(Andacht für die Klausur des Nachbarschaftsraums in Schmerlenbach im Spessart, im September 2025)
Die hier im katholischen Teil des Spessarts angeblich wohlbekannte Redensart „ein Gesicht wie die Muttergottes von Schmerlenbach machen“ bezieht sich auf den leidenden Gesichtsausdruck des gotischen Gnadenbildes in der Wallfahrtskirche in Schmerlenbach. Kein künstlerisch besonders wertvolles Werk wie für ein Museum, sondern ein religiöser Kultgegenstand, der bis heute „in Betrieb“ ist. Ziemlich übertrieben – mindestens für protestantische Empfindlichkeiten ziemlich übertrieben, beinahe karikaturhaft, fast kitschig spritzen bei Jesus das Blut und bei Maria die Tränen hervor als unübersehbare Signale von Leid und Mitleid. Aber gerade seine kunstlose Naivität, seine in Marias Gesicht bildgewordene Pausbäckigkeit, nimmt für das Bild ein. Es hat gar nicht nötig, perfekt oder brillant zu sein. Wie ein Bild, das ein Kind gemalt hat, hat es andere Qualitäten als etwa die der nach demselben Thema geschaffenen römischen Pieta des Michelangelo, die doch beinahe viel zu schön ist, um sich mit ihr zu identifizieren (so schön wie dieser heldenhafte Jesus, wie die mädchenhafte Maria sind die wenigsten, die sie heutzutage im Petersdom betrachten).
Der Betrachter der Schmerlenbacher Pieta ist eingeladen, das Bild für sich zu nutzen, eigene Erfahrungen hier einzutragen und darin Trost zu empfangen: Dem Gottessohn, der Gottesmutter geht’s wie mir. Unmittelbar einleuchtend und universell anschlussfähig überträgt sich die elementare Botschaft vom leidenden Kind und mitleidenden Eltern – wer in der Welt kennt das denn nicht? -; verbindet sich mit den religiösen Prägungen unserer Lebensgeschichten, knüpft an die Geschichten der Bibel an, die wir kennen, verdichtet sich zum Konzept christlicher Nächstenliebe als wesentlichem Kennzeichen unseres Glaubens; der Nächstenliebe, die Leiden und Sterben aushält, das Liebste umarmt und in Armen hält: Niemand kann tiefer fallen als in die Hände des liebenden Gottes, der spricht: Ich will dich trösten, wie dich eine Mutter tröstet.
Dass Mitleid mehr ist als eine sentimentale Regung und Nächstenliebe anderes als ein ethisches Konzept, versucht uns die Bibel durchweg zu lehren. Als Gesinnung des Glaubens, die der Bewegung Gottes zum Leid der Menschen folgt, beschreibt Paulus sie anhand des Philipperhymnus (Philipper 2,5-11, hier: 5-8):
Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht:
Er, der in göttlicher Gestalt war,
hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein,
sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an,
ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.
Er erniedrigte sich selbst
und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. …
Nächstenliebe ist demnach verbunden mit dem Verzicht auf das eigene; mit dem Verzicht, auf das, was mir gehört und angeblich verdientermaßen zukommt; auf das, was ich für mich beanspruche; auf das, was ich so kostbar wie für Raubgut halte und um jeden Preis festhalten will, koste es, was es wolle – koste es mich selbst und andere, was es wolle; und selbst wenn es mir noch so sehr schadet, meinen angeblichen „Besitz“ festzuhalten, dennoch mit aller Kraft und allem Starrsinn daran festhaltend.
Anders damals der Samaritaner, den es etwas kostet zu helfen, nämlich genau das, was die anderen beiden Passanten nicht zu zahlen bereit sind. Es mag ja sogar sein, dass wir manchmal günstig mit unserem Mitleid wegkommen; aber wir müssen damit rechnen, dass unsere Knausrigkeit dem Leidenden nicht entgeht. Dahingeplappertes Mitleid tröstet nicht, das kann man sich sparen. Aber die teure Liebe tut, was sie sagt.
Aus einer gewissen, unfreiwillig neuerworbenen Expertise heraus kann ich bestätigen, dass sich mit der gesteigerten Mitleidsbedürftigkeit auch das Sensorium darüber verfeinert, welches Mitleid ernst gemeint ist, welche Nächstenliebe weiterhilft und welcher Trost tröstet. Und man könnte es das Nächstenliebe-Paradox nennen, dass die am meisten hilft, die am wenigsten verspricht, am wenigsten aus dem blauen Himmel herunter oder aus sich selbst heraus verspricht – und am wenigsten dem widerspricht, was sie tut. Je einfacher, schlichter und naiver, desto besser.
Darin trifft die kindlich-naive Pieta in Schmerlenbach ihr Thema, das Wesen des Mitleids, gerade in ihren unbeholfenen künstlerischen Mitteln und ihrer unerschütterlich schlichten Glaubensweisheit. Am Ende hilft eh nur gemeinsam aushalten, in den Armen halten, für den anderen da sein. Amen.