscheiden und zu entscheiden, ob es sich um einen Fall für die Geduld oder für die Ungeduld handelt; ein bisschen so wie in dem Gebet, dass uns immer wieder mal in den Sinn kommt, wenn es um solche Fragen der Geduld, oder des Gehorsams oder der Gelassenheit handeln könnte:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Geduld ist also dann gefragt, wenn mein Handeln ohnehin nichts ändert, während sie dann, wenn meine Intervention die Sache voranbringen oder sogar Schaden abwenden könnte, die falsche Wahl wäre. Geduld schließt überdies die Erwartung ein, dass sie sich lohnt: Es besteht die berechtigte Erwartung, dass sich das gewünschte Ergebnis einstellt, und zwar ohne dass ich dazu entscheidend beitragen könnte. Warten in Erwartung: das ist Geduld.

Der heutige Predigttext, ein Abschnitt aus dem Brief an die Hebräer, empfiehlt die Geduld als unverzichtbares Merkmal des Glaubens und beschreibt den Glauben als Warten in der Erwartung des Gottessohnes. Das leuchtet sofort ein. Was könnten wir dazu beitragen, den Himmel zu öffnen und Gott auf die Erde zu ziehen? Absurd! Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Was der berühmte Remo Largo ungeduldigen Eltern und Lehrern als pädagogische Wahrheit sagt, stimmt auch theologisch. Nicht wir entscheiden oder beeinflussen auch nur, wann sich Gott zeigt und wann er sein Reich errichtet. Und alle Versuche das menschlicherseits in die Hand zu nehmen oder auch nur zu beschleunigen, müssen fehlschlagen und sind eben auch fehlgeschlagen, meist ziemlich grauslich und blutig. Glauben heißt Geduld, heißt Warten in Erwartung.

Vielleicht ist damit aber noch nicht alles gesagt. Denn auch wenn unser Predigttext des Autors an die Hebräer besonderes Gewicht auf die Bewährung des Glaubens in der Geduld und im Aushalten von Verfolgung und Not legt, so dass er im unmittelbaren Anschluss unserer Stelle den Glauben in einer klassischen Formulierung insgesamt als „eine feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“, bezeichnet, in einer Art Grunddogma des Glaubens als Wirklichkeitsverweigerung; wendet der Prophet Habakuk, den der Hebräer hier zitiert und auslegen will, den Blick unmittelbar auf die Wirklichkeit seiner Welt, die sich wenig von der ungerechten Wirklichkeit unserer heutigen Welt unterscheidet: „Der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben. So wird auch der treulose Tyrann keinen Erfolg haben, der stolze Mann nicht bleiben, der seinen Rachen aufsperrt wie das Reich des Todes und ist wie der Tod, der nicht zu sättigen ist. … Weh dem, der sein Gut mehrt mit fremden Gut – wie lange wird’s wären?“ (Habakuk 2,4-6*)

Der Glauben ist wartender und zugleich wachender Glaube; er „sagt, was ist“, und hält das zwar noch nicht für die „revolutionäre Tat“ (Rosa Luxemburg) aber für seine selbstverständliche Aufgabe: also den Fürsten ihre Macht, ihre Taten und Untaten zu spiegeln; ihnen zu sagen, was ist; die von den Mächtigen geschaffene Wirklichkeit abzugleichen mit den Maßstäben der Gerechtigkeit. Warten heißt nicht Stillhalten, Geduld nicht Resignation; sondern heißt die gegenwärtigen Nöte und Bedrängnisse mit der Erwartung einer von Gott bestimmten Zukunft zu konfrontieren – für sich im Herzen und laut für die anderen. Dem „es war schon immer so“ ein „es wird anders werden“ entgegenzusetzen – und dabei doch nicht den eigenen Willen mit dem Willen Gottes zu verwechseln.

Glauben trägt die Geduld, die weiß, dass ihre Stunde kommen wird. Amen.