12. Sonntag nach Trinitatis, 27. August 2023 – Sommerkirche Wasser und Meer: Der Schiffbruch des Paulus

Als es aber beschlossen war, dass wir nach Italien fahren sollten, übergaben sie Paulus und einige andre Gefangene einem Hauptmann mit Namen Julius von der kaiserlichen Kohorte. Wir bestiegen ein Schiff aus Adramyttion, das die Häfen der Provinz Asia anlaufen sollte, und fuhren ab; … Und am nächsten Tag kamen wir in Sidon an; …

Und von da stießen wir ab und fuhren im Schutz von Zypern hin, weil uns die Winde entgegen waren, und fuhren auf dem Meer entlang der Küste von Kilikien und Pamphylien und kamen nach Myra in Lykien. Und dort fand der Hauptmann ein Schiff aus Alexandria, das nach Italien ging, und ließ uns darauf übersteigen. Wir kamen aber viele Tage nur langsam vorwärts und gelangten mit Mühe bis auf die Höhe von Knidos, denn der Wind hinderte uns; und wir fuhren im Schutz von Kreta hin bei Salmone und kamen kaum daran vorüber und gelangten an einen Ort, der »Guthafen« heißt; nahe dabei lag die Stadt Lasäa.

Da nun viel Zeit vergangen war und die Schifffahrt bereits gefährlich wurde, weil auch das Fasten (im Herbst) schon vorüber war, ermahnte sie Paulus und sprach zu ihnen: Ihr Männer, ich sehe, dass diese Fahrt mit Leid und großem Schaden vor sich gehen wird, nicht allein für die Ladung und das Schiff, sondern auch für unser Leben. Aber der Hauptmann glaubte dem Steuermann und dem Schiffsherrn mehr als dem, was Paulus sagte. Und da der Hafen zum Überwintern ungeeignet war, bestanden die meisten von ihnen auf dem Plan, von dort weiterzufahren und zu versuchen, ob sie zum Überwintern bis nach Phönix kommen könnten, einem Hafen auf Kreta, der gegen Südwest und Nordwest offen ist.

Als aber ein Südwind wehte, meinten sie, ihr Vorhaben wäre schon gelungen; sie lichteten den Anker und fuhren nahe an Kreta entlang. Nicht lange danach aber brach von der Insel her ein Sturmwind los, den man Nordost nennt. Und da das Schiff ergriffen wurde und nicht mehr gegen den Wind gerichtet werden konnte, gaben wir auf und ließen uns treiben.

Wir kamen aber an einer Insel vorbei, die Kauda heißt, da konnten wir mit Mühe das Beiboot in unsre Gewalt bekommen. Da sie aber fürchteten, in die Syrte zu geraten, ließen sie den Treibanker herunter und trieben so dahin. Da wir großes Ungewitter erlitten, warfen sie am nächsten Tag Ladung ins Meer. Und am dritten Tag warfen sie mit eigenen Händen das Schiffsgerät hinaus. Da aber viele Tage weder Sonne noch Sterne schienen und ein gewaltiges Ungewitter uns bedrängte, war all unsre Hoffnung auf Rettung dahin.

Als aber die vierzehnte Nacht kam, seit wir in der Adria trieben, wähnten die Schiffsleute um Mitternacht, dass sich ihnen Land näherte. Und sie warfen das Senkblei aus und fanden es zwanzig Faden tief; und ein wenig weiter loteten sie abermals und fanden es fünfzehn Faden tief. Da fürchteten sie, wir würden auf Klippen geraten, und warfen hinten vom Schiff vier Anker aus und wünschten, dass es Tag würde.

Als es aber Tag wurde, kannten sie das Land nicht; einer Bucht aber wurden sie gewahr, die hatte ein flaches Ufer. Dahin wollten sie das Schiff treiben lassen, wenn es möglich wäre. Und sie hieben die Anker ab und ließen sie im Meer, banden die Taue der Steuerruder los, richteten das Segel nach dem Wind und hielten auf das Ufer zu. Und als sie auf eine Sandbank gerieten, ließen sie das Schiff auflaufen und das Vorderschiff bohrte sich ein und saß fest, aber das Hinterschiff zerbrach unter der Gewalt der Wellen.

Die Soldaten aber hatten vor, die Gefangenen zu töten, damit niemand fortschwimmen und entfliehen könne. Aber der Hauptmann wollte Paulus am Leben erhalten und wehrte ihrem Vorhaben und ließ, die da schwimmen konnten, als Erste ins Meer springen und sich ans Land retten, die andern aber einige auf Brettern, einige auf dem, was noch vom Schiff da war. Und so geschah es, dass sie alle gerettet ans Land kamen.

Und als wir gerettet waren, erfuhren wir, dass die Insel Malta hieß. Die Leute da erwiesen uns nicht geringe Freundlichkeit …

(Apostelgeschichte 27+28*)

„Gottes sind Wogen und Wind, Segel aber und Steuer, dass ihr den Hafen gewinnt, sind euer“

Was nicht wenige fromme Seefahrer an ihre Kirchen- und Häuserwände geschrieben haben – mit den Worten des seefahrenden und am Ende doch schiffbrüchigen (nämlich nicht in einem Sturm sondern in der Skagerrakschlacht 1916 als Matrose im Ausguck mit „seinem“ Schiff, des kleinen Kreuzers SMS Wiesbaden versunkenen) Dichters Gorch Fock (mit bürgerlichem Namen Johann Wilhelm Kinau) – und uns heutigen Urlaubern an Strand und Meer zu lesen und zu denken geben, ist so offensichtlich wahr, wie es gelegentlich zweifelhaft ist. Stimmt schon, dass wir von den natürlichen Bedingungen abhängig sind und innerhalb dieser Abhängigkeit Freiheit erleben und Verantwortung üben. So verstehe ich unseren Spruch: „Gottes sind Wogen und Wind, Segel aber und Steuer, dass ihr den Hafen gewinnt, sind euer“

Aber Gottes und Menschenanteile am Geschick auf hoher See lassen sich wohl nicht gar so klar und sauber unterscheiden – ließen sich das wohl noch nie und jetzt schon gar nicht mehr.

Wogen und Wind – gerade, wenn sie besonders bedrohlich sind, nie gekannte Stürme und Unwetter aufziehen lassen, die Fluten groß machen, Boote und Land verschlingen – sind nach allem, was wir wissen, mehr und mehr durchaus menschengemacht oder zumindest durch uns Menschen verstärkt – und eben nicht nur Gottes Sturm und Wellen.

Und wer von uns Landratten hätte schon Segel und Steuer selbst in der Hand? Schon immer waren doch für bloße Mitfahrer wie den Paulus, von dem wir heute hören, Segel und Steuer ja gerade nicht die seinen; so wie die meisten von uns Segel und Steuer an Bord nicht in der eigenen Hand haben; wenn wir auf Kreuzfahrtriesen, Fähren und Ausflugsbooten uns dem Skipper und seiner Crew anvertrauen – und vertrauen müssen, ihrem seefahrerischen Können und eben auch deren Einsicht, wenn manche Wetter keinen Verkehr auf hoher See zulassen.

So wie in diesem Sommer der große Sturm Hans vor ein paar Wochen, der über Nord- und Ostsee fegte, den Schiffsverkehr lahmlegte und noch die größten Pötte in die Häfen zwang. Wie von seinem eigenen klingenden Namen berauscht – Hans, Blanke Hans – ist der Sturm über Wasser und Land getobt und hat noch in den vermeintlich sicheren Häfen genug Schaden angerichtet, hat unter anderem die Fähre, die uns zwei Tage vorher noch sicher und ruhig auf unsere Insel geschippert hatte, nun so nachhaltig demoliert, dass sie lange Tage im Hafen zu liegen gezwungen war. Nichts lief mehr zwischen Küsten und Inseln, nur Wogen und Wind tobten über das Wasser; und noch am Land zog man lieber den Kopf ein, um nichts abzubekommen: „Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen/ Kommen wie rasende Rosse geflogen./ Trutz, blanke Hans“ (Detlev von Liliencron, 1883)

Weder Ostsee noch Mittelmeer sind als Binnenmeere berühmt für die wirklich großen Stürme, die Taifune und Hurrikane, aber kein Küstenbewohner, kein Seefahrer dort würde die Wetter unterschätzen, die gerade im Herbst sich bilden und im Süden über dem noch sommerlich warmen Wasser sogar regelrechte Zyklone entstehen lassen, in Anlehnung an die atlantischen Wetterphänomene und ihren eigenen Ort „Medicane“ genannt, aus den Begriffen „Hurricane“ und „Mediterranean“.

Der Beschreibung in der Apostelgeschichte des Lukas nach könnte es ein solches gewaltiges und gefährliches Unwetter im östlichen Mittelmeer gewesen sein, eingeleitet durch den dort regelmäßig auftretenden Nordwind, dann aber ausgeweitet und verstärkt zu einem tagelangen Unwetter, das die Fahrt der Schiffe unkontrollierbar zu einer Irrfahrt macht.

Wenn es nach dem Apostel Paulus gegangen wäre, hätte es zu dem Schiffbruch nicht kommen müssen. Zum einen war er ja als Gefangener ohnehin unfreiwillig unterwegs, wenn auch durchaus zu einem gewünschten Ziel, nämlich Rom; zum anderen zeichnet sein Biograph Lukas ihn als meteorologisch und nautisch weitaus kenntnisreicher und besonnener als die, die Segel und Steuer in der Hand haben, also Auftraggeber und Kapitän der Reise. Kein erfahrener Seereisender begibt sich auf See, wenn der ohnehin ungewisse Ausgang der Reise noch durch widrige Wogen und Wind in Herbst und Sturm verunsichert wird – scheint Paulus mit seinen vielen tausend gereisten Seemeilen – miles and more – zu sagen.

Es ist Zeit, den Apostel Paulus als Seefahrer – als christlichen Odysseus oder Sindbad, als antiken Heinrich oder Kolumbus – zu würdigen, der in seinem Leben tausende Meilen über See gefahren ist, Wind und Wogen getrotzt ist und noch immer einen Hafen fand, wenn auch wie in unserer Geschichte bisweilen erst nach Schiffbruch und Wassernot; Zeit, seinen Mut zu rühmen, trotz aller Widrigkeiten zu neuen Ufern aufzubrechen; seine Überzeugung, noch in Wogen und Wind von Gott getragen zu sein; seinen Eifer, das Evangelium, also das, woran sein Herz hing, bis an die Enden der Erde zu tragen, wo immer die sein mögen – in der Antike hat man sie in Spanien vermutet; dorthin ist Paulus nach einer alten Tradition ebenfalls gefahren.

Jetzt ist aber erstmal Rom das Ziel, Mittelpunkt des römischen Reiches, ja der ganzen Welt, wo dem Paulus als römischem Bürger der Prozess gemacht werden soll – und wo der Apostel bei dieser Gelegenheit sein Evangelium unter die Leute bringen will; brieflich ist das schon erfolgt, nun soll es auch live und in Person geschehen. Dazwischen liegen ein paar tausend Seemeilen – und eine herbstliche Odyssee in Wogen und Wind, die ihn aber trotz allem auf ziemlich direktem Wege vom Heiligen Land um Zypern herum über Kreta nach Malta führt, dort stranden lässt und dann aber doch glücklich über Syrakus – klingender Name! – in Sizilien, schließlich durch den Golf von Neapel an Capri vorbei nach Rom bringt, wie es der Chronist Lukas mit zugegebenermaßen etwas verdächtiger Detailgenauigkeit aufzeichnet. Nicht schlecht als Kreuzfahrt – aber in der paulinischen Version als Deckspassagier in der Holzklasse, Schiffbruch inklusive, eine ordentliche Strapaze.

