Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden. (Buch des Propheten Jesaja 40, 26-31)
Neue Kraft kriegen, auffahren mit Flügeln wie Adler, laufen und nicht matt und müde werden – so soll es sein nach dieser bleiernen Zeit der Lähmung, der Unsicherheit, des vielfältigen Leidens, die wir jetzt erleben in der Corona-Quarantäne! – So wie das Volk Israel es zur Zeit des Propheten Jesaja gehört und erlebt hat nach Eroberung des Landes, Verschleppung der Bevölkerung, dem Verlust der Heimat, dem Exil und dann der ersten Ahnung eines Neuanfangs.
Mit dem 40. Kapitel beginnt im Buch des Propheten Jesaja etwas ganz Neues: Aus dem Unheilspropheten des ersten Teils wird der Heilsprophet eines Neuanfangs. Das ist ein so großer Bruch in Ton und Stimmung, dass die Forscher davon ausgehen, dass hier ein anderer (vielleicht ein Schüler) spricht unter dem Namen Jesaja, dem sie folglich den Kunstnamen „Deuterojesaja“ (griechisch für „der zweite Jesaja“, es gibt sogar noch einen dritten im selben Buch) gegeben haben. Dieser Neuanfang zeigt, dass religiöse Kommunikation, wie ja auch politische Kommunikation insbesondere in Krisenzeiten eine Frage des Timings ist: Angesichts einer nahen, möglicherweise durch geeignete Maßnahmen noch abzuwendenden Katastrophe ist ganz anders zu sprechen als mittendrin in Chaos und Verderben, und wieder anders, wenn sich schon ein Silberstreif zeigt („Silver Linings“: unbedingt [wieder]sehenswert in diesen Zeiten mit der überaus unvergleichlichen, das Leben trotz aller Widrigkeiten und Beschädigungen feiernden Jennifer Lawrence!).
Aber das ist natürlich auch die besondere Aufgabe des Propheten damals – wie der Experten und der politisch Verantwortlichen heute: Zeit und Zeichen richtig zu lesen („reading the signs“, ein Motiv in dem gerade genannten Film; wer Ohren hat zu hören, der höre! Weißt du nicht? Hast du nicht gehört?), damit einem die prognostizierte Wahrheit nicht auf die Füße fällt und über den Tag „schal“ wird (nach der hinreißenden Wendung Hegels: „Auf die Frage: was ist das Jetzt antworten wir also zum Beispiel: das Jetzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewißheit zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; ebensowenig dadurch, daß wir sie aufbewahren. Sehen wir jetzt, diesen Mittag, die aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen, daß sie schal geworden ist.“)
Also: Ist das jetzt wirklich schon der Silberstreif? Kann von einer „Beherrschbarkeit des Seuchengeschehens“ wirklich ausgegangen werden, wie es Experten und Minister in unserem Land (anderswo sieht es anscheinend immer noch viel, viel schlimmer aus) in dieser Woche – ziemlich mutig, hoffentlich nicht übermütig – formuliert haben? Können wir aus dem Exil der Kontaktbeschränkungen allmählich zurückkehren in die Heimat unseres normalen Lebens?
Zumindest heutzutage werden keine Propheten oder Theologen zu diesen Themen gefragt oder ungefragt gehört. Das ist gut so, weil sich das prognostische Besteck in den vergangenen zweieinhalbtausend Jahren seit den Zeiten des Jesaja beträchtlich verfeinert hat, Mediziner und Ökonomen (Medizin hat zwangsläufig ökonomische Aspekte, denn sie muss bezahlt werden) haben das Wort. (Und wenn Leute wie Professor Christian Drosten das Wort führen, kann man sich beinahe für Virologie begeistern; übrigens nicht obwohl sondern weil auch er sich schon geirrt haben soll.)
Gleichzeitig betrübt mich die augenscheinliche Irrelevanz der Religion, wie sie sich in der beinahe vollständen Abschaltung des sichtbaren religiösen Lebens – und mehr noch in der klaglosen Hinnahme derselben durch uns Glaubende – zeigt, ausgerechnet in der österlichen Fest- und Jubelzeit! Diese Abschaltung ist für Kirchen und Gemeinden wie eine zwangsweise Einübung in das „religionslose Christentum“, von dem Dietrich Bonhoeffer aus seinem Exil der Gefängnishaft sprach (und dessen Gedenkjahr aus Anlass seines gewaltsamen Todes vor 75 Jahren am 9. April 1945 nun wegen der aktuellen Krise viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Das holen wir nach!). „Religionslos“ heißt heute in dieser Zeit, dass wir auf gemeinsame und öffentliche Äußerungen unseres Glaubens – auf Gottesdienste und auf den Besuch unserer Gottesdienststätten verzichten müssen. Dabei ist verständlich, dass unsere katholischen Geschwister darunter noch mehr leiden, da bei ihnen die Religion in diesem Sinne (also im Sinne ihrer sichtbaren gemeinschaftlichen Ausübung) eine größere Rolle spielt, als bei den Evangelischen, die wir auf viele – traditionell katholische oder als „katholisch“ empfundene – Formen des Religiösen bewusst verzichten – etwa auf geweihte Personen und Gebäude, viele Riten und Gebräuche, Wallfahrten oder Prozessionen.
Aber auch Evangelische leiden unter dem Entzug von Religionsfreiheit, wenn die Ausübung unseres Glaubens wie gegenwärtig aufs Private und Familiäre beschränkt ist; immerhin sind typisch evangelische Formen der Frömmigkeit wie die private Andacht über die Tageslosung oder die tägliche Bibellesung geradezu krisenfest und bestens geeignet für häuslich Isolierte. (Andererseits sollte die Kontaktsperre nicht zum Anlass genommen werden, „Gottesdienst“ oder gar „Abendmahl“ als Soloauftritt ohne Gemeinde zu spielen und ihr das per Videobotschaft vorzuführen, wie es leider selbst im evangelischen Bereich hier und da passiert.)
Die Regierung scheint davon auszugehen und wir folgen ihr stillschweigend, dass die Übung unseres Glaubens in gemeinschaftlichen religiösen Formen kein Lebensmittel sei und deshalb auch in Krisenzeiten nicht – noch nicht einmal in stark reduzierter und reglementierter Form – verfügbar sein müsse (geschweige denn, dass eine Öffnung von Fahrradläden bei gleichzeitiger Schließung der Kirchen zu rechtfertigen wäre). Darüber sollten wir murren und erinnern: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.“ Auch und gerade in der Krise leben wir nicht nur darin, dass wir unsere natürlichen Lebensfunktionen erhalten, sondern aus dem, was unserem Leben Sinn gibt: Die Öffnung von Schulen, Bibliotheken, Museen, Theatern, Kinos und – ja auch von – Kirchen ist systemrelevant und – zwar nicht jedes Opfer aber – jede Anstrengung wert!
Deshalb wollen wir heute das prophetische Hebt eure Augen in die Höhe und seht! als eine Aufmunterung im Sinne eines kräftigen und zuversichtlichen „Kopf hoch! Alles wird gut“ hören, besonders aber als Verweis auf den Referenzpunkt unseres Lebens: auf Gott. Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Seine Macht und seine guten Mächte werden uns auch jetzt bergen, behüten und bewahren.
Von guten Mächten wunderbar geborgen,/ erwarten wir getrost, was kommen mag./ Gott ist bei uns am Abend und am Morgen/ und ganz gewiß an jedem neuen Tag. (Dietrich Bonhoeffer 1944, aus der Gefangenschaft; Evangelisches Gesangbuch 65)
Klaus Neumann, Pfarrer