Lukas zeichnet seinen Helden Paulus trotzdem, trotz Gefangenschaft, Fremdbestimmung, Sturm, Schiffbruch und Gefahr als stets souveränen und überlegenen Herrn seiner Lage, beinahe unberührt und jedenfalls ungerührt von allen Widrigkeiten. Er scheint anzunehmen, das geschehen muss, was geschehen muss; dass tatsächlich „Wogen und Wind“ Gottes sind, also dessen guten Willen unter dem zerstörerischen Gegenteil durchsetzen: Kreuzestheologie auf hoher See. Und dass selbst „Segel und Steuer“ nur sehr lose und unsicher in der Hand des Menschen liegen; als Passagier sowieso – und selbst als Kapitän mit größtmöglicher Autonomie auf hoher See eben doch abhängig von natürlichen und sozialen Abhängigkeiten aller Art – und sei es die eigene Abhängigkeit von früheren Entscheidungen: Wäre ich doch bloß nicht losgesegelt bei so einem Schietwetter!

So prägen den Apostel zum einen der nie erlöschende Eifer für seine Sache und gleichzeitig eine unwahrscheinliche Gelassenheit – noch mit dem Kopf unter Wasser und der Schiffsplanke in der Hand bewahrt er seine Ruhe, angewiesen zum nackten Überleben auf die unverdiente Freundlichkeit seiner Retter, die ihm und uns zum Bild der Gnade Gottes dienen. Denn das ist ja auch so eine Erfahrung, die Reisende machen, dass die Leute da – am fremden Ort – uns nicht geringe Freundlichkeit erweisen. Klar, erleben wir auch anderes, Paulus ja auch zu genüge; aber ich wette, dass jeder von uns auf seiner letzten Urlaubsreise, vielleicht diesen Sommer, dieses Jahr, auch so etwas erlebt hat – wie Paulus: unverdiente Freundlichkeit durch einen Fremden, der uns den Weg zeigt; der uns mit einem strahlenden Lachen im Restaurant begrüßt; der uns etwas von seinem Land, seinem Leben zeigt und sagt; oder durch jemanden, wie den Mann aus Afrika, der mir, weil ich nichts von ihm kaufen will, eine Kleinigkeit schenkt – übrigens auf einem Platz in Syrakus vor einem zur Kirche umgebauten Tempel der Minerva, den schon Paulus gesehen haben kann.

Und den Fremden, die uns hier begegnen, sei das ebenfalls zu wünschen: Philanthropie – wie es im Original heißt – Philanthropie unter Fremden als Bild der Menschenfreundlichkeit Gottes.

Was also bleibt? Die Abenteuergeschichte des Glaubens, wie sie Lukas erzählt, ist immer auch Roman einer Bildungsreise für uns, uns „hineinzubilden“ (nach einer Wendung Martin Luthers) in das Bild dessen, in dem die Menschenfreundlichkeit Gottes sichtbar geworden ist. Amen.

Sommerkirche, 30. Juli 2023, Wasser und Meer: Die Ströme des Paradieses

Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. Und Gott der Herr ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Und es geht aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilt sich von da in vier Hauptarme. Der erste heißt Pischon, der fließt um das ganze Land Hawila und dort findet man Gold; und das Gold des Landes ist kostbar. Auch findet man da Bedolachharz und den Edelstein Schoham. Der zweite Strom heißt Gihon, der fließt um das ganze Land Kusch. Der dritte Strom heißt Tigris, der fließt östlich von Assyrien. Der vierte Strom ist der Euphrat. Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. (1. Mose 2,8-15)

Wo ist das Paradies, wo seine Flüsse, wo fließen sie hin? 

Pischon, Gihon, Tigris, Euphrat – wer die vier Ströme des Paradieses in seinem Schulatlas sucht, wird nur halb fündig. Allein Euphrat und Tigris finden sich bis heute als erdkundlich beschreibbare Orte, sie umgrenzen das Zweistromland, Mesopotamien, das Land zwischen den Strömen, den heutigen Irak; bis heute nicht wegen seiner Paradieshaftigkeit bekannt und regelmäßig in den Nachrichten, sondern ganz im Gegenteil seit Jahrzehnten Kriegsort und Schauplatz höllischer Verwüstungen.

Während also Euphrat und Tigris nach wie vor auffindbar sind – wenn auch keineswegs als Paradies – ist die Suche nach Pischon und Gihon vergeblich, vermutlich wäre sie das schon in der Antike gewesen, weil die beiden Flüsse, trotz ihrer umständlichen und scheinbar genauen Verortung als symbolische oder mythologische Orte gedacht waren, sei es um eine Vierzahl voll zu machen, analog den vier Himmelrichtungen; sei es um ihre Unauffindbarkeit sicherzustellen, auch des Paradieses selbst, das verloren ist und bleibt; sei es – im Gegenteil – um ihre Auffindbarkeit in den Flüssen der eigenen Nachbarschaft zu ermöglichen: Wenn ich nicht weiß und nicht definitiv wissen kann, wo Pischon und Gihon fließen, könnte damit doch auch Rhein und Main oder Maas und Mosel, und wenn wir dabei sind auch Rambach und Goldbach gemeint sein. Wenn das Paradies nirgendwo ist, kann es überall sein; so vielleicht die listige Logik des unbekannten Autors unserer Geschichte.

In jedem Fall – und da würde uns auch unser Erdkundelehrer beipflichten – braucht ein Ort, der Paradies genannt zu werden verdient, Wasser, reichlich Wasser, Ströme von Wasser; Wasser, das dem umliegenden Land leben schenkt. Auch insofern kann jeder Wasserlauf zum Paradiesstrom werden, nicht nur die Wasserläufe, die in der Antike aus den Flussoasen am Nil, an Euphrat und Tigris, aber doch auch an Indus und Ganges, an Yangtse und Hoangho die ersten Hochkulturen haben werden lassen. 

Noch die einfache Geschichte der Bibel vom Garten Eden und seinen Flüssen bewahrt das Wissen von den Flusstälern als Anfang menschlicher Zivilisation. Allerdings bewahrt sie das Wissen vom Anfang der Zivilisation als Gefährdung des Paradieses und der Zerstörung der Oase gleich mit – als Opfer ihres eigenen Erfolges.  

Außer Fruchtbarkeit schenken die Ströme des Paradieses auch Möglichkeiten der Kommunikation, des Austauschs und des Verkehrs. Denn anders als heute, wenn Flussläufe vor allem als Hindernisse erlebt werden und überquert werden müssen, weil wir uns meistens an Land bewegen, waren sie für die Alten ideale Bedingungen der Fortbewegung, so dass sich an ihren Ufern entlang Kulturen ausbreiteten und menschliche Entwicklung sichtbar wurde – menschengemachte Zerstörung ja auch. Die Wikinger fuhren ihrerzeit die Flüsse hinauf – weniger um ihre Kultur zu bringen als fremde zu rauben.

Die vier Ströme des Paradieses, die aus einem Ursprung, einer Quelle heraus die ganze Welt in alle Richtungen durchströmen, stehen für Ausbreitung und Beziehung im Guten und Bösen, durch sie sind wir – alle Menschen – getrennt und verbunden zugleich. Noch am Rheinufer in Biebrich stehend kann ich mir bewusst werden, dass die abwärts ziehenden Schiffe in ein paar Tagen die Nordsee und alsbald die Weltmeere erreichen. Einige Kilometer östlich in Kostheim zeigt mir eine Tafel an der Einmündung des Mains welchen Weg er seit seinen Quellen oben in Fichtelgebirge und Fränkischer Alb zurückgelegt hat. 

Und noch die kleinste Bachquelle – sagen wir: die Goldbachquelle – bringt ihr Wasser hervor, nur damit es früher oder später in größeren Zuflüssen gesammelt in den großen Strömen aufgeht und irgendwann in den Ozeanen sich mit allen anderen Wassern verbindet. In den Bächen den Strom, und in der Quelle das Meer zu sehen – darauf kommt es an.  

Wenn wir genau auf den Bibeltext hören: Und es geht aus von Eden ein Strom, den Garten zu bewässern, und teilt sich von da in vier Hauptarme; dann sind also die vier Ströme des Paradieses aus dem einen hervorgegangen, der selbst im Garten Eden entspringt. Wer das Paradies malen wollte, müsste sich demnach auf Quelle und Ausgang konzentrieren, denn die vier Ströme, die da herausfließen und alles mit allem – und also auch uns mit dem Paradies – verbinden, sind ja außerhalb des Paradiesgartens zu denken – auch wenn sie in der paradiesischen Quelle längst enthalten sind. Und genauso hat es der Schöpfer des Bildes, das ich ihnen mitgebracht habe, gemacht:

Bild: Das Paradiesgärtlein
Das Paradiesgärtlein, Quelle: Städel Museum, Frankfurt am Main

Witzigerweise deuten manche das Fehlen der vier Ströme auf unserem Bild so, dass es gar nicht das Paradies zeige, während das für mich naheliegende Verständnis den eingefassten Quellbrunnen und die Wasserleitung als ziemlich genaue Umsetzung des Bibeltextes versteht: Im Paradies selbst entspringt ein Strom, der sich erst jenseits von Eden in die vier Ströme Pischon, Gihon, Tigris, Euphrat teilen wird.

Auch sonst gelingt es dem uns namentlich unbekannten Maler, der unser Bild etwa Anfang des 15. Jahrhunderts am Oberrhein, vielleicht in Straßburg, geschaffen haben kann, die wesentlichen Züge des Paradieses zu verbildlichen: Als Ort üppiger Vegetation und blühenden Lebens nicht jenseits unserer Naturerfahrungen, aber weit jenseits unserer Realität, als konkrete Utopie menschlicher Kommunikation und Kultur, die sich vom Heiligen berühren lässt.  

Sechs Personen, sicherlich in der Mehrzahl Heilige, von denen nur der Engel Michael und der Ritter Georg sicher identifizierbar sind, kommen mit Maria und dem Jesuskind bei Lektüre, Gespräch und Musik in einem Garten zusammen, den der Quellbrunnen wachsen, blühen und gedeihen lässt, überfließende Natur; und zwar in ganz nach der Natur gemalten Pflanzen und Tieren, nicht weniger als 47 identifizierbaren Arten, da hat einer genau hingeschaut: Akelei, Bachehrenpreis, Erdbeere, Frauenmantel, Gänseblümchen, Goldlack, Immergrün, Kirsche, Klee, Lilie, Märzbecher, Maiglöckchen, Malve, Margarite, Samtnelke, Pfingstrose, Schlüsselblume, Schwertlilie, Senf, Rote Taubnessel, Veilchen, Wegerich, Chrysantheme, Astern, Johanniskraut, Levkoje, sowie Eisvogel, Kohlmeise, Pirol, Dompfaff, Buchfink, Rotkehlchen, Buntspecht, Seidenschwanz, Distelfink, Schwanzmeise, Blaumeise, Wiedehopf, Amsel, Libelle und Weißlinge. Also auch das eigentlich nicht Natur wie sie wächst, sondern wie sie von Menschen gestaltet wird, kultivierte Natur. Da hat jemand im Paradies gearbeitet, dafür gearbeitet, dass es eins ist. In meinem Garten sieht es jedenfalls anders aus, da wuchert das Unkraut.

Das Paradiesgärtlein ist durch eine Mauer geschützt, der böse Drachen ist tot, der Teufel zum Äffchen gemacht und seiner Macht entkleidet, Michael und Georg können entspannt mit den anderen Konversation treiben, heilige Konversation, gewaltfreier Diskurs, Raum ohne Angst: Das Paradies, nach dem wir uns sehnen dürfen, dem wir in Bildern verbunden sind, aus dem die Ströme fließen, zu dem aber kein Bach mehr zurückfließt. 

Wo ist das Paradies? Nirgendwo – aber überall dort wo wir es entdecken, bebauen und bewahren. Amen. 

7. Sonntag nach Trinitatis, 23. Juli 2023

Die nun sein – des Petrus, aber eigentlich Gottes – Wort annahmen, ließen sich taufen; und an diesem Tage wurden hinzugefügt etwa dreitausend Menschen. Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Es kam aber Furcht über alle, und es geschahen viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden. (Apostelgeschichte des Lukas 2,41-47)

3000 waren es nicht ganz, aber beinahe 30 Kinder und Erwachsene, die sich haben taufen lassen, das Wort annahmen und der Gemeinde Jesu Christi hinzugefügt wurden; ja und eine Mahlzeit mit Freude und gewiss lauterem Herzen und Würstchen und Brezeln und Eis hielten wir auch, lobten Gott mit Unterstützung von Ako Karim und seiner Band – und fanden damit durchaus Wohlwollen beim Volk, noch tags drauf spricht mich die Fischverkäuferin im Supermarkt darauf an, wie schön es war und dass so Kirche immer sein sollte: Ich rede natürlich vom Wiesbadener Tauffest am vergangenen Sonntag im Kurpark um den Weiher herum, dessen Idee es war, Taufe als fröhliches Fest des Ursprungs erfahrbar zu machen und gleichzeitig den anwesenden schon Getauften ihre Taufe als wunderbaren Anfang in Erinnerung zu rufen. Ich bin getauft, was für ein Wunder und was für eine Freude! Der Fischverkäuferin ist unbedingt recht zu geben: So sollte Kirche immer sein.

Geschichten und Legenden vom Anfang – oft über Generationen zurück – verfolgen ihren Zweck der Stärkung der Gegenwärtigen, indem sie die Anfänge durch ihre Vorstellungskraft verklären; durchaus Mühsale und Beschwernisse nicht verschweigen, aber nach deren Überwindung ein Goldenes Zeitalter zeichnen, perfekte Harmonie, glückliche Verhältnisse, die Vorväter und -mütter einmütig und fröhlich – mit dem deutlich vernehmbaren Seufzer, dass es doch wieder so sein möge, wie es nie gewesen ist. Denn dass es so nie gewesen ist, lässt sich eben doch nicht ganz verschweigen oder verbergen, noch nicht einmal von unserem Chronisten Lukas, wenn er in seinem Geschichtswerk – entgegen aller Harmoniebehauptungen – Fälle antiker Kirchensteuerhinterziehung in der Affäre um Hananias und Saphira, die tödliche Ausgrenzung des Stephanus oder das bittere Zerwürfnis der Erzapostel Petrus und Paulus berichtet und somit dunkle Flecken auf das rosarote Bild frühkirchlicher Eintracht kleckst.

Den Liebeskommunismus, wie Lukas ihn beschreibt – Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte. – wird es eher nicht, oder jedenfalls nicht flächendeckend gegeben haben, aber doch Theorie und Praxis einer Armenfürsorge, die wenige Beispiele in der antiken Welt hatte und nicht wenig zur Attraktivität dieser Glaubensgemeinschaft beigetragen hat, die in kurzer Zeit von der obskuren jüdisch-orientalischen Sekte zur Staatsreligion des Imperium Romanum geworden ist. Als soziales Projekt, als utopisches Experiment wäre ihr das kaum gelungen – als dynamische, flexible, integrative Körperschaft öffentlichen Rechts und göttlicher Gerechtigkeit, die in sich solche erzählte Utopie überliefert, hat sie sogar das römische Reich überdauert, bis heute, wie lange noch?

Na vielleicht so lange es ihr gelingt, trotz allem solche Gelegenheiten zu schaffen der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet, trotz allem gemeinsame Mahlzeiten mit Freude und lauterem Herzen zum Lobe Gottes und unter dem Wohlwollen der Menschen zu feiern; kurz also, trotz allem Kirche zu sein, wie sie sein sollund zwar wohl wissend und anerkennend, dass diese Kirche oft genug, viel zu oft anders ist und sich anders zeigt: Wenn es wie damals Streit um das Geld gibt, wenn wie damals Ausgrenzungen passieren, wenn wie damals die reine Lehre der Apostel längst nicht überall und selbstverständlich gilt.

Bei aller Verklärung der Anfänge und aller Sehnsucht danach, dass es wieder so schön sein soll, wie es nie gewesen ist – lassen sich auch durch die verklärende Erzählung des Lukas hindurch die vermutlich unvermeidlichen Umstände und Missstände kirchlichen Lebens erkennen, heute wie damals. Kirche unter den Bedingungen der Wirklichkeit heißt Kirche unter der Sünde, aber auch für die Kirche darf gelten, dass sie Sünderin und gerechtfertigt zugleich ist, simul justa et peccatrix. Dass die Kirche so oft ihren eigenen Auftrag verfehlt, soll uns empören, aber es darf uns nicht überraschen.

Für mich folgt daraus zweierlei: das Misstrauen zu pflegen gegenüber den eigenen maßlosen Ansprüchen, die sich auch in den Verklärungen einer angeblich perfekten Vergangenheit zeigen; und gleichzeitig die Erinnerung wachzuhalten an die durch Gott gesetzten Anfänge. Letztlich geht es um die Unterscheidung von Kirche und Gottes Reich. Die Kirche hat die Aufgabe an Gottes Reich zu erinnern aber nicht die Kraft, es herbeizuführen. Andernfalls überheben wir uns, werden überheblich, drohen zu zerbrechen.

„Jesus hat das Reich Gottes verkündet – gekommen ist die Kirche“ – in diesem berühmten Wort (des katholischen Theologen Alfred Loisy, 1857-1940) schwingt gleichermaßen Enttäuschung und Kritik mit; Enttäuschung darüber, dass das Reich Gottes, von dem Jesus sagte, dass es nahe herbeigekommen sei, bisher ausgeblieben ist, ja also nun schon eine ganze Weile ausgeblieben ist und nach menschlichem Ermessen auch in absehbarer Zeit ausbleiben wird, was die Hoffnung auf sein Kommen nicht wenig trübt. Soweit die Enttäuschung. Gleichzeitig formuliert das kluge Wort – übrigens eines katholischen Theologen! – eine Kritik gegen die Selbstverwechslung der Kirche mit dem Reich Gottes, mit allen bekannten verheerenden Implikationen. Wer sich selbst für heilig hält oder erklärt, kann seine Fehler nicht eingestehen und die Verbrechen, die unter seinem Dach geschehen, nicht aufklären. Die heilige Kirche ist Gegenstand des Glaubens und der Hoffnung, nicht der Anschauung und Erfahrung.

Bestenfalls bietet die Kirche einen Rahmen, in dem das Wort Gottes und seines unaufhaltsamen Reiches ausgesprochen und in ihren Sakramenten gefeiert wird. Die Kirche ist die Bedingung der Möglichkeit eines richtigen Lebens im falschen, wobei das richtige Leben nie vollständig, nie nachhaltig, nie in Reinform zu haben ist und gelebt wird, sondern immer bruchstückhaft, in kostbaren Momenten – Wunder und Zeichen – und dabei nie so eindeutig, dass es alle – etwa uns, immer? – überzeugen könnte – noch im verklärenden Blick zurück des Lukas sind die Tausenden Getauften eine Minderheit und das Wohlwollen des ganzen Volkes nicht dessen Bekehrung. Anders war Kirche nie.

Anstatt der eigenen Glaubensmüdigkeit nachzugeben, wollen wir daher heute unsere 30 Getauften für die 3000 des Lukas nehmen, das fröhliche Fest am vergangenen Sonntag für ein Wunder und Zeichen halten, mit dem uns Gott bestärkt und das Wohlwollen des Volkes genießen, solange es uns gewährt wird – ich bilde mir ein, dass meine freundliche Fischverkäuferin diesmal besonders schöne Stücke abgewogen und mitgegeben hat, was ich auf ihr Lob beziehe, das ihr und mir selten und daher kostbar war. Jede Freundlichkeit unter uns Menschen verweist auf die Menschenfreundlichkeit unseres Gottes. Amen.

5. Sonntag nach Trinitatis, 9. Juli 2023

Am nächsten Tag stand Johannes abermals da und zwei seiner Jünger; und als er Jesus vorübergehen sah, sprach er: Siehe, das ist Gottes Lamm! Und die zwei Jünger hörten ihn reden und folgten Jesus nach. Jesus aber wandte sich um und sah sie nachfolgen und sprach zu ihnen: Was sucht ihr? Sie aber sprachen zu ihm: Eabbi – das heißt übersetzt: Meister -, wo wirst du bleiben?   Er sprach zu ihnen: Kommt und seht! Sie kamen und sahen’s und blieben diesen Tag bei ihm. Es war aber um die zehnte Stunde. Einer von den zweien, die Johannes gehört hatten und Jesus nachgefolgt waren, war Andreas, der Bruder des Simon Petrus. Der findet zuerst seinen Bruder Simon und spricht zu ihm: Wir haben den Messias gefunden, das heißt übersetzt: der Gesalbte. Und er führte ihn zu Jesus. Als Jesus ihn sah, sprach er: Du bist Simon, der Sohn des Johannes; du sollst Kephas heißen, das heißt übersetzt: Fels.Am nächsten Tag wollte Jesus nach Galiläa ziehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach! Philippus aber war aus Betsaida, der Stadt des Andreas und des Petrus. Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth. Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh!Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist. Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen. Nathanael antwortete ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das. Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn. (Johannesevangelium 1,35-51)

Was könnte Nathanael unter dem Feigenbaum gemacht haben?

Bevor wir, liebe Schwestern und Brüder, diese Frage allzu leichtfertig als unerheblich abfertigen – auch weil sie ja nicht zu beantworten ist, da die Bibel sich nicht weiter über diesen Nathanael äußert – sollten wir für uns klären, was wir unter einem Feigenbaum machen würden; was wir unter einem Feigenbaum machen.

Also ich genieße den Schatten unter meinem Feigenbaum, den ich zusammen mit meinem Erstgeborenen vor beinahe zwanzig Jahren gepflanzt habe und der – also der Baum, nicht der Sohn – mittlerweile einen mächtigen Stamm, eine erhabene Krone und mit ihr ein dichtes, aber luftiges Blätterdach ausgebildet hat. Gerade an diesen herrlich heißen Tagen des Sommers gibt es für mich keinen besseren Ort der Hitze zu trotzen als im Schatten meines Feigenbaumes, leichtbekleidet, ein schönes Buch, ein kaltes Getränk und die freundliche Gesellschaft meiner Lieben. Das ist das Paradies!

Und besonders weit hergeholt ist das jetzt auch nicht, einen solchen Ort unterm Feigenbaum für das Paradies zu halten, wenn doch schon Adam und Eva zu Feigenblättern als Sichtschutz ihres gerade erwachten Schamgefühls gegriffen haben: „Da wurden ihnen die Augen geöffnet und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“ (1. Mose 3,7) Feigen im Paradies.

Und trotz der noch unterm Feigenbaum befindlichen Gefahren durch allerlei Ungeziefer – sei es die Schlange im Paradiesgarten, sei es das Krabbelgetier in meinem – bleibt der Feigenbaum das Symbol des zwar verlorenen aber einst wiederzugewinnenden Paradieses, einer paradiesischen, friedlichen Endzeit, wie es die Propheten verkünden: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu sicheln machen. Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.“ (Micha 4,3f.)

Und solange also von anderswo – aus der Ukraine und anderswo – das Kriegsgeschrei in meinen Garten hineindringt und dröhnt und dort Feigenbäume – und nicht nur die – ausgerissen, zerhackt, verstümmelt, verbrannt, vernichtet werden, weiß ich wie vorläufig und zerbrechlich mein kleiner Paradiesgarten ist, was ihn umso kostbarer macht: mein kleines Glück im Paradies als Symbol und Vorgeschmack des großen, endgültigen.

Was immer Nathanael unter seinem – ganz gewiss ebenso kostbaren, friedlichen, paradiesischen – Feigenbaum gemacht hat: es wird ihm gefallen haben, so sehr dass er auf die Störung, man habe den Heiland gefunden, reichlich unwirsch reagiert: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Was geht mich das an? So geht es uns, wenn wir die von anderen für sensationell gehaltenen Nachrichten in eigener Beschäftigung oder Muße hören: So toll wird das schon nicht sein; hab´ ich etwa den Heiland gerade gesucht? Warum sollte mich begeistern, dass man ihn – angeblich – gefunden hat? Was wir natürlich wie gesagt nicht wissen, denn vielleicht hat ja Nathanael nach gut rabbinischer Sitte unter seinem Baum in seinen Büchern nach dem Heiland geforscht. Ist er da vielleicht nicht?

Dennoch macht sich Nathanael auf – „könnte was dran sein“ – vielleicht kennt er Philippus als seriösen Freund, der nicht zu religiösen Überspanntheiten neigt, vertraut ihm; jedenfalls verlässt er den Schatten seines Feigenbaums, betritt das helle Licht des Tages, das für ihn das noch hellere Licht der Gottesbegegnung wird, was er aber noch nicht weiß. Denn er bleibt zunächst skeptisch, spürbar zurückhaltend; kontert die forsche Begrüßung Jesu – Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist, mit einer abwehrenden Frage: Woher kennst du mich? Hört er in den Worten Jesu einen falschen Ton? („Hat der etwa gerade ´Hoho, ein Prachtbursche!´ zu mir gesagt“) Fühlt er sich gar herausgefordert über seine Ambitionen, veralbert über seinen Ehrgeiz? Fühlt er sich durchschaut als jemand, der gerne ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist, sein will – es gerne wäre – womöglich nicht ist – womöglich selbst die Sorge hat, keiner zu sein? Oder spürt er schon, dass da jemand mehr sieht als andere, so dass man auch in diesem mehr sehen kann, als zunächst angenommen.

Jesus findet in einem zweiten Anlauf das Schloss zu seinem Herzen, trifft das Kennwort, das Türen öffnet – ein bisschen so wie wir uns durch Kenntnis eines höchstpersönlichen Merkmals den Zugang zu unserem Account sichern – Geburtstag meines Großvaters, Geburtsname meiner Großmutter – und nennt den Ort, an dem Philippus ihm von Jesus erzählt hatte: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen. Und das gewinnt den Nathanael für Jesus: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!

Auch dieses Wort beendet noch nicht das Gespräch; das zu Erkennende scheint noch nicht erkannt zu sein – weder von Nathanael noch von den Lesern der Geschichte, also uns; es geht Jesus nicht darum durch ein bloßes Wunder der Hellseherei – das kann doch jeder, der sich einigermaßen gute Informationen verschafft – erkannt und verehrt zu werden: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das. Vielleicht war ihm dieses Bekenntnis des Nathanael noch zu formelhaft; wohl richtig, aber eben nur richtig gesagt – noch nicht richtig verinnerlicht, geglaubt, gelebt, gefühlt, mit allen Fasern seines Seins gespürt und erlebt: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!

Nicht das Christusbekenntnis des Nathanael sondern ein Offenbarungswort dieses Christus an ihn, an uns schließt unsere Szene ab und weist gleichzeitig über sie hinaus: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn. Die Berufung der Jünger – der Andreas, der Simon, der Philippus, der Nathanael und wie sie alle heißen – ist erst der Anfang einer wunderbaren Geschichte, die sich auf allererste Anfänge bezieht, auf Jakob und seinen Traum mit der Leiter und den Engeln zwischen Himmel und Erde, und diesen Traum weiterträumt auf ein letztes Ende hin, an dem Gott alles gut gemacht haben wird durch seinen Gottes- und Menschensohn, nicht nur in meinem Paradiesgärtlein, wo ich das jetzt schon ahnen kann, sondern überall und für alle Menschen. Größeres als das, gibt es nicht zu sehen.

Und wir dürfen davon erzählen, herausgelockt aus dem Schatten unseres Feigenbaumes, gesandt in die weite Welt.

4. Sonntag nach Trinitatis, 2. Juli 2023

Der Predigttext für den heutigen 4. Sonntag nach Trinitatis steht im 1. Brief des Petrus im 3. Kapitel:

Endlich aber seid allesamt gleichgesinnt, mitleidig, brüderlich, barmherzig, demütig. Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, dass ihr den Segen ererbt. Denn »wer das Leben lieben und gute Tage sehen will, der hüte seine Zunge, dass sie nichts Böses rede, und seine Lippen, dass sie nicht betrügen. Er wende sich ab vom Bösen und tue Gutes; er suche Frieden und jage ihm nach. Denn die Augen des Herrn sehen auf die Gerechten, und seine Ohren hören auf ihr Gebet; das Angesicht des Herrn aber steht wider die, die Böses tun«. Und wer ist’s, der euch schaden könnte, wenn ihr dem Guten nacheifert? Und wenn ihr auch leidet um der Gerechtigkeit willen, so seid ihr doch selig. Fürchtet euch nicht vor ihrem Drohen und erschreckt nicht; heiligt aber den Herrn Christus in euren Herzen. Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist, und das mit Sanftmut und Gottesfurcht, und habt ein gutes Gewissen, damit die, die euch verleumden, zuschanden werden, wenn sie euren guten Wandel in Christus schmähen. Denn es ist besser, wenn es Gottes Wille ist, dass ihr um guter Taten willen leidet als um böser Taten willen. Amen.

Das Leben lieben und gute Tage sehen, liebe Gemeinde.

Das Leben lieben und gute Tage sehen – was für ein sprechendes Wort, gerade für die Ferienzeit; um das Leben zu Lieben und gute Tage zu sehen, dafür machen wir Pause vom Alltag, schweifen in die Ferne, besuchen fremde Orte um uns selbst zu finden, wiederzufinden.

Das tut gut, diese Auszeit, dieser Abstand. Man kann sich das Leben kaum ohne vorstellen; auch wenn wir wissen, dass Urlaub und Ferien eher neuere Erfindungen sind. Was uns so selbstverständlich geworden ist, dass wir unseren Kalender danach – also nach den Schulferien – richten, sogar das kirchliche Leben, das wir doch auch lieben, und alles andere danach richten; das hat es bis vor wenigen Generationen gar nicht gegeben. Es gab den Sonntag, die Feiertage, Phasen größerer und geringerer Anstrengung; aber Auszeiten in diesem Umfang und für den größten Teil der Bevölkerung hat es vorher einfach nicht gegeben. Wenn das Leben süß war, dann war es Mühe und Arbeit.

Das hat sich zumindest für die Ferienwochen geändert – aber – und davon soll hier die Rede sein: auch die Ferienwochen setzten das Grundsätzliche, das Prinzipielle, die Fundamente unseres Zusammenlebens nicht außer Kraft. Wir können Erholung finden, für einen Moment Abstand von Mühe und Arbeit gewinnen; aber wir können nicht uns selbst entfliehen, nicht dem entfliehen, wie wir sind; und nicht dem entfliehen, wie wir sein sollen.

Die Grundsätze, die Prinzipien und Fundamente des Zusammenlebens; in unserem Rahmen also des christlichen Zusammenlebens bleiben in Kraft; und werden folgerichtig bei der Betrachtung, das Leben zu lieben und gute Tage zu sehen beleuchtet. Was sind unsere Grundsätze, was unsere Fundamente?

Diese Frage nach den Fundamenten ist ja durch die Fundamentalisten ein bisschen in Misskredit geraten, weil diese oft mit dem ihnen eigenen untrüglichen Blick für das Unwesentliche, nicht über Grundlagen des Glaubens reflektieren, sondern ihn – den Glauben – in einen großen Klotz – ein unbewegliches Fundament – einbetonieren wollen, damit er sich bloß nicht verändere, dass er nicht angreifbar werde, dass er geschützt wäre vor allen möglichen Angriffen. So als ob wir Menschen uns das Fundament unseres Glaubens erst schaffen müssten, anstatt dass wir uns auf unser von Gott gegebenes Fundament verlassen.

Uns soll es jedenfalls um die Grundlagen unseres Glaubens gehen, um die Fundamente unserer Glaubensgemeinschaft, die immer gelten und auch durch keine Ferienzeit außer Kraft gesetzt werden. Da lässt sich vermutlich schnell Verständigung erzielen, was dazu gehört:

Der Inhalt des Glaubensbekenntnisses, das zwar in historisch gebundener Form, aber doch immer noch gültig und relevant den christlichen Glauben auf den Punkt bringt.

Die Ethik der Zehn Gebote, die viel mehr sind als ein universelles moralisches Gesetz, sondern die umfassende, vielleicht auch unerreichbare, und dennoch immer noch normative Beschreibung eines gottgefälligen, gelingenden Lebens.

Das Vaterunser als Modell eines Gebets, eines Gesprächs mit Gott, der uns als Vater nahe kommt und als dessen Kinder wir ihm nahe kommen dürfen.

Die Grundsätze der Gerechtigkeit und der Wahrhaftigkeit, die beide den Realitätsbezug unseres Glaubens sicherstellen sollen und können. Es ist nicht egal, was ich tue und lasse; und es nicht egal, was ich sage oder verschweige; sondern unser Zeugnis soll wahr und unser Handeln gerecht sein. Eine bloße Binnenwahrheit für ein Häuflein Erleuchteter und eine bloße Binnengerechtigkeit für die, die dazugehören, toleriert unser Glaube nicht.

Das alles – Glaubensbekenntnis, 10 Gebote, Vaterunser, Gerechtigkeit und Wahrheit – das alles ist unserem Glauben grundsätzlich und fundamental, ohne das wäre unser Glauben nicht unser Glauben.

Vielleicht ist aber vorher und über allem noch etwas zu nennen; und zwar: Die christliche Nächstenliebe. Und ich meine, dass hier tatsächlich etwas benannt ist, das für viele noch unmittelbarer, noch eindeutiger das wesentlich Christliche benennt. Die christliche Nächstenliebe, also die selbstlose Hilfe für meinen Nächsten, der selbst Fremder – und im Grenzfall sogar Gegner und Feind – sein kann, der meiner Hilfe bedarf; gleichnishaft geworden im Barmherzigen Samariter. Was ist ein Christ? So einer wie der barmherzige Samariter, der einem Fremden hilft, dabei auf eigenen Vorteil nicht sieht und selbst Kosten nicht scheut; der Verzicht leistet, sich selbst zurücknimmt um des anderen willen, der etwas, das ich habe, mehr braucht als ich; der nicht sich selbst in den Mittelpunkt stellt sondern den anderen.

Manche Vertreter der Soziobiologie halten diese – durch Jesus geforderte und bei Christen immer noch verbreitete Form – des Altruismus für den entscheidenden Fortschritt der Evolution, der nur Menschen eignet; wichtiger und entscheidender als Intelligenz und aufrechter Gang. Danach würde das uns zu Menschen machen, was uns über uns selbst hinaus sehen lässt, die Anliegen und Interessen der anderen zum Maßstab, zur Maxime meines Handelns werden lässt. Ob das zutreffende Annahmen über den Menschen sind, vermag ich nicht zu beurteilen; zutreffende Zusammenfassungen des christlichen Kerns sind sie allemal. Christ ist der, der sich selbst zurücknehmen kann, der Interessen von anderen wahrnehmen kann, der auf sein Recht zugunsten anderer verzichten kann, der dabei sogar seinen Feinden gerecht zu werden versucht. Nicht der Ellenbogen sondern die offene Hand ist das Zeichen der Christen.

Ich meine, dass auch unser heutiger Predigttext diese urchristliche Botschaft verkündet. Mitleidig, brüderlich, barmherzig, demütig sollen wir sein. Gewalt nicht erwidernd, sondern unterbrechend; segnend auch die, die uns übel wollen, weil der Segen letztlich nicht aus uns sondern von Gott kommt; besser um der Gerechtigkeit willen leiden, als selbst ungerecht werden; menschenfreundlich sein, und darin Zeugnis ablegend für den menschenfreundlichen Gott; wissend, dass es besser ist, um guter Taten willen zu leiden als um böser Taten willen – denn, wie Petrus den Gedanken unserem Predigttext fortsetzt: „Denn auch Christus hat einmal für die Sünden gelitten, der gerechte für die Ungerechten, damit er euch zu Gott führte.“

So verantworten wir die uns von Gott anvertraute Gerechtigkeit und seine Wahrheit vor den Menschen und vor uns. Dabei mag uns Nächstenliebe, Selbstzurücknahme, Rechtsverzicht als christliche Tugend einleuchten, aber ob sie auch für die Praxis taugt? Wie ist das, wenn wir uns auf etwas gefreut haben und wir müssen darauf verzichten, weil uns die Nächstenliebe in die Pflicht nimmt? Was bleibt von unserer geöffneten Hand, wenn wir gerade mal wieder den Ellbogen der anderen gespürt haben? Wo bleibe ich, wenn ich mich zurücknehme, sonst aber niemand? Warum soll ich eigentlich auf mein gutes Recht verzichten, nur weil es einem, der bedürftig ist, helfen könnte?

Denn: Recht ist Recht. Von Rechtsverzicht steht in den Gesetzbüchern nichts. Wenn ich Vorfahrt habe, brause ich los, komme wer da wolle. Wenn ich an der Supermarktkasse dran bin, mähe ich schon mal eine etwas langsamere Großmutter nieder – nicht mehr ganz so forsch wie früher, bin ja selber Großvater! Wenn ich Recht habe, möchte ich’s auch bekommen. Sollen die anderen helfen. Wenn sich jeder selbst hilft, ist allen geholfen. Liebe Schwestern und Brüdern, das ist der Teufel, der uns das einflüstert; na gut; den gibt es vielleicht nicht, aber dafür kann er noch ziemlich laut und hässlich flüstern.

Dagegen hilft es sich immer wieder die andere, die christliche Botschaft zu sagen und sich sagen zu lassen. Auch die Adressaten des Petrusbriefes werden das alles gewusst haben, was ihnen da geschrieben wird, so wie wir das wissen, was Nächstenliebe ist und was sie uns abverlangt; aber wir wie sie müssen daran erinnert werden, es gesagt bekommen immer wieder; das Grundsätzliche, das Fundamentale stets und von neuem gesagt bekommen: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst; und das ist richtig und gut so, auch wenn es dir niemand dankt. Selbst wenn es dich in Schwierigkeiten bringt, lasse davon nicht ab.

Unsere Versuche der Nächstenliebe werden die Welt nicht verändern: Erfolg ist ausdrücklich kein Maßstab der Nächstenliebe; aber sie wird uns verändern – hin zu einem Leben, dass Gott gefällt – uns doch auch; damit wir das Leben lieben und gute Tage sehen. Auch das wäre ein Erfolg. Amen.

3. Sonntag nach Trinitatis, 25. Juni 2023

Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat´s nicht.
Das aber verdross Jona sehr, und er ward zornig und betete zum Herrn und sprach: Ach, Herr, das ist’s ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Lande war. Deshalb wollte ich ja nach Tarsis fliehen; denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. So nimm nun, Herr, meine Seele von mir; denn ich möchte lieber tot sein als leben. Aber der Herr sprach: Meinst du, dass du mit Recht zürnst? Und Jona ging zur Stadt hinaus und ließ sich östlich der Stadt nieder und machte sich dort eine Hütte; darunter setzte er sich in den Schatten, bis er sähe, was der Stadt widerfahren würde. Gott der Herr aber ließ einen Rizinus wachsen; der wuchs über Jona, dass er Schatten gab seinem Haupt und ihn errettete von seinem Übel. Und Jona freute sich sehr über den Rizinus. Aber am Morgen, als die Morgenröte anbrach, ließ Gott einen Wurm kommen; der stach den Rizinus, dass er verdorrte. Als aber die Sonne aufgegangen war, ließ Gott einen heißen Ostwind kommen, und die Sonne stach Jona auf den Kopf, dass er matt wurde. Da wünschte er sich den Tod und sprach: Ich möchte lieber tot sein als leben. Da sprach Gott zu Jona: Meinst du, dass du mit Recht zürnst um des Rizinus willen? Und er sprach: Mit Recht zürne ich bis an den Tod. Und der Herr sprach: Dich jammert der Rizinus, um den du dich nicht gemüht hast, hast ihn auch nicht aufgezogen, der in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb, und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere? (Buch des Propheten Jona 3,10; 4,1-11)

Am 14. Juni 2014 erschüttert eine gewaltige Detonation durch Truppen des islamischen Staats (IS) die menschenleere Stadt Mosul, in deren Mitte die Ruinen der riesigen assyrischen Hauptstadt Ninive liegen und legt das Wahrzeichen der Stadt, die altehrwürdige Nebi-Yunus-Moschee mit dem Grab des auch im Islam hochverehrten Propheten Jona – also des Nebi Yunus – in Schutt und Asche. Nicht zum ersten Mal wird Ninive zerstört: Im Jahr 612 v. Christus, also vor gut 2600 Jahren, ging das assyrische Großreich im Sturm von Medern und Babyloniern unter und mit ihm die Hauptstadt Ninive, die belagert, eingenommen und gründlich niedergebrannt wurde – und trotz aller Zerstörung reiche Kunst- und Kulturschätze unter den Trümmern hinterließ. Auch um deren endgültige Zerstörung als Götzenbilder ging es bei dem Angriff auf Mosul vor 9 Jahren durch die islamistische Terrormiliz.

Es berührt merkwürdig, wie sich die Geschehnisse wiederholen und wie die Weltläufe heute und damals sich berühren – und obendrein wie realistisch und aktuell das humoristisch-prophetische Märchenbuch über den Propheten Jona immer noch ist. Wir erinnern uns an den Walreisenden wider Willen, den widerwilligen Propheten, der erst trotzt, weil er den Untergang Ninives verkünden soll, und dann schmollt, weil der Untergang ausbleibt. Genau an dieser Stelle der Geschichte befinden wir uns mit unserem Predigttext: Als aber Gott das Tun der Niniviten sah, wie sie umkehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat´s nicht. Das aber verdross Jona sehr.

Verdruss über die Gnade Gottes: wenn es so nicht immer noch in den Handbüchern gewaltbereiter religiöser Fanatiker stünde, wäre das beinahe komisch. Das zentrale Gottesbekenntnis von Juden, Christen, Muslimen und sicherlich vielen Religionen, das Bekenntnis zum gnädigen Gott, zum barmherzigen Gott, zum Allerbarmer spricht Jona als Karikatur eines Vorwurfs: ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. In vollendeter prophetisch-dramatischer Ironie mault der Diener Gottes darüber, dass Gott, sein Herr, gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte ist, wie es die Psalmbeter in ihrem Gotteslob oft und oft besingen. Jona beklagt sich darüber, dass Gott ist, wie er ist; klagt, dass dieser mit seiner Gnade im Unrecht sei; fordert vielmehr Gerechtigkeit als Strafe und Rache.

Immerhin nimmt er nicht selbst das Schwert Gottes in die Hand, wie so viele andere religiöse Fanatiker und Gewalttäter; zieht in keinen heiligen Krieg gegen Ungläubige und Ungerechte; legt keine Weltreiche und Metropolen in Schutt und Asche – sondern er verzieht sich nur in seine Schmollecke, widmet sich seinem Ärger über Gott und die Welt, pflegt seine Verbitterung: So nimm nun, Herr, meine Seele von mir; denn ich möchte lieber tot sein als leben. Und Jona ging zur Stadt hinaus und ließ sich östlich der Stadt nieder und machte sich dort eine Hütte; darunter setzte er sich in den Schatten, bis er sähe, was der Stadt widerfahren würde. Wir kennen das von uns selbst und von anderen: Als gekränkte und beleidigte Leberwurst verziehen wir uns in unsere Schmollecke; eigentlich dämmert uns schon, dass wir uns verrannt haben; aber die Kraft der Einsicht, selbst da wieder herauszukommen, reicht noch nicht.

Auch Gott hätte allen Grund, ihn dort nun ein bisschen schmoren zu lassen, er sagt ihm auf den Kopf zu, sich nicht so zu haben: Aber der Herr sprach: Meinst du, dass du mit Recht zürnst? Und erbarmt sich dann eben doch wieder, nun halt über Jona; Gott scheint nicht anders zu können als gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte zu sein. Und dazu unternimmt Gott einiges, auch unwahrscheinliches.

Wie schon zuvor in der Jonageschichte engagiert Gott die Natur auf wunderbare Weise, um ihren Gang zu lenken und Jona auf die Spur zu bringen. Nach dem Walfisch kommt eine Rizinuspflanze zum Einsatz, und dann Wurm und Sturm. Die ganze Schöpfung wird in Dienst genommen für unser theologisches Märchen, das sich hier einen pädagogischen Schabernack erlaubt. Auch wenn die Rizinuspflanze schnell und hoch wächst, bis zu drei Metern Höhe in diesen Breiten sagen die Pflanzenkundler, aber dann doch nur im Märchen so schnell und so hoch, dass sie in nur einem Tag einem ausgewachsenen Propheten zum Unterschlupf vor der Sonnen dienen kann. Und sie wächst auch nur um gleich wieder zu welken, angefressen von einem Wurm; angefressen wie Jona angefressen ist vom Wurm der Selbstgerechtigkeit und Selbstbezogenheit; angefressen wie Jona, der sich wegen einer theologischen Rechthaberei eine große Stadt in Schutt und Asche wünscht, aber dann eben doch große Freude über den schnellgewachsenen Sonnenschutz erlebt – nur um diesen gleich wieder zu verlieren durch Schädlinge und Stürme, ganz wie heute im richtigen Leben.

Ob Jona die Moral seiner Geschichte verstanden hat? Eher nicht, zumindest bricht die Geschichte mit der Belehrung Gottes ab, von einer Einsicht Jonas wird nicht berichtet. Dich jammert der Rizinus, um den du dich nicht gemüht hast, hast ihn auch nicht aufgezogen, der in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb, und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere? Wichtiger ist, dass wir sie hören und verstehen. Nicht um theologische Richtigkeiten geht es dem unbekannten Autor des Jonabuches – denn selbst die Wirklichkeit hat er mit seinem humoristischen Prophetenmärchen längst hinter sich gelassen – sondern es geht ihm um Einsicht in den unbedingten Vorrang von Gottes Gnade und unserem menschlichen Mitleid. Also nicht Selbstmitleid, davon hat Jona mehr als genug – sondern um die Einsicht in das Leid der anderen, mit der Gott uns und die Welt verändern möchte. Dafür lässt er den Jona weite Wege gehen und uns dabei zusehen.

Nachdem im Irak und in Mosul der IS vertrieben und zumindest annäherungsweise staatliche Ordnung wieder hergestellt ist, bemühen sich auch deutsche Archäologen um die Sicherung der Hinterlassenschaft auch des antiken Ninive, und auch des Palastes, in dem Jona unserer Geschichte nach den assyrischen Herrscher zur Umkehr gerufen haben soll. Eine Erinnerungsstätte an diesem Ort des bei Juden, Christen und Muslimen gleichermaßen erinnerten Propheten wäre nicht das schlechteste Zeichen gegen religiöse Gewalt und für die Resilienz der Religion, die noch auf unwahrscheinlichste Weise – trotzige, ungläubige Propheten – und auf unwahrscheinlichsten Wegen – wer schwimmt schon durch das Meer im Bauch eines Wals? – das Wort von der Gnade Gottes verbreitet: Denn ich wusste, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und lässt dich des Übels gereuen. Amen.

Sonntag Trinitatis, 4. Juni 2023, Konfirmationsjubiläum

In dem Jahr, als der König Usija starb, sah ich den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Thron und sein Saum füllte den Tempel. Serafim standen über ihm; ein jeder hatte sechs Flügel: Mit zweien deckten sie ihr Antlitz, mit zweien deckten sie ihre Füße und mit zweien flogen sie. Und einer rief zum andern und sprach: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll! Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch. Da sprach ich: Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen. Da flog einer der Serafim zu mir und hatte eine glühende Kohle in der Hand, die er mit der Zange vom Altar nahm, und rührte meinen Mund an und sprach: Siehe, hiermit sind deine Lippen berührt, dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei. Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich!

Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet’s nicht; sehet und merket’s nicht! Verfette das Herz dieses Volks und ihre Ohren verschließe und ihre Augen verklebe, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen.Ich aber sprach: Herr, wie lange? Er sprach: Bis die Städte wüst werden, ohne Einwohner, und die Häuser ohne Menschen und das Feld ganz wüst daliegt. Denn der Herr wird die Menschen weit wegführen, sodass das Land sehr verlassen sein wird. Auch wenn nur der zehnte Teil darin bleibt, so wird es abermals kahl gefressen werden, doch wie bei einer Terebinthe oder Eiche, von denen beim Fällen noch ein Stumpf bleibt. Ein heiliger Same wird solcher Stumpf sein. (Buch des Propheten Jesaja 6,1-13)

Heilig ist Gott der Herr, was sage ich, dreimal heilig, niemand darf ihn ansehen, sogar die Seraphen, gefiederte Feuerschlangen, bedecken ihr Angesicht und Augen; doch wohl aus Gottesfurcht und Gottesscham; wie ja auch der Prophet nach seiner Vision sogleich entsühnt werden muss, glühende Kohle an seinen Mund, damit er ohne Schaden zu nehmen sagen kann, weitersagen kann, was er gesehen hat. Groß ist Gottes heilige Majestät, raumfüllend, tempelraumfüllend, aber verborgen in seinem nur ihm vorbehaltenen Raum; und dabei erstrahlt die ganze Welt gleichzeitig durch seine heilige Herrlichkeit; schlechthin verborgen und ganz und gar offensichtlich zugleich – „hidden in plain sight“: Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!

Als die Christen begannen, diesen Text mit seinem Dreimalheilig und wegen des Dreimalheilig auf die Dreieinigkeit ihres Gottes zu beziehen, in dem Versuch den Propheten, der sicher nicht trinitarisch glaubte, besser zu verstehen als dieser sich selbst verstand, erschlossen sie sich – zusammen mit dem sprachlich-oberflächlichen Dreimalheilig – einen Hintergrund ihrer Trinitätslehre, der diese noch viel tiefer und gründlicher erklärt: Gottes verborgene Heiligkeit und seine offensichtliche Herrlichkeit sollen zusammen gedacht, zusammen geglaubt und zusammen verehrt werden. Erst Gottes Majestät mit seiner Offenbarung in seinem Sohn und in ihrem gemeinsamen Geist sind Gott, der dreieinige Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist.

Aber als ob der Prophet seine christlichen Interpreten schon besser verstand, als diese sich ein paar Jahrhunderte später selbst verstehen würden, scheint er die Kommunikationsstörungen, die Missverständnisse, das ganze Kuddelmuddel um die Trinitätslehre zwischen Verkündigern und Hörern vorwegzunehmen, die von Anfang an als tief, schwer, dunkel galt, als zu hoch, zu verwickelt, zu verworren, unentwirrbar und unverständlich: Und er sprach: Geh hin und sprich zu diesem Volk: Höret und verstehet’s nicht; sehet und merket’s nicht! Verfette das Herz dieses Volks und ihre Ohren verschließe und ihre Augen verklebe, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen.

Der Prophet benennt hier das prophetische Paradox, nämlich den Auftrag, so zu sprechen, dass ihn möglichst niemand versteht, was ja bis heute ganz gut funktioniert in der Kirche – kahl gefressen und reichlich ungewiss, ob wie bei einer Terebinthe oder Eiche, … beim Fällen noch ein Stumpf bleibt. Klingt alles ein wenig nach dem Mann, der in den Laden kommt und dem Verkäufer sagt: Das was ich will, haben Sie sowieso nicht! Aber ist das wirklich die Verkündigungsabsicht der Wahl, möglichst nicht verstanden zu werden? Und sollte das wirklich Gottes Wille sein, die Ohren zu verschließen, die Augen zu verkleben und das Herz als Sinnesorgan des Verstandes zu verfetten? Ziemlich viel Aufwand, nur um keinen Erfolg zu haben – auch wenn es wie gesagt empirisch betrachtet die Lage ganz gut beschreibt. Obendrein nehme ich – in einem eleganten Schwung sekundären Gewinns durch Scheitern – aller Kritik den Wind aus den Segeln, immunisiere mich gegen Einwände, wenn ich sage: „Das was ihr nicht versteht, sollt ihr auch gar nicht verstehen!“ Soll man das wollen? Die absichtlich das nicht verstehen zu lassen, was einem selbst so wichtig ist?

Andrerseits zeigen die Übertreibungen des Propheten an, dass der Glaube hier einen gewaltigen Sprung über einen garstigen Graben zu springen hat – Achtung: man kann auch auf dem Hosenboden landen! – und sie zeigen, dass sich die Anstrengung des Gedankens schließlich doch lohnen könnte. Der Prophet hat Dinge gesehen und gehört, die schlechthin unerhört sind; Erfahrungen gemacht, die im Grunde unteilbar, also eigentlich nicht mitteilbar sind; Erlebnisse, die einem die Sprache verschlagen; Abenteuer erlebt und in Gegenden vorgedrungen, die kein Mensch je betreten hat; Galaxien des Geistes bereist, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat. „Ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion. Und ich habe C-Beams gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor. All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im Regen. … Zeit zu sterben.“ Nein, das sind keine Worte der Bibel, sondern die letzten Worte des Replikanten Roy Batty alias Rutger Hauer gegenüber dem Blade Runner Rick Deckard alias Harrison Ford im gleichnamigen Film Blade Runner von 1982; auch so eine Art Prophetie aus utopisch kahl gefressener Erde. „Ich habe Dinge gesehen“: Geheimnisse, Mysterien, schrecklich und faszinierend zugleich. Wie davon reden?

Wie reden wir von den Dingen, die uns wirklich bewegen und wirklich etwas bedeuten, die unserem Leben Sinn geben, seine Richtung verändert haben, an die wir unser Herz hängen und die deshalb unser Gott sind; wann ist uns unser Gott begegnet und wo haben wir Gott gesehen, und wie davon reden, von dem, woran unser Herz hängt? Wie reden wir von der Geburt unserer Kinder und dem Tod unserer Eltern; wie reden vom großen Gelingen und wie vom krachenden Scheitern in den Prüfungen unseres Lebens; vom Suchen und Finden der Liebe, vom Verlieren und Wiederfinden; von unseren Reisen in die wirkliche und in die geistige Welt; vom Ringen mit Krankheiten und Sehnsüchten und Süchten? Von unseren Unerheblichkeiten, mit denen wir einen erheblichen Teil unserer Lebenszeiten verbringen? Wie von den Zielen, die wir erreicht haben, und von denen, die wir verfehlten und von denen, die noch vor uns liegen? Wie von dem, was uns antreibt, und von dem, was uns bremst? Wie vom großen Schmerz und wie von der kleinen Freude?

Also wenn wir überhaupt jemanden finden, der uns zuhört und dem wir unser Herz öffnen können und auch wollen, dann reden wir zwar bestimmt mit dem leisen Zweifel, ob wir verstanden werden, aber gewiss nicht in der unlauteren Absicht nicht verstanden zu werden; also nicht wie der Mann aus dem Laden mit der Haltung: Das was ich Ihnen jetzt erzähle, verstehen Sie sowieso nicht.

Und deshalb werden wir uns im Gespräch bemühen, an die Erfahrungen anderer uns bekannter Menschen anzuknüpfen, nicht zuletzt an die unseres Gesprächspartners; an mögliche gemeinsame Erfahrungen, Erlebnisse und Vorstellungen, die selten die gleichen sein werden, aber gar nicht so selten ähnliche sind, weil sie ja unsere Lebensbedingungen als Menschen betreffen, unsere conditio humana: Geburt, Tod, Liebe, Leiden, Gelingen, Scheitern – wer erlebte das nicht? In diesen Erzählungen begegnen wir uns als Menschen.

Nicht anders hat es Gott gemacht, indem er Mensch geworden ist und uns als Mensch begegnet; indem Gott Wort wird und uns eine menschliche Geschichte erzählt: von Geburt und Tod des Jesus von Nazareth, von Liebe und Leiden im Zusammenhang, vom guten Gelingen und schrecklichen Scheitern; indem sich Gott ganz in unsere menschlichen Geschichten verstrickt und dabei ganz und gar Gott bleibt; in seiner ganzen Heiligkeit verborgen und in seiner ganzen Herrlichkeit offenbar: „das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“(Johannes 1,14); den wir im Geist anbeten sollen, denn: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“ (Johannes 4,24).

Die Pointe des trinitarischen Glaubens besteht also in der Identität der Herrlichkeit des Sohnes mit der Heiligkeit des Vaters im Geist, so dass uns der wahre Gott durch den wirklichen Jesus im Glauben begegnet. In den Worten des johanneischen Jesus: „Wer mich sieht, sieht den Vater“ (Johannes 14,9); „Ich und der Vater sind eins“ (Johannes 10,30) – oder eben in der glücklichen, prophetischen Ahnung und Wendung:

Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll!

Ökumenischer Gottesdienst an Pfingstmontag, 29. Mai 2023

Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten soll. Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr betet an, was ihr nicht kennt; wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden. Aber es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten. Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen. Jesus spricht zu ihr: Ich bin’s, der mit dir redet.

(Johannes 4,19-26)

„Immer im Gespräch bleiben“ – sagt mir der Konfirmandenvater an der Kasse beim Tegut und meint damit seine Strategie – seine im übrigen erfolgreiche Strategie! – die unendlichen Qualen – die für Jugendliche und Eltern gleichermaßen unendlichen Qualen – der Pubertät zu bewältigen. Was immer kommen mag – und manchmal kommt wirklich eine Menge! – Wir werden das nicht voraussehen, wir werden es im Zweifelsfall weder vermeiden oder lindern oder gar steuern können, wir werden es aushalten müssen und nur im Aushalten bewältigen können. Und dazu gehört: „Immer im Gespräch bleiben“.

„Die Gesprächskanäle offenhalten“, scheint für das persönliche, das familiäre – aber auch das weltpolitische Gedeihen – ein echtes Patentrezept zu sein, auch wenn es zur Zumutung werden kann. Wenn ich mich frage, mich fragen muss, was soll das und was kann es bringen, mit einem solchen Menschen im Gespräch zu bleiben, die Gesprächskanäle zu ihm offen zu halten; der mir die Worte im Munde verdreht, der mich doch nicht versteht, nicht verstehen will, nicht verstehen zu wollen scheint, dessen Wort nichts gilt und dessen Worte nichts gelten, zumindest nicht das, für was sie sonst gelten oder was sie sonst bedeuten. Besser als Schweigen ist selbst solches Reden allemal, denn wer redet, ist nicht tot.

Die Gespräche im Johannesevangelium sind Paradebeispiele für die Wahrheit solcher Redensarten. Der johanneische Jesus spricht über die Frustrationen des Missverstehens und über die Quälereien des Nicht-Verstehens hinweg, nun nicht immer hin zum Ziel eines Einverständnisses der Sprechenden, aber doch zum Ziel einer Klärung „of sorts“, einer Aufklärung der Hörenden, einer Art, irgendeiner Art der Klärung. Zumindest für uns Zuhörer und Leser wird klar – annähernd klar – worum es geht, auch hier?

Die samaritanische Frau lenkt in diesem Gesprächsgang die Frage auf den Ort der Gottesbegegnung und des Gottesgesprächs; der war strittig zwischen Samaritanern und Juden, Garizim im Norden des Heiligen Landes für die einen oder Jerusalem in der Mitte für die anderen. Und wenn zwischen beiden Orten entschieden werden müsste, dann wäre es Jerusalem, denn das Heil kommt von den Juden, was für sich genommen eine kraftvolle, aber auch erstaunliche Aussage wäre, auch angesichts anderer, reichlich schmerzvoller Aussagen im Johannesevangelium. Aber gemeint ist vermutlich, dass wenn zwischen beiden Orten der Anbetung entschieden werden müsste, dann Jerusalem die älteren Rechte besäße, was selbst Samaritaner kaum bestreiten könnten.

Aber letztlich kommt es – nach Meinung unseres Bibeltextes – auf den Ort eines Gesprächs nicht an; ob nun der eine oder der andere heilige Berg oder ein unheiliges Tal, oder der Weg zwischen beiden oder meinetwegen die Kasse im Supermarkt: Jeder Ort kann zum Ort echter Kommunikation werden, nur eben, dass sich die Gesprächspartner im richtigen Geist der Wahrhaftigkeit begegnen. Andererseits kann natürlich auch jeder Ort – noch der heiligste Ort – zum falschen Ort werden, wenn das Gespräch geistlos und unwahrhaftig geführt wird.

Das hört sich jetzt unkatholischer und protestantischer und damit strittiger an als es ist. Denn schon unsere alltägliche Erfahrung bestätigt das ja zunächst, dass nämlich echte Begegnung und wahrhaftige Kommunikation ziemlich unabhängig vom Ort sind. Dass unverhoffte Gespräche an merkwürdigen Orten zwischen Tür und Angel nicht weniger belangvoll sein müssen als der verabredete Austausch in der guten Stube, bei dem sich die Partner genauso begegnen aber eben auch genauso stumm und fremd bleiben und verfehlen können.

Und für das religiöse, das gottesdienstliche Gespräch, die Zwiesprache mit Gott gilt das – korrigieren Sie mich – ebenfalls. Noch der schönste, prächtigste, weihevollste Kirchenbau kann das Gespräch mit Gott hemmen oder belasten und andererseits kann ein ungemütlicher, ja menschenfeindlicher Ort ein solches Gespräch nicht verhindern. Mich haben damals als Werkstudent in der Fabrik meine muslimischen Kollegen schwer beeindruckt, die in der Schichtpause neben ihrer Stelle am Fließband die Pappkartons als Gebetsteppiche ausgebreitet haben und ihr Gebet an Gott gerichtet haben – trotz Lärm, Dreck und Betrieb.

Folgen dann etwa unsere Kirchenleitungen in ihren sogenannten Reformprogrammen mit der Abrissbirne nicht nur dem Sparzwang sondern auch einer höheren, womöglich gottgefälligen Logik? Raus aus den Kirchen, runter mit den Kirchen, weg mit den Kirchen – damit endlich wieder im Geist und in der Wahrheit angebetet werden kann? Keineswegs! Notwendig sind sie wohl nicht, unsere Kirchengebäude, denn natürlich könnten wir überall beten und Gottesdienst feiern, auch wenn es bequem ist, einen bekannten, sicheren Ort zu haben, Glaubensheimat, hoch und trocken.

Notwendig sind solche Orte wohl nicht, aber mehr als notwendig. Sie verweisen in all ihrer Pracht und ihrem Überschwang – und noch unsere nüchternen, ziemlich unprächtigen, wenig überschwänglichen Nachkriegsbauten, die unsere Gemeinden behausen, tun das deutlich genug – sie verweisen auf den, der selbst nicht notwendig, sondern mehr als notwendig ist. Ohne weiteren Zweck und praktischen Nutzen außer dem Gottesdienst, aber eben auch nicht verhandelbar unter rein kaufmännischer Betrachtung, zeigen sie allein dadurch, dass sie in der Gegend herumstehen, dass auch unser Glauben sich der ökonomischen Verrechenbarkeit entzieht: Glauben nutzt und lohnt sich nicht, hat er noch nie getan. Wer anfängt, Kosten und Nutzen seines Glaubens zu berechnen, hat ihn längst verloren. Und genau das, und erst das macht ihn so wertvoll.

Ohne unsere teuren Kirchen wird es – allein im Geist und in der Wahrheit – viel schwieriger sein zu zeigen, wie gratis Gottes Gnade ist. Andererseits geben wir uns ohne sie die Chance, dass Jesus uns noch viel unverhoffter begegnet, uns anspricht und offenbart: Ich bin’s, der mit dir redet. Auch wenn unsere Gotteshäuser längst vergangen sind, wird es Gelegenheit geben – wo und wann Gott es will – ihn im Geist und in der Wahrheit anzubeten.

Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.

Pfingsten, 28. Mai 2023

Wir aber haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, damit wir wissen, was uns von Gott geschenkt ist. Und davon reden wir auch nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Dinge für geistliche Menschen. Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; es ist ihm eine Torheit und er kann es nicht erkennen; denn es muss geistlich beurteilt werden. Der geistliche Mensch aber beurteilt alles und wird doch selber von niemandem beurteilt. Denn „wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer will ihn unterweisen“? (Jesaja 40,13) Wir aber haben Christi Sinn.
(1. Brief des Paulus an die Korinther 2,12-16)

Wer sich – wie Paulus und in seinem Gefolge – auf Gottes Geist, höhere Wahrheit oder tiefere Weisheit beruft, kann im Meinungsstreit nicht mit Rabatt rechnen, konnte er noch nie. Sonderoffenbarungen begründen keine Sonderrechte einzelner oder einzelner Gruppen. Weder war es jüngst in der Coronapandemie, noch ist es gerade in der Klimadebatte rechtens oder zielführend die eigene Meinung zu überhöhen und höhere Rechte aus ihr abzuleiten. Schon allein die Verwechslung von eigener Meinung mit geprüftem, überprüfbarem Wissen und die folgende Flucht in Meinungskorridore und in die Echokammern der eigenen Überzeugungen bedrohen die Suche nach Wahrheit. Nur gemeinsame, mitteilbare Erkenntnis aber verdient Wahrheit genannt zu werden.

Das hat schon der Apostel Paulus zu spüren bekommen, der sich an seinen Gegnern in Korinth die Zähne ausgebissen hat und sehr wohl von ihnen beurteilt – und eben nicht zu seinem Vorteil beurteilt – wurde: Seine Aussage – Der geistliche Mensch aber beurteilt alles und wird doch selber von niemandem beurteilt – hat sich an ihm selbst jedenfalls nicht bewahrheitet. Und das muss man noch nicht einmal bedauern, sondern – im Gegenteil – haben wir ihm die Missverständlichkeit seiner Bemerkungen zu kritisieren. Denn mit ihnen und damit mit dem Apostel Paulus kann man ganz prima der Selbstimmunisierung der Religion das Wort reden. Muss man das auch? Geistbesitz als Anmaßung, Glauben als Abschottung gegenüber der Welt, Glaubensgemeinschaft als Parallelgesellschaft – muss man Paulus so verstehen?

„Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2. Korinther 3,17), sagt Paulus an anderer Stelle, ebenfalls an die Korinther gerichtet, und nicht unbedingt geeignet die Sache unmittelbar besser zu machen. Denn so wie wir gegenwärtig – und im Zusammenhang der genannten gesellschaftlichen Debatten – immer wieder auf eine Verwahrlosung des Freiheitsbegriffs treffen – Freiheit als Willkürfreiheit, Freiheit als Wolfsfreiheit und Recht des Stärkeren, Freiheit als Bindungslosigkeit, Freiheit als Verantwortungslosigkeit, also insgesamt die völlige Verkehrung von Freiheit als Knechtschaft unter eine abstrakte und absolute Autonomie des natürlichen Menschen; so vermeidet auch Paulus im Kontext seines schönen Freiheitswortes nicht, zumindest höchst missverständlich und beinahe denunziatorisch, seine jüdische Herkunftsreligion als Gegenbegriff der Freiheit zu charakterisieren

und mit seiner Kritik an Mose den Inbegriff der Befreiung, den von Mose geführten Auszug aus Ägypten, zu verfehlen; und das, obwohl sein „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, in Wahrheit nichts anderes ist, als die Anwendung des von Israel unter Mose erfahrenen und entdeckten Begriffs Gottes als des Befreiers: „Gott schenkt Freiheit, seine größte Gabe gibt er seinen Kindern“ (EG 360), wie wir es im Kirchenlied singen. Gott befreit.

Diese Befreiung durch Gott, genauer und pfingstlich: durch Gottes Geist, ist aber keine Befreiung aus der Welt hinaus oder gegen die Welt, wie es die Worte des Paulus zu meinen scheinen, sondern eine Befreiung für die Welt und in die Welt hinein. Keine „Entweltlichung“, wie es der ehemalige Papst Benedikt – Gott hab ihn selig! – für die Kirche forderte. Der Geist Gottes schafft kein Ghetto des Glaubens, er errichtet keine religiöse Gegenwelt – und, wo wir gerade dabei sind, er baut schon gar keine spirituelle Sonderwelt des esoterischen Humbugs, wie sie uns die falschen Freunde der Spiritualität mit ihren Glöckchen, Düften und Zaubersteinchen verkaufen wollen.

Anders als an unserer recht missverständlichen Stelle bemüht sich Paulus gerade in der Auseinandersetzung mit den Korinthern, die wir uns nach Auskunft der Historiker als spirituelle Leistungssportler zu denken haben, um eine vernünftige, auch weltlich verständliche Einschätzung der Geistwirkungen, geradezu um eine Rationalisierung des Geistdiskurses.

Es geht ihm um Verständlichkeit und Verlässlichkeit – also doch „Weltlichkeit“ – wenn er sagt, dass die Rede im und aus dem Geist Gottes in menschlich vernünftige Sprache zu übersetzen und die Wirkungen des Geistes als dem Aufbau der in der Welt stehenden Gemeinde dienende zu überprüfen sind. Geist schafft nicht Ghetto abseits von der Welt, sondern Geist schafft Gemeinde in der Welt und für die Welt.

Andererseits – und daran steht er eben doch gegen die Welt – sagt der Geist auch nicht einfach das, was wir uns selbst im Zustand des natürlichen Menschen sagen könnten: Und davon reden wir auch nicht mit Worten, welche menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Dinge – nun gerade nicht nur – für geistliche Menschen, sondern zuerst für den – wie Paulus sagt – natürlichen Menschen, der wir doch selbst waren und obwohl vom Geist angesprochen dennoch bis auf weiteres auch bleiben!

Die Mahnung des Paulus, sich nicht dem Schema dieser Welt anzupassen – „Und stellt euch nicht der Welt gleich, sondert ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes“ (Römer 12,2), ist kein Selbstzweck und schon gar kein Aufruf für den Rückzug ins Ghetto, sondern die Voraussetzung dafür, für die Welt – um Gottes und seines Geistes Willen – interessant zu sein, oder erst zu werden. Das, was wir uns nicht selbst sagen können, sollen wir der Welt sagen, die sich das ebenfalls nicht selbst sagen kann. Und selbstverständlich haben wir dabei als Christen, die aus dem Geist leben, sich dem Urteil der Welt zu stellen, wie denn nicht?

In diesem Sinne wäre auch der Begriff „Querdenker“ wieder zu Ehren zu bringen, um ihn nicht den Unbelehrbaren und Böswilligen zu überlassen, die ja gerade in Reinform und geradezu als Karikatur Torheit und Idiotie des geistlosen Menschen an sich zeigen: Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was vom Geist Gottes ist; es ist ihm eine Torheit und er kann es nicht erkennen. Demgegenüber denkt und spricht der von Gottes Geist erfüllte Mensch wahrhaft „quer“ zur queren Welt, um sie gerade zu machen. Und das heißt: zu befreien.

„Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“: Freiheit in diesem Sinne – also im Geist und durch den Geist – ist immer Befreiung, also immer Geschehen und nicht Zustand. Damit trägt der paulinische Freiheitsbegriff der Beobachtung Rechnung, dass jede Befreiung Zustände schafft, die neuerlich und immer so weiter Befreiung erfordern. Das könnte man an jedem historischen oder persönlichen Ereignis der Befreiung zeigen, wie etwa dem Großereignis der Befreiung meiner Generation, dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Sowjetsystems. Dass dadurch Zustände geschaffen wurden, die neuerlich auf Befreiung zielen und sie erfordern, ist kein Mangel, der zu bemäkeln wäre, sondern schlichtes Wesensmerkmal einer Befreiung, die zu neuen Befreiungen bewegt.

In solchen Befreiungen in der wirklichen Welt dürfen wir als Glaubende im Gegensatz zum natürlichen Menschen das Wirken des Geistes Gottes erkennen. Die von Gottes Geist geschenkte Freiheit hat Wirkungen und zielt weit über die Gemeinden der Glaubenden hinaus. Nicht auf Freiheit von der Welt, sondern zur Befreiung in der Welt zielt Gottes Geist. Denn: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Galater 5,1)

Konfirmation am Sonntag Exaudi, 21. Mai 2023

Und zu der Zeit, als der Knabe Samuel Gott dem Herrn diente unter Eli, war des Herrn Wort selten, und es gab kaum noch Offenbarung. Und es begab sich zur selben Zeit, dass Eli lag an seinem Ort, und seine Augen fingen an, schwach zu werden, sodass er nicht mehr sehen konnte. Die Lampe Gottes war noch nicht verloschen. Und Samuel hatte sich gelegt im Tempel des Herrn, wo die Lade Gottes war.Und Gott der Herr rief Samuel. Er aber antwortete: Siehe, hier bin ich!, und lief zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Er aber sprach: Ich habe nicht gerufen; geh wieder hin und lege dich schlafen. Und er ging hin und legte sich schlafen. Der Herr rief abermals: Samuel! Und Samuel stand auf und ging zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Er aber sprach: Ich habe nicht gerufen, mein Sohn; geh wieder hin und lege dich schlafen. Aber Samuel kannte den Herrn noch nicht, und des Herrn Wort war ihm noch nicht offenbart. Und Gott der Herr rief Samuel wieder, zum dritten Mal. Und er stand auf und ging zu Eli und sprach: Siehe, hier bin ich! Du hast mich gerufen. Da merkte Eli, dass der Herr den Knaben rief. Und Eli sprach zu Samuel: Geh wieder hin und lege dich schlafen; und wenn du gerufen wirst, so sprich: Rede, Herr, denn dein Knecht hört. Samuel ging hin und legte sich an seinen Ort.Da kam Gott der Herr und trat herzu und rief wie vorher: Samuel, Samuel! Und Samuel sprach: Rede, denn dein Knecht hört. (1. Samuel 3,1-10)

Viermal rufen um einmal Gehör zu finden: das dürfte doch eher das untere statistische Mittel sein bei der Kommunikation zwischen den Generationen, zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, Pfarrern und Konfirmanden; und das gilt natürlich in beide Richtungen. Denn was die Jugend an alterstypischer Renitenz mitbringt, gleicht die ebenfalls altersgemäße Taubheit der Alten – nun nicht etwa aus, sondern verstärkt, verdoppelt, potenziert sie. Harthörigkeit trifft auf Schwerhörigkeit, oje. Die einen wollen nicht hören, die anderen können nicht hören. Kurz: Man versteht sich nicht.  

Dafür, dass wir uns gar nicht verstehen können, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, haben wir uns eigentlich ganz gut verstanden in diesem Konfirmandenjahr; zumal auf Camp und Kurs, da ist ja einfach mehr Gelegenheit für die Kommunikation; aber doch auch gelegentlich in unseren donnerstäglichen Nachmittagssitzungen, in denen wir der allgemeinen Mattigkeit aus Arbeitswoche und Schultag immer mal wieder echte Gesprächsmomente über den garstigen Graben der Generationen hinweg abgerungen haben, Lichter der Verständigung – Die Lampe Gottes war noch nicht verloschen – bisweilen sogar einen Geistesblitz, helle Flammen der Erleuchtung – aber lassen wir das! Eine gefährliche Metapher.

Viermal rufen um einmal Gehör zu finden, viermal ruft jemand, damit es einer einmal versteht. Das nächtliche Geschehen zwischen Schüler Samuel und Meister Eli klingt für mich nach so einer klassischen Meister-Eder-und-sein-Pumuckl-Situation. Ihr erinnert Euch hoffentlich an dieses in jeder Weise merkwürdige Gespann aus Eurer Kindheit, fabelhafte Fabelwesen, die den Alltag oft genug auf den Kopf stellten, das Selbstverständliche hinterfragten und dadurch auch uns den Zuschauern fraglich machten; Begebenheiten, in denen oft erst Missverständnisse zum tieferen Verstehen geführt haben; beide, Meister Eder und sein Pumuckl auf ihre Weise Philosophen des Lebens, Propheten der Alltagsweisheit, Meister der Wortfindung und Virtuosen der Wortfindungsstörung.

Neulich haben wir im Familienkreis unsere Erinnerungen durchsucht und gefragt, welche Episode uns die liebste und lustigste war und eigentlich immer noch ist; und wir konnten uns schnell einigen auf die mit dem Pumeister und Edermuckl; und zwar natürlich wegen des Namenspiels, das aber viel mehr als nur der alberne Quatsch ist, der es zu sein scheint, sondern der halbernste Schwank mit den vertauschten Rollen, eine Verwechslungskomödie, der fröhliche Wechsel von hoch und niedrig, der erst das Leben im allgemeinen interessant und das Lernen im besonderen spannend macht.

Ähnliches haben wir mit euch auch in diesem Jahr in einigen kostbaren Augenblicken erlebt, wenn wir den Unterricht gemeinsam so ernst genommen haben, dass wir uns im zeitweisen, vielfachen Tausch der Rollen die Religion gegenseitig gelehrt haben: Was glauben wir eigentlich, wer wir sind und wofür alles ist, was ist? Welchen Sinn denken wir uns für uns und unsere Welt? Welche Bedeutung geben wir den Dingen und den Menschen?

Gerade unsere Namen zeigen an, was sich zumindest unsere Eltern bei uns dachten und für uns wünschten – vielleicht ungefähr so: Benjamin, Sohn des Glücks; Rafael, Gott schenkt Heil; Anna, Hanna, die Begnadete; Clara, die Erleuchtete; Lara, die Lorberbekränzte; Cameron wie Cameron Diaz, erfolgreich und selbstbewusst; Finn, der nordische Wanderer; Tia, die Fröhliche; Florian, der Blühende; Franziska, die Freie; Philipp, der Pferdefreund; Kelley, die Kriegerische; oder Achim, den Gott aufrichtet; so wie auch Prophetenlehrer und Prophetenschüler unserer Geschichte sprechende Namen haben: Eli, Gott ist der Höchste, und Samuel, der von Gott erhörte, was ja eine hübsche Pointe dadurch bekommt, dass in unserer Geschichte umgekehrt Samuel der ist, der Gott erhört – allerdings erst beim vierten Anlauf. Und noch der Pumuckl, heißt nicht einfach so, sondern dieser Kobold ist nach Johannes Nepomuk benannt, dem böhmischen und unkomischen Heiligen der Gegenreformation, keine Ahnung, was sich sein Erfinder da gedacht hat.

Viermal rufen um einmal Gehör zu finden, viermal ruft jemand, damit es einer einmal versteht. Dieses produktive Missverständnis, dass wir selbst auch aus den seltenen Situationen kennen, in denen Missverstehen doch noch zur Einsicht gewendet wird, dieses produktive Missverstehen ist das literarische Mittel, uns aufmerksam zu machen für das, worum es unserem Predigttext heute geht, nämlich:

Gott ruft uns.

Gott ruft uns so lange, bis wir ihn hören; sicherlich auch mehr als viermal, zur Not auch viermal vierzigmal, wie es anderer Stelle der Bibel beinahe heißt – solange halt, wie es braucht, dass wir hören.

Gott ruft uns an ungewöhnlichem Ort und zu unerwarteter Zeit – auch nachts – und in Worten und Stimmen, die unseren Lehrern, Eltern, Pfarrern zum Verwechseln ähnlich klingen können.
Was im Umkehrschluss heißt:
Nicht alles, was die uns sagen, muss falsch sein.
Kein Ort, keine Zeit – noch nicht einmal unsere – ist so gottesfern, dass in ihnen Gott nicht sprechen könnte: Die Lampe Gottes ist noch nicht verloschen.
Und schließlich: Wenn wir Gott bisher nicht gehört haben, heißt das nicht, dass er nicht zu uns spricht; und schon gar nicht, dass er es nicht immer wieder versuchen würde, mit uns ins Gespräch zu kommen.
Darum ging es uns im vergangenen Jahr und darum geht es uns heute: Auch wenn des Herrn Wort selten geworden ist, und es kaum noch Offenbarung gibt will Gott mit uns ins Gespräch kommen, immer wieder und immer neu; und sei es durch so merkwürdige Gestalten wie euren Pädagogen und euren Pfarrer.
Durch einen anderen Propheten spricht er zu uns, zu Euch:
„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst;
Ich habe dich bei deinem Namen gerufen;
Du bist mein!
Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollen sie dich nicht ersäufen.
Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen.
Denn ich bin der Herr dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland.“ (Jesaja 43)

Heute ruft Gott euch: Anaëlle, Benjamin, Cameron, Clara, Finn, Florian, Franziska, Hanna, Kelley, Lara, Philipp, Rafael, Tia. Gott ruft euch mit euren Namen. Amen.

Konfi-Gottesdienst 21. Mai 2023
Konfi-Gottesdienst 21. Mai 2023